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8M.1
W
Deutsches Lesebuch
für
Mittelschulen und gehobene Polksschnlabttilniigen
der Provinz Hannover und der angrenzenden Gebiete.
Bearbeitet aus Grund der Bestimmungen über die Neuordnung des
Mittelschulwesens in Preußen vom 3. Februar 1910.
Mit Ermächtigung des Herrn Ministers genehmigt zur Einführung für
evangelische Mittelschulen und gehobene Volksschulabteilungen.
— In fünf Teilen. —
Herausgegeben von
H. Kappey, und H. Koch,
Rektor der ev. Knaben-Mittelschule, Rektor der ev. Mädchen-Mittelschule
in Hildesheim.
Vierter Teil: 5. bis 6. Schuljahr.
2. (StereotypE^o^^ g(
Georg-Eckert-tefitut Braune
für internationale ScMySbuchforsch«^^^ s \ o t h e k
Bratünsdiweiig
— Bibliothek —
institut
Inventarisiert unter
ISBI-fiR V'KV
Preis geb. Mk. 3,40.
Hannover-List, Berlin W. 35,
Podbielskistraße 351. Derffltngerslraße 16.
Verlag von Carl Meyer (Gustav Prior).
Alle Rechte Vorbehalten.
Holzfreies Druckpapier von Sieler & Vogel in Leipzig u. Golzern i. Sa.
-—. , **— Druck von Hesse & Becker, Leipzig.
3a (ä, AZ)
Inhaltsverzeichnis.
(Gedichte sind durch einen * bezeichnet.)
1 ¿f. r
H
I. Aus dem Menscheuleben.
A. Jn Haus und Familie.
Nr. Seite Nr. Seile
*1. Gott grüße dich! . . Sturm i 21. Eine Lebensrettung Solger 25
*2. Mit Gott Kletke i *22. Der Abend Diest'enbach 26
*3. Pförtners Morgen *23. Abendgebet Franz 26
gesang Schiller 2 *24. Der gute König . . Lohmeyer 27
*4. Morgenlied . Falke 2 25. Friedesinchens erster
*5. Hauszauber Trojan 3 Kircbgang Sohnrey 28
*6. Das alte Haus . . Hebbel 3 *26. Schäfers Sonntags-
*7. Wenn du noch eine lied Uhland 31
Mutter hast Kaulisch 4 *27. Sonntagnachmittag Lienhard 32
8. Die gute Mutter . Hebel 5 28. SprüchevomSonntag 32
*9. Das Erkennen . . . Vogl 6 *29. Der Festtag Rückert 32
*10. Ein Friedhofsbesuch Vogl 7 *30. Weihnachten Eichendvrfs 33
*11. Der blinde König . Uhland 8 *81. Weihnachtsfest. . . . Reinick 33
*12. Der tote Soldat . . Seidl 9 *32. Die Mutter am
*13. Heimkehr Bodenstedt 10 Christabend .... Hebel 34
*14. Vor der Haustür . Trojan 10 *33. Neujahr Mörike 36
15. Kindesliebe Pustkuchen- *34. Zum neuen Jahr . Weber 36
Glanzow 11 *35. Gottes Treue.... Meyer 37
16. Leberecht Hühnchen Seidel 12 *36. Das Gewitter.... Schwab 37
17. Hin bösartiger *37. Der Wanderer in der
Hausgast Trojan 19 Sägemühle Kerner 38
*18. Das Glück von Eden- *38. Belsazar Heine 39
hall Uhland 20 *39. Erlkönig Goethe 40
19. Unsere Wohnung. . Gesundheits- *40. Die Kapelle Uhland 41
büchlein 21 *41. Seliger Tod .... Trommel 41
20. Vom Waschen und 42. Sprüche vom Ver-
Baden Bernstein 23 trauen auf Gott . . 42
B. 3m Beruf und im Verkehr mir dein Nächsten.
*43. Aller Anfang mit 52. Nur ein Schafhirt . Ziethe 53
Gott Hohlfeldt 43 *53. Das Glöcklein des
*44. Zum Tagewerk! . . Spitta 43 Glücks Seidl 61
*45. Die alte Waschfrau Chamisso 43 54. Hab’ ich’s nun
46. Line Winternacht recht gemacht? . . Lauxmann 62
auf der Loko- *55. Strandbild Gottschall 64
motive Weber 45 *56. Een Boot is noch
*47. Auf der Straßen- buten Holz 64
bahn Löwenberg 47 *57. Lüit Jan Ernst 65
48. Der brave Feuer- 58. Sparsamkeit .... Trojan 66
wehrmann Fuchs 48 59. Nach der Decke strecken Trojan 67
49. Zwischen Himmel *60. Der goldene Tod. . Avenarius 67
und Erde Ludwig 49 *61. Der Fischer Goethe 63
*50. Der Lotse Giesebrecht 52 62. Es ist nicht alles
*51. Der reichste Fürst . Kerner 52 Gold, was glänzt Hebel 69
IV
Nr. Seite
63. Geiz ist die Wurzel
alles Übels........Ahlfeld 69
64. Wie wir einen hal-
ben Gulden fanden Sohnrey 70
65. Einmal ist keinmal Hebel 73
66. Die Ehrlichkeit im
Sprichwort....... 73
67. Die Sparsamkeit im 74
Sprichwort.........
68. Die Arbeitim Sprichwort 74
*69. Das Lied vom bra-
ven Mann................Bürger 74
*70. Johanna Sebus . . Goethe 77
71. Sprichwörter und
Sprüche......... 78
Nr. Sette
72. Her Sergeant in
der Bauernstube . Klein 78
*73. Sommernacht.... Keller 80
*74. Die Bürgschaft . . . Schiller 80
*75. Ein gutes Wort sin-
det einen guten Ort Braun 84
*76. Der Wirtin Töchter-
lein Uhland 85
*77. Das Schifflein . . . Uhland 85
78. Fürs Herzbluten . Sohnrey 86
79. Sprichwörter und
Sprüche 87
80. Sprichwörliche Re-
densarten 88
II. Fabeln. Parabeln. Märchen. Sagen,
Legenden und Erzählungen.
81. Der Greis und der
82. Der Igel und der ~'"t'
Maulwurf Meißner 89
83. Zeus und das Schaf Lessing 89
84. Zeus und das Pferd Lessing 90
85. Die Sperlinge . . . Lessing 91
86. Trau, schau, wem? Frank 91
87. Hie Blauen und
die Kräbe Lessing 91
*88. Das Hühnchen und
der Diamant . . . Hagedorn 92
89. Her Besitzer des
Bogens Lessing 92
*90. Parabel Rückert 92
91. Her Einsiedler . Caspari 93
*92. Parabel Rückert 93
*93. Die Heinzelmäun-
chen Kopisch 94
*94. Fingerhütchen . . . Meyer 96
95. Die Auster . . . . Trojan 99
96. Von Himmel und
Hölle Volkmann- '
Leander 104
97. Her Schwanritter Grimm 108
98. Der Schäferkönig. Löns 110
*99. Vite Hegende . . Liliencron 112
*100. Der Kreuzschnabel Mosen 113
101. Die Flucht nach
Egypten Lagerlöf 113
102. Des Vaters Segen
baut den Kindern
Häuser Schubert 118
103. Das Bild des Groß-
vaters Müller 121
104. Weihnachten im
Waldhause Rosegger 124
105. Wenn die Not am
größten, ist Gott am
nächsten Barth 130
106. Die Posaune des
Gerichts Auerbach 134
107. Her gebeilte
Kranke Hebel 136
108. Kannitverstan. . . Hebel 138
109. Eine Ohrfeige zur
rechten Zeit . . . Oldenb.
Volksbote 140
110. Eine brave Tat . Bürklin 141
111. Peter Peine.... Scharrel-
mann 146
112. Herr Charles . . . Hebel 150
113. Der arme Musikant
und sein Kollege . Örtel 153
114. Waldlilie im Schnee Rosegger 155
115. Der gekreuzte Du-
katen Auerbach 158
116. Her Pfennig. . . Reinick 160
117. Eine Storchge-
schichte Seidel 162
118. Der Eselstrieb . . Rosegger 167
119. Der Korbflechter
von Abelsberg . . Rosegger 171
120. Wunderbare
Abenteuer des
Freiherrn von
Münchhausen . . Hresdener
Jugend-
Schriften-
Ausschuss 173
121. Allerlei Scherz-
fragen. 176
Y
in. Bilder aita der Natur.
Nr. Seite
*122. Die Schönheit der
Natur Spitta 177
*123. Vorfrühling.... Seidel 177
*124. Frühlingsiied in
der Stadt Seidel 178
*125. Der Frühling. . . Bodenstedt 178
*126. Im März Seidel 179
127. Spaziergang im
Frühling Scharrel-
mann 179
128. Was der Schwal-
be auf der Reise
passiert ist... . Rosegger 181
129. Der Kiebitz .... Löns 187
*130. DasFrühlingsmahl Müller 191
131. Quapp, der Frosch Brüning 191
*132. Ausfahrt Scheffel 196
*133. Wanderlust .... Geibel 197
*134. Das Wandern . . Böwenberg 197
*135. Rosenzeit Seidel 198
136. Im Waldesschatten Baumbach 198
*137. Der Wanderer und
der Bach Greif 200
*138. Weißt du wohl
noch? Seidel 201
*139. Sommerlied. . . . Gerhardt 201
*140. Morgenwande-
rung Geibel 203
*141. Der Morgen im
Walde Ebert 204
142. Der Bote im Ju-
nius Claudius 204
148. Auf dem Störfang Momsen 204
144. Der Hecht im Fisch-
teiche Wagner 207
145. Ein Nestbauer un-
ter den Fischen . . Marschall 208
*146. Aus dem Walde . Geibel 209
*147. Die Tanne . . . . Freiligrath 211
148. Die Ameisen als
Straßenräuber . . Rosegger 212
*149. Der Jäger Abschied Eichendorff 214
Nr. Seite
150. Das Kornfeld. . . Seidel 214
*151. Abend im Frnte-
seid Greif 216
*152. Das Habermus . . Hebel 217
153. Schmetterlings
Leben Wagner 219
154. Ein lästiger
Bummler Pilz 221
155. Ein Abendaus-
gang des Iltis . . Wagner 223
*156. Der Sommerabend Hebel 225
*157. Gewitter Gerok 226
158. Ein Gewitter auf
dem Lande .... Freptag 228
*159. Rätsel Schiller 230
160. Obstbau und Obst-
baumpflege . . . . Platz 231
161. Der Araber und
sein Pferd Molile 284
162. Die Haustiere im
Sprichwort . . . . 235
*163. Herbst Trojan 235
164. Herbstlicher Laub-
fall Landsberg 236
165. Sommerfäden . . Wagner 237
*166. Die Spinne. . . . Hebel 238
*167. November Seidel 240
168. Auf der Dach-
rinne Trojan 240
169. Das Schlafen der
Blumen im Win-
terstübchen ........Schilling von
Canstatl 242
170. Der Winterschlaf der
Tiere.......Marshall 243
*171. Für arme Vögel . Trojan 245
172. Als ich das erste-
mal auf dem
Dampflvagen saß . Rosegger 246
173. Die Geschichte von
der Wunderlampe Rosegger 249
iv. Aus Vaterland und Ferne.
174. Deiche und Fluten. Allmers 252
*175. Trutz, blanke Hans 176. Untergang der Liliencron 254
Insel Nordstrand *177. Der Halligma- Haas 255
trose Allmers 257
178. Im Wattenmeer . 179. Wie der deutsche Küstenbewohner die Nordsee be- Dose 258
siegte Frenssen 261
*180. Friesengruß . . . . Allmers 264
181 Ostholstein Biernatzki 265
182. Oer Yiebreicb-
tUM Ü68 Warscb-
bauern............Frenssen 268
183. Am Strande . . . Anders 270
184. Ein Gang durch die
Reichshauptstadt . Koch 272
185. In Trakehnen . . Zobeltitz 277
186. Eine Bootfahrt durch
den Spreewald . . Fontane 280
187. Eine Kammwande-
rung im Riesenge-
birge ...........Rordorff 282
Seite
Nr. Seite
188. Zu Dank bezahlt . Musäus 285
*189. Rudelsburg .... 190. Der Rabe ans dem Schloßhofe Kugler 288
zu Merseburg . . 191. Aus der Heimat Kriebitzsch 289
der Spielwaren . Trinius 290
192. Die heilige Elisabeth Bechstein 193. Landgraf Ludwig 294
baut eine Mauer 194. Der hartgeschmie- Grimm 295
dete Landgraf. . . 195. Rast vor einem Schwarzwälder Grimm 296
Bauernhause . . . Lang 297
196. Der Rheinfall. . . Stökl 299
197. Dreimal in Straß-
burg ...................Lang 301
*198. O Straßburg . . . Volkslied 304
*199. Der Schweizer . . Volkslied 305
*200. Das Riesenspiel-
zeug ..................... Chamisso 306
*201. Rätsel.....Schiller 307
*202. Rheinsage....Geibel 307
203. Weinlese am Rhein Kerp 308
204. Das Niederwald-
denkmal ................ Laug 310
205. Der Binger Mäu-
seturm .................Grimm 311
*206. Lorelei.......Heine 312
207. Burg Rheinstein . Lang 312
208. Eifelwanderung. . Viebig 313
*209. Mein Vaterland . Schneider 315
*210. Der Alpenjäger. . Schiller 316
V. Aus
229. Herakles.....Witt 354
230. Phaeton......Witt 358
231. Dädalus und
Ikarus........Witt 359
232. Der Zweikampf
zwischen Hektor
und Ajax.....Becker 360
233. Das hölzerne Pferd Klee 363
234. Ody sseus bei den
Phäaken.......Andrä 369
235. Solon und Krösus Weller 373
236. Der Heldenkampf
der Griechen bei
Thermopylä.... Willmann 374
237. Aus dem Leben
Alexanders des
Großen.......Pfizer 378
238. Die Sage von der
Gründung Roms Schalk 382
239. Der Kampf der
Horatier und
Curiatier....Weiter 385
240. Horatius Cocles . Schalk 386
Nr.
*211. Des Knaben
Berglied........Uhland 316
212. Frühling im
Bergwald.Ganghofer 317
213. Auf der Alm . . . Rosegger 318
214. Die Alpenherden
im Hochgewitter. . Tschudi 320
215. Die Staublawinen Tschudi 321
216. Fine Fahrt ans
dem Königsee. . Tischendorf 323
*217. Die Martinswand Grün 325
218. Frau Hütt . . . . Grimm 327
219. Die Fahrt von Mar-
stille nach Monaco
längs der franzö-
fischen Riviera . . Kerp 328
220. Die Tauben auf
dem Markusplatz
in Venedig . . . . Stökl 329
221. Eine Besteigung d.
Vesuvs Goethe 331
222. Konstantinopel . . Tischendorf 332
223. Das Faradies von
Spanien..........Tischendorf 335
*224. Der Zigeunerbube
im Norden .... Geibel 337
225. Fine Ferienfahrt
nach Frankreichs
Hauptstadt. . . . Kappey 338
226. Größe und Verkehr-
Londons .........Tischendorf 346
227. Hausbau in Süd-
westafrika ............Eckenbrecher 347
228. Der Tod des Her-
zogs Fr. Wilhelm 352
241. Mucius Scävola. Schalk 388
242. Casus Marcius
Coriolanus .... Schalk 390
243. Hannibals Über-
gang über die Alpen Weller 393
244. Die Tierhetzen in
Rom............Friedländer 394
245. Odin und Frigga Schalk 397
246. Walhalla........Schalk 397
247. Baldur..........Schalk 399
*248. Drusus' Tod . . . Simrock 400
249. Armin und die
Römerschlacht. . Kohlrausch 401
250. Haus und Hof der
alten Deutschen. . Klee 404
*251. Das Grab im Bu-
senlo..........Platen-
Hallermünde 407
*252. Gotentreue .... Dahn 408
253. Aus der Siegfried-
sage .................Vilmar 409
254. Gudruns Klage. . Schalk und
Geibel 417
der Geschichte.
VII
Nr. Seite
*255. Die Hunnen . . . Weher 423
256. Karl der Große
auf der Jagd. . . Freytag 424
*257. Klein Noland . . . Uhland 426
*258. Roland Schild-
träger Uhland 430
*259. Das weiße Sachsen-
roß Oer 435
*260. Heinrich der Vogel-
stesser Vogl 437
261. Heinrich I. als
Städteerbauer. . . Giesebrecht 438
262. Ottos I. Krönung Giesebrecht 440
*263. Der gleitende Pur-
pur Meyer 442
*264. Die deutsche Kaiser-
wähl Uhland 444
265. EinGottesurteiluin
Königsmord.... Tecklenburg 446
266. Heinrichs IV. Reise
nach Kanossa . . . Giesebrecht 449
*267. Die Kreuzfahrer Gerok 452
*268. Wikher Müller von
Königs-
winter 453
*269. Friedrich Rotbart. Geibel 455
*270. Schwäbische Kunde Uhland 455
271. Jaczo Berndt 457
*272. Der Schenk von
Limburg Uhland 458
*273. Der Graf v. Habs-
bnrg Schiller 459
*274. Der Sänger . . . Goethe 462
*275. Des Sängers Fluch Uhland 463
*276. Graf Eberhard der
Rauschebart .... Uhland 465
277. Die Erfindung der
Buchdruckerkunst . Andrä 468
278. Dr. Martin Luther
a) Luther im Kloster Rogge 469
h) Luther in Worms Rogge 471
279. Die Schlacht hei
Dützen u. Gustav
Adolfs Tod . . . Andrä 475
280. Plünderungssze-
ne aus d. Dreißig-
jährigen Kriege . Grimmeis-
hausen 476
*281. Danklied für die
Verkündigung des
Friedens Gerhardt 477
*282. Vom Fels z. Meer Waetzold 478
283. Der Große Kur-
fürst und der
Bauernstand. . . . Jahnke 477
Nr. Sette
284. Eine Schulprüfung
Friedrich Ml-
Helms I Hiltl 481
285. Friedrich der
Große als Krön-
prinz Witt 483
*286. Zielen Fontane 486
287. Friedrich der Große
in Lebensgefahr. . Koppen 487
*288. Wie schön leuch-
tet der Morgen-
stern! Sturm 489
*289. Der Sieger von
Torgau Greif 492
290. Mein Urgroßvater
und der alte Fritz Bruchmüller 494
291. Die Einführung der
Kartoffel Nettelbeck 496
292. Der Tod der Koni-
gin Luise Koppen 498
*293. Soldaten-Morgen-
lied Schenken-
dors 499
*294. Das Lied vorn Feld-
marschall Arndt 499
295. Von Ems n. Berlin Aus dem
Daheim 500
*296. Die Wacht am
Khein Schnecken-
burger 502
297. Der Siegeszug des
Kronprinzen. . . . Klein 503
298. Die Kose v. Gorze Wolter 504
*299. Die Trompete von
Vionville Freiligrath 505
300. Wie ein braver
Pommerzum Eifer-
neu Kreuze kam . Frommel 506
301. Kaiser Wilhelm I.
in Essen Deutscher
Kinderfreund 509
*302. Unser Fritz .... Wildenbruch 510
303. Nächstenliebe u.
Unerschrocken-
heit Koppen 512
304. Die Frinzen und
der alte Moltke . Krüger 513
*305. DeutschesReichslied Plath 514
*306. Hoch die deutsche
Flagge Scherenberg 515
*307. Ein Volk, ein Herz,
ein Vaterland. . . Träger 515
*308. Mein Vaterland. H. V. Fai-
lersleben 516
Onellen Nachweis.
(Gedichte sind durch einen * bezeichnet.)
Allmers, Hermann. Marschenbuch, 4. Aufl. Oldenburg und Leipzig 1902. 174. Deiche
und Fluten. — Gedichte, 2. Aufl. Oldenburg o. I. * 177. Der Halliqmatrose.
* 180. Friesengruß.
Anders, Fritz. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) 183. Am Strande.
Andrä, I. C. Griechische Heldensagen für die Jugend. Leipzig 1882. 234. Odysseus
bei den Phäaken. — Erzählungen und Lebensbilder aus der deutschen Geschichte,
Leipzig 1902. 277. Die Erfindung der Buchdruckerkunst. 279. Die Schlacht bei Lützen.
Arndt, Ernst Moritz. Gedichte. Vollständige Sammlung. Leipzig o. I.* 294. Das
Lied vom Feldmarschall.
Äsop. 81. Der Greis und der Tod.
Auerbach, Berthold. Schatzkästlein des Gevattermanns. Stuttgart und Augsburg 1856.
106. Die Posaune des Gerichts.
Avenarius, Ferdinand. Stimmen und Bilder. 2. Aufl. München 1903. *60. Der
goldene Tod.
Barth, Karl. Gesaminelte Schriften. Hildburghausen 1856. 105. Wenn die Not
am größten, ist Gott am nächsten.
Baumbach, Rudolf. Truggold. Berlin 1888. 136 Im Waldesschatten.
Bechstein, Ludwig. Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringer Landes.
192. Die heilige Elisabeth.
Becker, Karl Ferdinand. 232. Der Zweikampf zwischen Hektor und Ajax.
Berndt, Hermann. All-Deutschlands Jugend. Berlin und Leipzig 1907. 271. Jaczo.
Bernstein, Aaron. Naturwissenschaftliche Volksbücher. Berlin 1878. 20. Vom Waschen
und Baden.
Biernatzki, Johannes. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) 181. Ostholstein.
Bodenstedt, Friedrich v. Aus Heimat und Fremde. Berlin 1856. * 13. Heimkehr. —
Gesammelte Schriften. Berlin 1897. * 125. Der Frühling.
Braun, Jsabella *75. Ein gutes Wort findet einen guten Ort.
Bruchmüller, W. (In Sohnrey, Landjugend, 2. Jahrg.) 290. Mein Urgroßvater und
der alte Fritz.
Brüning, Chr. I. E. Tierleben der Heimat. Dresden 1905. 131. Quapp der Frosch.
Bürger, Gottfried August. Gedichte. Herausgegeben von Tittmann. Leipzig 1869.
* 69. Das Lied vom braven Mann.
Bürklin, Albert. (In „Der Lahrer Hinkende". 1886.) 110. Eine brave Tat.
Caspari, Karl Heinrich. 91. Der Einsiedler.
Chamisso, Adalbert v. Werke. Herausgegeben von Sydow. Berlin-Leipzig-Wien-
Stuttgart, o. I. * 45. Die alte Waschfrau. * 200. Das Riesenspielzeug.
Claudius, Matthias. Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten. Wandsbeck 1775.
142. Der Bote im Junius.
Daheim, Jahrg. 1873. 295. Von Ems nach Berlin
Dahn, Felix. Sämtliche Werke poetischen Inhalts. Leipzig 1898. *252. Gotentreue.
Dieffenbach, Georg Christian. Kinderlieber. Mainz 1869. * 22. Der Abend.
Dose, Johannes. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) 178. Im Wattenmeer.
Dresdener Jugendschriflen-Ausschuß. 120. Wunderbare Abenteuer des Freiherrn
von Münchhausen.
Ebert, Egon. Gedichte. Stuttgart 1845. * 141. Der Morgen im Walde.
Eckenbrecher, Margarete v. Was Afrika mir gab und nahm. 5. Aufl. Berlin 1909.
227. Hausbau in Südwestafrika
Eichendorff, Joseph, Freiherr v. Gedichte. 8. Aufl. Leipzig 1873. * 30. Weihnachten.
* 149. Der Jäger Abschied.
Ernst, Otto. (In Falke u. Löwenberg: „Steht auf, ihr lieben Kinderlein.") * 57. Lütt Jan.
Falke, Gustav. *4. Morgenlied.
Fontane, Theodor. Gedichte. 9. Auflage. Stuttgart und Berlin 1902. *286. Zielen. —
Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Berlin 1892—96. 186. Eine Boot-
fahrt durch den Spreewald.
Frank, Sebastian. 86. Trau, schau, wem?
Franz, Agnes. Gedichte. 2. Auflage. Essen 1836. *23. Abendgebet.
IX
Freiligrath, Ferdinand. Gesammelte Dichtungen. 5. Auflage. Stuttgart 1886.
* 147. Die Tanne. * 299. Die Trompete von Vionville.
Frenssen, Gustav. (In Wohlrabe, DeutschesLand und Volk) 179. Wie der deutsche
Küstenbewohner die Nordsee besiegte. — Jörn 11hl. Berlin 1909. 182. Der Vieh-
reichtum des Marschbauern.
Freytag, Gustav. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1867. 256. Karl
der Große auf der Jagd. — Die verlorene Handschrift. Leipzig 1864. 158. Ein
Gewitter auf dem Lande.
Friedländer, Ludwig. (In Wimmenauer, Aus der Welt des Altertums.) 244. Die
Tierhetzen in Rom.
Frommel, Emil. Beim Ampelschein. 6. Ausl. Berlin 1898. 41. Seliger Tod. — In
des Königs Rock. Berlin. 300. Wie ein braver Pommer zum Eisernen Kreuze kam.
Fuchs, Arno. Die Großstadt und ihr Verkehr. Berlin 1909. 48. Der brave Feuer-
wehrmann.
Ganghofer, Ludwig. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) 212. Frühling im
Bergwald.
Geibel, Emanuel v. Gesammelte Werke. Stuttgart 1883. * 133. Wanderlust.
*140. Morgenwanderung. *146. Aus dem Walde. * 202. Rheinsage. *224. Der
Zigeunerbube im Norden. * 269. Friedrich Rotbart.
Gerhardt, Paul. *189. Sommerlied. *281. Danklied für die Verkündigung des Friedens.
Gerok, Karl v. Palmblätter. 130. Ausl. Stuttgart 1907. * 157. Das Gewitter. —
* 267. Die Kreuzfahrer.
Gi esebrecht, Ludwig. Gedichte. Leipzig 1836. * 50. Der Lotse.
Giesebrecht, Wilhelm v. Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Braunschweig 1863. 261.
Heinrich I. als Städteerbauer. 262. Ottos I. Krönung. 266. Heinrichs IV. Reise
nach Kanossa.
Goethe, Johann Wolfgang v. Werke. Herausgegeben von Scheidemantel. Leipzig-
Berlin-Wien-Stuttgart. o. I. *39. Erlkönig. *61. Der Fischer. *70. Johanne
Sebus. *274. Der Sänger. — 221. Eine Besteigung des Vesuvs.
Gottschall, Rudolf. Neue Gedichte. Leipzig 1858. *55. Strandbild.
Greif, Martin. Gedichte. 2. Aufl. Stuttgart 1881. * 151. Abend im Erntefeld.
* 137. Der Wanderer und der Bach. *289. Der Sieger von Torgau.
Grimm, Brüder, Jakob u. Wilhelm. Sagen des deutschen Volkes. Volksausgabe.
Stuttgart o. I. 97. Der Schwanritter. 193. Landgraf Ludwig baut eine Mauer.
194. Der hartgeschmiedete Landgraf. 205. Der Binger Mäüseturm. 218. Frau Hütt.
Grimmelshausen, Christoph. Der abenteuerliche Simplicissimus. 280. Plünderungs-
szene aus dem Dreißigjährigen Kriege.
Grün, Anastasius. Gedichte. 11. Aufl. Berlin 1856. *217. Die Martinswand.
Haas, H. (In Scobel, Monographien zur Erdkunde. Band 8. Bielefeld 1900.,
176. Untergang der Insel Nordstrand.
Hagedorn, Friedrich v. Poetische Werke. Hamburg 1857. *88. Das Hühnchen
und der Diamant.
Hebbel, Friedrich. Werke. Herausg. von Poppe. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart o. I.
* 6 Das alte Haus.
Hebel, Johann Peter. Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. Tübingen o. I.
8. Die gute Mutter. 62. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. 65. Einmal ist
keinmal. 107. Der geheilte Kranke. 108. Kannitverstan. 112. Herr Charles. —
Allemannische Gedichte. Ins Hochdeutsche übertragen von Robert Reinick. 5. Aufl.
Leipzig 1869. *32. Die Mutter am Christabend. *152. Das Habermus. *156. Der
Sommerabend. * 166. Die Spinne.
Heine, Heinrich. Werke. Herausg. von Strodtmann. Hamburg 1862. *38. Belsazar.
* 206. Loreley.
Hiltl, Georg. Preußische Königsgeschichten. Bielefeld u. Leipzig 1875. 284. Eine
Schulprüfung.
Hohlfeldt, Christian. *43. Aller Anfang mit Gott.
Holz, Arno. Buch der Zeit. 2. Aufl. 1891. *56. Een Boot is noch buten.
Ja hnke, Hermann. (In Sohnrey, Landjugend. 10. Jahrg.) 283. Der Große Kur-
fürst und der Bauernstand.
Kappey, Heinrich. Nach der Handschrift des Verfassers. 225. Eine Ferienfahrt nach
Frankreichs Hauptstadt.
Kaulisch, Wilhelm. *7. Wenn du noch eine Mutter hast.
Keller, Gottfried. Gesammelte Schriften. 22. Aufl. Stuttgart und Berlin 1906.
* 73. Sommernacht.
X
Kerner, Justmus. Gedichte. 4. Ausl. Stuttgart u. Tübingen. 1841. *37. Der
Wanderer in der Sägemühle. *51. Der reichste Fürst.
Kerp, Heinrich. (In Scobel, Monographien zur Erdkunde. 10. Bd. Bielefeld u.
Leipzig 1901.) 203 Weinlese am Rhein. — Die Landschaften Europas. 2. Aust. Trier
1905. 219 Die Fahrt von Marseille nach Monaco längs der französischen Riviera.
Kinderfreund, Deutscher. 301. Kaiser Wilhelm in Essen.
Klee, Gotlhold. Die alten Deutschen. 3. Ausl. Gütersloh 1905. 250. Haus und
Hof der alten Deutschen. — Sagen der griechischen Vorzeit. Gütersloh 1906.
233. Das hölzerne Pferd.
Klein, Karl. Fröschweiler Chronik. 22. Ausl. München 1905. 297. Der Siegeszug
des Kronprinzen. — 72. Der Sergeant in der Bauernstube.
Kletke, Hermann. Gedichte. Gesamtausgabe. Berlin 1881. *2. Mit Gott.
Koch, Hermann. Nach der Handschrift des Verfassers. 184. Ein Gang durch die
Reichshauptstadt.
Kohlrausch, Friedrich. (In A. Kippenberg, Deutsches Lesebuch.) 249. Armin und
die Römerschlacht.
Kopisch, August. Gesammelte Werke. Berlin 1856. *93. Die Heinzelmännchen.
Köppen, Fedor v. Die Hohenzollern und das Reich. Glogau o. I. 287. Friedrich
der Große in Lebensgefahr. — Fürst Bismarck und seine Zeit. Leipzig 1895.
303. Nächstenliebe und Unerschrockenheit.
Kriebitzsch, Theodor. 190. Der Rabe auf dem Schloßhofe zu Merseburg.
Krüger, Karl A. Drei Kaiserinnen. 304. Die Prinzen und der alte Moltke.
