Frühling. Der Mai ist gekommen. 167 157. Frühling. Heinrich Seidel. 1. Was rauschet, was rieselt, was rinnet so schnell? Was blitzt in der Sonne? was schimmert so hell? Und als ich so fragte, da murmelt der Bach: „Der Frühling, der Frühling, der Frühling ist wach!“ 2. Was knospet, was keimet, was duftet so lind? Was grünet so fröhlich? was flüstert im Wind? Und als ich so fragte, da rauscht es im Hain: „Der Frühling, der Frühling, der Frühling zieht ein!“ 3. Was klinget, was klaget, was flötet so klar? Was jauchzet, was jubelt so wunderbar? Und als ich so fragte, die Nachtigall schlug: „Der Frühling, der Frühling!“ — Da wußt’ ich genug! Gedichte. Gesamtausgabe. Stuttgart, Cotta, 1903, S. 108. 158. Der Mai ist gekommen. Emanuel Geibel. 1. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus, wie die Wolken wandern am himmlischen Zelt, so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt. 2. Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott euch behüt’! Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht! Es gibt so manche Straße, da nimmer ich marschiert; es gibt so manchen Wein, den ich nimmer noch probiert. 3. Frisch auf drum, frisch auf drum im hellen Sonnenstrahl wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Tal! Die Quellen erklingen, die Bäume rauschen all, mein Herz ist wie ’ne Lerche und stimmet ein mit Schall. 4. Und abends im Städtlein, da kehr’ ich durstig ein: „Herr Wirt, Herr Wirt, eine Kanne blanken Wein! Ergreife die Fiedel, du lust’ger Spielmann du! Von meinem Schatz das Liedei, das sing’ ich dazu.“ 5. Und find’ ich keine Herberg’, so lieg’ ich zu Nacht wohl unter blauem Himmel, die Sterne halten Wacht; im Winde die Linde, die rauscht mich ein gemach; es küsset in der Früh’ das Morgenrot mich wach.