339 Wir greifen in die gewaltigen Lufträume, die nun leer sind, und die einst mit Stein und Fels gefüllt waren. Wir muffen das Factum zugeben, so sehr wir uns sträuben: Luft und Waffer, diese scheinbar leisesten aller wirkenden Kräfte, haben diese Massen all¬ mählich verschwinden lassen. Ganz gemach werden überall kleine, kaum sichtbare Theilchen von den Felsen hinweggenommen. Hie und da, wenn du durch die Berge wandelst, hörst du einen Stein herabschlagen; es klingt wie der Schall einer Axt. Das ist einer von jenen zahllosen Abschlägen, unter deren Gehämmer die Berge zusammensinken. Welche Gefühle weckt in uns ein solcher pol-, ternder Stein, wenn er einen Weg hinabsteigt, den er sicher nie wieder auswärts wandeln wird! Sein Schall ist gleichsam ein Knarren im Räderwerke der Natur, ein Ruck des großen, un¬ ermeßlichen Zeigers, der auf dem Zifferplatte der Weltuhr läuft oder vielmehr schleicht; und da steht der lauschende Mensch in der Mitte zwischen dem Anfangspunkte dieser Arbeit, welcher nach dem, was bereits geschehen ist, unendlich hoch in die Wolken der Ver¬ gangenheit hinausragt, und dem Endpunkte, der nach dem, was noch ausgeebnet werden muß, unendlich fern in dem Nebel der Zukunft liegt. In der Mitte zwischen diesen Extremen hört er nun von Minute zu Minute die Steine niederschlagen, die ihm den unsäglich langsamen Fortgang dieses unermeßlichen Werkes begreiflich machen. — Nur von Jahrhundert zu Jahrhundert ver¬ nimmt er von einem großen Bergstürze, den man bedeutend nennt, weil er eins unserer Dörfer zerschmettert hat, der sich aber zum Ganzen verhält, wie ein kleiner abgebröckelter Ziegel zum babylo¬ nischen Thurmbau. 3. Ebbe und Flut in Holland. Kohl, Reisen in den Niederlanden. 2 Thle. Leipzig, 1850. II. 137. Aber auch dem leiblichen Auge bieten sich der merkwürdigen und i tereffanten Scenen in diesem sonderbaren Lande die Fülle dar, z. B. das täglich sich zweimal wiederholende Schauspiel der Ebbe und Flut des Meeres. Ganz Seeland mit allen seinen Nebenlanden und Nachbarinseln ist gleich einem großen Schwamme, der sich täglich zweimal bis zum Ueberlaufen vollsaugt und zwei¬ mal sich fast bis auf den Boden entleert. Wir waren von Ant¬ werpen mit der ausströinenden Ebbe abgefahren, und unser Schiff schoß rasch mit den wetteifernd ablausenden Gewässern des Flusses und des Meeres zur Schelde hinaus. Da stürzten sich in eiliger Hast mächtige Ströme durch die Oster- und Westerschelde und durch alle die andern Mündungen in's Meer hinaus. Alle Ge¬ wässer sind in Bewegung, aus allen Flieten, Kanälen, Gräben und 22*