Kugeler, Franz. Gedichte. Stuttgart 1840. * 189. Rudelsburg.
Lagerlöf, Selnia. Christuslegenden. München 1905. 101. Die Flucht nach Ägypten.
Landsberg, Bernhard. Streifzüge durch Wald und Flur. 4. Aust. Leipzia 1908.
164. Herbstlicher Laubfall.
Lang, Georg. Mit Ränzel und Wanderstab. — 195. Rast vor einem Schwarzwälder
Bauernhause. 197. Dreimal in Straßburg. 204. Das Niederwalddenkmal.
207. Burg Rheinstein.
Lauxmann, Richard. Gedenkblätter aus dem Heldenkampfe Deutschlands mit Frank-
reich 1870/71. Stuttgart 1898. 54. Hab' ich's nun recht gemacht?
Lessing, Gotthold Ephraim. Werke. Herausgegeben von Matthias. Leipzig o. I.
83. Zeus und das Schaf. 84. Zeus und das Pferd. 85. Die Sperlinge. 87. Die
Pfauen und die Krähe. 89. Der Besitzer des Bogens.
Lienhard, Fritz. Gedichte. Gesamtausgabe. Leipzig und Berlin 1902. *27. Sonn-
tagnachmittag.
Liliencron, Detlev v. Ausgewählte Gedichte. Berlin und Leipzig 1907. *99. Alte
Legende. * 175. Trutz, blanke Hans.
Lohmeyer, Julius. Gesammelte Dichtungen. Berlin 1904. *24. Der gute König.
Löns, Hermann. (In Sohnrey, Landjugend. Bd. 6.) 98. Der Schäferkönig. — (In
Meerwarth, Lebensbilder aus der Tierwelt. Leipzig o. I.) 129. Der Kiebitz.
Löwenberg, Jakob. Bon Strand und Straße. Hamburg und Glogau o. I. *47.
Auf der Straßenbahn. — (In Weber, Der deutsche Spielmann.) * 134. Das Wandern.
Ludwig, Otto. Zwischen Himmel und Erde. Leipzig o. I. 49. Zwischen Himmel u. Erde.
Mars ball, William. Spaziergänge eines Naturforschers. Leipzig 1888. 145. Ein
Nestbauer unter den Fischen. 170. Der Winterschlaf der Tiere.
Meißner, Gottlieb August. Fabeln. Wien 1813. 82. Der Igel und der Maulwurf.
Meyer, Conrad Ferdinand. Gedichte. 8. Ausl. Leipzig 1897. * 94. Fingerhütchen.
* 263. Der gleitende Purpur.
Meyer, Rudolf. (In Kehr, Geschichte der Methodik.) *35. Gottes Treue.
Moltke, Helmut, Graf v. 161. Der Araber und sein Pferd.
Momsen, Heinrich. (In „Niedersachsen", 1. Jahrg.) 143. Auf dem Störfang.
Mörike, Eduard. Gedichte. 16. Ausl. Leipzig 1902. *33. Neujahr.
Mosen, Julius. Ausgewählte Werke. Herausg. von Zschammer. Leipzig 1899. * 100.
Der Kreuzschnabel.
Müller, Wilhelm. Gedichte. Gesamtausgabe. Leipzig 1894. * 130. Das Frühlings-
mahl. — (In Kehr und Kriebitzsch, Lesebuch für Lehrerbildungs-Anstalten.) 103.
Das Bild des Großvaters.
Müller von Königswinter, Wolfgang. Dichtungen. Leipzig 1871. * 268. Wikher.
Musäus, August. Volksmärchen der Deutschen. Auswahl. Bearbeitet von Heinrich
Meißner. Halle o. I. 188. Zu Dank bezahlt.
Nett elbeck, Joachim. Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet. Leipzig
o. I. 291. Die Einführung der Kartoffel.
XI
Oer, Max v. Balladen und Romanzen. 1837. *259. Das weiße Sachsenroß.
Oertel (v. Horn), Wilhelm. Die Spinnstube. 3. Jahrg. Frankfurt a. M. 1848.
113. Der arme Musikant und sein Kollege.
Psizer, Gustav. (In Wimmenauer, Aus der Welt des Altertums.) 237. Aus dem
Leben Alexanders des Großen.
Pilz, Karl. Die kleinen Tierfreunde. Leipzig und Berlin 1903. 154. Ein lästiger Bummler.
Platen, Aug., Graf v. Sämtl. Werke. Stuttgart o. I. *251. Das Grab im Busento.
Plath, Friedrich Wilhelm. *305. Deutsches Reichslied.
Platz, Otto. Nach der Handschrift des Verfassers. 160. Obstbau und Obstbaumpflege.
Plümer, Haupt, Bachmann. Deutsches Lesebnch für Höhere Mädchenschulen. 1904.
228. Der Tod des Herzogs Friedrich Wilhelm.
Pustkuchen-Glanzow, Wilhelm. Glaubens- und Sittenlehre in wahrhaften Beispielen.
Barmen und Schwelm 1833. 15. Kindesliebe.
Reinick, Robert. Lieder, 8. Aust. Berlin 1885. *81. Weihnachtsfest. — Märchen-,
Lieder- und Geschichtenbuch. 14. Ausl. Bielefeld u. Leipzig 1905. 116. Der Pfennig.
Rogge. Bernhard. Illustrierte Geschichte der Reformation. Hersfeld 1908. 278.
Or. Martin Luther.
Rordoff, M. (In „Bunte Bilder aus dem Schlesierlande. Herausg. vom Schlesischen
Pestalozzi-Verein". 3. Ausl. Breslau 1903.) 187. Eine Kammwanderung auf dem
Riesengebirge.
Rosegger, Peter. Neue Waldgeschichten. 7. Ausl. Leipzig 1899. 173. Die Geschichte
von der Wunderlampe — Ernst und Heiter und so weiter. Leipzig o. I. 119.
Der Korbflechter vou Abelsberg. — Deutsches Geschichtenbuch. 5. Ausl. Leipzig o. I.
148. Die Ameisen als Straßenräuber. 172. Als ich das erstemal auf dem Dampf-
wagen saß. — Waldferien Wien-Pest-Leipzig 1887. 104. Weihnachten im Wald-
hause. — Das Sünderglöckel. Leipzig 1904. 128. Was der Schwalbe auf der
Reise passiert ist. — Die Älpler. Wien-Pest-Leipzig 1894. 213. Auf der Alm.
— (In „Erzählungen und Lebensbilder" von Albert Richter.) 118. Der Eselstrieb. —
. Die Schriften des Waldschulmeisters. 114. Waldlilie im Schnee.
Rückert, Friedrich. Gesammelte poetische Werke. Frankfurt a. M. 1882. *29. Der
Festtag. * 90. Parabel. * 92. Parabel,
Schalk, Gustav. Römische Heldensagen. Berli-n o. I. 238. Die Sage von der
Gründung Roms. 240. Horatius Cocles. 241. Mucius Scävola. 242. Casus
Marcius Coriolanus. — Nordisch-germanische Heldensagen. 2. Auflage. Olden-
burg und Leipzig 1897. 245. Odin und Frigga. 246. Walhalla. 247. Baldur.
254. Gudruns Not und Klage.
Scharrelmann, Heinrich. Weg zur Kraft. Hamburg 1906. 127. Spaziergang im
Frühling. — (In „Niedersachsen", 11. Jahrg.) 111. Peter Peine.
Scheffel, Viktor v. Gaudeamus. 37. Ausl. Stuttgart 1881. * 132. Ausfahrt.
Schenkendorf, Max v. Gedichte. Leipzig o. I. * 293. Soldaten-Morgenlied.
Scherenberg, Ernst. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) * 306. Hoch die
deutsche Flagge.
Schiller, Friedrich v. Werke. Herausgegeben von Karpeles. Leipzig o. I. *3. Pförtners
Morgengesang. *74. Die Bürgschaft. *159. Rätsel. *201. Rätsel. *210. Der
Alpenjäger. * 273. Der Gras von Habsburg.
Schilling von Canstatt, Heinr. Durch des Gartens kleine Wunderwelt. Frank-
furt a. O. 169. Das Schlafen der Blumen im Winlerstübchen.
Schneckenburger, Max. * 296 Die Wacht am Rhein.
Schneider, Karl Theodor. * 209. Mein Vaterland
Schubert, Gotthilf Heinrich v. Erzählungen. Erlangen 1847. 102. Des Vaters
Segen baut den Kindern Häuser.
Schwab, Gustav. Gedichte. 4. Ausl. Stuttgart und Tübingen 1851. *36. Das Gewitter.
Seidel, Heinrich. Leberecht Hühnchen. Leipzig 1891. 16. Leberecht Hühnchen. —
Kinderlieber und Geschichten. 3. Ausl. Stuttgart-Leipzig-Berlin o. I. * 126. Im
März. — Gedichte, Gesamtausgabe. Stuttgart und Berlin 1903. * 123. Im
Vorfrühling. * 124. Frühling in der Stadt. * 135. Rosen^eit. * 138. Weißt
du wohl noch? * 167. November. — (In „Neuer deutscher Jugendfreund". Stutt-
gart und Leipzig.) 117. Eine Storchgeichichte. — 150. Das Kornfeld.
Seidl, Gabriel. Gesammelte Schriften. Wien 1875. *12. Der tote Soldat. *53. Das
Glöcklein des Glücks.
Simrock, Karl. Rheinsagen aus dem Munde des Volks und deutscher Dichter. 7. Aust.
Bonn 1874. *248. Drusus' Tod.
Sohnrey, Heinrich. Friedesinchens Lebenslauf. 6. Ausl. Leipzig u. Berlin 1901.
XII
25. Frievesinchens erster Kirchgang. 64. Wie wir einen halben Gnlden fanden. —
Landjugend, 7. Jahrg. 78. Fürs Herzbluten.
Solger, Heinrich. 21. Eine Lebensrettung.
Spitta, Philipp. Psalter und Harfe. Leipzig 1866. *44. Znm Tagewerk. *122. Die
Schönheit der Natur.
Stökl, Helene. Mädchen-Bibliothek Freya. Stuttgart o. I. 196. Der Rheinfall.
220. Die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig.
Sturm, Julius. Fromme Lieder. 7. Aufl. Leipzig 1870. * 1. Gott grüße dich.—
Gedichte. Leipzig 1873. * 288. Wie schön leuchtet der Morgenstern.
Tecklenburg, August. 265. Ein Gottesurteil um Königsmord.
Tischendorf, Julius. Präparationen für den geographischen Unterricht an Volksschulen.
Leipzig. 216. Eine Fahrt auf dem Königsee. 222. Konstantinopel. 223. Das
Paradies von Spanien. 226. Größe und Verkehr Londons.
Träger, Albert. Gedichte. 10. Aufl. Leipzig 1874. *307. Ein Volk, ein Herz, ein
Vaterland.
Trinius, August. Im Waldesrauschen. Berlin 1895. 191. Aus der Heimat der
Spielwaren.
Trojan, Johannes. Für gewöhnliche Leute. Berlin 1893. *5. Hauszauber. 17. Ein
bösartiger Hausgast. 58. Sparsamkeit. 59. Nach der Decke strecken. 95. Die Auster.
— 100. Kinderlieber. Berlin 1899. *14. Vor der Haustür. * 171. Für arme Vögel.
— Kleine Bilder. Minden. 1886. 168. Auf der Dachrinne. — Gedichte. 2. Aufl.
Stuttgart 1901. * 163. Herbst.
Tschudi, Friedr. v. Das Tierleben der Alpen. Leipzig 1834. 214. Die Alpenherden
im Hochgewitter. 215. Die Staublawinen.
Uhland, Ludwig. Gedichte und Dramen. Berlin o. I. *11. Der blinde König.
*18. Das Glück von Edenhall. *76. Der Wirtin Töchterlein. *77. Das Schifllein.
*211. Des Knaben Berglied. *257. Klein Roland. *258. Roland Schildträger.
*264. Die deutsche Kaiserwahl. *270. Schwäbische Kunde. *272. Der Schenk von
Limburg. *275. Des Sängers Fluch. *276. Graf Eberhard der Rauschebart. —
Gedichte. Kritische Ausgabe von Erich Schmidt und Julius Hartmann. Stutt-
gart 1898. *26. Schäfers Sonntagslied. *40. Die Kapelle.
Viebig, Clara. (In Wohlrabe, Deutsches Land und Volk.) 208. Eifelwanderung.
Vilmar, A. F. C. Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Marburg 1873.
253. Aus der Siegfriedsage.
Vogl, Johann Nepomuk. Balladen und Romanzen, Sagen und Legenden. Wien 1851.
*9. Das Erkennen. *10. Ein Friedhofsbesuch. *260. Heinrich der Vogelsteller.
Volkmann-Leander, Richard v. Träumereien an französischen Kaminen. 37. Ausl.
Leipzig 1909. 96. Von Himmel und Hölle.
Volksbote, Oldenburger. 109. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
Volkslieder. *198. O Straßburg. *1-99. Der Schweizer.
Waetzold, Adolf. *282. Vom Fels zum Meer.
Wagner, Hermann. Entdeckungsreisen in Feld und Flur. Leipzig 1888. 153. Schmetter-
lingsleben. 155. Ein Abendausgang des Iltis. 165. Sommerfäden.
Weber, Friedrich Wilhelm. Gedichte. Paderborn 1884. *84. Zum neuen Jahre.
*255. Die Hunnen.
Weber, Max Maria v. Aus der Welt der Arbeit. Berlin 1868. 46. Eine Winter-
nacht auf der Lokomotive.
Weiter, Theodor Bernhard. Erzählungen aus der Weltgeschichte. — 235. Solon und
Krösus. 239. Der Kampf der Hvratier und Curiatier. 243. Hannibals Übergang
über die Alpen.
Wildenbruch, Ernst v. Lieder und Balladen. 7. Aufl. Berlin 1900. *302. Unser Fritz.
Witt, C. Griechische Götter- und Heldengeschichten. Stuttgart o. I. 229. Herakles.
230. Phaöton. 231. Dädalus und Ikarus. — 285. Friedrich der Große als Kronprinz.
Willmann. (In Wimmenauer, Aus der Welt des Altertums.) 236. Der Helden-
kampf der Griechen bei Thermopylä.
Wolter, August. Kaiser Wilhelm der Große als Herrscher, Mensch und Christ.
Berlin 1897. 298. Die Rose von Gorze.
Ziethe, Wilhelm. Palmenzweige. Berlin 1875. 52. Nur ein Schafhirt.
Zobeltitz, Hanns v. (In Wohlrabe, DeutschesLand und Volk.) 185. In Trakehnen.
Gesundheitsbüchlein vom Kaiserlichen Gesundheitsamt. 19. Unsere Wohnung.
Sprichwörter und Sprüche. 28. 42. 66. 67. 68. 71. 79. 80. 162.
Scherzfragen. 121.
I. Aus dem Menschenleben.
A. In Haus und Familie.
1. Gott grütze dich!
\. Gott grüße dich! Aein andrer Gruß
gleicht dem an Innigkeit. •
Gott grüße dich! Aein andrer Gruß
paßt so zu aller Zeit.
2. Gott grüße dich! lVenn dieser Gruß
so recht von Kerzen geht,
gilt bei dem lieben Gott der Gruß
so viel wie ein Gebet. Julius Sturm.
2. Mit Gott.
1. Mit Gott! — das ist ein schönes Wort —
da wandert man so fröhlich fort
und fragt nach Brücke nicht und Steg; —
mit Gott! — man findet seinen Weg.
2. Dies Wort ist wie ein Wanderstab;
man geht den Berg hinauf, hinab,
das Feld hindurch, den Wald entlang,
und graut die Nacht, man wird nicht bang'.
3. Im Graun der Nacht, im Windgebraus —
man weiß sich doch im Vaterhaus,
sorgt nicht am Kreuzweg allzuviel,
man geht mit Gott und kommt ans Ziel.
4. Mit Gott, das ist so wunderleicht;
und doch, so weit der Himmel reicht,
so weit hinwandeln Tag und Nacht,
dies Wort hat wundergroße Macht.
Kapp eh u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV.
I
2
5. Fürwahr, das ist ein sel'ger Mann,
der's recht von Herzen sagen kann.
Er wird so stark, daß selbst der Tod
demütig naht und nimmer droht.
6. Wohlan, so sprich zur Abendruh',
zum Morgenlichte sag es du:
Mit Gott! mit Gott! — So fang es an,
dein Tagewerk, so schließ es dann!
Hermann Kletke.
3. Pförtners Morgengesang.
s. Verschwunden ist die finstre Nacht,
die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
die L>onne kommt mit prangen
an: Himmel aufgegangen;
sie scheint in Aönigs Hrunkgemach,
sie scheinet durch des Bettlers Dach,
und was in Nacht verborgen war,
das macbt sie kund und offenbar.
2. Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
der über diesem Haus gewacht,
mit seinen heil'gen Scharen
UNS gnädig wollt' bewahren.
U)ohl mancher schloß die Augen schwer
und öffnet sie dem Licht nicht mehr.
Drum freue sich, wer neu belebt
den frischen Blick zur 5onn' erhebt!
Friedrich v. Schiller.
4. Morgenlied.
1. Auf goldnen Leitern steigt der Tag
vom Himmel auf die Erde nieder,
ruft aus dem Nest die Lerche wach
und aus der Brust die jungen Lieder.
2. Wie tiefe Schatten auch die Nacht
in alle Winkel trug und Ecken —
o neuer Glanz, o Morgenpracht!
nun muß all' Not die Waffen streckein
Gustav Falke.
1. Es ist, als müßt' ein Zauber
dabei im Spiele sein,
daß alles ist so sauber
im Hanse und so rein:
die Dielen und die Wände,
das Holzgerät und Glas, —
und sind doch nur zwei Hände,
nur die bewirken das.
2. Betritt man nur die Schwelle,
so fühlt man sich schon froh;
es waltet eine Helle
im Haus, die schmückt es so.
Viel Pracht nicht würde taugen
dazu und Reichtum nicht, —
es ist nur ein Paar Augen,
! das spendet so viel Licht.
5. Hauszauber.
3. So ruhig ist es drinnen,
man hört kein hartes Wort;
wer Hader denkt zu spinnen,
bleibt von der Türe fort.
Es ist so eine Stille
im Hause allerwärts, —
und diese ganze Fülle
von Frieden schafft ein Herz.
Johannes Trojan.
6. Das alte Haus.
1. Der Maurer schreitet frisch
heraus,
er soll dich niederbrechen;
da ist es mir, du altes Haus,
als hörte ich dich sprechen:
„Wie magst du mich, das lange Jahr’
der Lieb’ und EintrachtTempel war,
wie magst du mich zerstören?
2. Dein Ahnherr hat mich einst
erbaut
und unter frommem Beten
mit seiner schönen, stillen Braut
mich dann zuerst betreten.
Ich weiß um alles wohl Bescheid,
um jede Lust, um jedes Leid,
was ihnen widerfahren.
3. Dein Vater ward geboren hier
in der gebräunten Stube,
die ersten Blicke gab er mir,
der muntre, kräft’ge Bube.
Er schaute auf die Engelein,
die gaukeln in der Fenster Schein,
dann erst auf seine Mutter.
4. Und als er traurig schlich
am Stab
nach manchen schönen Jahren,
da hat er schon, wie still ein Grab,
in meinem Schoß erfahren;
in jener Ecke saß er da,
und stumm und händefaltend sah
er sehnlich auf zum Himmel.
5. Du selbst, doch nein, das
sag’ ich nicht,
ich will von dir nicht sprechen;
hat dieses alles kein Gewicht,
so laß nur immer brechen.
Das Glück zog mit dem Ahnherrn
ein;
zerstöre du den Tempel sein,
damit es endlich weiche.
1*
4
6. Noch lange Jahre kann ich
stehn,
bin fest genug gegründet;
und ob sich mit der Stürme Wehn
ein Wolkenbruch verbündet,
kühn rag’ ich wie ein Fels empor,
und was ich auch an Schmuck verlor,
gewann ich’s nicht an Würde?
7. Und hab’ ich denn nicht
manchen Saal
und manch geräumig Zimmer?
Und glänzt nicht festlich mein
Portal
in alter Pracht noch immer?
Noch jedem hass in mir behagt;
kein Glücklicher hat sich beklagt,
ich sei zu klein gewesen.
8. Und wenn es einst zum letzten
geht,
und wenn das warme Leben
in deinen Adern stille steht,
wird dies dich nicht erheben,
dort wo dein Vater sterbend lag,
wo deiner Mutter Auge brach,
den letzten Kampf zu streiten?“
9. Nun schweigt es still, das alte
Haus;
mir aber ist’s, als schritten
die toten Väter all' heraus,
um für ihr Haus zu bitten,
und auch in meiner eignen Brust,
wie ruft so manche Kinderlust:
„Laß stehn das Haus, laß stehen!“
10. Indessen ist der Mauermann
schon ins Gebälk gestiegen;
er fängt mit Macht zu brechen an,
und Stein und Ziegel fliegen.
„Still, lieber Meister, geh von hier!
Gern zahle ich den Taglohn dir,
allein das Haus bleibt stehen!“
7. Wenn du noch
1. Wenn du noch eine Mutter Hast,
so danke Gott und sei zufrieden;
nicht allen auf dem Erdenrund
ist dieses Hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast,
so sollst du sie in Liebe pflegen,
daß sie dereinst ihr müdes Haupt
in Frieden kann zur Ruhe legen.
2. Sie hat vom ersten Tage an
für dich gelebt mit bangen Sorgen;
sie brachte abends dich zur Ruh'
und weckte küssend dich am Morgen.
Und warst du krank, sie pflegte dein,
den sie mit tiefem Schmerz geboren;
und gaben alle dich schon auf,
die Mutter gab dich nicht verloren.
Friedrich Hebbel.
eine Mutter hast.
3. Sie lehrtedich den frommen Spruch,
sie lehrte dich zuerst das Reden;
sie faltete die Hände dein
und lehrte dich zum Vater beten.
Sie lenkte deinen Kindessinn,
sie wachte über deiner Jugend;
der Mutter danke es allein,
wenn du noch gehst den Pfad der Tugend.
4. Und hast du keine Mutter mehr,
und kannst du sie nicht mehr beglücken,
so kannst du doch ihr frühes Grab
mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab, ein heilig Grab,
für dich die ewig heil'ge Stelle!
O, wende dich an diesen Ort,
Wenn dich umtost des Lebens Welle!
Wilhelm Kaulisch.
5
8. Die gute Mutter.
1. Im Jahre 1796, als die französische Armee nach dem Rück-
züge aus Deutschland jenseits hinab am Rhein lag, sehnte sich eine
Mutter in der Schweiz nach ihrem Kinde, das bei der Armee war
und von dem sie lange nichts erfahren hatte, und ihr Herz hatte
daheim keine Ruhe mehr. „Er muß bei der Rheinarmee sein,“ sagte
sie, „und der liebe Gott, der ihn mir gegeben hat, wird mich zu ihm
führen“; und als sie auf dem Postwagen zum St. Johannistor in Basel
heraus und an den Rebhäusern vorbei ins Sundgau gekommen war,
treuherzig und redselig, wie alle Gemüter sind, die Teilnehmung und
Hoffnung bedürfen, und die Schweizer ohnedem, erzählte sie ihren
Reisegefährten bald, was sie auf den Weg getrieben hatte. „Find’
ich ihn in Colmar nicht, so geh’ ich nach Straßburg, find’ ich ihn in
Straßburg nicht, so geh’ ich nach Mainz.“ Die andern sagten das
dazu und jenes, und einer fragte sie: „Was ist denn Euer Sohn bei
der Armee? Major?“ Da wurde sie fast verschämt in ihrem Inwen-
digen. Denn sie dachte, er könnte wohl Major sein oder so etwas,
weil er immer brav war, aber sie wußte es nicht. „Wenn ich ihn
nur finde,“ sagte sie, „so darf er auch etwas weniger sein, denn er
ist mein Sohn.“
2. Zwei Stunden herwärts Colmar aber neigte sich schon die
Sonne zu den Elsässer Bergen, die Hirten trieben heim, die Kamine
in den Dörfern rauchten, die Soldaten in dem Lager nicht weit von
der Straße standen partienweise mit dem Gewehr beim Fuß, und die
Generale und Obersten standen vor dem Lager beisammen, unter-
hielten sich miteinander, und eine junge, weißgekleidete Person von
weiblichem Geschlecht und feiner Bildung stand auch dabei und
wiegte auf ihren Armen ein Kind. Die Frau im Postwagen sagte:
„Das ist auch keine gemeine Person, da sie nahe bei den Herren
steht. Was gilt’s, der so mit ihr redet, ist ihr Mann.“ Der geneigte
Leser fängt allbereits an, etwas zu merken, aber die Frau im Post-
wagen merkte noch nichts. Ihr Mutterherz hatte noch keine Ahnung,
so nahe sie an ihm vorbeigefahren war, sondern bis nach Colmar
hinein war sie still und redete nimmer.
3. In der Stadt im Wirtshaus, wo schon eine Gesellschaft an
der Mahlzeit saß und die Reisegefährten sich auch noch setzten, wo
Platz war, da war ihr Herz erst recht zwischen Bangigkeit und Hoff-
nung eingeengt, daß sie jetzt etwas von ihrem Sohne erfahren könnte,
ob ihn niemand kenne, und ob er noch lebe, und ob er etwas sei,
und hatte doch den Mut fast nicht zu fragen. Denn es gehört Herz
dazu, eine Frage zu tun, wo man das Ja so gern hören möchte, und
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das Nein ist doch möglich. Auch meinte sie, jedermann merke es,
daß es ihr Sohn sei, nach dem sie frage, und daß sie hoffe, er sei
etwas geworden. Endlich aber, als ihr der Diener des Wirts die
Suppe brachte, hielt sie ihn heimlich am Rocke fest und fragte ihn
„Kennt Ihr nicht einen bei der Armee, oder habt Ihr nicht von
einem gehört, soundso?“ Der Diener sagte: „Das ist ja unser General,
der im Lager steht. Heute hat er bei uns zu Mittag gegessen,“ und
zeigte ihr den Platz. Aber die gute Mutter gab ihm wenig Gehör
darauf, sondern meinte, es sei nur Spaß. Der Diener ruft den Wirt;
der Wirt sagt: „Ja, so heißt der General!“ Ein Offizier sagte auch:
„Ja, so heißt unser General,“ und auf ihre Fragen antwortete er:
„Ja, so alt kann er sein,“ und: „Ja, so sieht er aus und ist von
Geburt ein Schweizer.“ Da konnte sie sich nicht mehr halten vor
inwendiger Bewegung und sagte: „Es ist mein Sohn, den ich suche;“
und ihr ehrliches Schweizergesicht sah fast ein wenig einfältig aus
vor unverhoffter Freude und vor Liebe und vor Scham. Denn sie
schämte sich, daß sie eines Generals Mutter sein sollte, vor so vielen
Leuten, und konnte es doch nicht verschweigen. Aber der Wirt
sagte: „Wenn das so ist, gute Frau, so laßt herzhaft Euer Gepäck
abladen von dem Postwagen und erlaubt mir, daß ich morgen in
aller Frühe ein Kaleschlein anspannen lasse und Euch hinausfahre
zu Eurem Herrn Sohn in das Lager.“
4. Am Morgen, als sie in das Lager kam und den General sah,
ja, so war es ihr Sohn, und die junge Frau, die gestern mit ihm
geredet hatte, war ihre Schwiegertochter, und das Kind war ihr
Enkel. Und als der General seine Mutter erkannte und seiner Ge-
mahlin sagte: „Das ist sie,“ da küßten und umarmten sie sich, und
die Mutterliebe und die Kindesliebe und die Hoheit und die Demut
schwammen ineinander und gossen sich in Tränen aus, und die gute
Mutter blieb lange in ungewöhnlicher Rührung, fast weniger darüber,
daß sie heute die Ihrigen fand, als darüber, daß sie sie gestern schon
gesehen hatte. — Als der Wirt zurückkam, sagte er, das Geld regne
zwar nirgends durch das Kamin herab, aber nicht zweihundert
Franken nähme er darum, daß er nicht zugesehen hätte, wie die
gute Mutter ihren Sohn erkannte und sein Glück sah.
Johann Peter PIehei.
9. Das Erkennen.
(£in N)anderbursch mit dem Stab in der Ijaiid
kommt wieder Heim aus dem fremden Tand.
2. Sein Ljaar ist bestäubt, fein Antlitz verbrannt;
von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
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3. So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor;
am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
oft hatte der Becher die beiden vereint.
5. Doch sieh, Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.
6. Und weiter wandert nach kurzem Gruß
der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.;!
7. Da schaut aus dem Fenster sein Schätze! fromm:
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Millkomm!"
8. Doch sieh! — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
9. Und weiter geht er die Straß' entlang,
ein Tränlein hängt ihm an der braunen Mang'.
^0, Da wankt von dem Airchsteig sein Mütterchen her.
„Gott grüß' Luch!" so spricht er und sonst nichts mehr.
lU Doch sieh, das Mütterchen schluchzet vor Lust:
„Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust.
\2. Mie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Johann Nepomuk Vogl.
10. Ein Friedhofsbesuch.
\. Bein: Totengräber pocht es an:
„Mach auf, mach auf, du greiser Mann!
Tu auf die Tür und nimm den Stab,
mußt zeigen mir ein teures Grab!"
2. Lin Fremder spricht's mit sirupp'gem Bart,
verbrannt und rauh nach Ariegerart.
„Mie heißt der Teure, der Luch starb
und sich ein j?fühl bei mir erwarb?"
5. „Die Mutter ist es, kennt Ihr nicht
der Marthe Sohn mehr am Gesicht?"
„lchlf Gott, wie groß, wie braun gebrannt
hätt' nun und nimmer Luch erkannt!
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Doch kommt und seht, hier ist der Grt,
nach dem gefragt mich Euer U)ort.
Hier wohnt, verhüllt von Erd' und Stein,
nun Euer totes Mütterlein."
5. Da steht der Arieger lang' und schweigt,
das Haupt hinab zur Brust geneigt.
Er steht und starrt zum teuern Grab
mit tränenfeuchtem Blick hinab.
6. Dann schüttelt er sein Haupt und spricht:
,,^)hr irrt, hier wohnt die Tote nicht.
U)ie schloss' ein Raum, so eng und klein,
die Liebe einer Mutter ein!"
Johann Nepomuk Vogt.
11. Der blinde König.
1. Was steht der nord'schen Fechter
Schar
hoch aus des Meeres Bord?
Was will in seinem grauen Haar
der blinde König dort?
Er ruft in bitterm Harme,
auf seinen Stab gelehnt,
daß überm Meeresarme
das Eiland widertönt:
2. „Gib, Räuber, ans dem Felsverlies
die Tochter mir zurück!
Ihr Harfenspiel, ihr Lied so süß
war meines Alters Glück.
Vom Tanz auf grünem Strande
hast du sie weggeraubt;
dir ist es ewig Schande,
mir beugt's das graue Haupt."
