— 175 — 128. Ostermorgen. Emmiuel Geibel. Ausgewählte Gedichte. Stuttgart und Berlin 1904. 2. Auflage. S. 53. 1. Die Lerche stieg am Oster¬ morgen empor ins klarste Luftgebiet und schmettert', hoch im Blau ver¬ borgen, ein freudig Auferstehungslied. Und wie sie schmetterte, da klangen es tausend Stimmen nach im Feld: Wach auf, das Alte ist ver- gangen, wach auf, du froh verjüngte Welt! 2. Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen, und lobt den Herrn mit frohem Schall! Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen, ihr grünen Halm' und Länder all, ihr Veilchen in den Waldesgründen, ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot, ihr sollt es alle mit verkünden: Die Lieb ist stärker als der Tod. 3. Wacht auf, ihr trägen Men¬ schenherzen, die ihr im Winterschlafe säumt, in dumpfen Lüsten, dumpfen Schmer¬ zen ein gottentfremdet Dasein träumt! Die Kraft des Herrn weht durch die Lande wie Jugendhauch, o laßt sie ein! Zerreißt wie Simson eure Bande, und wie die Adler sollt ihr sein. 4. Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen gebrochen an den Gräbern steht, ihr trüben Augen, die vor Tränen ihr nicht des Frühlings Blüten seht, ihr Grübler, die ihr fern verloren, traumwandelnd irrt auf wüster Bahn, wacht auf! Die Welt ist neu¬ geboren ; hier ist ein Wunder, nehmt es an I 5. Ihr sollt euch all des Heiles freuen, das über euch ergossen ward! Es ist ein inniges Erneuen im Bild des Frühlings offenbart. Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte, jung wird das Alte fern und nah, der Odem Gottes sprengt die Grüfte — Wacht auf, der Ostertag ist da!