3. Da tritt aus seiner Kluft hervor
der Räuber, groß und wild;
er schwingt sein Hünenschwert empor
und schlägt an seinen Schild:
„Du hast ja viele Wächter,
warum denn litten's die?
Dir dient so mancher Fechter,
und keiner kämpft um sie?"
4. Noch stehn die Fechter alle stumm,
tritt keiner aus den Reihn;
der blinde König kehrt sich um:
„Bin ich denn ganz allein?"
Da faßt des Vaters Rechte
sein junger Sohn so warm:
„Vergönnt mir's, daß ich fechte!
Wohl fühl' ich Kraft im Arm."
5. „O Sohn, der Feind ist riesen-
stark,
ihm hielt noch keiner stand,
und doch, in dir ist edles Mark,
ich fühl's am Druck der Hand.
Nimm hier die alte Klinge!
sie ist der Skalden Preis;
und fällst du, so verschlinge
die Flut mich armen Greis!"
6. Und horch! esschäumet, undesrauscht
der Nachen übers Meer;
der blinde König steht und lauscht,
und alles schweigt umher,
bis drüben sich erhoben
der Schild und Schwerter Schall
und Kampfgeschrei und Toben
| und dumpfer Widerhall.
7. Da ruft der Greis so freudig bang':
„Sagt an, was ihr erschaut!
Mein Schwert, ich kenn's am guten Klang,
es gab so scharfen Laut." —
„Der Räuber ist gefallen,
er hat den blut'gen Lohn.
Heil dir, du Held vor allen,
du starker Königssohn!"
8. Und wieder wird es still umher,
der König steht und lauscht:
„Was hör' ich kommen übers Meer?
Es rudert, und es rauscht!"
„Sie kommen angefahren,
dein Sohn mit Schwert und Schild,
in sonnenhellen Haaren
dein Töchterlein Gunild."
9. „Willkommen!" ruft vom hohen Stein
der blinde Greis hinab,
„nun wird mein Alter wonnig sein
und ehrenvoll mein Grab.
Du legst mir, Sohn, zur Seite
das Schwert von gutem Klang;
Gunilde, du Befreite,
singst mir den Grabgesang!"
Ludwig Uh land.
12. Der tote Soldat.
s. Auf ferner, fremder Aue,
da liegt ein toter Soldat,
ein ungezählter, vergeßner,
wie brav er gekämpft auch hat.
2. Es reiten viel Generale
mit Areuzen an ihm vorbei;
denkt keiner, daß, der da lieget,
auch wert eines Areuzleins sei.
3. Es ist um manchen Gefallnen
viel Frag' und Kammer dort;
doch für den armen Soldaten
gibt's weder Träne noch Wort.
% Doch ferne, wo er zu Haufe,
da fitzt beim Abendrot
ein Vater voll banger Ahnung
und sagt: „Gewiß, er ist tot!"
5. Da sitzt eine weinende Mutter
und schluchzet laut: „Gott helf'!
Er hat sich angemeldet;
die Ahr blieb stehn um elf."
6. Da starrt ein blasses Mädchen
hinaus ins Dämmerlicht:
„And ist er dahin und gestorben,
meinem Herzen stirbt er nicht!" —
7. Drei Augenpaare schicken,
so heiß es ein Herz nur kann,
für den armen toten Soldaten
ihre Tränen zum Himmel hinan.
8. And der Himmel nimmt die
Tränen
in einem Wölkchen auf
und trägt es zur fernen Aue
hinüber in raschem Lauf
9. und gießt aus der Wolke die Tränen
aufs Haupt des Toten als Tau,
daß er unbeweint nicht liege
auf ferner, fremder Au.
Johann Gabriel Seidl.
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13. Heimkehr.
1. Seh' ich dich wieder, mein Vaterhaus!
Die ganze Natur bricht in Jubel aus:
Alle Büsche und Bäume klingen und blühn,
die schwellenden Wiesen blitzen und glühn,
die Blumen duften, die Drossel schlägt,
als fühlten sie mit, was mein Herz bewegt.
2. Ich blicke dankend zum Himmel empor,
hell jubelnd schmettert der Lerchen Chor,
und wie Wanderburschen lustig und frei
ziehn oben die lichthellen Wölkchen vorbei,
und Küfer und Bienen umschwirren mich,
als wären sie alle so glücklich wie ich.
3. Die Mütze mit Eichengrün umkanbt,
ich schwinge sie jubelnd empor vom Haupt,
und den Stab hoch in der andern Hand,
grüß' ich Vaterhaus und Heimatland.
Schon seh' ich die Mutter — wie wallt mir die Brust!
O Stunde der Heimkehr, o seligste Lust!
Friedrich von Bodenstedt.
14. Vor der Haustür.
1. Als ich heut' ging ins Feld hinaus,
hab' ich etwas gesehn;
vor einem kleinen Bauernhans
da tät ein Dirnlein stehn.
2. Mit beiden Händen, denkt euch bloß,
hielt es, wie es da stand,
ein Butterbrot, so riesig groß,
wie ich noch keines fand.
3. Du kleines Ding, wo willst du hin
mit solchem großen Brot?
Ich hätt' damit, so groß ich bin,
ja selber meine Not.
4. Wohin es will, wohin es geht,
das seh' ich plötzlich ein.
Das Dirnlein hebt's empor — o seht!
und beißt mit Mut hinein.
— 11
5. Das glaub' ich wohl, das ist gesund,
weuu man's so haben kann;
zwei Äuglein über Brot und Mund,
die schaun mich lachend an.
6. Die Äuglein sind so hell und klar,
die Bäcklein sind so rot;
das kommt gewiß doch — ist's nicht wahr? —
vom großen Butterbrot.
Johannes Trojan.
15. Kindesliebe.
1. Ein preußischer Offizier, der sehr reich und aus vornehmer Familie
war, hielt sich eine Zeitlang als Werber zu Ulm in Schwaben auf. Eines
Abends meldete sich bei ihm ein junger Mann, um sich anwerben zu
lassen. Er war sehr schön gewachsen, schien wohlerzogen und brav; aber
wie er vor den Offizier trat, zitterte er an allen Gliedern. Der Offizier
schrieb das der jugendlichen Furchtsamkeit zu und fragte, was er besorge.
„Ich fürchte, daß Sie mich abweisen," versetzte der junge Mensch, und
indem er dies sagte, rollte eine Träne über seine Wangen. — „Nicht
doch," versicherte ihn der Offizier, „Sie sind mir vielmehr außerordentlich
willkommen. Wie konnten Sie so etwas befürchten?" — „Weil Ihnen
das Handgeld, das ich fordern muß, vermutlich zu hoch vorkommen wird."
— „Wieviel verlangen Sie denn?" — „Eine dringende Notwendigkeit
zwingt mich, hundert Gulden zu fordern, und ich bin der unglücklichste
Mensch in der Welt, wenn Sie sich weigern, mir so viel zu geben." —
„Hundert Gulden ist freilich viel; aber Sie gefallen mir; ich glaube,
daß Sie Ihre Pflicht fiun werden, und ich will nicht mit Ihnen
handeln. Hier ist das Geld, morgen reisen wir ab!" Er zahlte ihm
die hundert Gulden aus; der junge Mensch war entzückt. Dann bat
er den Offizier um die Erlaubnis, noch einmal nach Hause zu gehen,
um eine heilige Pflicht zu erfüllen; in einer Stunde versprach er wieder
da zu sein.
2. Der Offizier traute seinem ehrlichen Gesicht und ließ ihn gehen.
Weil er indes in dem Benehmen des jungen Mannes etwas Besondres
bemerkt hatte, so schlich er selbst ihm von ferne nach, um zu erfahren, wo
er hingehen würde. Er sah ihn stracks nach dem Stadtgefängnisse laufen,
wo er anklopfte und eingelassen wurde. Der Offizier ging ebenfalls
hinein und sah alles, was vorging, und was den Jüngling bewogen hatte,
sich anwerben zu lassen. Dessen Vater saß im Gefängnisse wegen einer
Schuld von hundert Gulden, die er nicht bezahlen konnte, und der Sohn
hatte sich deshalb anwerben lassen, um mit dem Handgelde ihn zu be-
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freien. Sobald er in das Gefängnis trat, redete er mit dem Aufseher
und gab ihm die hundert Gulden in Verwahrung. Dann eilte er
zu feinem Vater, siel ihm um den Hals und verkündigte ihm feine
Freiheit.
3. Der Offizier war ihm nachgegangen und sah den ehrwürdigen
Greis, der feinen braven Sohn an das Herz drückte und mit feinen
Tränen benetzte, ohne ein Wort zu reden. Er konnte es nicht übers Herz
bringen, daß ein so guter Sohn feine Freiheit verkaufen sollte. Deswegen
trat er hervor und sagte zu dem Alten: „Beruhigen Sie sich! Ich will
Sie eines so braven Sohnes nicht berauben. Lassen Sie mich teilnehmen
an feiner edlen Tat! Er ist frei, und es reut mich die Summe nicht,
da sie so gut angewendet ist."
4. Am andern Morgen reifte er mit dem frohen Bewußtsein ab,
zwei gute Menschen glücklich gemacht zu haben.
Wilh. Pustkucheu-Glanzow.
16. Leberecht Hühnchen.
i.
1. Ich hatte zufällig erfahren, daß mein guter Freund und
Studiengenoffe Leberecht Hühnchen schon feit einiger Zeit in Berlin
ansässig fei und in einer der großen Maschinenfabriken vor dem
Oranienburger Tor eine Stellung einnehme. Wie das wohl so zu ge-
schehen pflegt, ein anfangs lebhafter Briefwechsel war allmählich ein-
geschlafen, und schließlich hatten wir uns ganz aus den Augen ver-
loren; das letzte Lebenszeichen war die Anzeige seiner Verheiratung
gewesen, die vor etwa sieben Jahren in einer kleinen, westfälischen
Stadt erfolgt war. Mit dem Namen dieses Freundes war die Er-
innerung an eine heitere Studienzeit auf das engste verknüpft, und
ich beschloß sofort, ihn aufzusuchen, um den vortrefflichen Menschen
wiederzusehen und die Erinnerung an die gute alte Zeit aufzufrischen.
2. Leberecht Hühnchen gehörte zu den Bevorzugten, welchen eine
gütige Fee das beste Geschenk, die Kunst, glücklich zu sein, auf die
Wiege gelegt hatte; er besaß die Gabe, aus allen Blumen, selbst aus
den giftigen, Honig zu saugen. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn
länger als fünf Minuten lang verstimmt gesehen hätte, dann brach der
unverwüstliche Sonnenschein seines Innern siegreich wieder hervor,
und er wußte auch die schlimmste Sache so zu drehen und zu wenden,
daß ein Rosenschimmer von ihr ausging. Er hatte in Hannover, wo
wir zusammen das Polytechnikum besuchten, eine ganz geringe Unter-
stützung von Hause und erwarb sich das Notdürftige durch schlecht be-
zahlte Privatstunden; dabei schloß er sich aber von keiner studentischen
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Zusammenkunft aus, und, was für mich das Rätselhafteste war, er
hatte fast immer Geld, so daß er anderen etwas zu borgen vermochte.
3. Eines Winterabends befand ich mich in der, ich muß es ge-
stehen, nicht allzu seltenen Lage, daß meine sämtlichen Hilfsquellen
versiegt waren, während mein Wechsel erst in einigen Tagen ein-
treffen konnte. Nach sorgfältigem Umdrehen aller Taschen und Auf-
ziehen sämtlicher Schubladen hatte ich noch dreißig Pfennige zu-
sammengebracht, und mit diesem Besitztum, das einsam in meiner
Tasche klimperte, schlenderte ich durch die Straßen, in eifriges Nach-
denken über die vorteilhafteste Anlage dieses Kapitals versunken. In
dieser Gedankenarbeit unterbrach mich Hühnchen, der plötzlich mit dem
fröhlichsten Gesichte von der Welt vor mir stand und mich fragte, ob
ich ihm nicht drei Taler leihen könne. Da ich mich nun mit der
Absicht getragen hatte, ein ähnliches Ansinnen an ihn zu stellen, so
konnte ich mich des Lachens nicht enthalten und legte ihm die Sache
klar. „Famos," sagte er, „also dreißig Pfennige hast du noch? Wenn
wir beide zusammenlegen, haben wir auch nicht mehr. Ich habe soeben
alles fortgegeben an unseren Landsmann Braun, der das Geld not-
wendig brauchte. Also dreißig Pfennige hast du noch? Dafür wollen
wir uns einen fidelen Abend machen!"
Ich sah ihn verwundert an. „Gib mir nur das Geld," sagte er,
„ich will einkaufen — zu Hause habe ich auch noch allerlei — wir
wollen herrlich leben heute abend — herrlich, sage ich."
4. Wir gingen durch einige enge Gassen der Ägidienvorstadt zu
seiner Wohnung. Unterwegs verschwand er in einem kleinen, küm-
merlichen Laden, der sich durch ein paar gekreuzte Kalkpfeifen, einige
verstaubte Zichorien- und Tabakspakete, Wichskruken und Senftöpfe
kennzeichnete, und kam nach kurzer Zeit mit zwei Tüten wieder zum
Vorschein.
Leberecht Hühnchen wohnte in dem Giebel eines lächerlich kleinen
und niedrigen Häuschens, das in einem ebenso winzigen Garten ge-
legen war. In seinem Wohnzimmer war eben so viel Platz, daß zwei
anspruchslose Menschen die Beine darin ausstrecken konnten, und
nebenan befand sich eine Dachkammer, die fast vollständig von seinem
Bette ausgefüllt wurde, so daß Hühnchen, wenn er, auf dem Bette
sitzend, die Stiefel anziehen wollte, zuvor die Tür öffnen mußte.
Dieser kleine Vogelkäfig hatte aber etwas eigentümlich Behagliches;
etwas von dem sonnigen Wesen seines Bewohners war auf ihn über-
gegangen.
„Nun vor allen Dingen einheizen," sagte Hühnchen, „setze dich
nur auf das Sofa, aber suche dir ein Tal aus. Das Sofa ist etwas
gebirgig; man muß sehen, daß man in ein Tal zu sitzen kommt."
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5. Das Feuer in dem kleinen, eisernen Kanonenofen, der sich
der Größe nach zu anderen gewöhnlichen Öfen etwa verhielt wie der
Teckel zum Neufundländer, geriet bei dem angestrengten Blasen meines
Freundes bald in Brand, und er betrachtete wohlgefällig die züngelnde
Flamme. Dieser Ofen war für ihn ein steter Gegenstand des Entzückens.
„Ich begreife nicht," sagte er, „was die Menschen gegen eiserne
Öfen haben. In einer Viertelstunde haben wir es nun warm. Und
daß man nach dem Feuer sehen und es schüren muß, das ist die an-
genehmste Unterhaltung, die ich kenne. Und wenn es so recht Stein
und Bein friert, da ist es herrlich, wenn er so rot und trotzig in
seiner Ecke steht und gegen die Kälte anglüht."
6. Hiernach holte er einen kleinen rostigen Blechtopf, füllte ihn
mit Wasser und setzte ihn auf den Ofen. Dann bereitete er den Tisch
für das Abendessen vor. In einem kleinen Holzschränkchen befanden
sich seine Wirtschaftsgegenstände. Da waren zwei Tassen, eine schmale,
hohe, mit blauen Vergißmeinnicht und einem Untersatz, der nicht zu
ihr paßte, und eine ganz breite, flache, die den Henkel verloren hatte.
Dann kam eine kleine, schiefe Butterdose zum Vorschein, eine Blech-
büchse mit Tee und eine runde Pappschachtel, die ehemals Hemden-
kragen beherbergt hatte und jetzt zu dem Range einer Zuckerdose
avanciert war. Das köstlichste Stück war aber eine kleine, runde Tee-
kanne von braunem Ton, die er stets mit besonderer Vorsicht und
Schonung behandelte, denn sie war ein Familienstück und ein be-
sonderes Heiligtum. Drei Teller und zwei Messer, die sich so unähnlich
waren, wie das für zwei Tischmesser nur irgend erreichbar ist, eine
Gabel mit nur noch zwei Zinken und einer fatalen Neigung, ihren
Stiel zu verlassen, sowie zwei verbogene Neusilber-Teelöffel vollendeten
den Vorrat.
Als er alle diese Dinge mit einem gewissen Geschick aufgebaut
hatte, ließ er einen zärtlichen Blick der Befriedigung über das Ganze
schweifen und sagte: „Alles mein Eigentum! Es ist doch schon ein
kleiner Anfang zu einer Häuslichkeit."
7. Unterdes war das Wasser ins Sieden geraten, und Hühnchen
brachte aus der größeren Tüte fünf Eier zum Vorschein, die zu kochen
er nun mit großem Geschick unter Beihilfe seiner Taschenuhr unter-
nahm. Nachdem er sodann frisches Wasser für den Tee aufgesetzt und
ein mächtiges Brot herbeigeholt hatte, setzte er sich mit dem Ausdruck
der höchsten Befriedigung zu mir in ein benachbartes Tal des Sofas,
und die Abendmahlzeit begann.
Als mein Freund das erste Ei verzehrt hatte, nahm er ein zweites
und betrachtete es nachdenklich. „Sieh mal, so ein Ei," sagte er, „es
enthält ein ganzes Huhn, es braucht nur ausgebrütet zu werden. Und
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wenn dies groß ist, da legt es wieder Eier, aus denen nochmals Hühner
werden, und so fort. Ich sehe sie vor mir, zahllose Scharen, die den
Erdball bevölkern. Nun nehme ich dies Ei, und mit einem Schluck
sind sie vernichtet! Sieh mal, das nenne ich schlampampen!"
Und so schlampampten wir und tranken Tee dazu. Ein kleines,
sonderbares gelbes Ei blieb übrig, denn zwei in fünf geht nicht auf,
und wir beschlossen, es zu teilen. „Es kommt vor," sagte mein Freund,
indem er das Ei geschickt mit der Messerschneide ringsum aufklopfte,
um es durchzuschneiden, „es kommt vor, daß zuweilen ganz seltene
Exemplare unter die gewöhnlichen Eier geraten. Die Fasanen legen
so kleine gelbe; ich glaube wahrhaftig, dies ist ein Fasanenei, ich
hatte früher eins in meiner Sammlung, das sah geradeso aus." Er
löste seine Hälfte aus der Schale und schlürfte sie bedächtig hinunter.
Dann lehnte er sich zurück, und mit halbgeschlossenen Augen flüsterte
er unter Schmunzeln: „Fasan! Herrlich!"
8. Nach dem Essen stellte sich eine Fatalität heraus. Es war
zwar Tabak vorhanden, denn die spitze, blaue Tüte, die Hühnchen vor-
chin eingekauft hatte, enthielt für zehn Pfennige dieses köstlichen Krautes.
Aber mein guter Freund besaß nur eine einzige invalide Pfeife, deren
Mundstück bereits bis auf den letzten Knopf weggebraucht war, und
deren Kopf die unverbesserliche Unart besaß, plötzlich herumzuschießen
und die Beinkleider mit einem Funkenregen zu bestreuen.
„Diese Schwierigkeit ist leicht zu lösen," sagte Hühnchen. „Hier
habe ich Don Quichote; der eine raucht, der andere liest vor, ein
Kapitel ums andere! Du als Gast bekommst die Pfeife zuerst, so ist
alles in Ordnung."
Dann, während ich die Pfeife stopfte und er nachdenklich den
Rest seines Tees schlürfte, kam ihm ein neuer Gedanke.
„Es ist etwas Großes," sagte er, „wenn man bedenkt, daß, da-
mit ich hier in aller Ruhe meinen Tee schlürfen und du deine Pfeife
raucheil kannst, der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns
pflanzt und der Neger für uns unter der Tropensonne arbeitet. Ja,
das nicht allein, die großen Dampfer durchbrausen für uns in Sturm
und Wogenschwall den mächtigen Ozean, und die Karawanen ziehen
durch die brennende Wüste. Der stolze, millionenreiche Handelskönig,
der in Hamburg in einem Palaste wohnt und am Ufer der Elbe einen
fürstlichen Landsitz sein nennt, muß uns einen Teil seiner Sorge
zuwenden, und wenn ihm der Handel schlaflose Nächte macht, so
liegen wir behaglich hingestreckt und träumen von schönen Dingen und
lassen ihn sich quälen, damit wir zu unserem Tee und unserem Tabak
gelangen. Es schmeckt mir noch einmal so gut, wenn ich daran denke."
Ach, er bedachte nicht, daß wohl der größte Teil dieses Tees au
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dem Ufer eines träge dahinfließenden Baches gewachsen war, und daß
dieser Tabak im besten Falle die Uckermark sein Vaterland nannte,
wenn er nicht gar in Magdeburgs fruchtbaren Gefilden von derselben
Rübe seinen Ursprung nahm, die die Mutter des Zuckers war, mit
dem wir uns den Tee versüßt hatten. — So ging dieser Abend heiter
und friedlich zu Ende.
II.
1. Auf dem Hinwege zu der jetzigen Wohnung meines Freundes
hatte ich mir diese und ähnliche harmlose Erlebnisse aus jener fröh-
lichen Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und eine Sehnsucht hatte
mich befallen nach jenen Tagen, die nicht wiederkehren. Wohin war
er entschwunden, der goldene Schimmer, der damals die Welt ver-
klärte? Und wie würde ich meinen Freund wiederfinden?
Er sollte in der Gartenstraße wohnen, allein über die Haus-
nummer war ich nicht im klaren. Schon wollte ich in ein Haus gehen,
das ich für das richtige hielt, und mich erkundigen, als ich auf zwei
nette, reinliche Kinder von fünf und sechs Jahren aufmerksam wurde,
die sich vor der benachbarten Haustür auf eine für sie scheinbar köst-
liche Art vergnügten. Es war ein trüber Sommertag gewesen, und nun
gegen Abend fing es an, ganz sanft zu regnen. Da hatte nun der
Knabe, als der ältere, den herrlichen Spaß entdeckt, das Gesicht gegen
den Himmel zu richten und es sich in den offenen Mund regnen zu lassen.
Mit jener Begeisterung, die Kinder solchen neuen Erfindungen entgegen-
bringen, hatte das Mädchen dies sofort nachgeahnck, und nun standen
sie beide dort, von Zeit zu Zeit mit ihren fröhlichen Kinderstimmen
in helleri Jubel ausbrechend über dieses ungekannte und kostenlose
Vergnügen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz: „Das sind Hühnchens
Kinder!" Dies war ganz in seinem Geiste gehandelt.
2. Ich fragte den Jungen: „Wie heißt dein Vater?" — „Unser
Vater heißt Hühnchen," war die Antwort. „Wo wohnt er?" — „Er
wohnt in diesem Hause, drei Treppen hoch." — „Ich möchte ihn be-
suchen," sagte ich, indem ich den Knaben den reinlichen Blondkopf
streichelte. „Ja, er ist zu Hause," war die Antwort. Und nun liefen
beide Kinder eilfertig mir voran und klasperten mit ihren kleinen
Beinchen hastig die Treppen hinauf, um meine Ankunft zu vermelden.
Ich folgte langsam, und als ich oben ankam, fand ich die Tür bereits
geöffnet und Hühnchen meiner wartend. Es war dunkel auf dem
Flur, und er erkannte mich nicht. „Bitte, treten Sie ein," sagte er,
indem er eine zweite Tür aufstieß, „mit wem habe ich die Ehre?"
Ich antwortete nicht, sondern trat in das Zimmer und sah ihn
an. Er war noch ganz derselbe, nur der Bart war größer geworden
und die Haare etwas von der Stirn zurückgewichen. In den Augen
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lag noch der alte, unverwüstliche Sonnenschein. Im helleren Lichte
erkannte er mich sofort. Seine Freude war unbeschreiblich. Wir um-
armten uns, dann schob er mich zurück und betrachtete mich.
„Weißt du, was ich tun möchte?" sagte er dann; „was wir
früher taten, wenn unsere Freude anderweitig nicht zu bändigen war:
einen Jndianertanz möchte ich tanzen!" Und er schwenkte seine Beine
und machte einige Sprünge, deren er sich in seinen jüngsten Jahren
nicht hätte zu schämen brauchen. Dann umarmte er mich noch ein-
mal und wurde plötzlich ernsthaft.
„Meine Frau wird sich freuen," sagte er, „sie kennt dich und liebt
dich durch meine Erzählungen, aber eins muß ich dir sagen; ich
glaube, du weißt es nicht: meine Frau ist nämlich —" hierbei klopfte
er sich mit der rechten Hand auf die linke Schulter — „sie ist nämlich
nicht ganz gerade. Ich sehe das nicht mehr und habe es eigentlich
nie gesehen, denn ich habe mich in ihre Augen verliebt — und in
ihr Herz — und in ihre Güte — und in ihre Sanftmut — kurz, ich
liebe sie, weil sie ein Engel ist. Und warum ich dir das jetzt sage?
Sieh mal, wenn du es nicht weißt, so möchtest du befremdet sein,
wenn du meine Frau siehst, und sie möchte das in deinen Augen
lesen. Nicht wahr, du wirst nichts sehen?" Ich drückte ihm gerührt
die Hand, und er lies an eine andere Tür, öffnete sie und rief: „Lore,
hier ist lieber Besuch, mein alter Freund aus Hannover, du kennst
ihn schon!"
Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Kinder
mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war
nicht umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung
des ersten Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein
in den dunkeln Augen dieser Frau schimmerte es wie ein unversieg-
licher Born von Liebe und Sanftmut, und schweres, gewelltes Haar
von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das nicht schön, aber
von dem Widerschein innerer Güte anmutig durchleuchtet war.
3. Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: „Heute abend
bleibst du hier, das ist selbstverstäudlich. Lore, du wirst für eine
fürstliche Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag.
Das Haus vermag freilich gar nichts!" sagte er dann zu mir ge-
wendet, „Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch
eine wunderbare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um
uud ein Körbchen in die Hand und läuft quer über die Straße. Dort
wohnt ein Mann hinter Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann,
der in einer weißen Schürze hinter einem Marmortische steht. Und
neben ihm befindet sich eine rosige, behäbige Frau und ein rosiges,
behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit weißen Schürzen angetan.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 2
18
Meine kleine Frau tritt nun in den Laden, und in der Hand trägt
sie ein Zaubertäschchen — gewöhnliche Menschen nennen es Porte-
monnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich nun die
fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen Vorräten,
die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt und der
Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die Straße,
und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem,
was man nur verlangen kann — wie durch Zauber!"
4. Seine Frau war unterdes mit den Kindern lächelnd hinaus-
gegangen, und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber
freundliche Einrichtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort:
„Purpur und köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die
Schätze Indiens find mir noch immer fern geblieben, aber das sage ich
dir, wer gesund ist —" hierbei reckte er seine Arme in der Manier
eines Zirkusathleten — „wer gesund ist und eine so herrliche Frau hat
wie ich und zwei so prächtige Kinder — ich bin stolz darauf, dies
sagen zu dürfen — wer alles dies besitzt und doch nicht glücklich ist,
dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt
und er versenkt würde in das Meer, da es am tiefsten ist!"
Frau Lore war unterdes von ihrem Ausgang zurückgekehrt und
bereitete nun in hausmütterlicher Geschäftigkeit den Tisch, während
die beiden Kinder mit großer Wichtigkeit ihr dabei zur Hand gingen.
Plötzlich sah Hühnchen seine Frau leuchtend an, hob den Finger empor
und sagte: „Lore, ich glaube, heute abend ist es Zeit!" Die kleine
Frau lächelte und brachte sodann eine Weinflasche herein und Gläser,
die sie auf dem Tische ordnete. Hühnchen nickte mir zu: „Es ist
Tokaier," sagte er kurz, „kürzlich, als ich das Geld für eine Privat-
arbeit erhalten hatte und es so wohlhabend in meiner Tasche klimperte,
da bekam ich vornehme Gelüste und ging hin und kaufte mir eine
Flasche Tokaier, aber vom besten. Abends jedoch, als ich sie öffnen wollte,
da tat es mir leid, und ich sagte: Lore, stelle sie weg, vielleicht kommt
bald eine bessere Gelegenheit. Ich glaube, es gibt Ahnungen, denn
eine plötzliche Erinnerung an dich ging mir dabei durch den Sinn."
Wie heiter und fröhlich verlief das kleine Abendessen! Es war,
als wäre der Sonnenschein, der einst in Ungarns Bergen diesen feurigen
Wein gereift, wieder lebendig geworden und fülle das ganze Zimmer
mit seinem heitern Schimmer. Auf die blassen Wangen der kleinen
Frau zauberte der ungarische Sonnenschein einen sanften Rosen-
schimmer. Sie setzte sich nachher an ein kleines, dünnstimmiges,
heiseres Klavier und sang mit anmutigem Ausdruck Volkslieder.
5. Nachher saßen wir behaglich um den Tisch und plauderten
bei einer Zigarre. Ich fragte Hühnchen nach seinen geschäftlichen
19
Verhältnissen. Ich erfuhr, daß sein Gehalt bewunderungswürdig klein
war, und daß er dafür ebenso bewunderungswürdig viel zu tun hatte.
„Ja, früher, in der sogenannten Gründerzeit," sagte er, „da war's
besser, da gab's auch mancherlei Nebenverdienst. Wir gehen alle
Jahre zweimal ins Opernhaus in eine recht schöne Oper, und da-
mals haben wir uns gar bis in den zweiten Rang verstiegen, wo wir
ganz stolz und preislich saßen und vornehme Gesichter machten und
dachten, es käme wohl noch einmal eine Zeit, da wir noch tiefer
sinken würden, bis unten ins Parkett, von wo die glänzenden Voll-
monde reicher, behäbiger Rentiers zu uns emporleuchteten. Es kamen
aber die sogenannten schlechten Zeiten, und endlich ereignete es sich,
daß unser Chef einen Teil seiner Beamten entlassen und das Gehalt
der anderen bedeutend kürzen mußte. Ja, da sind wir wieder ins
Amphitheater emporgestiegen. Im Grunde ist es ja auch ganz gleich.
Und glaube nur nicht, daß dort oben keine gute Gesellschaft vor-
handen ist. Dort habe ich schon Professoren und tüchtige Künstler
gesehen. Dort sitzen oft Leute, die mehr von Musik verstehen als
die ganze übrige Zuhörerschaft zusammengenommen."
6. Es war elf Uhr, als ich mich verabschiedete. Zuvor wurde
ich in die Schlafkammer geführt, um die Kinder zu sehen, die in
einem Bettchen lagen in gesundem, rosigem Kinderschlaf. Hühnchen
strich leise mit der Hand über den Rand der Bettstelle: „Dies ist
meine Schatzkiste," sagte er mit leuchtenden Augen, „hier bewahre
ich meine Kostbarkeiten — alle Reichtümer Indiens können das nicht
erkaufen!"
Als ich einsam durch die warme Sommernacht nach Hause zu-
rückkehrte, war mein Herz gerührt, und in meinem Gemüt bewegte ich
mancherlei herzliche Wünsche für die Zukunft dieser guten und glück-
lichen Menschen. Aber was sollte ich ihnen wünschen? Würde Reichtum
ihr Glück befördern? Würde Ruhm und Ehre ihnen gedeihlich sein,
wonach sie gar nicht trachteten? „Gütige Vorsehung," dachte ich zu-
letzt, „gib ihnen Brot und gib ihnen Gesundheit bis ans Ende — für
das übrige werden sie schon selber sorgen. Denn wer das Glück in
sich trägt in still zufriedener Brust, der wandelt sonnigen Herzens
dahin durch die Welt, und der goldene Schimmer verlockt ihn nicht,
dem die anderen gierig nachjagen, denn das Köstlichste nennt er be-
ieits sein eigen. Heinrich Seidel.
17. Ein bösartiger Hausgast.
Es gibt einen Hauskobold von sehr bösartigem Wesen, der
heißt: Verschobene Arbeit. Hat man ihn eingelassen, so ist er
schwer wieder fortzubannen. Man weiß wohl, wo er sitzt, sei es
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im Garten oder in der Scheune oder im Keller oder in einem
Schrank, aber man scheut sich so sehr vor ihm, daß man am liebsten
sich gar nicht nach ihm umsieht, und fällt es einem ein, daß er da
ist, so pfeift man wohl ein Liedchen, um sich auf andre Gedanken
zu bringen. Und doch ist dieser Hauskobold überaus schädlich,
verdirbt den Hausrat, zerfrißt die Kleider und nimmt dem Tagewerke
den Segen. Mit Sprüchlein und Kräutern ist nichts gegen ihn zu
machen. Abwarten, ob er vielleicht von selbst geht, ist unratsam,
denn je länger er bleibt, um so länger und unangenehmer wird er.
Nur eins hilft: Man muß dreist auf ihn zugehn, ihn kräftig anpacken
und ihn eins, zwei, drei! aus dem Hause werfen.
Johannes Trojan.
18. Das Glück von Edenhall.
1. Von Edenhall der junge Lord
läßt schmettern Festtrommetenschall;
er hebt sich an des Tisches Bord
und ruft in trunkner Gäste Schwall:
„Nun her mit dem Glücke von Edenhall!"
2. Der Schenk vernimmt ungern den Spruch,
des Hauses ältester Vasall,
nimmt zögernd aus dem seidnen Tuch
das hohe Trinkglas von Kristall;
sie nennen's das Glück von Edenhall.
3. Darauf der Lord: „Dem Glas zum Preis
schenk' Noten ein aus Portugal!"
Mit Händezittern gießt der Greis,
und purpurn Licht wird überall;
es strahlt aus dem Glücke von Edenhall.
4. Da spricht der Lord und schwingt's dabei:
„Dies Glas von leuchtendem Kristall
gab meinem Ahn am Quell die Fei;
drein schrieb sie: ,Kommt dies Glas zu Fall,
fahr wohl dann, o Glück von Edenhall'/
5. Ein Kelchglas ward zum Los mit Fug
dem freud'gen Stamm von Edenhall;
wir schlürfen gern in vollem Zug,
wir läuten gern mit lautem Schall.
Stoßt an mit dem Glücke von Edenhall!"
21
6. Erst klingt es milde, tief und voll,
gleich dem Gesang der Nachtigall,
dann wie des Waldstroms laut Geröll:
zuletzt erdröhnt wie Donnerhall
das herrliche Glück von Edenhall.
7. „Zum Horte nimmt ein kühn Geschlecht
sich den zerbrechlichen Kristall;
er dauert länger schon als recht.
Stoßt an! Mit diesem kräft'gen Prall
versuch' ich das Glück von Edenhall."
8. Und als das Trinkglas gellend springt,
springt das Gewölb' mit sähem Knall,
und aus dem Riß die Flamme dringt;
die Gäste sind zerstoben all'
mit dem brechenden Glück von Edenhall.
9. Einstürmt der Feind mit Brand und Mord,
der in der Nacht erstieg den Wall;
vom Schwerte fällt der junge Lord,
hält in der Hand noch den Kristall,
das zersprungene Glück von Edenhall.
10. Am Morgen irrt der Schenk allein,
der Greis, in der zerstörten Hall';
er sucht des Herrn verbrannt Gebein,
er sucht im grausen Trümmerfall
die Scherben des Glücks von Edenhall.
11. „Die Steinwand", spricht er, „springt zu Stück,
die hohe Säule muß zu Fall,
Glas ist der Erde Stolz und Glück,
in Splitter füllt der Erdenball
einst gleich dem Glücke von Edenhall."
Ludwig Uhland.
19. Unsere Wohnung.
l. Zum Schutz vor den Unbilden der Witterung dient uns außer
der Kleidung die Wohnung. Sie gewährt aber nicht allein eine Zuflucht
vor atmosphärischen Niederschlägen, Wind und Külte, sondern ist auch die
Stätte des Familienlebens, dessen gedeihliche Entwickelung die zuverlässigste
Grundlage der Volksgesundheit und eines kräftigen geordneten Staats-
Wesens bildet. Daher gehört auch die Sorge für gesunde und behagliche
Wohnungen zu den wichtigsten Aufgaben der öffentlichen Gesundheits-
pflege. —¡/ Eine gesunde Wohnung soll trocken, warm, Hell und ge-
räumig sein. /
2. Um "diesen Anforderungen gerecht zu werden, betrachte man zuerst
den Untergrund und die Banart des Hauses. Damit nicht Feuchtigkeit
und ungesunde Ausdünstungen von unten aufsteigen können, muß das
Grundwasser von den Fundamenten ferngehalten werden. Bei Auswahl
des Baumaterials ist vom gesundheitlichen Standpunkt namentlich dessen
Porosität zu berücksichtigen. Die natürliche Ventilation, welche durch die
Poren der Wände hindurch vor sich geht, liefert den Hausbewohnern einen
nicht unbedeutenden Teil ihres Luftbedarfs. Auch schützt ein porenreiches
Baumaterial im Wiuter gegen die Kälte, im Sommer gegen die Hitze, weil
die in den Poren eingeschlossene Luft ein sehr schlechter Wärmeleiter ist.
3. Durch die Lage des Hauses darf der Zutritt von Licht nicht
behindert sein. Nach Licht verlangen alle Menschen; der Gesunde verrichtet
im hellen Raume seine Arbeit frisch und fröhlich, und der Sieche läßt
sein Bett gern an das Fenster der Krankenstube bringen, um sich am
Tageslicht zu erfreuen. Das Licht, das alle Winkel der Wohnung erhellt,
veranlaßt uns zur Reinlichkeit und vernichtet unmittelbar viele jener
winzigen Lebewesen, welche die Erreger von Zersetzung, Fäulnis und Krank-
heit sind. Dagegen häuft sich im dunkeln Raum leicht Schmutz und
Staub; mangelhafte Beleuchtung verstimmt das Gemüt, zwingt zur Über-
anstreugung der Augen und schädigt so die Sehkraft. Die Wohnung
soll daher dem Tageslicht so viel und so lange wie möglich zugänglich sein.
4. Neben der Beschaffenheit und Lage der Wohnräume ist die Art
ihrer Ausnützung von großer Bedeutung für die Bewohner. Das Zu-
sammenwohnen vieler Menschen im engen Raum beeinträchtigt die Rein-
heit der Luft und begünstigt die Übertragung ansteckender Krankheiten.
Eine Wohnung, die den Ansprüchen der Gesundheitspflege genügen soll,
muß daher eine gewisse Geräumigkeit besitzen, so daß eine strenge Trennung
der Wohngemächer von den Räumen, die andern Zwecken dienen, möglich
ist. Besonders helle und luftige Gemächer sind für Arbeitsstätte und
Schlafzimmer zu wählen, weil darin der verhältnismäßig größte Teil der
vierundzwanzig Stunden des Tages zugebracht wird. Leider zwingt die
Sparsamkeit viele Wrenschen, Schlafgemach, Arbeitsstätte, Wohnzimmer und
Küche in einem Raume zu vereinigen. In solchen Fällen sollten die Be-
wohner zum Schutz ihrer Gesundheit es nicht unterlassen, das Zimmer
möglichst oft zu reinigen und für Erneuerung der durch Atmung und
Ausdünstung verunreinigten Luft zu sorgen.
5. Bis zu einem gewissen Grade wird diese ja durch die natürliche
Ventilation herbeigeführt, doch muß der größte Teil des Luftbedarfs der Be-
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wohner durch künstliche Ventilation, z. B. Offnen von Türen und Fenstern,
geliefert werden. Vielfach finden sich auch Lüftungskanäle, oft in Ver-
bindung mit Windrädern, und häufig dient der Schornstein zur Lüftung.
6. Einen deutlichen Beweis für die vorteilhafte Einwirkung reiner
Luft auf die Gesundheit gibt das frische Aussehen der viel im Freien be-
schäftigten Landleute gegenüber der gewöhnlich blaffen Gesichtsfarbe der
Stadtbewohner, die sich den größten Teil des Tages in geschloffenen
Räumen aufhalten. Die Folgen einer mangelhaften Luftzufuhr machen
sich auch nicht selten durch Ohnmachten bemerkbar, denen schwächliche
Personen in Kirchen, Versammlungsräumen, Theatern anheimfallen.
Nach dem Gesundheitsbüchlein, bearbeitet vom Kaiserlichen Gesundheitsamt.
20. Vom Waschen und Baden.
1. „Reinlichkeit ist das halbe Leben." Dieser Satz wird von allen
gesitteten Menschen anerkannt und deshalb das tägliche Waschen des
Gesichtes, der Hände, auch des Halses und der Brust als notwendig und
unentbehrlich angesehen. Die immer neu auftauchenden Bäder und Bade-
anstalten für Reiche und Arme zeigen ferner deutlich genug, daß der
Mensch das Bedürfnis hat, seinen Körper zuweilen vollständig zu reinigen.
Die Haut der Menschen besteht aus drei verschiedenen Lagen. Die obere
Schicht heißt die Hornhaut. Sie ist blut- und gefühllos, reibt oder nutzt
sich fortwährend ab und erneut sich außerordentlich schnell. Wenn man
sich ein Stückchen dieser Haut, z. B. von der Handfläche, mit einem scharfen
Federmesser abschneidet, so kann man, wenn man dieselbe gespannt gegen
das Licht hält, sehr deutlich sehen, daß sie außerordentlich viele Löcher hat.
Es sind dies die Schweißlöcher. Unter dieser Hornhaut befindet sich die
Lederhaut. Auch diese ist durchlöchert, denn die Schweißkanäle führen
noch tiefer unter derselben fort. In der Tat ist es eben die dritte Haut-
schicht, in welcher alle Schweißkanäle ihre Wurzeln haben. Diese haben
das Geschäft, das Wasser aus dem im Umlauf begriffenen Blut, das an
ihnen vorüberstreicht, aufzunehmen und durch den Kanal hinauszubefördern.
Mit diesem Wasser werden auch noch einzelne andere Stoffe aus dem
Körper hinausbefördert, deren Verbleiben im Körper durchaus schädlich
wäre. Es ist daher sehr wichtig, die Oberhaut in einem Zustande zu
erhalten, welcher der Absonderung den Durchzug gestattet. Wenn man
zwei Drittel der Haut durch irgend einen Lacküberzug undurchdringlich
macht und so die Tätigkeit derselben stört, dann erfolgt nach kurzer Zeit
der Tod. Die Haut ist also ein äußerst wichtiges Organ, und man darf über
dieser bereits dreifachen Hautschicht nicht noch eine vierte anwachsen lassen,
eine Schmutzschicht. Der wässerige Schweiß, der sich aus den Schweiß-
poren drängt, und der unseren Körper mehr oder weniger befeuchtet, ist
24
kein reines Wasser. Es befinden sich in diesem gar viele Stoffe aufgelöst,
die man schwerlich sonst hier suchen würde. Es sind eine Portion Salz,
einige Schwefelverbindungen, ferner Säuren in dem Schweiß enthalten.
Die Natur lagert demnach mit dem Strom von Schweiß, den sie vom
Innern des Körpers nach außen hin sendet, auf die Haut eine ganze
Masse ihr nicht mehr nützlicher Stoffe ab. Nun führt zwar die Luft das
Wasser in Form von feinem Dunste fort; aber die andern Stoffe bleiben
als feste Kruste auf der Haut zurück und bilden einen Überzug über die-
selbe. Aus einer andern Quelle wird sogar wirklicher Talg auf die Haut
abgelagert.
2. Auf der Oberfläche der Haut wird das Ol hart wie Talg, erhält ein
gelbes, schmutziges Ansehen und verleiht der Haut jene Klebrigkeit und das
sogenannte ungewaschene Ansehen, das wir an recht gehörig verschlafenen
Gesichtern bemerken, bevor frisches Wasser und gute Seife die Reinigung
vollzogen. Kommt nun zu dieser klebrigen Naturschminke noch von außen
her der Staub aller Art, den kein Mensch ganz von sich abwehren kann,
so vollendet sich ein Überzug, der nicht nur unserer Schönheit, sondern
hauptsächlich unserer Gesundheit schweren Abbruch tut.
Indessen müssen wir der Natur die Gerechtigkeit widerfahren lassen,
daß sie nicht so ganz und gar unbarmherzig mit unserer Haut umgeht,
sondern ein sehr praktisches Mittel weiß, ihre Ablagerungen fortzuschaffen.
Die Oberhaut, der sie so viel aufbürdet, wird von der Natur selber in
kleinen Schüppchen abgestoßen, während sich neue Oberhaut unter derselben
bildet. Wir stecken nicht gar lange Zeit in unserer Haut, sondern werfen
sie in seinen Stückchen von uns ab.
Aber wenn sich Fettigkeit auf der Oberhaut befindet, so werden die
Schüppchen der Hornhaut von derselben festgehalten und! helfen so die
Poren noch mehr verkleben. Wer seine Gesundheit erhalten will,
muß daher für gründliche Hautreinigung seines Körpers sorgen.
Mit dem Wasser muß man ein wenig Seife anwenden, weil Seife die Fette
löslich macht. Es ist Tatsache, daß die meisten der gewöhnlichen Krank-
heiten ihren Grund in unterdrückter Hauttütigkeit haben.
Zum Lobe der Abwaschung mit kaltem Wasser und des kalten Bades
sei schließlich noch folgendes gesagt: In der zweiten Haut stecken Blut-
adern und Nerven; auch auf diese hat es Einwirkung, wenn die Oberhaut
rein gehalten wird. Durch fleißiges Baden hebt sich die ganze Lebens-
tütigkeit des Körpers, was man am Appetit bald merkt; auch fühlt man
sich abgehärtet gegen Einwirkungen der Witterung, die sonst nicht selten
die Quelle schwerer Leiden sind.
Nach Aaron Bernstein.
25
21. Eine Lebensrettung.
N., den 12. Juli 1895.
Lieber Freund!
1. Der gestrige Tag wird mir unvergeßlich sein. Höre nur, was ich
erlebt habe! Ich ging nachmittags um vier Uhr wie gewöhnlich zum nahen
Flusse, um ein erfrischendes Bad zu nehmen, und traf mit Kameraden
zusammen, die sich alle gleich mir höchst vergnügt ins klare Wasser be-
gaben. Zur Abwechslung kamen wir zuweilen ans User zurück und machten
Sprünge in die Flut, aus deren Tiefe wir uns rasch wieder empor-
arbeiteten. Als ich einmal kurze Zeit vom Schwimmen ausruhte, sah ich,
wie mein Freund Wilhelm mit großein Anlaufe ins Wasser sprang und
dann nicht wieder auftauchte. Von Angst erfüllt, schwamm ich sofort zur
Stelle hin, wo er gesunken war, und als ich ihn nicht aufspüren konnte,
rief ich die Kameraden herbei. Wir tauchten fleißig unter und fanben
endlich Wilhelm, der vollständig regungslos war. Nachdem wir ihn mil
großer Mühe ans User gebracht hatten, spähten wir nach Hilfe und ent-
deckten glücklich den Feldhüter, dem wir zuriefen. Dieser kam sofort und
befahl uns, ihn kräftig zu unterstützen, damit wir den ertrunkenen Wilhelm
ins Leben zurückbrächten. Auch sandte er einen von uns nach Hanse, uni
den Arzt und den Vater Wilhelms zu holen.
2. Zunächst bemühte sich der Feldhüter, das Wasser aus dem Munde
Wilhelms abfließen zu lassen. Wir legten den Armen mit dem Gesichte
nach unten, öffneten den Mund, zogen die zurückgeschlagene Zunge vor
und entfernten die Unreinigkeit aus dem Schlunde und der Nase. Dann
legten wir Wilhelm auf den Rücken, schoben unter seinen Kopf und feine
Schultern mehrere Kleidungsstücke und versuchten, ihn durch künstliche
Atmung zu beleben. Während ich die Zunge mit einem Taschentuche fest-
hielt, damit der Weg für die Luft offen blieb, faßte der Feldhüter die
Arme über den Ellbogen, zog sie über den Kopf hinaus und hielt sie zwei
Sekunden lang aufwärts gestreckt, so daß der Brustkasten ausgedehnt
und die Lunge mit Luft erfüllt wurde; dann führte er die Arme ab-
wärts und drückte sie zwei Sekunden lang gegen die Brustseiten, damit
die Lungen ausatmeten. Diese Bewegungen setzte er gleichmäßig fort;
einige von meinen Kameraden mußten die Fußsohlen und die Beine be-
ständig reiben.
3. Als ungefähr eine halbe Stunde verflossen war, bemerkten luir
plötzlich, daß die blasse Gesichtsfarbe unsers Kameraden einer Röte wich,
und er die Augen öffnete. Welch eine Freude uns alle erfüllte, da wir
den Scheintoten lebendig sahen, kann ich Dir nicht beschreiben. Mir
standen vor Rührung die Tränen in den Augen. Während wir den
wiedergewonnenen Freund aufrichteten und beglückwünschten, erschien sein
26
Vater mit dem Arzt und dankte dem Feldhüter und uns allen aufs
herzlichste. Der Arzt gab Wilhelm einen stärkenden Trank und ließ ihn
dann schleunigst nach Hause führen. Hier legte er sich zu Bette und war
nach einigen Stunden wieder wohl wie früher.
Der Feldhüter, der bei uns Knaben sonst sehr wenig beliebt war,
hat jetzt unser Herz gewonnen. Sein verständiges Eingreifen rettete uns
einen lieben Kameraden vom Tode und gab uns zugleich die Mahnung,
alles zu lernen, was zur Rettung in Gefahren nötig ist. Daß wir künftig
beim Baden vorsichtiger sein wollen, brauche ich jedenfalls nicht besonders
zu versichern. Lebe wohl! ^
Dein treuer Freund
Friedrich Schüller.
Heinrich Solger.
22. Der Abend.
1. VDer Abend kommt leise hernieder
auf Dorf und Wald und Flur;
es schweigen der Vöglein Lieder —
noch eines hört man nur.
2. In purpurnen Gluten sinket
die Sonne dort zur Ruh',
und droben am Himmel blinket
ein Sternlein schon freundlich mir zu.
3. Die Abendglöcklein klingen
so lieblich nah und fern,
und fromme Gebete schwingen
sich leise hinauf zu dem Herrn.
4. Nun herrschet Ruhe und Frieden
wohl in der stillen Nacht,
und alles schlummert hienieden —
nur Gott im Himmel wacht.
Georg Christian Dieffenbach.
23. Abendgebet.
1. Wie könnt' ich ruhig schlafen
in dunkler Nacht,
wenn ich, o Gott und Vater,
nicht dein gedacht!
Es hat des Tages Treiben
mein Herz zerstreut;
bei dir, bei dir ist Frieden
und Seligkeit.
2. O decke meine Mängel
mit deiner Huld;
du bist ja, Gott, die Liebe
und die Geduld!
Gib mir, um was ich flehe,
ein reines Herz,
das dir voll Freuden diene
in Glück und Schmerz.
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3. Ach hilf, daß ich vergebe,
wie du vergibst,
und meinen Bruder liebe,
wie du mich liebst,
So schlaf' ich ohne Bangen
in Frieden ein
und träume süß und stille
und denke dein.
Agnes Fr an
24. Der gute König.
1. Ich kenne einen guten König,
gar einen lieben, milden Herrn,
viel Tausend' sind ihm untertänig,
und alle sind's von Herzen gern.
2. Der König zieht mit Segenspenden
von Stadt zu Stadt, von Haus zu Haus,
und teilt mit immer reichen Händen
sie in Palast und Hütte aus.
3. Wie Festglanz ruht's auf Busch und Bäumen,
auf Markt und Gassen, Wies' und Feld,
als ob aus Paradiesesräumen
ein Schimmer auf die Lande fällt.
4. Und wo er naht in frommem Walten,
da hallt's von Glocken hell und klar,
voll Andacht folgen ihm die Alten,
mit Jubel ihm der Kinder Schar.
5. Er tritt herein mit mildem Grüßen,
er setzt sich zu uns auf die Bank
und trägt zu festlichem Genießen
das Beste auf an Speis' und Trank.
6. Er führt uns fort ans sonn'ge Auen
ans enger Gassen dumpfer Luft;
er läßt uns Gottes Wunder schauen
und atmen freien Waldesduft.
7. Zu frischer Kraft, zu jungem Mute
fühlt jedes Herz sich neu verjüngt;
denn König Sonntag ist's, der gute,
der Trost und Freuden allen bringt.
Julius Lohmeye
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25. Friedestnchens erster Kirchgang.
1. Es war ein schöner Sonntagmorgen. Ich wachte früher auf als
meine Geschwister und hörte, wie unsere Mutter am Herde Feuer an-
machte und mit wundersamer Innigkeit ein geistliches Lied dabei sang.
Das war am Sonntagmorgen so der Brauch bei ihr. Ich sprang aus
dem Bette, huschte hinunter und stand wie ein Irrwisch vor der Mutter.
— Sie sah mich an, lächelte, nickte und sang währenddessen:
Du willst ein Opfer haben;
hier bring' ich meine Gaben:
mein Weihrauch und mein Widder
sind mein Gebet und Lieder.
Die wirst du nicht verschmähen,
du kannst ins Herze sehen;
denn du weißt, daß zur Gabe
ich sa nichts Bess'res habe.
Ich stand still da in bloßem Hemdchen, faltete unwillkürlich die Hände
und sah voll Andacht zur Mutter ans. Als sie den Gesang beendet
hatte, hob sie mich zärtlich an ihre Brust. Da nahm ich die Gelegenheit
wahr und fragte, ob ich heute einmal mit in die Kirche dürfe. Ich wäre
immer auf den nächsten Sonntag vertröstet; heute hätten wir doch gewiß
den nächsten Sonntag. Bornriekens Liese reiche mit ihrem Kopfe noch
nicht mal an mein linkes Ohr und wäre doch schon dreimal mit ihrer
Mutter zur Kirche gegangen. Die Mutter lachte und ihre Augen
leuchteten. „Die Kirche ist ein heiliger Ort," sagte sie, und ob ich auch
hübsch verständig sein wolle.
Nichts siel mir leichter als dies Versprechen. Wenn's die Mutter
verlangte, wollte ich nicht den kleinen Finger rühren, sogar meinen Atem
stehen lassen. Den kleinen Finger könnte ich dreist rühren, meinte darauf
die Mutter, indem sie das Feuer schürte, — und den Atem sollte ich auch
nur lieber nicht stehen lassen, ich möchte sonst ersticken.
2. Als es läutete, stellte ich mich unter die Linde und wartete auf die
Mutter. Endlich kam sie heraus. Still und andächtig sah sie auf ihr
Gesangbuch hernieder. Ich kleiner Guckindiewelt trippelte nun neben dem
in ernste Andacht versunkenen Mütterchen her; und ein glückseligerer
Kirchgänger, als ich war, ist dasmal ganz gewiß nicht gewesen. Wunder-
sam durchschauerten mich die hellen, vollen Glockenklänge. Innig schmiegte
ich mich an die gute Mutter, und sie drückte mit ihrer Hand mein
Köpfchen an sich. Anfangs hatte ich so viel zu fragen, daß eine Frage
die andere jagte. Und die meisten mögen wohl sehr drolliger Art ge-
wesen sein, denn die Mutter ist dadurch immer aus ihrer ernsten
Stimmung herausgerissen worden, wie sie nachher dem Vater klagte.
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Doch je näher wir dem Gotteshause kamen, desto schüchterner und stiller
wurde ich. An der Kirchhofsmauer stand mein bewegsames Mundwerk
ganz still, und nur noch mein Herz und meine Augen sprachen, diese
durch helles Leuchten, jenes in stürmischem Klopfen.
3. Wie ich nun zufällig die Hände an meinem Rocke hinnntergleiten
lasse, fühlte ich in der rechten Tasche einen — Apfel. Hei, den mußte
mir der gute Haufrieder hineingesteckt haben! Herausziehen und mit den
kleinen weißen Mausezähnen hineinfahren — das war das Werk eines
Augenblicks. Gott, ist da aber die Mutter zusammengefahreu! „Friede-
sinchen, stecke geschwind den Apfel in die Tasche!" gebot sie mit ge-
dämpfter Stimme, daß die andern Kirchgänger es nicht hören konnten.
Natürlich ließ ich den Apfel sofort wieder verschwinden. Nun machte sich
die Mutter Vorwürfe, daß sie mich nicht früh genug verwarnt Hütte, auf
dem Kirchgänge zu essen. „Tu das ja und ja nicht wieder," flüsterte sie,
„denn wer auf dem Gange nach der Kirche was ißt, dem steht, wenn er
einstmals gestorben ist, der Mund sperrweit offen."
4. Zu uuserer Lindenhütte gehörte eine eigene Kirchenstelle, die an
der rechten Seite in der dritten Bank gleich an dem Gange lag. Als wir
nun an den Bänken vorübergingen, war es mir, als ob alle Kirchenleute
voll großer Verwunderung auf Lindemauns kleines Friedesinchen herab-
sähen. Ich wagte kein Auge aufzuschlagen. Endlich stand die Mutter
still und setzte mich und sich auf die Bank. Ich blinzelte zur Seite und
gewahrte, daß die Mutter eine Weile mit tiefgebeugtem Haupte dasaß.
Warum sie das wohl tun mag? fragte ich mich. Daß sie zum lieben
Gott gebetet hat, habe ich erst später erfahren.
Nun schlug die Mutter ihr Gesangbuch auf, blätterte ein wenig
darin und fing auf einmal ein so helles, lautes Singen an, daß ich mich
unwillkürlich duckte und die Schamröte in meinem Gesicht aufsteigen
fühlte. Ich schämte mich vor den Leuten, daß meine Mutter so laut
sang. Wie ich dann aber die andern Leute dasselbe tun sah und hörte,
beruhigte ich mich.
5. Eine Weile hatte ich mit ofienem Munde dagesessen, alles angestarrt
und vieles mit meinen kindlichen Gedanken umsponnen. Da streiche ich
wieder mal an meinem Rock herunter und werde so an den saftigen
Apfel erinnert. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich
blinzle nach der Mutter hinüber und versichere mich, daß sie ganz ins
Gesangbuch vertieft ist und gar kein Arg aus mir hat. Zweimal, drei-
mal zuckt es im Arme, dann biege ich den Kopf seitwärts herab und —
führe den Apfel zu ihm empor, behutsam uud leise wie eine Maus, die
in eine verlassene Stube schleicht.
Die Mutter merkte nichts. Die Nachbarin und einige andere Leute
waren aber auf mein Tun aufmerksam geworden, hatten mir, innerlich be-
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lustigt, zugesehen und darüber Singen und alles vergessen. Plötzlich
schreckt mich ein Geklingel empor. Ein schwarzer Mann kommt daher-
gegangen und trägt an einer langen Stange einen kleinen rauhen Beutel.
Eine namenlose Angst befällt mich; denn ich kann nur denken, daß der
Mann den Apfel haben will. Ich fühle, wie das Feuer in meinem Ge-
sichte brennt und blicke zerknirscht auf meine Schürze. Jetzt klingelt es
ganz nahe, und als ich in meiner Angst ein wenig unterm Berge
wegblinzle, sind die Klingebenteltroddel dicht vor mir. Ich nehme den
Apfelgriebs und werfe ihn in den Klingebeutel hinein. Es war mir, als
Hütte ich ringsherum ein Helles Gekicher vernommen; aber ich guckte
nicht auf. Zum Glück war die Mutter in ihren Gesang vertieft, so das;
sie von dem heiklen Vorgänge gar nichts merkte.
6. Als ich zum erstenmal wieder aufzublicken wagte, trat gerade der
Pastor aus die Kanzel. Erst empfand ich ein Gefühl der Beängstigung
vor der hoch oben stehenden schwarzen Gestalt und rückte deshalb etwas
näher an die Mutter hinan. Als ich dann aber die warme, freundliche
Sprache vernahm, sah ich auf einmal unsern lieben, alten Herrn Pastor
vor mir, der so manchmal unter unserm Lindenbaume mit mir geredet
hatte. Erst hörte ich bloß den Schall seiner Worte, allmählich aber ging
mir auch ihr Sinn auf. Niemals habe ich wieder so wunderlieblich
predigen hören. Da war eine arme, gute Mutter gewesen. — Ich dachte
an unsere Mutter. — Und die arme, gute Mutter hatte einen einzigen
Sohn gehabt, der war so gut mit ihr gewesen und hatte alles getan, was
er ihr an den Augen hatte absehen können. — Ich dachte mir das so,
als wenn unser Vater und wir nicht wären, und als wenn unsere Mutter
nur noch den Hanfrieder behalten hätte. — Und die Mutter hatte sich
innner so gar sehr gefreut, daß sie den Sohn hatte, und daß er so gut
war. Ach, und das war so schön gewesen. Da, da muß die arme, gute
Mutter sehen, wie die Leute kommen und — unsern Haufrieder in den
schwarzen Sarg legen. Da hat die Mutter so sehr geweint, und die
Leute haben auch mit geweint. — Jetzt konnte auch ich mich nicht mehr
halten und mußte in lautes Weinen ausbrechen.
Merkwürdig war's, daß auch mein bitterliches Weinen den Andäch-
tigen Ursache zu Unachtsamkeit gab. Aller Augen sahen auf mich, und
der Prediger predigte tauben Ohren. Die Mutter war ganz verwirrt,
ihr Antlitz ganz rot geworden; sie mußte eilends aufstehen und mich
hiuausbriugen. Ich konnte mich gar nicht wieder zufrieden geben. Ganz
außer sich erzählte die Mutter dem Vater das Vorkommnis. Als sie in-
des den rechten Grund meines Jammers erfuhren, ging durch beider Ge-
sicht ein verklärtes Lächeln.
7. Am Nachmittag kehrte der gute Pastor auf ein Stündchen bei uns
ein. Er käme gar zu gern einmal in die Lindenhütte, pflegte er oft zu
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sagen. Heute indes schien wohl mein unzeitiges Weinen der Grund
seines Kommens zu sein. Die Eltern baten ihn gleich vielmals um Ver-
zeihung wegen der Störung des Gottesdienstes; und sie sagten, eigentlich
wäre der Herr Pastor selber schuld daran gewesen, weil er wieder gar so
ergreifend gepredigt hätte. Sind da dem guten, ehrwürdigen Herrn die
Augen aufgegangen! Und ist das ein Leuchten gewesen in seinem Gesicht!
„Zu mir komm, du kleines Friedesinchen," sagte er mit weicher, zitternder
Stimme. Und er stellte mich zwischen seine Knie, legte seine Hände auf
meinen Kopf und sagte: „Ei, du liebes kleines Friedesiuchen, viel tausend
Kirchgänger sind durch dich beschämt worden. Ach, möchte die Predigt überall
solch empfängliche Kinderherzen sinden! — Aber du liebe Kleine hättest
gewiß nach dem Weinen auch laut aufgejauchzt in der Kirche, wenn du
dageblieben wärest und dir auch den Sieg des Lebens hättest verkündigen
lassen. Höre mir noch einmal zu: Also der gute Jüngling war gestorben,
und die arme Mutter weinte immerzu, und die Leute weinten auch alle
so sehr, weil alle den Jüngling und die Mutter gar so lieb gehabt haben.
Ja, Kleine, da kommen dir die Tränen schon wieder in die Augen. Aber
warte nur — gleich! Wie sie nun den Sarg nach dem Kirchhofe hinaus-
trugen — wer kommt ihnen da entgegen? Unser Heiland Jesus Christus.
Denke dir mal, liebes Kind! Aber es kennt ihn niemand — die Träger
nicht, die Mutter nicht und das ganze Gefolge nicht. Da nun der Herr
und Heiland den Sarg sah und die arme weinende Mutter dahinter,
jammerte ihn derselbigen, und er sprach zu ihr: Meine nichts Und da
trat er hinzu und rührte den Sarg an, und die Träger standen. Und da
ruft der Heiland: -Jüngling, ich sage dir, stehe auf!c Und alsbald war
der Tote wieder lebendig, und er richtete sich auf und sing an zu reden
und ging mit seiner Mutter wieder fröhlich nach Hause. Und da hat der
liebe Heiland gewiß auch mit müssen. Ja, ja, Friedesinchen, das hast du
wohl nicht geglaubt, daß die Geschichte noch ein so schönes Ende gehabt
hätte. Gebe Gott, daß unser aller Lebensgeschichte auch ein so schönes
Ende habe!"
Ich war unter lautem Aufjauchzen zur Mutter gesprungen und hatte
beide Arme um sie geschlungen.
Heinrich Sohnrey.
26. Schäfers Sonnlagslied.
I. Das ist der Tag des Herrn.
Dich bin allein auf weiter Flur.
LToch eine Morgenglocke nur,
nun Grille nah und fern!
2. Anbetend knie ich hier. —
0 süßes Graun, geheimes Wehn,
als knieten viele ungesehn
und beteten mir mir!
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Z. Der Himmel nah und fern,
er ist so klar und feierlich,
so ganz, als wollt' er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn.
Ludwig Uh land.
27. Sonntag-nachmittag.
1. In des Dörfleins Sonntagnachmittag
hörst du fast des eignen Herzens Schlag.
2. In des Dörfleins Sonntagnachmittag
blühn in Tönen Garten, Feld und Hag.
3. Auch zur Nachbarin im Schatten dort
spricht aus stiller Bibel Gottes Wort.
4. Mägdlein lauschen unter Blütenduft
Hochzeitsliedern in der Maienluft.
5. Und der Alte, der sein Feld beschaut,
hört behaglich wachsen Klee und Kraut.
6. Doch auf all des Wachstums Melodien
bebt der Nachhall heiliger Glocken hin.
Fritz Lienhard.
28. Sprüche vom Sonntag.
Der Sonntag macht die Woche.
2. Mhne. Sonntag kein Werktag.
3. Airchengehen säumet nicht.
A plag dich, ringe, sorge, sinn —
ohne Gott ist kein Gewinn.
5. Was wäre das Leben ohne Sonntag?
Gin langer Wüstenweg ohne perberge.
29. Der Festtag.
Ein Festtag soll dich stärken
in deines Werktags Werken,
daß du an dein Geschäfte
mitbringest frische Kräfte.
Du darfst nicht in den Freuden
die Kräfte selbst vergeuden;
neu sollen sie ersprießen
ans mäßigem Genießen.
Friedrich Rückert.
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30. Weihnachten.
1. Markt und Straßen stehn ver-
lassen,
still erleuchtet jedes Haus,
sinnend geh' ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.
2. An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt,
tausend Kindlein stehn und schauen,
sind so wunderstill beglückt.
3. Und ich wandre aus den
Mauern
bis hinaus ins freie Feld;
hehres Glänzen, heil'ges Schauern,
wie so weit und still die Welt!
4. Sterne hoch die Kreise schlingen;
aus des Schnees Einsamkeit
steigt's wie wunderbares Singen. —
O du gnadenreiche Zeit!
Joseph Freiherr v. Eichendorff.
31. Weihnachtsfest.
1. Der Winter ist gekommen
und hat hinweggenommen
der Erde grünes Kleid;
Schnee liegt auf Blütenkeimeu,
kein Blatt ist an den Bäumen,
erstarrt die Flüsse weit und breit.
2. Da schallen plötzlich Klänge
und frohe Festgesänge
hell durch die Winternacht.
In Hütten und Palästen
ist rings in grünen Ästen
ein bunter Frühling aufgewacht.
3. Wie gern doch seh' ich glänzen
mit all den reichen Kränzen
den grünen Weihnachtsbaum,
dazu der Kindlein Mienen,
von Licht und Lust beschienen.
Wohl schönre Freude gibt es kaum!
4. Da denk' ich jener Stunde,
als in des Feldes Runde
die Hirten sind erwacht,
geweckt vom Glanzgefunkel,
das durch der Bäume Dunkel
ein Engel mit herabgebracht.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mitt
5. Und wie sie da nach oben
den Blick erschrocken hoben
und sahn den Engel stehn,
da staunten sie wohl alle,
wie wenn zum erstenmale
die Kiudlein einen Christbaum sehn
6. Doch was ist all Entzücken
der Kindlein, die erblicken,
was ihnen ward beschert,
gedenk' ich, wie die Kunde
des Heils von Engelsmnnde
die frommen Hirten angehört!
7. Und rings ob allen Bäumen
sang in den Himmelsräumen
der frohen Engel Schar:
„Gott in der Höh' soll werden
der Ruhm und Fried' auf Erden
und Wohlgefallen immerdar!"
8. Drum Pflanzet grüne Äste
und schmücket sie aufs beste
mit frommer Liebe Hand,
daß sie ein Abbild werden
der Liebe, die zur Erden
solch großes Heil uns hat gesandt.
lschuleu. IV. 3
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9. Ja, laßt die Glocken klingen,
daß wie der Englein Singen
sie rufen laut und klar:
„Gott in der Höh' soll werden
der Ruhm und Fried' auf Erden
und Wohlgefallen immerdar!"
Robert Reinick.
32. Die Mutter am Christabend.
„Er schläft, er schläft! Das ist einmal ein Schlaf!
So recht, du lieber Engel, du!
Tu mir die Lieb' und lieg in Ruh’,
Gott gönnt es meinem Kind im Schlaf!
Erwach mir nicht, ich bitt’, ich bitt’! —“
Die Mutter geht mit stillem Tritt,
sie geht mit zartem Muttersinn
und holt den Baum zur Kammer hin.
„Was häng’ ich dir denn an?
’nen Pfefferkuchenmann,
ein Kätzelchen, ein Spätzeichen
und Blumen bunt und süß und weich,
und alles ist von Zuckerteig.“
Genug, du Mutterherz!
Viel Süßigkeit bringt Schmerz.
Gib sparsam wie der liebe Gott;
tagtäglich nützt kein Zuckerbrot.
„Jetzt rote Apfel her,
die schönsten, die ich haben kann!
Es ist auch nicht ein Fleckchen dran,
wer hat sie schöner, wer?“
’s ist wahr, es ist ’ne Pracht,
was so ein Apfel lacht!
Der Zuckerbäcker wär’ ein Mann,
der solchen Apfel machen kann!
Den hat nur Gott gemacht.
„Was hab’ ich denn noch mehr?
Ein Tüchelchen, hübsch weiß und rot,
es ist eins von den schönen!
O Kind, vor bittern Tränen
bewahr’ dich Gott, bewahr’ dich Gott!
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Was häng’ ich sonst noch hin?
Dies Büchlein, Kind, ist auch noch dein;
da leg’ ich Bilder dir hinein,
Gebete sind von selber drin.
Jetzt wär’ genug wohl da?
Jetzt hast du alles Gute —
der Tausend! Ja, ’ne Bute,
die fehlte noch, da ist sie ja!
Vielleicht — sie freut dich nicht,
vielleicht — sie schlägt die Haut dir wund;
so manchem war es schon gesund.
Seid gut, so schlägt sie nicht.
Fängst du danach es an,
in Gottes Namen sei es drum!“ -—
Die Mutterlieb’ ist zart und fromm,
sie windet rote Bänder um
und macht ein Schleifchen dran. —
„ Jetzt wär’ er ausstaffiert,
wie’n Kirmesbaum geziert;
dann heißt es, wenn der Tag erwacht:
das Christkind hat den Baum gebracht.
Mir dankst du nicht dafür —
weFs gab, wer sagt es dir?
Doch macht es dir nur frohen Mut,
und schmeckt es dir, so ist es gut.
Rief da der Wächter nicht
schon elf? Wie doch die Zeit verrinnt!
Man merkt die Stunden nicht,
wenn’s Herz an etwas Nahrung find’t.
Jetzt — Gott behüte dich,
ein andermal denn mehr!
Heut’ war es, wo der heil’ge Christ
ein Kind wie du geworden ist;
werd auch so brav wie er!“
Reinick nach Johann Peter Hebel.
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33. Neujahr.
1. Wie heimlicherweise
ein Engelein leise
mit rosigen Füßen
die Erde betritt,
so nahte der Morgen.
Jauchzt ihm, ihr Frommen,
ein heilig Willkommen!
Ein heilig Willkommen,
Herz, jauchze du mit!
2. Ju ihm sei's begonnen,
der Monde und Sonnen
an blauen Gezelten
des Himmels bewegt.
Du, Vater, du rate,
lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
sei Anfang und Ende,
sei alles gelegt!
Eduard Mörike.
34. Zum neuen Jahr.
1. Ein neues Jahr! Tritt froh herein,
mit aller Welt in Frieden;
vergiß, wieviel der Plag' und Pein
das alte Jahr beschieden!
Du lebst; — sei dankbar, froh und klug,
und wenn drei bösen Tagen
ein guter folgt, sei stark genug,
sie alle vier zu tragen!
2. Was dir das alte Jahr gebracht,
wird auch das neue bringen;
es wechselt stets wie Tag und Nacht
das Glücken und Mißlingen.
Was Gott dir schickt, ist wohlgemeint,
das nimm getrost entgegen;
nicht stets ist schlimm, was schlimm erscheint,
das Schlimmste oft ein Segen.
3. Vertrau aus Gott und eigne Kraft
und nicht auf fremde Mächte!
Wer jeden Tag das Rechte schafft,
der schafft im Jahr das Rechte.
Es frommt nicht, daß du zagst und klagst;
wenn rückwärts ohne Reue
ins alte Jahr du blicken magst,
so sieh mit Mut ins neue!
4. Ein Engelkind, ein guter Geist,
ein Hort in jedem Streite,
der immer lächelnd vorwärts weist,
geht freundlich dir zur Seite.
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Die Hoffnung ist's, sie haucht dir zu
viel liebe, leise Worte,
selbst wenn du gehst zur ew'gen Ruh',
noch an des Kirchhofs Pforte.
5. Das neue Jahr, es gibt und nimmt;
drum leg in dessen Hände,
der Welten Ziel und Zeit bestimmt,
den Anfang und das Ende!
Trag du mit Freuden deine Last,
und laß. dich nichts verdrießen!
Was du mit Gott begonnen hast,
kannst du mit Gott beschließen.
Friedrich Wilhelm Weber.
35. Gottes Treue.
l- steht im Xiieer ein Felsen,
die Wellen kreisen herum,
die Wellen brausen am Felsen,
doch fällt der Fels nicht um.
2. Lin Turm ragt überm Berge
und schaut ins Tal hinab;
die Winde rasen am Berge,
doch fällt kein Stein herab.
3. Ls zieht einher ein Wetter
und rasselt am starken Baum;
zur Lrde sinken wohl Blätter,
doch eisern steht der Baum.
Des Höchsten ew'ge Treue
steht fester denn Fels und Turm
und grünt und blühet aufs neue
und trotzt dem rasenden Sturm.
Rudolf Meyer.
Das Gewitter.
1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
in dumpfer Stube beisammen sind.
Es spielet das Kind; die Mutter sich schmückt;
Großmutter spinnet; Urahne gebückt
sitzt hinter dem Ofen im Pfühl.
Wie wehen die Lüfte so schwül!
2. Das Kind spricht: „Morgen ist Feiertag;
wie will ich spielen im grünen Hag!
Wie will ich springen durch Tal und Höhn!
Wie will ich pflücken viel Blumen schön!
Dem Anger, dem bin ich hold."
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
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3. Die Mutter spricht: „Morgen ist Feiertag;
da halten wir alle fröhlich Gelag;
ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
dann scheint die Sonne wie Gold."
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
4. Großmutter spricht: „Morgen ist Feiertag;
Großmutter hat keinen Feiertag;
sie kochet das Mahl; sie spinnet das Kleid;
das Leben ist Sorg' und viel Arbeit.
Wohl dem, der tat, was er sollt'!"
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
5. Urahne spricht: „Morgen ist Feiertag;
am liebsten morgen ich sterben mag.
Ich kann nicht singen und scherzen mehr;
ich kann nicht sorgen und schaffen schwer.
Was tu' ich noch auf der Welt?"
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
6. Sie hören's nicht, sie sehen's nicht;
es flammt die Stube wie lauter Licht;
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
vom Strahl miteinander getroffen sind:
vier Leben endet ein Schlag —
und morgen ist Feiertag.
G u st a v Schwab.
37. Der Wanderer in der Sägemühle.
1. Dort unten in der Mühle
saß ich in stiller Ruh'
und sah dem Räderspiele
und sah den Wassern zu.
2. Sah zu der blanken Säge,
es war mir wie ein Traum,
die bahnte lange Wege
in einen Tannenbaum.
3. Die Tanne war wie lebend;
in Trauermelodie,
durch alle Fasern bebend,
sang diese Worte sie:
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4. „Du kehrst zur rechten Stunde,
o Wanderer, hier ein;
du bist's, für den die Wunde
mir dringt ins Herz hinein.
5. Du bist's, für den wird werden,
wenn kurz gewandert du,
dies Holz im Schoß der Erden
ein Schrein zur langen Ruh'."
6. Vier Bretter sah ich fallen,
mir ward's ums Herze schwer,
ein Wörtlein wollt' ich lallen,
da ging das Rad nicht mehr.
Belsazar.
I
ustinus Kerner.
l. Die Mitternacht zog näher schon;
in stummer Ruh’ lag Babylon.
2. Nur oben in des Königs Schloß,
da flackert’s, da lärmt des Königs Troß.
3. Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
4. Die Knechte saßen in schimmernden Reihn
und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
5. Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht’;
so klang es dem störrigen Könige recht.
6. Des Königs Wangen leuchten Glut;
im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
7. Und blindlings reißt der Mut ihn fort,
und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
8. Und er brüstet sich frech und lästert wild;
die Knechteschar ihm Beifall brüllt.
9. Der König rief mit stolzem Blick;
der Diener eilt und kehrt zurück.
10. Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt,
das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.
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11. Und der König ergriff mit frevler Hand
einen heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.
12. Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
und rufet laut mit schäumendem Mund:
13. „Jehova, dir künd' ich auf ewig Hohn, —
ich bin der König von Babylon!“
14. Doch kaum das grause Wort verklang,
dem König ward's heimlich im Busen bang.
15. Das gellende Lachen verstummte zumal;
es wurde leichenstill im Saal.
16. Und sieh! und sieh! an weißer Wand,
da kam's hervor wie Menschenhand —
17. und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer — und schrieb und schwand.
18. Der König stieren Blicks da saß,
mit schlotternden Knien und totenblaß.
19. Die Knechteschar saß kalt durchgraut
und saß gar still, gab keinen Laut.
20. Die Magier kamen, doch keiner verstand
zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
21. Belsazar ward aber in selbiger Nacht
von seinen Knechten umgebracht.
Heinrich Heine.
39. Erlkönig
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er saßt ihn sicher, er hält ihn warm.
2. Mein Sohn, was birgst du so bang' dein Gesicht? —
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
den Erlenkönig mit Krön' und Schweif?" —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreis. —
3. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir;
manch bunte Blumen sind an dem Strand;
meine Mutter hat manch gülden Gewand." —
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4. „Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
was Erlenkönig mir leise verspricht?" —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind!
In dürren Blättern säuselt der Wind. —
5. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
und wiegen und tanzen und singen dich ein." —
6. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?" —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau;
es scheinen die alten Weiden so grau. —
7. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt." —
„Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!" —
8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
er hält in Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Müh' und Not;
in seinen Armen das Kind — war tot.
Wolfgang v. Goethe.
40. Die Kapelle.
1. Droben stehet die Kapelle,
schauet still ins Tal hinab;
drunten singt bei Wies' und Quelle
froh und hell der Hirtenknab'.
2. Traurig töntdasGlöcklein nieder,
schauerlich der Leichenchor;
stille sind die frohen Lieder,
und der Knabe lauscht empor.
3. Droben bringt man sie zu Grabe,
die sich freuten in dem Tal;
Hirtenknabe, Hirtenknabe,
dir auch singt man dort einmal!
Ludwig Uh land.
41. Seliger Tod.
Es war in Berlin an einem Weihnachtsheiligabend, daß ein
großes blondes Weib nach dem „Prediger bei den Soldaten“*) fragte.
) Der \ erfasser war seit 1869 GarnisonprediVer und Divisionspfarrer
der Garde in Berlin.
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Sie schaute mich an, und als sie die weißen Haare sah, sagte sie:
„Ja, Sie sind der alte Herr, den er meint.“ Ich wußte noch immer
nicht, was sie wollte. Endlich sagte sie: „Wir sind Schifferslcute
aus Litauen und fahren hierher nach Berlin; da ist mein Vater
immer in diese Kirche gegangen. Jetzt ist er todkrank und möchte
gern das heilige Abendmahl von dem alten Herrn haben. Kommen
Sie doch schnell mit!“ Ich zog den Pelz an, nahm die heiligen Ge-
fäße und folgte dem Weibe. Wir kamen an die Spree. „Da wohnen
wir, im siebenten Kahne. Geben Sie acht, daß Sie nicht fallen!“
Es war dunkel und glatt, ein schmales Brett war von einem Schiff
auf das andre gelegt, zwischen den Kielen das Wasser in der Tiefe.
Ich wußte kaum, wie ich da hinüberkommen sollte. Sie zog mich
denn langsam nach sich, wir waren endlich am siebenten Kahne.
Wir stiegen hinab, da lag denn in der Schiffskoje, sauber gekleidet,
das schwarze Sammetmützchen auf dem Kopf, ein Greis mit unend-
lich freundlichem Ausdruck. Er zog das Mützchen ab und küßte
mir die Hand. Es lag ein langes Leben hinter ihm. In den Frei-
heitskriegen hatte er mitgekämpft, dann viel Meer- und Kanalfahrten
gemacht; es war ihm nichts geblieben als seine verwitwete Tochter
und ein Enkelkind, die beide am weißgedeckten Tischchen saßen. Als
ich die Beichte begann, faltete er die Hände und sprach sie selbst
mir vor, noch manches dazusetzend aus seinem Leben, was ihn
drückte. Nach dem heiligen Abendmahl lag er still da, die Hände
über der Brust gefaltet, ein Bild tiefsten Friedens. Seine Koje war
selbst das Schifflein, das eben mit seinen Insassen anlandete an den
Ufern des ewigen Lebens. Noch einmal küßte er mir dankbar die
Hand. Ich stieg hinauf. Draußen war lautes Leben, die Leute
eilten vom Weihnachtsmarkt heim zur Bescherung, in vielen Häusern
sah man den Christbaum schon angesteckt; — ich aber dachte an
den alten Simeon da unten im Spreekahne und an das schöne
Weihnachtsgeschenk, das ihm bereitet sei, und an den Christbaum
droben, dessen Lichter ihm schon entgegenblickten. Noch am Abend
starb er. Seine Leiche wurde in einen Zinksarg getan und verlötet,
und im Frühjahr nahm die Tochter den toten Vater mit, daß er
ruhe in heimischer Erde, ’s war auch ein „heiliger Abend“ da unten
auf der Spree! Emil Frommei.
42. Sprüche vom Vertrauen auf Gott.
1. Vertrau auf Gott und laß ihn walten; er wird dich wunderbar
erhalten. — 2. Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.
— 3. Gott läßt wohl sinken, aber nicht ertrinken.
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B. Im Beruf und im Verkehr mit dem Nächsten.
43. Aller Anfang mit Gott.
1. Mit dem Herrn fang alles an!
Kindlich mußt du ihm vertrauen,
darfst auf eigne Kraft nicht bauen.
Demut schützt vor stolzem Wahn.
Mit dem Herrn fang alles an!
2. Mit dem Herrn fang alles an!
Die sich ihn zum Führer wählen,
können nie das Ziel verfehlen;
sie nur gehn auf sichrer Bahn.
Mit dem Herrn fang alles an!
3. Mit dem Herrn fang alles an!
Mut wird dir dein Helfer senden,
froh wirst du dein Werk vollenden;
denn es ist in Gott getan.
Mit dem Herrn fang alles an!
Christian Hohlfeldt.
44. Zum Tagewerk!
\. Gehe hin in Gottes Namen,
greif dein Werk mit Freuden an!
Frühe säe deinen Rainen!
Was getan ist, ist getan.
3. Wüßig stehen ist gefährlich,
heilsam unverdroßner Fleiß,
und es steht dir abends ehrlich
an der 5tirn des Tages schweiß,
2. 5ieh nicht aus nach dem Ent-
fernten!
Was dir nah liegt, mußt du tun.
^äen mußt du, willst du ernten,
nur die fleiß'ge Hand darf ruhn.
4. Weißt du auch nicht, was ge-
raten
oder was mißlingen mag,
folgt doch allen guten Taten
Gottes Eegen für dich nach.
Philipp ^pitta.
45. Die alle Waschfrau.
1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen
die Alte dort in weißem Haar,
die rüstigste der Wäscherinnen
im fechsundsiebenzigsten Jahr.
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So hat sie stets mit saurem Schweiß
ihr Brot in Ehr' und Zucht gegessen
und ausgefüllt mit treuem Fleiß
den Kreis, den. Gott ihr zugemessen.
2. Sie hat in ihren jungen Tagen
geliebt, gehofft und sich vermählt;
sie hat des Weibes Los getragen,
die Sorgen haben nicht gefehlt;
sie hat den kranken Mann gepflegt,
sie hat drei Kinder ihm geboren,
sie hat ihn in das Grab gelegt
und Glaub' und Hoffnung nicht verloren.
3. Da galt's, die Kinder zu ernähren;
sie griff es an mit heiterm Mut,
sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt,
entließ sie segnend ihre Lieben,
so stand sie nun allein und alt,
ihr war ihr heitrer Mut geblieben.
4. Sie hat gespart und hat gesonnen
und Flachs gekauft und nachts gewacht,
den Flachs zu feinem Garn gesponnen,
das Garn dem Weber hingebracht;
der hat's gewebt zu Leinewand:
die Schere brauchte sie, die Nadel,
und nähte sich mit eigner Hand
ihr Sterbehemde sonder Tadel.
5. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schützt es,
verwahrt's im Schrein am Ehrenplatz;
es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
am Sonntag früh sich einzuprägen
dann legt sie's wohlgefällig fort,
bis sie darin zur Ruh' sie legen.
6. Und ich, an meinem Abend, wollte,
ich hätte, diesem Weibe gleich,
erfüllt, was ich erfüllen sollte
in meinen Grenzen und Bereich;
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ich wollt', ich hätte so gewußt,
am Kelch des Lebens mich zu laben,
und könnt' am Ende gleiche Lust
an meinem Sterbehemde haben.
Adalbert v. Chamisso.
46. Line Winternacht aut* der Lokomotive.
1. „Wer fährt heute den Nachtschnellzug?“ fragte der Inspektor,
indem er aus seinem behaglichen Dienstraum in die Abfahrthalle
hinaustrat, in die ein schneidender Nordostwind feines Schneegestöber
hereinwehte.
Der Schnellzug stand vor dem Bahnsteig. Im Innern der matt
beleuchteten Wagenabteile waren nur Pelz- und Faltenmassen zu
erkennen, aus denen hier und da eine rotgefrorene Nase oder ein
atmender Mund hervorschaute. „Wer fährt den Nachtschnellzug?“
fragte der Inspektor nochmals, am Zuge entlang schreitend. „Der
alte Zimmermann,“ tönt die Antwort, und zugleich erscheint am
Geländer der Maschine eine kurze, dick in einen Pelz gehüllte Ge-
stalt. Schon ein Vierteljahrhundert hat der alte Zimmermann in
Sturm und Hegen, Pütze und Kälte auf der rüttelnden Lokomotive
gestanden und mit ihr einen Weg zurückgelegt, der zwanzigmal um
den Erdball reicht. „Wie steht’s, Zimmermann?“ fragt der Inspektor.
„Verdammt kalt, Herr! Fünfzehn Grad, schlecht gemessen! Hab’
mein Warmbier schon im Leibe; aber meine Luise bringt mir noch
einen Kaffee mit Rum; den trink’ ich, während ich meinen ,Greif'
noch einmal mustere. Heut’ wird der Schnee stechen, als würde man
aus einem Blaserohr mit Schuhzwecken beschossen!“ Eine Frau eilt
jetzt mit einem Handkorbe herbei, grüßt den Inspektor und packt
dann eilends einen Kaffeetopf aus, dessen Inhalt sie einschenkt. Die
Ölkanne in der Hand, umschreitet Zimmermann indessen die mächtige
Schnellzugmaschine, damit sie ihre 150 Pferdekräfte frei entwickeln
und die ihr angehängte 2000 Zentner schwere Last mit Windeseile
durch die Sturmnacht führen kann. Der Inspektor läßt das Ab-
fahrtzeichen geben. „Gott behüte dich!“ sagt die Frau, dem auf
der Maschine stehenden Führer die Pfand reichend. Der legt die
behandschuhte Faust auf den Kegulator; ein Kuck, und die Maschine
setzt sich in Bewegung. Heulend fällt der schneidende Sturm den
Führer und Heizer an; denn noch entbehrten die Lokomotiven der
Schutzkabinen, mit denen sie jetzt versehen sind. Auf den Wagen
sitzen wie schwarze Klumpen, die Schaffner, in Pelze und Mäntel
46
vergraben. Mit wüstem Zischen fährt der Sturm zwischen Rädern
und Wagen hindurch.
2. Jetzt ist der Zug auf freier Bahn. Rabenschwarze Nacht
liegt vor ihm; kaum den Schornstein seiner Maschine kann der
Lokomotivführer sehen. Welche Gefahren birgt diese Finsternis!
Hat ein Arbeiter eine Hacke auf der Strecke liegen lassen? Hat
der Sturm einen Signalbaum umgelegt oder einen Wagen von einer
Haltestelle hinausgetrieben? Oder ist gar eine Weiche nicht richtig
gestellt? Aufmerksam steht der Führer auf der dahinjagenden
Maschine. Trotz Sturm und Schnee, die seine Augen geißeln, hat
er den Blick fest auf den Lichtschein gerichtet, den die Laternen
der Maschine auf die Bahn werfen. Zuweilen blinken freundliche
Lichter aus den Hütten naher Dörfer vorüber, und dem Führer
kommen Weib und Kind im traulichen Stübchen in den Sinn. Aber
vorbei, vorwärts! und noch rascher schießt der Zug in die Nacht
hinein. „Feuern!“ schreit jetzt der Führer durch den tosenden
Sturm. Ein glänzendes Lichtbündel fährt aus der geöffneten Feurung
hervor, und in dem Glutlichte bückt sich zehnmal die dunkle Ge-
stalt des Heizers, der die mächtige Kohlenschaufel füllt und zwei
Zentner Brennstoff in den Feuerraum schleudert.
Die roten und weißen Lichter einer Haltestelle schimmern aus
dem Schneewirbel auf. „Das ist Wolfsberg!“ sagt der Führer, und
bald poltert der Zug unter das Dach des Bahnsteiges. Eilig um-
schreitet Zimmermann seine Lokomotive und reinigt sie von dem
Schneeschlicker, der sich in den Ecken und Vertiefungen angehäuft
hat. Da ruft der Heizer, der inzwischen mit dem Aushacken der
Schlacken aus dem Roste der Feurung beschäftigt ist: „Der Rost
ist so dick verschlackt! Ich komme nicht durch bei vier Minuten
Aufenthalt!“ Rasch springt Zimmermann herbei, packt die schwere
Feuerkrücke und arbeitet hastig, bis das Feuer wieder in regel-
rechtem Zustande ist. Schweißtriefend klimmt dann der schwer-
bekleidete Mann auf die Lokomotive, und wieder geht’s hinaus in
die eiseskalte Schneesturmnacht, welche die schweißgetränkten Haare
der beiden Männer in wenigen Sekunden in starrende Eisnadeln
verwandelt.
„Es schneit stark!“ sagen gähnend einige Fahrgäste, die den
Schnee knisternd an das Fenster schlagen hören. „Wir haben Ver-
spätung,“ fügen sie hinzu, wickeln sich in ihre warmen Pelze und
drücken die Köpfe in die weichen Wagendecken.
Nach und nach behängt sich die Lokomotive mit schweren Eis-
zapfen, und alle Zwischenräume füllen sich mit Schnee. „Ich glaube,
die Pumpen frieren zu bei dem Wetter,“ sagt der alte Zimmermann,
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„wir wollen sie ein wenig spielen lassen.“ Er will die Hand nach
den Griffen ausstrecken, den Kopf hinwenden; aber er fühlt die
Faust am Körper festgehalten und einen empfindlichen Schmerz am
Kinn. Er reißt den am Kock festgefrorenen Ärmel los; Bart und
Pelz sind in eine Eismasse zusammengeronnen, und an den Augen-
wimpern hängen Eiskügelchen. Die Haltestellen spinnen sich lang-
sam ab: müde werden die durchdröhnten Glieder, und Schlafsucht be-
schleicht die Männer. Entsetzt über die gefährlichen Anwandlungen,
reißen sie gewaltsam die müden Augen auf. „Gottlob, es ist bald
vorüber! Noch eine halbe Stunde! Vorwärts, alter Greif! Das
war eine böse Nacht! Wir kommen heute beide wie die Eisbären
an. Aber du sollst aufgetaut und gesäubert werden vom Rad bis
zum Schornstein! Gott sei Dank, da ist die Endstation!“
3. Dröhnend rollt der Zug mit den letzten Atemzügen der
Maschine in die spärlich erleuchtete Halle. Der Inspektor steht ver-
drießlich auf dem Bahnsteig. „Sie kommen 20 Minuten zu spät,
Zimmermann!“ — „Es war eine böse Nacht, Herr Inspektor!“ —
„Ja, es tut mir leid; aber Gaußigs Maschine ist schadhaft geworden.
Bringen Sie den ,Greif* in Ordnung! In einer halben Stunde müssen
Sie den Schnellzug zurück übernehmen!“ — Durchfroren, kältematt,
todmüde sofort den ganzen Weg zurück! Und der Schneesturm tobt
nach wie vor! Das ist Lokomotivführerdienst im Winter.
Max Maria von Weber.
47. Auf der Straßenbahn.
Zn Hitz' und Frost und Staub und Kegen,
jedwedem Wetter die Stirn entgegen,
die Hand an der Kurbel, das Auge gespannt:
So steht der Führer ans seinem Stand.
So steht er von srüh bis abends spät,
das schwatzt um ihn, das kommt und geht,
das stoßt und drängt sich, das scherzt und lacht
bis in die tiefe Mitternacht.
Starr blickt er hinab in der Straße Gewühl,
er steht auf Posten, er kennt nur ein Ziel;
wie's um ihn auch hastet und wirrt und stielst:
daß nur kein Unglück, kein Unglück geschieht!
Nur einmal da draußen, da kann es geschehn,
wo grün an der Straße die Bäume noch stehn/x
Da bricht ein Lächeln die starre Ruh':
vom Wegrand blickt fröhlich sein Weib ihm zu,
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fein 3un9e springt flink an die Bordertür
und bringt ihm ein Brot und bringt ihm ein Bier,
fährt jubelnd mit zur Endstation —
das ist des Tages reichster Lohn . . .
^ei jedem, wie und wo er auch fährt,
solch eine strecke Weges beschert.
Jakob Loewenberg.
48. Der brave Feuerwehrmann.
1. Im Jahre 1899, am Abend des 28. Februar, bemerkten die
Bewohner des Hauses Metzerstraße 29, daß auf dem Boden Feuer
ausgebrochen war. Dort hatte ein Händler Felle, Pelze, Holzwolle,
Kisten und andere leicht brennbare Stoffe aufbewahrt, und diese waren
in Brand geraten. Aus welche Weise es geschehen war, hatte sich auch
später nicht sicher feststellen lassen. Sofort wurde die Feuerwehr
alarmiert, und in wenigen Minuten jagten auch schon die ersten Lösch-
wagen heran. Das Feuer hatte unterdessen wohl Nahrung gefunden,
hatte sich jedoch nicht ausbreiten können, da ihm der Luftzug fehlte;
es hatte dafür die sämtlichen Bodenräume mit dickem Rauche ange-
füllt. Als nun die Feuerwehrleute bis zu dem Feuerherd vordringen
wollten, schlug ihnen schon auf der Treppe ein atemberaubender Ranch
entgegen, so daß sie zurückweichen niußten. Es blieb ihnen daher nur
der Weg über das Dach des Nachbarhauses, um dem Feuer beizu-
kommen. Schnell erstiegen einige Leute dieses Dach, sprangen von
hier auf das des brennenden Hauses und öffneten die Dachluke. Ta
der Öffnung nur geringe Rauchmassen entstiegen, ließ sich zuerst der
Brandmeister, mit einer Rettungsleine versehen, aus den Bodenraum
hinab. Kaum aber hatte er diesen mit den Füßen berührt, als der-
selbe durchbrach und nun aus der Dachluke eine dicke Rauchwolke und
gleich daraus eine kurze Stichflamme schlug. Die neben der Öffnung
stehenden Feuerwehrleute wußten sofort, daß ihr Brandmeister den
Herd des Feuers erreicht hatte, sein Leben jetzt aber auch in Gefahr
stand. Ohne langes Besinnen umschnürte sich der Feuerwehrmann
Beyer mit der Rettungsleine und ließ sich in den raucherfüllten Raum
hinab.
2. Dem Brandmeister war es unterdessen gelungen, sich unter
den angekohlten Balken und dem heißen Schutt hervorzuarbeiten und
durch Rauch und Feuer bis zu einem Bodenfenster vorzudringen. Er
zwängte sich durch die enge Fensteröffnung, schöpfte Luft, befestigte
dann schnell, da er jetzt an seine eigene Rettung denken mußte, das
Rettungsseil und ließ sich an der Vorderseite des Hauses auf die
49
Straße hinab. In der Eile hatte er jedoch das Seil mit beiden Enden
festgeschlungen und blieb nun, da er nur die Hälfte der Seillänge aus-
nutzen konnte, bei dem dritten Stockwerke in freier Luft hängen. So-
fort wurde er von den auf der Straße stehenden Menschenmassen und
Feuerwehrleuten bemerkt. Die Hilferufe der Menge übertönte das
Pfeifensignal: „Menschenleben in Gefahr!" und in wenigen Sekunden
war, gerade unter dem in der Luft Schwebenden, das Sprungtuch
ausgespannt. Es war aber auch die höchste Zeit; denn des Brand-
meisters Kleidung hatte Feuer gefangen und begann zu brennen, und
seine Kräfte waren zu Ende. Sobald daher von unten der Zuruf
ertönte, er solle herabspringen, ließ er los und fiel auf das Tuch.
Er war in Sicherheit. Zwar brach er sich dabei einen Arm, hatte
in den brennenden Bodenräumen und in der schwindelnden Höhe Todes-
angst ausgestanden und trug Brandwunden im Gesicht davon, aber
sein Leben war gerettet.
3. Wo aber war der Feuerwehrmann Beyer? Er war nicht zum
Dach zurückgekehrt, hatte seinen Kameraden jedoch auch kein Notzeichen
gegeben. Die auf dem Dache stehenden Feuerwehrleute glaubten ihn
jetzt auch in Lebensgefahr und bemühten sich, ihn an der Rettungs-
leine aus dem immer stärker in Brand geratenden Boden zurück-
zuziehen. Aber vergeblich. Als endlich ein Feuerwehrmann, aus-
gerüstet mit Rauchhelm und Schlauchleitung, vordrang, fand er den
Braven, aber bereits tot. Auch Beyer war, wie sein Brandmeister,
hinab in den zweiten Bodenraum gestürzt, war aber durch Verletzungen
und die Wirkungen des Rauches bewußtlos geworden. Da sich die
Rettungsleine bei feinem Absturze verwickelt hatte, konnte er nicht
zurückgezogen werden. Um seinen Vorgesetzten zu retten, hatte der
Tapfere sein Leben gewagt und leider dabei verloren. Ehre seinem
Andenken!
Arno Fuchs.
49. Zwischen Himmel und Erde.
1. Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich. Tief
unten das lärmende Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben die
Wanderer des Himmels, die stillen Wolken in ihrem großen Gang.
Monde, Jahre, Jahrzehnte lang hat es keine Bewohner als der
krächzenden Dohlen unruhig flatternd Volk.
2. Aber eines Tages öffnet sich in der Mitte der Turmdachhöhe
die enge Ausfahrtür; unsichtbare Hände schieben zwei Rüststangen
heraus. Dem Zuschauer von unten gemahnt’s, sie wollen eine Brücke
von Strohhalmen in den Himmel bauen. Die Dohlen haben sich
Kappcy u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 4
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auf Turmknopf und Wetterfahne geflüchtet und sehen herab und
sträuben ihr Gefieder vor Angst. Die Rüststangen stehen wenige
Fuß heraus, und die unsichtbaren Hände lassen vom Schieben ab.
3. Dafür beginnt ein Hämmern im Herzen des Dachstuhls. Die
schlafenden Eulen schrecken auf und taumeln aus ihren Luken zackig
in das offene Auge des Tages hinein. Die Dohlen hören’s mit Ent-
setzen; das Menschenkind unten auf der festen Erde vernimmt es
nicht, die Wolken oben am Himmel ziehen gleichmütig darüber hin.
Lange währt das Pochen, dann verstummt’s. Und den Rüststangen
nach und quer auf ihnen liegend, schieben sich zwei, drei kurze
Bretter. Hinter ihnen erscheint ein Menschenhaupt und ein Paar
rüstige Arme. Eine Hand hält den Nagel, die andre trifft ihn mit
geschwungenem Hammer, bis die Bretter fest aufgenagelt sind und
die fliegende Rüstung fertig. So nennt sie ihr Baumeister, dem sie
eine Brücke zum Himmel werden kann, ohne daß er es begehrt.
Auf die Rüstung baut sich nun die Leiter und, ist das Turmdach
sehr hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält sie zusammen als der
eiserne Hängehaken, nichts hält sie fest als auf der Rüstung vier
Männerhände und oben die Helmstange, an der sie lehnt. Ist sie
einmal über der Ausfahrtür und an der Helmstange mit starken
Tauen angebunden, dann sieht der kühne Schieferdecker keine Ge-
fahr mehr in ihrem Besteigen, so weh dem schwindelnden Menschen-
kinde tief unten auf der sichern Erde auch wird, wenn es hinauf-
schaut und meint, die Leiter sei aus leichten Spänen zusammen-
geleimt wie ein Weihnachtsspiel werk für Kinder. Aber eh’ er die
Leiter angebunden hat — und um das zu tun, muß er erst einmal
hinaufgestiegen sein — mag er seine arme Seele Gott befehlen.
Dann ist er erst recht zwischen Himmel und Erde. Er weiß, die
leichteste Verschiebung der Leiter — und ein einziger falscher Tritt
kann sie verschieben — stürzt ihn rettungslos hinab in den sichern
Tod. Haltet den Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann
ihn erschrecken! ^
4. Die Zuschauer unten tief auf der Erde falten atemlos unwill-
kürlich die Hände, die Dohlen, die er von ihrem letzten Zufluchts-
orte verscheucht, krächzen wildflatternd um sein Haupt; nur die
Wolken am Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin. Nur
die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der Leiter geht so un-
berührt wie sie. Er ist kein eitler Wagling, der frevelnd von sich
reden machen will; er geht seinen gefährlichen Pfad in seinem Be-
rufe. Er weiß, die Leiter ist fest; er selbst hat das fliegende Gerüst
gebaut, er weiß, es ist fest; er weiß, sein Herz ist stark, und sein
Tritt ist sicher. Er sieht nicht hinab, wo die Erde mit grünen
51
Armen lockt, er sieht nicht hinauf, wo vom Zug der Wolken am
Himmel der tödliche Schwindel herabtaumeln kann auf sein festes
Auge. Die Mitte der Sprosse ist die Bahn seines Blicks, und oben
steht er. Es gibt keinen Himmel und keine Erde für ihn als die
Helmstange und die Leiter, die er mit seinem Tau zusammenknüpft.
Und der Knoten ist geschlungen; die Zuschauer atmen auf und
rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und sein Tun hoch
oben zwischen Himmel und Erde. Schieferdecker spielen die Kinder
der Stadt eine ganze Woche lang.
5. Aber der kühne Manu beginnt nun erst sein Werk. Er holt
ein andres Tau herauf und legt es als drehbaren Ring unter dem
Turmknopf auf die Stange. Dann befestigt er den Flaschenzug mit
drei Kloben, an den Flaschenzug die Ringe seines Fahrzeugs. Ein
Sitzbrett mit zwei Ausschnitten für die herabhängenden Beine, hinten
eine niedrige, gekrümmte Lehne, hüben und drüben Schiefer-, Nagel-
und Werkzeugkasten; zwischen den Ausschnitten vorn das Haueisen,
ein kleiner Amboß, auf dem er mit dem Deckhammer die Schiefer
zurichtet, wie er sie eben braucht; dies Gerät, von vier starken
Tauen gehalten, die sich oberhalb in zwei Ringe für den Haken des
Flaschenzugs vereinigen, das ist der Hängestuhl, wie er es nennt,
das leichte Schiff, mit dem er hoch in der Luft das Turmdach um-
segelt. Mittelst des Flaschenzugs zieht er sich mit leichter Mühe
hinauf und läßt sich herab, so hoch und tief er mag; der Ring oben
dreht sich mit Flaschenzug und Hängestuhl, nach welcher Seite er
will, um den Turm. Ein leichter Fußstoß gegen die Dachfläche
setzt das Ganze in Schwung, den er einhalten kann, wo es ihm gefällt.
6. Und bald bleibt kein Menschenkind mehr unten stehen und
sieht herauf; der Schieferdecker und sein Fahrzeug sind nichts Neues
mehr. Die Kinder greifen wieder zu ihren alten Spielen. Die Dohlen
gewöhnen sich an ihn; sie sehen ihn für einen Vogel an, wie sie
sind, nur größer, aber friedlich wie sie; und die Wolken hoch am
Himmel haben sich nie um ihn gekümmert. Die Damen neiden ihm
die Aussicht. Wer konnte so frei über die grüne Ebene hinsehen,
und wie Berge hinter Bergen hervorwachsen, erst grün, dann immer
blauer, bis wo der Himmel, noch blauer, sich auf die letzten stützt!
Aber er kümmert sich so wenig um die Berge, wie die Wolken sich
um ihn. Tag für Tag hantiert er mit Flickeisen und Klaue, Tag
für Tag hämmert er Schiefer zurecht und Nägel ein, bis er fertig
ist mit Hämmern und Nageln.
7. Und eines Tages sind Mann, Fahrzeug, Leiter und Rüstung
verschwunden. Das Entfernen der Leiter ist so gefährlich als ihre
Befestigung, aber es faltet niemand unten die Hände, kein Mund
4*
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rühmt des Mannes Tat zwischen Himmel und Erde. Die Krähen
wundern sich eine ganze Woche lang; dann ist’s, als hätten sie vor
Jahren von einem seltsamen Vogel geträumt.
Tief unten lärmt noch das Gewühl der Wanderer der Erde,
hoch oben gehen noch die Wanderer des Himmels, die stillen Wolken,
ihren großen Gang; aber niemand mehr umfliegt das steile Dach
als der Dohlen krächzender Schwarm. Otto Ludwig.
X 50. Der Lotse.
1. „Siehst du die Brigg dort auf den Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muß am Vorgebirg zerschellen,
lenkt sie nicht, augenblicklich ein.
2. Ich muß hinaus, daß ich sie leite!" —
„Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor. —"
3. „Allein, ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt;
ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohl ein altes Leben wert.
4. Gib mir das Sprachrohr! — Schifflein, eile!
Es ist die letzte, höchste Not!" —
Vor fliegendem Sturme, gleich deut Pfeile,
hin durch die Schären eilt das Boot.
5. Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„Links müßt ihr steuern!" hallt ein Schrei.
Kiel oben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei.
Ludwig Giesebrecht.
51. Der reichste Fürst.
1. Preisend mit viel schönen Reden
ihrer Länder Wert und Zahl,
saßen viele deutsche Fürsten
einst zu Worms im Kaisersaal.
2. „Herrlich," sprach der Fürst von Sachsen,
„ist mein Land und seine Macht;
Silber hegen seine Berge
wohl in manchem tiefen Schacht."
53
3. „Große Städte, reiche Klöster,"
Ludwig, Herr zu Bayern, sprach,
„schaffen, daß mein Land dem Euren
wohl nicht steht an Schätzen nach."
4. „Seht mein Land in üpp'ger Fülle,"
sprach der Kurfürst von dem Rhein,
„goldne Saaten in den Tälern,
auf den Bergen edlen Wein."
5. Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
sprach: „Mein Land hat kleine Städte,
trägt nicht Berge silberschwer.
6. Doch ein Kleinod hält's verborgen:
daß in Wäldern noch so groß
ich mein Haupt kann kühnlich legen
jedem Untertan in Schoß!"
7. Und es rief der Herr von Sachsen,
der von Bayern, der vom Rhein:
„Graf im Bart, Ihr seid der Reichste,
Euer Land trägt Edelstein!"
Justinus Kerner.
52. Nur ein Schafhirt.
1. An einem Bergabhang des linken Saalenfers stand am Nach-
mittage des 12. Oktober 1806 ein Mann, der den Kopf auf einen
langen Stab gestützt hatte und so in das Tal hinabschaute, durch
welches die Straße von Jena nach Naumburg sich hindurchzieht. Unten
war ein buntes, wirres Leben. Soldaten, Pferde, Wagen drängten
einander. Starr und gedankenvoll ruhte sein Auge auf diesem Treiben.
Neben ihm weideten wenige Schafe. Die Kleidung des Mannes, ein
blauer, langer Rock, ein großer, breitkrempiger, schwarzer Hut und
eine lange Weste, sowie seine ganze Erscheinung zeigten auf den ersten
Blick, daß er ein Schafhirt war. Nur zuweilen warf er einen Blick
auf die vier oder fünf Schafe neben ihm, und dann zuckte um seinen
Mund ein trauriges Lächeln. Noch vor kurzer Zeit hatte er hier für
seinen Herrn eine zahlreiche Herde geweidet. Diese wenigen Tiere
waren alles, was ihm davon übriggeblieben war. Sie waren sein
Eigentum, und er hatte sich mit ihnen hierher geflüchtet. Der Abhang
des Berges war steil, und er durfte hoffen, daß die Feinde nicht auf
den Berg kommen würden. In dem Dorfe dort unten im Tale be-
54
saß der Schäfer ein Haus. Die Franzosen hatten sich in demselben
einquartiert und ihn daraus vertrieben. Alle Vorräte, die er für
seine Familie und seine Tiere zum Winter gesammelt hatte, waren
ihm genommen worden: Was sollte er nun noch da unten im Dorfe?
Er mochte das Treiben der übermütigen Feinde nicht in der Nähe an-
sehen. Seine beiden Söhne standen drüben in dem preußischen Heere,
und zu ihnen eilten seine Gedanken. Wenn er jünger gewesen wäre,
er hätte gern die Waffen zur Hand genommen, um die Frechheit der
übermütigen Eroberer züchtigen zu helfen. Jedoch, in seinen Jahren
konnte er nicht mehr daran denken, unter die Soldaten zu gehen.
Aber seine Hände ballten sich oft unwillkürlich, und er stieß den
Hirtenstab auf die Erde, wenn er des Übermutes und der Grausam-
keit der Franzosen gedachte.
2. Da kam ein Mann schräg an dem Abhange des Berges daher
und eilte auf ihn zu. Er hörte ihn nicht, bis der neben ihm sitzende
Hund laut anschlug. Schnell wandte der Hirt den Kopf. Doch seine
Augenbrauen zogen sich finster zusammen, als er den Kommenden er-
kannte. „Nun Born," rief der Herankommende, ein Mann von etwa
25—30 Jahren, dessen stechende Augen seinem Gesichte einen unheim-
lichen und unangenehmen Ausdruck gaben. „Nun, Ihr steht hier so
ruhig, als ob da unten nichts los wäre. Das ist ein Leben und Treiben
ringsum! Man sollte eigentlich Gott danken, wenn man mit heiler
Haut daraus wäre." — „Niemand hindert Euch daran," antwortete
kalt der Schäfer. „Eure Söhne stehen dort oben unter den Preußen,
nicht wahr?" fragte der Fremde. Born nickte bejahend. „Und Eure
Frau und Tochter?" — „Sie sind da drüben," erwiderte der Hirt,
und zeigte mit der Hand nach den Bergen jenseits der Saale. „Denkt
Ihr denn, daß sie dort in Sicherheit sind? Dorthin wird der Feind
auch dringen." — „Wer weiß," sprach Born. „Es kommt vielleicht
auf einen einzigen Tag an, und die Fremden müssen wieder aus dem
Lande hinaus, wie sie hereingekommen sind." — „Ha, ha!" lachte
Sielert, so hieß der Mann, „denkt Ihr denn, daß die Preußen siegen
werden? Ich komme heute von Kahla und Jena und habe gesehen,
wie zahlreich die Franzosen sind. Es sollen viel über 100000 Mann
sein, und die lassen sich nicht so leicht zum Lande hinausjagen."
Born blickte den Mann scharf und finster an. Dann sprach er lang-
sam: „Ihr scheint es mit dem Feinde zu halten?" — „Nein, nein,"
war die Antwort, „aber der Napoleon versteht den Krieg." — „Das
mag sein, wie es will," erwiderte der Schäfer. „Seine Reiter und
Kanonen wird er doch nicht an diesen Bergen in die Höhe schassen.
Es gibt nur einen Weg, aus dem es möglich wäre, und den kennt
er nicht und wird er auch nicht finden." — „Kennt Ihr den Weg?"
55
fragte Sielert schnell. „Ich kenne ihn," antwortete Born ruhig; „doch
wohin wollt Ihr?" — „Nach Naumburg," erwiderte Sielert. „Man
kann auf der Landstraße vor den Soldaten und Pferden, Wagen und
Kanonen nicht durchkommen; ich muß deshalb Nebenwege suchen und
einschlagen. Lebet wohl!"
3. Mit diesen Worten eilte der Mann hastig von dannen. Der
Schafhirt sah ihm lange nach, und seine Augen nahmen einen düsteren
Blick an. Dann trieb er seine Tiere langsam in ein kleines Gehölz,
welches nicht weit vom Abhange des Berges sich hinzog. Dort wollte
er mit ihnen über Nacht bleiben. Wohl waren die Nächte schon kalt
und feucht geworden, aber Born war von Jugend auf an Wind und
Wetter gewöhnt und hatte schon in kälterer Zeit manche Nacht int
Freien zugebracht. Er fürchtete darum keine Erkältung. Der Abend
brach herein, und stiller wurde es auf den Bergen. Um so lauter
schallte das Geräusch aus dem Tale herauf. Da rollten die Räder und
die Kanonen, es dröhnten die Hufschläge der Pferde, und oft er-
klangen Trommelschlag und laute Stimmen. Der Schäfer hörte lange
zu. Dann setzte er sich zur Erde und lehnte sich an einen Baum.
Neben ihm lagerten sich sein treuer Hund und die kleine Herde. So
schlief er endlich ein.
4. Der 13. Oktober brach an. Am Morgen stand auch der Schaf-
hirt wieder an dem Abhang des Berges, um seine Tiere zu weiden.
Sein erster Blick war in das Tal hinab gewesen. Es leuchtete wie
Freude aus dem ernsten Angesicht, als er die zahlreichen Geschütze und
die Reiterei der Franzosen unten sah. Es war also noch nicht ge-
lungen, dieselben den Berg hinauszuschaffen, und er jubelte darüber
in seinem Herzen. „Wenn er den Weg wüßte," sprach er vor sich
hin, „der dort auf die Höhe führt! Aber er weiß ihn nicht und wird
ihn nicht finden. Es weiß ihn ja kaum jemand außer mir. Fast
scheint es unmöglich, den Berg hinaufzukommen. Und doch bin ich
früher mehr als einmal auf dem Wege nach seinem Gipfel geritten."
5. Wieder kam der Mann, der ihn am Tage zuvor überrascht hatte,
zu dem Schäfer herab. Dieser sah ihn finster und befremdet an und
rief endlich: „Ihr sagtet ja gestern, daß Ihr nach Naumburg gehen
wolltet?" — „Das war auch mein Wille/" sprach Sielert. „Aber
die Wege sind alle wie versperrt, und es ist beinahe nicht möglich,
hindurchzukommen. Ich habe übrigens gestern noch ein gutes Ge-
schäft gemacht, von dem ich eine Zeitlang leben kann." Mit diesen
Worten hielt er einen Geldbeutel empor, in welchem mehrere Gold-
stücke glänzten. Dann fuhr er fort: „Sehet, es sind jetzt schlechte
Zeiten, Handel und Wandel liegen an allen Orten danieder, die Arbeit
stockt, und es ist schwer, etwas zu verdienen. Man weiß auch nicht.
56
was aus dem allen werden wird und welche Schicksale uns noch be-
vorstehen. Mit diesem Gelde will ich wieder einen kleinen Handel
beginnen, und Ihr sollt mir dazu einen guten Rat geben."
„Ich verstehe von Eurem Handel nichts, und er geht mich auch
nichts an," antwortete der Schafhirt, der mit diesem Manne nicht
länger etwas zu schaffen haben mochte. „Nun, was habt Ihr denn?"
fragte Sielert beruhigend. „Ihr könnt mir einen großen Gefallen tun.
Hört mich doch nur einmal an. Seht, die französische Infanterie hat
den Landgrafenberg und die Höhen dort besetzt. Die Soldaten sind
wie Katzen hinaufgeklettert. Da oben gibt es nichts zu essen und zu
trinken. Es getraut sich auch niemand so leicht zu den Franzosen hin,
ich aber fürchte mich vor ihnen nicht. Nur möchte ich gern mit einem
kleinen Wagen Wein und Bier hinauffahren, und man würde es
mir gut bezahlen. Aber wie soll ich hinaufkommen? Seht, Born, ich
schenke Euch eins von diesen Goldstücken, wenn Ihr mir den Weg
zeigt, von dem Ihr gestern spracht. Wollt Ihr?" Born hatte den
Worten des Mannes mit steigender Aufmerksamkeit zugehört. Ernst
und düster blickten seine Augen auf ihn. Endlich sprach er: „Ich soll
Euch den Weg zeigen! Nimmermehr! Ihr würdet ihn an die Fran-
zosen verraten." Sielert lächelte listig. Dann sprach er: „Seid kein
Tor, Born! Und wenn dies wirklich meine Absicht wäre? Kommt,
wir wollen beide zusammen das Geschäft machen. Ich will mit den
Franzosen unterhandeln und unsere Forderungen stellen. Und sie
sollen uns, darauf könnt Ihr Euch verlassen, so viel Geld geben, daß
wir beide in unserem ganzen Leben nicht mehr zu arbeiten brauchen."
Die Wangen des Hirten hatten sich bei diesen Worten je mehr und
mehr gerötet. Die Adern waren auf seiner Stirn angeschwollen. Ein
heißer Zorn glühte in seinen ehrlichen Augen. Aber noch hielt er
an sich, so schwer es ihm auch wurde. „Nun sprecht, Born," drängte
Sielert. „Ich, ich soll den verwünschten Franzosen den Weg ver-
raten?" rief Born, der noch immer nicht Luft für seinen Zorn be-
kommen konnte. „Nun, weshalb denn nicht?" sprach lächelnd der
Verräter. „Was ist daran gelegen, wenn es nur gut bezahlt wird?
Und dafür will ich wohl einstehen."
„Schuft!" unterbrach ihn der Hirt heftig, indem er ihn an der
Brust packte. „Du Schuft, du Judas! Mein eigenes Vaterland und
das Leben meiner Söhne soll ich für Geld verraten? Da, fahr hin,
wohin du gehörst!" rief er, indem er den Sielert trotz seines Alters
mit starkem Arm den Abhang hinabstieß. Der Verräter überschlug
sich mehrere Male, indem er hinunterrollte. Dann raffte er sich auf,
stürmte wieder den Berg hinauf und drang wütend auf den Alten
ein. Dieser hatte seinen Schäferstock erhoben und schwang ihn mit
57
kräftiger Hand. Sein Hund eilte knurrend und bellend herbei und
war jeden Augenblick bereit, sich aus den Angreifer zu stürzen. Sielert
wagte sich darum nicht heran. Er rief nur wütend: „Das sollt Ihr
mir büßen!" und eilte dann den Berg wieder hinab. „Denke nur
an dein eigenes Leben, das gewiß am Galgen endet!" rief ihm der
Alte zornig nach.
Sein ehrlicher und schlichter Sinn konnte die Schändlichkeit dieses
Menschen kaum fassen. Er setzte sich nieder und stützte das Haupt in
die Hand. Wie war es möglich, daß jemand sein eigenes Vaterland
verraten konnte? Dann dachte er an seine Söhne, seine Tochter und
seine Frau. Er hatte sie lange nicht gesehen. Noch waren sie in
keiner Gefahr. Die Feinde waren noch nicht jenseits der Saale, die
dortigen Höhen waren noch von ihnen frei. Aber was sollte aus
ihnen allen werden, wenn die Franzosen siegten? Nein, das konnte,
das durfte nicht geschehen!
6. Der alte Schäfer hatte wohl eine Stunde und darüber sinnend
und sorgend dort oben gesessen. Plötzlich hörte er das Geräusch von
herannahenden Schritten und schreckte aus seinen Gedanken empor.
Mehrere französische Soldaten waren den Abhang herabgekommen und
näherten sich ihm. Hinter ihnen erblickte er auch den schurkischen
Sielert in einiger Entfernung. Eine bange Ahnung stieg in dem
Herzen des Hirten auf. Er sprang von seinem Sitz erschrocken in die
Höhe. Sollte er fliehen, so schnell er konnte? Ach, seine alten Glieder
würden ihn nicht weit getragen haben. Sollte er sich zur Wehr setzen?
Fest, beinahe krampfhaft, ergriff er seinen Hirtenstab. Allein, dies
wäre eine noch viel größere Torheit gewesen. Er blieb darum schein-
bar ruhig stehen. Die Soldaten waren unterdessen an ihn heran-
gekommen. Einer von ihnen forderte den Schäfer in gebrochenem
Deutsch auf, ihnen sogleich zu folgen. „Wohin?" fragte Born, dessen
Fassung und Ruhe zum großen Teile zurückgekehrt waren. „Zum
Marschall," lautete die Antwort.
Born zögerte. Was wollte man von ihm? Sollte seine Befürch-
tung sich wirklich erfüllen? „Hat Euch der hierher geführt?" sagte
er endlich, indem er auf Sielert zeigte. Die Soldaten nickten bejahend.
Jetzt war kein Zweifel mehr, er sollte den geheimen Weg auf den
Landgrafenberg zeigen. Ihm schwindelte beinahe. Sollte er sich
weigern, den Soldaten zu folgen? Sein Arm war ja noch kräftig.
Doch, es wäre eine Torheit gewesen, auch nur einen Versuch des
Widerstandes zu wagen. Schweigend und mit bangem Herzen folgte
er den Soldaten, welche rasch die Anhöhe hinaufschritten. Sielert
wartete auf sie, bis sie ihn eingeholt hatten, dann ging er mit ihnen.
„Ich habe es Euch versprochen, daß Ihr mir für Eure Bosheit büßen
sollt," sprach er höhnisch zu dem Hirten. „Man wird schon Mittel und
Wege finden, Euch den Mund aufzutun," setzte er teuflisch lächelnd hinzu.
Born schwieg, er hörte die Worte kaum. Eine innere Stimme rief
ihm warnend zu: „Dies ist ein schwerer, furchtbarer Gang für dich!
Entdecke ihnen den Weg, oder du stürzest dich und die Deinen ins Un-
glück. Entdecke ihn, ehe man dich mit Gewalt dazu zwingt!" Aber
er beschwichtigte diese Stimme und sprach dann wieder zu sich selbst:
„Man kann dich doch nicht zwingen. Man kann dir mit Gewalt den
Mund öffnen, aber man kann das Geheimnis nicht aus deiner Brust
herausholen, wenn du es ihnen nicht entdecken willst."
7. Die Soldaten hatten mit ihrem Gefangenen endlich den Land-
grafenberg erstiegen. Sie führten ihn sogleich in das Hauptquartier
zu den: Marschall Lannes, welcher den Berg besetzt hielt. Der Marschall
ließ eine Weile seine Augen forschend auf dem Hirten ruhen. Dann
fragte er ihn, ob er, wie er zu Sielert gesagt habe, einen Weg wisse,
auf welchem Pferde und Geschütze hier herausgeschafft werden könnten.
„Ja," sprach Born ruhig. Er konnte und wollte nicht lügen.
„So zeigt uns den Weg!" sagte der Marschall. „Ihr sollt eine reiche
Belohnung dafür haben." Born schwieg eine Weile. Es wogte in
seinem Herzen wie ein stürmendes und brausendes Meer. Er konnte,
er durfte nicht zum Verräter werden. „Wollt Ihr uns den Weg
zeigen?" fragte der Marschall. „Nein!" antwortete der Schäfer fest
und bestimmt. „Ich würde schlecht gegen meine eigenen Landsleute
handeln, wenn ich es tun wollte." — „Ihr wollt also nicht?" rief
der Marschall. „Glaubt Ihr, daß wir nicht auch ohne Euch den Weg
finden werden? Wir dürfen ja nur den Berg nach allen Seiten unter-
suchen. Aber es liegt mir viel daran, diesen Weg heute und noch in
dieser Stunde zu erfahren." — „Ich verrate ihn nicht," entgegnete
Born mit der Festigkeit eines deutschen Mannes und eines guten Ge-
wissens. „Ihr wollt nicht?" fuhr der Franzose auf. „Ihr wagt es,
mir zu trotzen? Glaubt Ihr, daß ich Euch dazu nicht zwingen kann,
wenn ich will?" — „Mich kann niemand zwingen," erwiderte der
brave Hirt. „Nicht? Nun, ich werde es dir zeigen. Der Ausgang
einer ganzen Schlacht soll nicht von deinem guten oder bösen Willen
abhängen. Du erhältst eine reiche Belohnung, wenn du uns den
Weg zeigst. Beharrst du aber auf deiner boshaften Weigerung, so
mußt du sterben. Hörst du? sterben; nun entscheide dich." Born
schwieg. Kein Muskel zuckte und verzog sich auf seinen: wetterharten
und ehrlichen Angesichte. „Es ist mein Erirst!" rief der Marschall
noch einmal. „Du stirbst, wenn du mir zu trotzen wagst!"
8. Der Schäfer sah und hörte nur zu deutlich, daß die Drohung
ernst gemeint war. Er konnte an ihrer Ausführung nicht zweifeln.
59
Sein Gesicht wurde bleich. Er zitterte leise, und einen Augenblick
drohten seine Knie unter ihm zusammenzubrechen. Er dachte an sein
armes Weib und an seine Kinder. Die Versuchung war groß und
schwer. Aber er überwand sie und erlangte bald seine frühere Fassung
wieder. Dann sprach er fest: „Ich bin kein Verräter und will auch
keiner werden." — „Du willst also nicht?" rief der Marschall heftig.
„Nein!" antwortete der wackere, der heldenmütige Mann. Führt ihn
fort!" befahl der Marschall in heftigem Ton einem Offizier. „Gebt
ihm noch eine halbe Stunde Zeit, sich zu besinnen. Wenn er dann
noch ebenso trotzig ist, so laßt ihn ohne weiteres erschießen!"
Er wandte sich ab, und Born wurde von den Soldaten fort-
geführt. Sielert, dem durch den Tod des Alten ein gehoffter Gewinn
entging, trat listig und schmeichelnd an ihn heran. Er stellte ihm
vor, was er durch kluges Nachgeben gewinnen, dagegen durch fort-
gesetzten Trotz verlieren würde. Der Schäfer wandte sich unwillig
und verächtlich von dem Verräter hinweg. Auch der französische
Offizier redete ihm mit gütlichen und freundlichen Worten zu. Er
sollte nur mit einem einzigen Wink seiner Hand die Richtung be-
zeichnen, in welcher der gesuchte Weg lag. Dann sollte er augenblick-
lich freigelassen und reich belohnt werden. Born schwieg auch diesem
Zureden gegenüber. Seine Hände wurden ihm auf dem Rücken ge-
bunden, und so führte man ihn den Abhang des Berges hinab. Drei
Soldaten luden vor seinen Augen ihre Gewehre. Er wußte, was es
bedeutete, und wandte sich ab. Eine halbe Stunde Zeit war ihm
noch vergönnt, um sich zu besinnen. Er setzte sich schweigend nieder
und richtete den Blick hinunter in das Tal und zu den fernen Berges-
höhen. Hier waren seine Söhne, und dort sein Weib und seine Tochter.
Ach, sie ahnten nicht, was ihn betroffen hatte und was er in einer
halben Stunde erleiden sollte. Da stand sein kleines Haus. Die
Fenster leuchteten so freundlich im Glanze der Morgensonne. Er
sollte es nie wieder betreten und seines stillen Glückes sich freuen.
Hier und dort herum waren die Berge und die Täler seiner geliebten
Heimat. Er kannte jede Stadt, jedes Dorf, jeden Wald, jeden Fluß.
Auf diesen Fluren hatte er als Kind gespielt, hier hatte er sein Leben
unter Mühen und Arbeiten und doch glücklich und zufrieden bisher
geführt. Seine Heimat, seine geliebte Heimat war so schön, so wunder-
schön. In wenigen Minuten sollte er von ihr scheiden und sie für
immer verlassen. Seine Wangen waren bleich geworden. Eine Träne
war ihm in das ehrliche Auge getreten, er drängte sie zurück. Dann
senkte er sein Haupt still zur Erde. Er konnte seine gebundenen Hände
nicht falten. Aber er konnte auch so zu seinem Gott und .Heiland
beten, vor dessen Angesicht er in so kurzer Zeit treten sollte.
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9. Eine Minute nach der anderen verging. Born betete still und
inbrünstig, während seine Lippen sich nur unmerklich bewegten. Das
Gebet gab ihm neue Kraft, neuen Mut, Frieden und Freude. Eine
stille, heitere Ruhe legte sich auf sein Angesicht und glänzte aus seinen
Augen. Endlich war die bestimmte Zeit verflossen. Der Offizier trat
zu dem Schäfer und fragte ihn, ob er jetzt den Weg zeigen wollte.
Ein schweigendes Schütteln seines Kopfes war die einzige Antwort,
die er auf diese Frage gab. Der Offizier sah ihn einen Augenblick
teilnehmend und mitleidig, aber doch auch mit stiller Bewunderung
an. Dann gab er den Soldaten einen Wink, und sie nahmen ihre
Gewehre zur Hand. Man verband dem Schäfer die Augen und stellte
ihn an einen Baum, und die Soldaten traten auf Kommando an.
Noch einmal wiederholte der französische Offizier seine vorige Frage.
Schweigend, aber fest verneinend schüttelte Born das Haupt. Da
ertönte das furchtbare Kommando: „Feuer!" Drei Blitze fuhren aus
den Gewehren, drei Schüsse hallten zugleich an den gegenüberliegen-
den Bergen wider. Ohne einen Laut sank der wackere Hirte zu-
sammen. Er war gut getroffen worden, es zuckte kein Muskel
auf seinenl Gesichte. Die Soldaten ließen den Leichnam liegen und
kehrten in das Lager zurück. Es war ja Krieg, was hatte da ein
einzelnes Menschenleben zu bedeuten!
10. Napoleon war sehr unwillig, daß man den Weg nicht entdecken
konnte. Endlich meldete ihm ein Offizier, daß man einen anderen
Mann gefunden hätte, welcher ihn ebensogut kannte als der Schäfer.
Der Mann wurde zu ihm gebracht. Er hatte nicht den Mut und die
Kraft, der Forderung zu widerstehen und sich zu weigern. Er zeigte
den Weg, der durch das von einem Gießbach durchströmte, von Felsen
eingeengte und mit Wald bewachsene Rautal führt. Das Bett des
Baches bildete den Weg. Napoleon erkannte mit scharfem Auge so-
gleich die Möglichkeit, die Geschütze auf diesem Wege den Berg hinaus-
zuschaffen. Noch während der Nacht wurden die meisten Geschütze,
halb gezogen und halb getragen, auf den Gipfel des Berges gebracht.
Als der 14. Oktober anbrach, war die Schlacht ber Jena beinahe
schon entschieden, ehe der Kampf noch begonnen hatte.
Wir wissen leider, wie sie ausgefallen ist. Das preußische Heer
wurde gänzlich geschlagen und in die wildeste Flucht auseinander-
gesprengt. Das Opfer des alten, wackeren Schafhirten war vergeblich
gewesen. Zwei Tage nach der Schlacht war er mit Hunderten von
gefallenen Preußen und Franzosen in ein gemeinsames Grab gebettet
worden. Erst lange darauf erhielten die Seinen die Nachricht von
seinem Tode.
Kein Geschichtsbuch erzählt den Heldentod des braven Mannes.
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Nur einzelne Landleute in der Gegend von Jena wissen noch heute
davon zu berichten. Niemand kennt sein Grab. Von seiner Tat redet
kein glänzendes Denkmal. Er war nur ein armer Schafhirt, aber er
ist treu gewesen bis zum Tode. Darum soll sein Name nie und
nimmer vergessen werden.
Wilhelm Ziethe.
53. Das Glöcklern des Glückes.
1. Der König lag am Tode, da rief er seinen Sohn;
er nahm ihn bei den Händen und wies ihn auf den Thron.
„Mein Sohn," so sprach■ er zitternd, „mein Sohn, den lass ich dir;
doch nimm mit meiner Krone noch dies mein Wort von mir:
2. Du denkst dir wohl die Erde noch als ein Haus der Lust;
mein Sohn, das ist nicht also: sei dessen früh bewußt!
Nach Eimern zählt das Unglück, nach Tropfen zählt das Glück;
ich geb' in tausend Eimern zwei Tropfen kaum zurück."
3. Der König spricht's und scheidet. Der Sohn begriff ihn nicht;
er sieht noch rosenfarben die Welt im Maienlicht.
Zu Throne sitzt er lächelnd; beweisen will er's klar,
wie sehr getäuscht sein Vater von düstrem Geiste war.
4. Und auf das Dach des Hauses, grad' über seinem Saal,
worin er schläft und sinnet und sitzt am frohen Mahl,
läßt er ein Glöcklein hängen von hellem Silberklang,
das läutet, wie er unten nur leise rührt den Strang.
5. Den aber will er rühren — so tut er's kund im Land —,
so oft er sich recht glücklich in seinem Sinn empfand;
und traun — zu wissen glaubt er's — da wird kein Tag entfliehn,
an dem er nicht mit Rechten das Glöcklein dürfte ziehn.
6. Und Tag' um Tage heben ihr rosig Haupt empor;
doch abends, wenn sie's senken, trügt's einen Trauerflor.
Oft langt er nach dem Seile, das Auge klar und licht;
da zuckt ihm was durchs Innre, das Seil berührt er nicht.
7. Einst ritt er voll des Glückes erhörter Freundschaft hin;
„ausläuten," ruft er, „will ich's, wie hoch beglückt ich bin!"
Da keucht' ein Bot' ins Zimmer, der's minder spricht als weint:
„Herr, den du Freund geheißen, verriet dich wie ein — Feind!"
8. Einst fliegt er voll des Glückes erhörter Lieb' herein;
„mein Glück, mein Glück," so ruft er, „muß ausgeläutet sein!"
Da kommt sein blasser Kanzler und murmelt bang' und scheu:
„Herr, blüht denn auch dem König hienieden keine Treu?"
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9. Der König mag's verwinden, er hat ja noch sein Land
und einen vollen Säckel und eine mächt'ge Hand;
er hat noch grüne Felder, noch Wiesen voll von Duft
und drauf den Fleiß der Menschen und drüber Gottes Lust.
10. Zu seinem Fenster tritt er, sieht nieder, sieht hinaus,
und Wiege seines Glückes bedankt ihn jedes Haus.
Zum Seil hin eilt er glühend, will ziehn, will läuten — sieh!
Da stürmt's herein zum Saale, da fällt's vor ihm aufs Knie.
11. „Herr König, siehst du drüben den Rauch, den Brand, den Strahl?
So rauchen unsre Hütten, so blitzt der Nachbarn Stahl!"
„Ha, freche Räuber!" donnert der Fürst in wildem Glühn,
und statt des Glöckleins muß er sein rächend Eisen ziehn.
12. Schon bleichen seine Haare; vor Dulden wird er schwach,
und stets noch schweigt das Glöcklein auf seines Hauses Dach.
Und wenn's auch oft wie Freude sich aus die Wang' ihm drängt,
er denkt kaum mehr des Glöckleins, das er hinaufgehängt.
13. Doch als er nun, zu sterben, in seinem Stuhle saß,
da hört er vor dem Fenster Geschluchz' ohn' Unterlaß.
„Was soll das?" fragt er leise den Kanzler, „sprich's nur ans!" —-
„Ach Herr, der Vater scheidet, die Kinder stehn vorm Haus!" —
14. „Herein mit meinen Kindern! Und war man mir denn gut?"
„Stünd', Herr, zu Kauf ein Leben, sie kauften deins mit Blut!"
Da wogt's auch schon zum Saale gedämpften Schritts herein
und will ihn nochmals segnen, ihm nochmal nahe sein.
15. „Ihr liebt mich also, Kinder?" — Und tausend weinen: „Ja!"
Der König hört's, erhebt sich, steht wie ein Heil'ger da,
sieht auf zu Gott, zur Decke, langt nach dem Seile stumm,
tut einen Riß — es läutet — und lächelnd sinkt er um.
Joh. Gabriel Seidl.
54. Hab’ ich’s nun recht gemacht?
1. Beide sind nun tot, der, welcher das Wort: „Nichts kannst
du recht machen!“ immer im Munde führte, und der, welcher es so
oft hören mußte, als jener es sagte. Der eine war der jüngste Leut-
nant in der Schwadron und der andere der ungeschickteste Rekrut.
So hitzig der eine war, so langsam war der andere.
2. In der heißen Schlacht bei Gravelotte wurde die Schwadron
einmal gegen einen Haufen französischen Fußvolks geschickt. Mit
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Hurra ging’s auf das nächste feindliche Viereck los. Dem wuch-
tigen Anprall vermochten selbst die geschlossenen Reihen der b ran-
zosen nicht zu widerstehen; das Viereck wurde niedergeritten. Wohl
rissen Granaten und Chassepots manche Lücke in die Reihen der
tapfern Westfalen; wohl verdreifachte sich das Feuer der im Hinter-
gründe aufgepflanzten Batterien. Aber nichts konnte das stürmende
Vordringen aufhalten, und mit Todesverachtung stürzten sich die
Reiter in die Bajonette des zweiten Vierecks. Auch dieses mußte
die Walstatt räumen. Doch immer neue feindliche Infanteriemassen
tauchten auf; furchtbarer wurde das Feuer jener Batterien; unheimlich
folgte das Geknarre der Mitrailleusen. Wenn nur e i n Mann übrig bleiben
sollte, mußten die Reiter zurück. Um die Verwirrung vollständig zu
machen, mußte noch ein mächtiger Haufen französischer Reiter aus
einem verdeckten Gehölze über das zusammengeschmolzene Häuflein
kommen, die das Feld bald rein kehrten wie der Besen die Tenne.
3. Der Leutnant war abseits geraten, und flugs waren zwei gewal-
tige Reiter an ihm. Das Blut seiner Väter, die bei Leipzig und
Waterloo gestritten, steckte in dem preußischen Jünglinge, der lieber
sterben als sich ergeben wollte. Er wehrte sich gegen die schweren
Säbelhiebe mit einem flinken Arme, und sein Roß lenkte er zwischen
den Kürassierpferden der Feinde hindurch wie ein Seekadett das
leichte Boot unter schweren Kriegsschiffen. Aber bald wurde sein
Arm müde und sein Auge unsicher und matt, und eben nahm er
im Geiste Abschied von seiner Mutter — da brauste ein Reiter
heran, als gälte es, den Tod einzuholen.
4. Der „dumme“ Soldat hatte etliche hundert Schritte beiseits
hinter einer Mauer gehalten, bis die französischen Reiter zurück-
gegangen sein würden. Nach einigen Minuten hätte er sicher zu
den Seinigen zurückkehren können, denn er hörte bereits das fran-
zösische Rückzugssignal und die Trompeten von Kameraden näher
kommen. Als er aber seinen Leutnant in Todesnot sah, dachte er
daran, was einem braven Soldaten ziemt. Darum faßte er mit fester
Hand seinen Säbel, setzte über den Graben, und ehe der eine fran-
zösische Reiter sich decken konnte, schlug ihm die starke Westfalen-
faust eine Wunde, die kein Arzt heilen kann, und als der andere
gegen ihn ausholte, zog er ihm eine Furche über die Stirn, daß der
Mann klirrend niederfiel und den weißen Kalkstein mit seinem Blut
rötete. Das war das Werk eines Augenblicks, den der Leutnant
brauchte, um sein schäumendes Roß zum Stehen zu bringen. Dann
setzte sich der Soldat fest in den Sattel und fragte, den Leutnant
mit strahlenden Augen ansehend: „Hab' ich’s nun recht gemacht?“
5. Aber ehe noch das letzte Wort des Leutnants Ohr erreichte
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und ehe dieser rufen konnte: „Ja, ja, du hast es recht gemacht!“
und ehe er ein Wörtchen von dem sagen konnte, was der Soldat
nie aus dem Munde seines Offiziers gehört hatte, kam eine Kugel
aus dem Gebüsch geflogen und fuhr dem tapfern Reiter durch die
Stirn, daß er lautlos vom Pferde sank. Der Leutnant wußte nicht
mehr, was um ihn vorging. Er warf sich weinend über den Ge-
fallenen. Aber obgleich er ihm ins Ohr schrie: „Ja, du hast es
recht gemacht!“ hörte das Ohr so wenig wie der Felsstein, auf dem
das Haupt des Erschossenen ruhte. Wenn heiße Tränen einen Toten
zum Leben erwecken könnten, die Tränen, welche brennend auf das
bleiche Antlitz niederfielen, hätten es vermocht.
6. Doch auch dem Leutnant war der Heldentod fürs Vaterland
beschieden. Auf der Rückkehr von einem Patrouillenritt, wenige
Tage später, passierte die Schwadron eben ein Gehölz, als plötzlich
die Kugeln heimtückischer Eranctireurs die Reiter umschwirrten.
Den Leutnant an der Spitze, sprengten sie mit verhängten Zügeln
in das den Feind bergende Gestrüpp. Aber ehe sie noch soweit
heran waren, um zum tödlichen Streiche auszuholen, krachten noch
einmal die Gewehre, und zum Tode getroffen sank der heldenmütig
voranstürmende Leutnant vom Pferde. — Der Tod des Führers
blieb nicht ungerächt, denn nicht einer von dieser Bande entkam
mit dem Leben. Richard Lauxmann.
55. Strandbild.
1. Das Fischerdorf ist leer.
Am Strande stehn die Frauen,
die aufs bewegte Meer
mit trüben Blicken schauen.
2. Es war ein arger Sturm,
der sich zur Nacht erhoben,
die Leuchte auf dem Turm
erlosch von seinem Toben.
3. Hier Planten an den Strand
strömt's aus km Flutenreiche,
daneben ruht im Sand
wohl manche nasse Leiche.
4. Das Meer verschlang den Rest
froh stießen sie vom Lande,
jetzt ist's ein Totenfest —
nur Witwen stehn am Strande.
Rudolf Gottschall.
56. „Een Boot is noch buten.
1. „Ahoi! Klas Nielsen und Peter Johann!
Kiekt nach, ob wi noch nich to Mus sind!
Ji hewt doch gesehn den Klabautermann?
Gottlob, dat wie wedder to Hus sind!"
Die Fischer riefen's und stießen ans Land
und zogen die Kiele bis hoch auf den Strand,
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dumpf an rollten die Fluten.
Han Jochen aber rechnete nach
und schüttelte finster sein Haupt und sprach:
„Een Boot is noch buten!"
2. Und ernster keuchte die braune Schar
den: Dorf zu über die Dünen;
schon grüßten von fern mit zerzaustem Haar
die Frau'n an den Gräbern der Hünen.
Und „Korl" hieß es und „Leiw Marie!" —
,,'t is doch man schön, dat ji wedder hie!"
Dumpf an rollten die Fluten.
„Un Hinrich, min Hinrich? Wo is denn dee?!"
Und Jochen wies in die brüllende See:
„Een Boot is noch buten!"
3. Aul Ufer dräute der Möwenstein,
drauf stand ein verrufnes Gemäuer,
dort schleppten sie Werg und Strandholz hinein
und gossen Öl in das Feuer.
Das leuchtete weit in die Nacht hinaus
und sollte rufen: „O, komm nach Haus!" —
Dumpf an rollten die Fluten. —
„Hier steht dein Weib in Nacht und Wind
und jammert laut auf und küßt dein Kind." —
„Een Boot is noch buten!"
4. Doch die Nacht verrann, und die See ward still,
und die Sonne schien in den Flammen.
Da schluchzte die Ärmste: „As Gott will!"
und bewußtlos brach sie zusammen!
Sie trugen sie heim auf schmalem Brett,
dort liegt sie nun fiebernd im Krankenbett,
draußen plätschern die Fluten.
Dort spielt ihr Kind, ihr „lütting Johann,"
und lallt wie träumend dann und wann:
„Een Boot is noch buten."
Arno Holz.
57. Lütt Jan.
Jan Boje wünscht sich lange schon
ein Schiff — ach Gott, wie lauge schon!
Knpvey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 5
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Ein Schiff so groß — ein Schiff — Hurra!
von hier bis nach Amerika.
Die höchsten Tannen sind zu klein,
die Masten müßten Türme sein,
die stießen — hei, was ist dabei? —
klingling das Himmelsdach entzwei.
Die Wolken wären Segel gut,
die knallen wild im Wind vor Wut;
Jan Boje hängt am Klüverbaum
und strampelt nackt im Wellenschaum.
Jan baumelt an der Reeling, Jan!
und schaukelt, was er schaukeln kann.
Wenn's an die Planken plitscht und platscht,
der blanke Steert ins Wasser klatscht.
Wie greift er da die Fische flink:
Ein Butt bei jedem Wellenblink!
Die dörrt auf Deck der Sonnenschein,
und Jantje beißt vergnügt hinein.
Jan Boje segelt immerfort,
spuckt über Back- und Steuerbord
und kommt zurück trotz Schabernack,
das ganze Schiff voll Kautabak.
Wer aber ist Jan Boje, he?
Der Teufelsmaat und Held zur See?
Jan Boje ist ein Fischerjung',
ein Knirps, ein Kerl, ein frischer Jung'.
Grad liegt er auf dem Bauch im Sand
und lenkt ein schwimmend Brett am Band,
und ob die Woge kommt und geht,
ob sich sein Brett im Wirbel dreht —:
Sein starrer Blick ins Ferne steht.
Da schwillt's heran im Sonnengleiß,
von tausend Segeln breit und weiß;
da hebt sich manch ein Riesenbug
wie düstrer Spuk und Augentrug. . .
Das wandert ewig übers Meer.
Wann kommt Jan Bojes Schiff daher?
Otto Ernst.
58. Sparsamkeit.
In unserer knappen Zeit wird so viel über Abgaben geklagt, welche
man zu leisten gezwungen ist. Mancher aber, wenn er darüber nachdenkt,
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wird finden, daß eigentlich die freiwilligen Abgaben, zu denen niemand ihn
nötigt, es sind, die ihn in Armut bringen. Der eine pflegt allabendlich
an einen Gastwirt, dem er zu nichts verpflichtet ist, eine bestimmte Bier-
steuer zu zahlen, ohne jemals darüber unwillig zu werden. Ein andrer
hat es sich in den Kopf gesetzt, an freiwilliger Weinsteuer nach und nach
eine Summe aufzuwenden, welche hinreichte, in angenehmer Gegend ein
kleines Haus mit Blumen- und Obstgarten, Stallung und Remise anzu-
kaufen. Betrachtet man endlich die Zeit als Geld und berechnet die
Stunde mit fünfundzwanzig Pfennig, so dürfte mancher jährlich eine nicht
geringe Summe, die er als Zeitsteuer dem Schlaf oder der Langeweile
entrichtet hat, in fein Ausgabebuch einzutragen haben. So gibt es noch
verschiedene freiwillige Abgaben, an denen ein guter Hausvater eiu Er-
hebliches sparen könnte. Johannes Trojan.
59. Nach der Decke strecken!
Wo Ordnung in der Wirtschaft herrschen soll, muß Eiunahme be-
fehlen und Ausgabe sich nach ihr richten. Man kann mit vielem und
mit wenigem leben; es soll einer nicht sagen: So viel muß ich haben,
um leben zu können, — sondern er soll sagen: So viel habe ich, und
damit muß ich leben können. Nur wer so spricht, der kommt auch dazu,
daß er etwas zurücklegt. Wo aber die Ausgabe der Einnahme voran-
läuft, da wird die Einnahme bald atemlos; wie sehr sie sich auch anstrengt,
sie kann die vorauslausende nicht wieder einholen, und die Entfernung,
zwischen beiden wird immer größer. Johannes Trojan.
60. Der goldene Tod.
Kein Wind im Segel, die See liegt still —
kein Fisch doch, der sich fangen will!
So ziehen die Netze sie wieder herein
und murren, schelten und fluchen drein.
Da — neben dem Kutter wird's Heller und licht
wie weißliches Haar, wie ein Greisengesicht,
und ein triefendes Haupt taucht auf aus der Flut:
„Ei, drollige Menschlein, ich mein's mit euch gut!
Ich gönn' euch von meiner Herde ja viel,
doch heut' ist mein Jüngster als Fisch beim Spiel,
den muß ich doch hüten, ich alter Neck,
drum jagt' ich sie all' miteinander weg —
doch schickt ihr den Jungen mir wieder nach Haus,
so werft nur noch einmal das Fangzeug aus:
Der schönste ist mein Söhnchen klein,
das übrige mag euer eigen sein!"
5*
68
Hei, flogen die Netze jetzt wieder in See!
Ho, kaum daß ihr' Lasten sie brachten zur Höh'!
Wie lebende Wellen, so fort und fort
von köstlichen Fischen, so quoll's über Bord.
Und patscht und schnappt und zappelt und springt —
und bei den Fischern, da tollt's und singt.
Nun plötzlich blitzt es — seht: es rollt
ein Fisch über Bord von lauterem Gold!
Eine jede Schuppe ein Geldesstück!
Wie edelsteinen, so funkelt's im Blick!
Die Kiemen sind aus rotem Rubin,
Perlen die Flossen überziehn,
mit eitel Demanten besetzt, so ruht
auf seinem Häuptlein ein Krönchen gut,
und fürnehm wispert's vom Schnäuzlein her:
„Ich bin Prinz Neck, laßt mich ins Meer!"
Den Fang ins Meer? Sie rühren ihn an,
die Fischer, und tasten und stieren ihn an.
„Laßt mich ins Meer!" Sie hören nicht drauf.
„Laßt mich ins Meer!" Sie lachen nur auf.
Sie wägen das goldene Prinzlein ab,
sie schätzen's und klauben ihm Münzlein ab. —-
Wie wiegt das voll, wie gleißt das hold!
Sie denken nichts weiter, — sie denken nur Gold.
Und seht: ein Goldschein überfliegt
jetzt alles, was von Fisch daliegt,
und wandelt's, daß es klirrt und rollt:
Seht, all die Fische werden Gold!
Sinkt das Schiff von blitzender Last?
„Schaufelt, was die Schaufel faßt!" . . .
Wie lustiges Feuerwerk sprüht das umher —
dann rauscht über alles zusammen das Meer.
Ferdinand Avenarius.
61. Der Fischer.
1. Das Wasser rauscht', das Wasser
Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
teilt sich die Flut empor;
aus dem bewegten Wasser rauscht
ein feuchtes Weib empor.
schwoll,
ein Fischer saß daran,
sah nach dem Angel ruhevoll.
kühl bis ans Herz hinan.
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2. Sie sang zu ihm,sie sprach zu ihm:
Was lockst du meine Brut
mit Menschenwitz und Menschenlist
hinaus in Todesglut?
Ach, wüßtest du, wie's Fischlein ist
so wohlig aus dem Grund,
du stiegst herunter, wie du bist,
und würdest erst gesund.
3. Labt sich die liebe Sonne nicht,
der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht
das fenchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
nicht her in ew'gen Tau?
4. Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
netzt' ihm den nackten Fuß;
sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
da war's um ihn geschehn, —
halb zog sie ihn, halb sank er hin
und ward nicht mehr gesehn.
62. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
„Es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Mancher, der nicht
an dieses Sprichwort denkt, wird betrogen. Aber eine andere Er-
fahrung wird noch öfter vergessen: Manches glänzt nicht und ist doch
Gold; und wer das nicht glaubt und nicht daran denkt, der ist noch
schlimmer daran. In einem wohlbestellten Acker, in einem gut ein-
gerichteten Gewerbe ist viel Gold verborgen> und eine fleißige Hand
weiß es zu finden, und ein ruhiges Herz dazu und ein gutes Gewissen
glänzt auch nicht und ist noch mehr als Goldes wert Oft ist gerade
da am wenigsten Gold, wo der Glanz und die Prahlerei am größten
ist. Wer viel Lärm macht, hat wenig Mut. Wer viel von seinen
Talern redet, hat nicht viel. Einer prahlte, er habe einen ganzen
Scheffel Dukaten daheim. Als er sie zeigen sollte, wollte er lange
nicht daran. Endlich brachte er ein kleines, rundes Schächtelchen zum
Vorschein, das man mit der Hand decken konnte. Doch half er sich
mit einer guten Ausrede. Das Dukatenmaß, sagte er, sei kleiner
als das Fruchtmaß. Johann Peter Hebel.
63. Geiz ist die Wurzel alles Übels.
1. Die Jahre 1779, 80 und 81 waren Wasser- und Hungerjahre.
Damals lebte in den Odergegenden ein Mann, dessen Feld war Höhen-
land und hatte gut getragen. Da sein Feld sehr groß war, so hatte er
eine gewaltige Menge von Roggen in der Scheuer und auf dem
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Boden. Hoch waren die Preise schon im Herbst. Mit dem Winter
und dem Frühjahr stiegen sie immer höher. Mancher Handelsmann
klopfte an die Tür des Reichen, mancher Handwerker bettelte, er möchte
ihm doch für gutes Geld ein Scheffelchen ablassen. Alle aber wurden
abgewiesen mit der Antwort: „Ich habe mir einen Satz gemacht; der
Boden wird nicht eher geöffnet, als bis der Scheffel acht Taler kostet.
Dabei bleibe ich." Zum Zeichen dafür hatte er an die Bodenkür eine
große schwarze Acht mit Kohle gemalt. Der Winter verging, der Mai
kam heran, die Preise waren hoch gestiegen, denn die Fluten hatten großen
Schaden getan. Am 7. Mai kam ein armer Leinweber, ein ehrlicher
Meister aus dem Orte. Sein Gesicht sah vor Hunger und Grämen
selber aus wie graue Leinwand. Er zählte ihm, damit der reiche Mann
das Geld sähe, für einen halben Scheffel 3 Taler 22 Groschen aus den
Tisch. Die 22 Groschen bestanden aus Dreiern, Sechsern und Groschen,
denn der Mann hatte alles zusammengesucht. Aber der Bauer sprach:
„Euer Aufzählen hilft Euch nichts; der Scheffel kostet acht Taler; das
ist mein Satz. Eher tue ich meinen Boden nicht auf. Und dann muß
es ordentlich Silbergeld sein!"
2. Des Bauern Söhnchen, ein Bürschchen von zehn Jahren, zupfte den
Alten am Rocke: „Bater. gebt's ihm doch!" Aber der Vater prägte ihm
mit einen: Rippenstöße bessere Grundsätze ins Herz. Der Weber mußte
sein Geld zusammenstreichen und heimwandern. Den 8. Mai in der
Abenddämmerung kam die Zeitung an. Einen Blick hinein, und der Bauer
fand, was er finden wollte: „Roggen acht Taler." Da zitterten ihm die
Glieder vor Freude. Er nahm ein Licht, ging auf den Boden und wollte
sehen, wieviel er wohl verfahren könne, und überschlagen, wie groß seine
Einnahme wäre. Indem er so durch die Haufen und gefüllten Säcke hin-
schreitet, strauchelt er an einem umgefallenen, füllt selber, das Licht fliegt
ihm aus der Hand und in einen Haufen Stroh, der daneben lag. Ehe
er sich aufraffen kann, steht das Stroh in hellen Flammeu. Ehe an Hilfe
zu denken war, hat das Feuer Dachstuhl und Dielen ergriffen. Um
Mitternacht an demselben Tage, an dem der Scheffel Roggen acht Taler
galt, wo er auf seinen Satz gekommen war und seinen Boden geöffnet
hatte, stand er am Schutthaufen seines ganzen Gutes als ein armer
Mann. Friedrich Ahlfeld.
04. Wie wir einen halben Gulden fanden.
1. Wir hatten schlimmes Aprilwetter gehabt, und die Mutter hatte uns
längere Zeit nicht ins Holz gehen lassen. Als aber der April sich zu
Tode getobt hatte und der junge Mai durch die Linde lachte, hätten uns
keine vier Pferde mehr halten können. Den Henkeltopf in der Hand, die Köze
auf dem Rücken, das Holzlaken um die Schulter — und fort ging's. Als
TI
wir eben in die hohen Buchen auf dem Hungerberge kamen, schimmerte
uns ein ballartig zusammengeknittertes Stück Papier entgegen. Wir hoben
es auf, lösten es auseinander und fernten — wer beschreibt unsern freu-
digen Schrecken? — und kernten einen blanken halben Gulden aus dem
Papierballe. Wir waren so starr, daß wir uns nicht vom Flecke rühren
kannten. Ein blanker halber Gulden? War das nicht Blendwerk? Oder
sollte der Kuckuck.......? Ein halber Gulden — das war in unsern
Augen, in denen schon ein Heller als bedeutendes Vermögen galt, ein
unmäßig großes Kapital. Ein blanker halber Gulden! „O — o, nun
haben wir das ganze Jahr viel Geld!" schrieen wir ganz unsinnig vor
Freude. „Hurra! Hurra!! — Gott, was wird der Vater für Augen
machen, wenn wir den kostbaren Fund ihm zeigen! Ganz gewiß wird er
die Axt in den obersten Baumwipfel werfen und mit uns singen und
springen. Und dann die Mutter — na, die wird eine Stunde dastehen
und das unverhoffte Glück ganz und gar nicht zu fassen wissen. Ein
halber Gulden — ei, das ist ja gerade so viel, daß wir zwei große Brote
dafür kaufen können. O Mutter, Mutter, was wirst du froh sein!
Juh-huh, Kuckuck! Juch Kuckuck! Speckbnck! Jnh-huh, Kuckuck!"
2. So schrieen und jauchzten wir in unserm Freudentaumel, bis wir auf
den jungen Hau kamen. Glühend wie Backofenkohlen zeigten wir dem
Vater unsern Fund. Seine Augen leuchteten auf; aber die Axt flog nicht
in den Baumwipfel. „Kinder," sagte er nach einer Minute stillen Be-
denkens, „laßt euch vom Herrn Kuckuck nicht die Augen verblenden. Er
ist ein loser Schelm, berückt die Leute gern und führt sie an der Nase
herum. Denkt nur nicht, daß der Kuckuck sich viel aus unsrer Armut
macht und deswegen mit halben Gulden um sich würfe. Der Kuckuck ist
so einer: Wer was hat, dem wirft er was zu; wer aber nichts hat, der
kriegt auch nichts. Darum heißt's: Wer heute Brot und Geld in der
Tasche trägt, der wird das ganze Jahr genug davon haben. Ihr aber
habt weder ein Krümchen noch einen Kreuzer bei euch — auch der halbe
Gulden ist nicht euer eigen, er ist gefunden — der Kuckuck wird euch was
Prusten." Der Vater nahm den Gulden in die Hand, betrachtete ihn noch
einen Augenblick und wickelte ihn dann sorgfältig wieder ein mit den
Worten: „Glaubt mir, Kinder, es nützt uns nichts, und es hängt gewiß
ein gramvolles Herz daran!"
3. Wir waren sehr enttäuscht und ganz geknickt. Indem bemerkten wir
in einiger Entfernung einen alten Mann, der mit tiefgebeugtem Haupte
zwischen den Bäumen hin- und herging und allerlei seltsame Gebärden
machte, erst tief herab auf den Boden, dann hinauf zu den Baumwipfeln
sah und wie in heller Verzweiflung die Hände rang. Ergriffen ver-
folgten wir eine Minute sein Tun; dann rief ihm der Vater zu: „Suchst
du was, Hanchristoph? Hast du was verloren?"
72
Der Mann wandte sich um und wankte auf uns zu. „Ach Gott —
ihr seid's — 's freut mich!" Wir merkten, daß ihm das Wasser in der
Kehle saß. Gewaltsam niederschluckend, fuhr er fort: „Ihr wißt, daß heute
Maitag ist — und daß der Kuckuck gerufen hat — und daß das eine
Freude ist, wenn man Geld in der Tasche hat — Geld in der Tasche —
unsereiner---------ach du lieber Gott und Vater! Hört, wie's mir er-
gangen ist! Wir sind an Brotsenden — und ich wollte zur Feierabeud-
slunde in der Holzmühle vorgehen und Mehl mitbringen.-----------------Wollt's
gestern schon tun, sagt' aber Janechen, meine Frau: ,Tu's morgen, weil's
dann Maitag ist, und weil daun vielleicht gerade der Kuckuck ruft — hast
dann entweder Geld oder Mehl bei dir/ Gut, wir hatten gerade noch
einen halben Gulden — den steck' ich heute morgen bei.----------------Janechen
hat ihn, daß ich ihn nicht verliere, dick mit Papier umwickelt............"
Jetzt schluchzte der alte Holzhacker auf wie ein Kind, während in uns
schon ein mächtiger Jubel aufstieg. „Und wie ich vor einer Stunde
nach dem halben Gulden fühle," fährt der Alte in seinem Jammer fort,
„da ist er weg, rein weg, wie weggehext. Und ich weiß nicht, wohin er
gestoben und geflogen ist. Jedes Laubblatt habe ich umgewandt, und ich
finde ihn nicht. Und denkt euch mein Gefühl, wie der Kuckuck nun zu
rufen anfängt und immer stärker ruft und immer näher kommt — gerade
als wollte er's mir recht zum Hohne tun. — O, wo kriege ich meinen
halben Gulden wieder?"
„Da, Kinder, gebt dem Hauchriftophvetter den halben Gulden!" rief
unser Baker strahlenden Auges. Der Hanchristophvetter war erst gauz
wie versteinert; daun zwang er sich zu einem schwermütigen Lächeln. „Ja,
Hanfrieder, dazu wärst du imstande," gluckste es aus seiner Kehle, „bist ein
rechter Lindenhüttenmann, ein echtes Lindemannsblut — gerade wie dem
Vater und dein Großvater, den ich auch noch ganz gut gelaunt habe. Das
Hemd vom Leibe gaben sie einem armen Schlucker hin. Aber es ist mir
genug, daß ich den Willen seh', und darum stecke den halben Gulden nur
wieder bei. Gott rechne euch den Willen für die Tat. Ich weiß nicht,
ich spüre auf einmal was in mir, daß ich mich fast schämen möchte." —
4. Wir Kinder verstanden den Alten nicht gleich. Unser Vater aber
lächelte eigentümlich und sagte: „Hanchristoph, du sprichst mir einen Edel-
mut zu, den ich nicht bewiesen habe; du meinst, ich Hütte dich beschämt
und umgekehrt ist's, du hast mich beschämt. Die Kinder haben ja den
halben Gulden gefunden." „Und er ist dick mit Papier umwickelt ge-
wesen," fielen wir nun auf das lebhafteste ein, als befürchteten wir, daß
der Hanchristophvetter dem Vater nicht glauben möchte. „Also wird's
wohl dein leibeigener Gulden sein!" drängte unser Vater, als der Alte
noch nicht zugreifen wollte, sondern mit aufgerissenen Augen auf das
Guldeustück starrte. Erst nach einer längeren Pause bewegte er sich
73
wieder und fragte zitternden Tones: „Jst's denn wirklich wahr, Han-
frieder, Kinder?" Wir mußten's ihm aus Leibeskräften beteuern, fönst
hätte er's wirklich nicht geglaubt. Als er endlich zum Glauben gekommen
war, preßte er den halben Gulden stürmisch an feine Brust und jauchzte
zwischen Lachen und Weinen: „Also hab' ich ihn wirklich wieder, meinen
halben Gulden? Gott, ach Gott, diese Freude, diese Freude! Gotteslohn,
Hanfrieder! Gotteslohn, Kinder! Gotteslohn, Gotteslohn! Ach, ist das
eine Freude!"
Als unser Vater nun meinte, daß wir doch gar nichts getan hätten,
womit wir Gottes Lohn verdient, fiel ihm der Glückliche stürmisch in die
Rede: „Was, Hanfrieder, nichts getan? Wenn einer selbst blutarm ist,
also daß er gar auch am Hungertuche nagen muß, und findet nun einen halben
Gulden und versteckt ihn nicht, sondern gibt ihn mit Freuden dem Ver-
lierer zurück — das wäre keine Tat? Gerade in die rechten Augen und
Hände ist mein Guldenstück gekommen."
Und zum Dank suchte der alte Mann uns Reisig und Späne, so
daß wir schönere Trächte bekamen als alle anderen Kinder. Wir brachten
aber nicht nur die Trächte, sondern auch die Glückseligkeit glücklich nach
Haute. Heinrich Sohnrey.
65. „Einmal ist keinmal.“
Dies ist das erlogenste und schlimmste unter allen Sprichwörtern,
und wer es gemacht hat, der war ein schlechter Rechenmeister oder
ein boshafter. Einmal ist wenigstens einmal, und daran läßt sich
nichts abmarkten. Wer einmal gestohlen hat, der kann sein lebelang
nimmer mit Wahrheit und mit frohem Herzen sagen: „Gottlob! Ich
habe mich nie an fremdem Gute vergriffen“; und wenn der Dieb
erhascht und gehenkt wird, alsdann ist einmal nicht keinmal. Aber
das ist noch nicht alles, sondern man kann meistens mit Wahrheit
sagen: Einmal ist zehnmal und hundert- und tausendmal. Denn wer
das Böse einmal angefangen hat, der setzt es gemeiniglich auch fort.
Wer A gesagt hat, der sagt auch B, und alsdann tritt zuletzt ein
anderes Sprichwort ein, daß der Krug so lange zum Brunnen geht,
bis er bricht. Johann Peter Hebel.
66. Die Ehrlichkeit im Sprichwort.
1. Reines Herz und treue Hand gehen durch das ganze Land.
2. Besser arm mit Ehren als reich mit Schande. 3. Der Hehler ist so
schlecht wie der Stehler. 4. Gelegenheit macht Diebe. 5. Tue recht,
scheue niemand. 6. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. 7. Unrecht
Gut gedeihet nicht.
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67. Die Sparsamkeit im Sprichwort.
1. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. 2. Viele
Körner machen einen Haufen. 3. Junges Blut, spar dein Gut, Armut
im Alter wehe tut. 4. Wer sich nicht nach der Decke streckt, dem bleiben
die Füße unbedeckt. 6. Die Frau kann mit der Schürze mehr aus dem
Hanse tragen, als der Mann mit dem Erntewagen einfährt. 7. Allzu
fetter Herd selten lange währt. 8. Spare in der Zeit, so hast du in
der Not. 9. Sparen ist erwerben. 10. Mit vielem hält man haus,
mit wenigem kommt man aus. 11. Borgen macht Sorgen. 12. Ver-
schwendung und Pracht hat groß Vermögen klein gemacht. 13. Saus
und Braus hilft manchem vom Haus. 14. Im Wein und Bier er-
trinken mehr als im Wasser. 15. Verschwendung ist der Weg ins
Armenhaus. 16. Junger Schlemmer, alter Bettler.
68. Die Arbeit im Sprichwort.
1. Bete und arbeite! 2. Morgenstunde hat Gold im Munde.
3. Arbeit, Mäßigkeit und Ruh' schließt dem Arzt die Türe zu. 4. Fleiß
und Kunst bringt Brot und Gunst. 5. Wie die Saat, so die Ernte.
6. Wie man den Acker bestellt, so trägt er. 7. Viele Bächlein machen
auch einen Fluß. 8. Erst besinn's, dann beginn's! 9. Wer nicht wirbt, der
verdirbt. 10. Arbeit hat bittere Wurzel, aber süße Frucht. 11. Einer
tnt's mit dem Verstand und der andere mit der Hand.
69.
Das Lied vom braven Manne.
(Gekürzt.)
1. Hoch klingt das Lied vom braven Mann,
wie Orgelton und Glockenklang.
Mer hohes Muts sich rühmen kann,
den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, daß ich singen und preisen kann,
zu singen und preisen den braven Mann!
2. Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
und schnob durch Melschland trüb' und seucht.
Die Molken flogen vor ihm her,
wie wenn der Mols die Herde scheucht.
Tr fegte die Felder, zerbrach den Forst;
aus Teen und Ttrömen das Grundeis borst.
3. Am Hochgebirge schmolz der Tchnee,
der Tturz von tausend Mastern scholl,
das Miesental begrub ein Tee,
des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
hoch rollten die IDogen entlang ihr Gleis
und rollten gewaltige helfen Eis.
% Auf Pfeilern und auf Bogen schwer,
aus Quaderstein von unten auf,
lag eine Brücke drüber her,
und mitten stand ein panschen drauf,
pier wohnte der Zöllner mit Meid und Rind. —
„0 Zöllner, o Zöllner, entfleuch geschwindI"
5. Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran,
laut heulten Sturm und Wog' ums paus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
und blickt' in den Tumult hinaus. —
„Barmherziger pimmel, erbarme dich!
Verloren! Verloren! H)er rettet mich?"
6. Die Schollen rollten Schuß auf Schutz;
von beiden Ufern, hier und dort,
von beiden Ufern ritz der Fluß
die Pfeiler samt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner mit U)eib und Rind,
er heulte noch lauter als Strom und UAnd.
7. Die Schollen rollten Stoß auf Stotz;
au beiden Enden, hier und dort,
zerborsten und zertrümmert, schoß
ein Pfeiler nach dem andern fort.
Bald nahte der Ulitte der Umsturz sich.
„Barmherziger pimmel, erbarme dich!"
8. poch auf dem fernen Ufer stand
ein Schwarm von Gaffern, groß und klein;
und jeder schrie und rang die pand,
doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit U)eib und Rind
durchheulte nach Rettung den Strom und IVind.
9. Rasch galoppiert' ein Graf hervor,
auf hohem Roß ein edler Graf.
U)as hielt des Grafen pand empor?
Ein Beutel war es, voll und straff. —
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
dem, welcher die Rettung der Armen wagt!"
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HO. Urtò immer höher schwoll die Flut,
und immer lauter schnob der N)ind,
und immer tieser sank der Illut.
M Retter, Retter, komm geschwind!
Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach.
Laut krachten und stürzten die Bogen nach.
sl. „pallo! hallo! Frisch aus, gewagt!"
poch hielt der Gras den preis empor.
Gin jeder hört's, doch jeder zagt,
aus Tausenden tritt keiner vor.
Vergebens durchheulte mit A)eib und Rind
der Zöllner nach Rettung den Strom und lVind.
\2. Sieh, schlecht und recht, ein Bauersmann
am Manderstabe schritt daher,
mit grobem ‘Kittel angetan,
an Muchs und Antlitz hoch und hehr.
Gr hörte den Grasen, vernahm sein Mort
und schaute das nahe Verderben dort.
s3. And kühn in Gottes Namen sprang
er in den nächsten Fischerkahn;
trotz Mirbel, Sturm und Mogendrang
kam der Grretter glücklich an.
Doch wehe! der Nachen war allzu klein,
der Retter von allen zugleich zu sein.
Und dreimal zwang er seinen Rahn
trotz Mirbel, Sturm und Mogendrang,
und dreimal kam er glücklich an,
bis ihm die Rettung ganz gelang.
Raum kamen die letzten in sichern Port,
so rollte das letzte Getrümmer fort. -
\5. „pier," ries der Gras, „mein wackrer Freund!
pier ist dein Preis! Romm her! Nimm hin!" —
Sag an, war das nicht brav gemeint? —
Bei Gott! Der Gras trug hohen Sinn. —
Doch höher und himmlischer, wahrlich! schlug
das perz, das der Bauer im Rittel trug.
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f6. „IHetn Leben ist für Gold nicht feil.
Arm bin ich zwar, doch ess' ich satt.
Dem Zöllner werd' Gu'r Gold zuteil,
der Hab und Gut verloren hat!"
Lo rief er mit herzlichem Biederton
und wandte den Rücken und ging davon. -
Gottfried August Bürger.
Zum Audenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienen bei Kleve,
die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgange des Rheins und dem großen Bruche des
Dammes bei Kleverham, den Bedrängten Hilfe reichend, unterging.
Der Damm zerreiszt, das Feld erbraust,
die Fluten spülen, die Fläche saust.
„Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut."
„Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
die Hausgenossin, drei arme Kind'!
Die schwache Frau! ... Du gehst davon!" —
Sie trügt die Mutter durchs Wasser schon.
„Zum Bühle da rettet euch! Harret derweil:
gleich kehr' ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl ist's noch trocken und wenige Schritt';
doch nehmt auch mir meine Ziege mit!"
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Sie setzt die Mutter auf sichres Land,
schön Tuschen gleich wieder zur Flut gewandt.
„Wohin? wohin? die Breite schwoll;
des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein?"
„Sie sollen und müssen gerettet sein!"
Der Damm verschwindet, die Welle braust,
eine Meereswoge, sie schwankt und saust.
Schön Tuschen schreitet gewohnten Steg,
umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg,
erreicht den Bühl und die Nachbarin;
doch der und den Kindern kein Gewinn!
Der Damm verschwand, ein Meer erbraust's,
den kleinen Hügel im Kreis umsaust's.
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Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund';
das Horn der Ziege faßt das ein';
so sollten sie alle verloren sein!
Schön Tuschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut?
Schön Tuschen steht noch wie ein Stern;
doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
kein Schifflein schwimmt zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf, —
da nehmen die schmeichelnden Fluten sie aus.
Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort.
Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;
doch Tuschens Bild schwebt überall. —
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
und überall wird schön Tuschen beweint. —
Und dem sei, wer's nicht singt und sagh,
im Leben und Tod nicht nachgefragt!
Wolfgang v. Goethe.
71. Sprichwörter und Sprüche.
1. Freund in der Not, Freund im Tod, Freund hinterm
Rücken — das sind drei starke Brücken. 2. Friede ernährt; Unfriede
verzehrt. 3. Undank ist der Welt Lohn. 4. Eine Liebe ist der
andern wert. 5. Freunde in der Not gehen hundert auf ein Lot.
72. Der Sergeant in der Bauernstube.
1. Nach der Schlacht bei Wörth drangen die siegreichen, von
der Hitze des Kampfes aufs höchste aufgeregten, von Hunger und
Durst gequälten deutschen Soldaten in die Häuser des Dorfes Frösch-
weiler ein, um nach Nahrungsmitteln zu suchen. Da kommt auch
ein Sergeant mit seiner Mannschaft in solch ein Bauernhaus. Das
Haus ist wie ausgestorben, und alle Stuben sind leer. Der Kriegs-
mann stößt mit dem Gewehrkolben auf den Boden und ruft: „Holla!
wo seid ihr, Leute?“ Keine Antwort. Er geht gegen den Alkoven,
zieht den Vorhang weg. Da sitzt ein altes Mütterlein, in Tränen
gebadet, und hält ein kleines Kind auf seinem Schoße. M ie das
Kind die fremden, bärtigen Gestalten erblickt, fängt es laut an zu
schreien und drückt sich fest in Großmutters Arme. Dem Sergeanten
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wird’s wundersam ums Herz; er wäre lieber seiner harten Kriegs-
pflicht überhoben, aber er muß es tun, er kann nicht anders. „Wo
ist der Bauer? Ich muß Brot und Wein haben, gleich! geschwind,
oder —“ und macht ein Gesicht wie ein leibhaftiger Wallensteiner.
Da schaut das Mütterlein empor, blickt dem fremden Kriegsmann
wehmütig fragend ins Auge und sagt gar nichts. Der steht da tief
gerührt vor dem ehrwürdigen Bilde, sein Herz schlägt gewaltig.
Dann sagt sie mit zitternder Stimme: „Lebt Eure Mutter noch? und
habt Ihr auch Geschwister?“ Jetzt rieseln dem Sergeanten die
Tränen über den strammen Schnurrbart herunter. Die Frage hat
ihn plötzlich aus dem wüsten Kriegsgetümmel in die liebe Heimat,
in die goldene Jugendzeit zurückgetragen. „Ja,“ sagt er, „mein
Mütterchen lebt noch, und so ein Jüngelchen ist auch noch zu Hause.
Gebt ihn mal her, den Kleinen, ich tu’ ihm nichts zuleide.“ Nun
nimmt er das Kind auf seinen Arm, streichelt es freundlich übers
Köpfchen und gibt ihm einen Kuß auf die Stirn.
2. Dem alten Mütterlein wird’s auch ganz wundersam zumute,
es sieht, daß diese Preußen, wie man dort kurzweg alle Deutschen
nennt, auch Menschen sind; es steht auf, geht in die Küchenkammer
und ruft: „Peter! Christine! kommt heraus; sie tun euch nichts!
kommt nur geschwind!“ Dem Peter aber fährt’s wie eine Engels-
botschaft durch alle Glieder, er stößt den Boden weg, hinter dem
er sich ins Zwetschgenfaß versteckt hat, und kriecht heraus. Die
Christine hat ihre Lebensgeisterlein auch wieder gefunden, sie drückt
den Deckel von der Mehlkiste empor, unter welche sie sich ver-
krochen hat, und krabbelt ans Tageslicht. Wie aus der Hölle erlöst,
treten beide unter fröhlichem Herzklopfen in die Stube. Der Ser-
geant hat das Büblein noch auf dem Arme. „Ha, Bauer, was bist
du für ein Mordskerl und fürchtest dich vor deutschen Soldaten!
Schau mich mal an und meine Soldaten da, sind wir denn Menschen-
fresser?“ Der Peter sperrt Mund und Ohren auf. Die Christine
lächelte ganz seelenvergnügt. Das wär’ ihnen im Traum nicht ein-
gefallen. „Ha, Kamerad,“ sagt der Sergeant, „hol uns ein Stück
Brot und ein paar Kannen Wein — sonst wollen wir nichts!“ Und
nun sehen sie aus der Ferne den Peter, wie er ein übers andere
Mal mit dem Melkkübel in den Keller hinabsteigt, und wie die
Christine ihre vier Laib Brot bis auf das letzte freudestrahlend auf
den Tisch legt, wie die alte Großmutter den schmucken, strammen
Sergeanten immer wieder wohlgefällig anblickt, und wie der gute
Elsässer Wein die durstigen, ausgebrannten Kehlen erquickt — ein
Bild, ich sage, wenn ich’s malen könnte, ein schöneres dürfte es in
der Welt nicht geben. Und was geschieht ? — Den andern Tag haben
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die Großmutter, der Peter und die Christine wie alle andern nichts
zu essen. Da kommt am Nachmittag ein Soldat, der bringt Speck
und Brot und sagt: „Da laßt’s euch schmecken! und der Sergeant
hat mir aufgetragen, ich soll euch grüßen, und er wird sein Leben
Karl Klein
73. Sommernacht.
1. In meiner Heimat grünen Talen,
da herrscht ein alter schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
dann geht ein Flüstern und ein Winken,
das sich dem Ährenselde naht,
da geht ein nächtlich Silberblinken
von Sicheln durch die goldne Saat.
2. Das sind die Bursche, jung und wacker,
die sammeln sich im Feld zuhauf
und suchen den gereisten Acker
der Witwe oder Waise ans,
die keines Vaters, keiner Brüder
und keines Knechtes Hilfe weiß, —
ihr schneiden sie den Segen nieder,
die reinste Lust ziert ihren Fleiß.
3. Schon sind die Garben festgebunden
und rasch in einen Ring gebracht;
wie lieblich flohn die kurzen Stunden,
es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschwärmt und hell gesungen
im Garbenkreis, bis Morgenluft
die nimmermüden, braunen Jungen
zur eignen schweren Arbeit ruft. Gottfried Keller.
^ 74. Die Bürgschaft.
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Moros, den Dolch im Gewände;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!"
entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
„Das sollst du am Kreuze bereuen."
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2. „Ich bin," spricht jener, „zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen."
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedeuten:
„Drei Tage will ich dir schenken;
doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen." '
4. Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
so bleib du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande."
5. Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen;
der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
6. Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
7. Und trostlos irrt er an Users Rand;
wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende, schicket,
da stößt kein Nachen vom sichern Strand,
Kappet, u. Koch, Deutsches Lesebuch für Miltelschuleu. IV. 6
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der ihn setze an das gewünschte Land,
kein Schiffer lenket die Fähre,
und der wilde Strom wird zum Meere.
8. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
„O, hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht die Sonne,
und wenn sie niedergeht,
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muß der Freund mir erbleichen."
9. Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
und Welle ans Welle zerrinnet,
und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da saßt er sich Mut
und wirft sich hinein in die brausende Flut
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
10. Und gewinnt das User und eilet fort
und danket dein rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
und hemmet des Wanderers Eile
nüt drohend geschwungener Keule.
11. „Was wollt ihr?" ruft er, vor Schrecken bleich,
„ich habe nichts als mein Leben,
das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
erlegt er, die andern entweichen.
12. Und die Sonne versendet glühenden Brand,
und von der unendlichen Mühe
ermattet, sinken die Kniee:
„O, hast du mich gnädig aus Räubershand,
aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
und soll hier verschmachtend verderben,
und der Freund mir, der liebende, sterben!"
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13. Hub horch! da sprudelt es silberhell,
ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
und stille halt er, zu lauschen.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
und freudig bückt er sich nieder
und erfrischet die brennenden Glieder.
14. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
und malt auf den glänzenden Matten
der Bäume gigantische Schatten;
und zwei Wandrer sieht er die Straße ziehn,
will eilenden Laufes vorübersliehn,
da Hort er die Worte sie sagen:
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."
15. Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
ihn jagen der Sorge Qualen;
da schimmern in Abendrots Strahlen
von ferne die Zinnen von Syrakus,
und entgegen kommt ihm Philostratus,
des Hauses redlicher Hüter,
der erkennet entsetzt den Gebieter:
\
16. „Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
so rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
mit hoffender Seele der Wiederkehr,
ihm konnte den mutigen Glauben
der Hohn des Tyrannen nicht rauben." —
17. „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
ein Netter willkommen erscheinen,
so soll mich der Tod ihm vereinen!
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht;
er schlachte der Opfer zweie
und glaube an Liebe und Treue!"
18. Und die Sonne geht unter; da steht er am To;
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet;
an dem Seile schon zieht man den Freund empor,
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da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker!" ruft er, „erwürget!
da bin ich, für den er gebürget!"
19. Und Erstaunen ergreifet das Volk umher;
in den Armen liegen sich beide
und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer;
und zum Könige bringt man die Wundermär';
der sühlt ein menschliches Rühren,
läßt schnell vor den Thron sie führen. \
20. Und blicket sie lange verwundert an;
draus spricht er: „Es ist euch gelungen;
ihr habt das Herz mir bezwungen,
und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn!
So nehmet auch mich zum Genossen an!
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der dritte!"
Friedrich v. Schiller.
75. Ein gutes Wort findet einen guten Ort.
1. Hab auf der Lippe stets bereit
ein freundlich gutes Wort;
das findet ja zu jeder Zeit
auch einen guten Ort.
2. Soll jemand tun dir was zulieb,
so schau ihn freundlich an,
ein lieblich gutes Wort ihm gib;
es ist ja leicht getan.
3. Und wenn ein Herz dir zürnen will,
im Unmut lodert auf,
so lege nur ganz freundlich still
ein gutes Wort darauf.
4. Wohin dein Weg dich führen mag,
auch in der Fremde drauß',
streu du an jedem Lebenstag
nur gute Worte aus.
5. Dann bist du nirgends fremd und arm,
fühlst nicht den Heimatschmerz;
dein gutes Wort macht mild und warm
dir jedes gute Herz. Isabella Braun.
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76. Der Wirtin Töchterlein.
1. Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein,
bei einer Frau Wirtin, da kehrten sie ein:
2. „Frau Wirtin, hat sie gut Bier und Wein?
Wo hat sie ihr schönes Töchterlein?"
3. „Mein Bier und Wein ist srisch und klar.
Mein Töchterlein liegt aus der Totenbahr'."
4. Und als sie traten zur Kammer hinein,
da lag sie in einem schwarzen Schrein.
5. Der erste, der schlug den Schleier zurück
und schaute sie an mit traurigem Blick:
6. „Ach, lebtest du noch, du schöne Maid!
Ich würde dich lieben von dieser Zeit."
7. Der zweite deckte den Schleier zu
und kehrte sich ab und weinte dazu:
8. „Ach, daß du liegst aus der Totenbahr'!
Ich hab' dich geliebt so manches Jahr."
9. Der dritte hub ihn wieder sogleich
und küßte sie an den Mund so bleich:
10. „Dich liebt' ich immer, dich lieb' ich noch heut'
und werde dich lieben in Ewigkeit."
Ludwig Uhland.
77. Das
1. Ein Schifflein ziehet leise
den Strom hin seine Gleise.
Es schweigen, die drin wandern,
denn keiner kennt den andern.
2. Was zieht hier aus dem Felle
der braune Weidgeselle?
Ein Horn, das sanft erschallet;
das User widerhallet.
3. Von seinem Wanderstabe
schraubt jener Stift und Habe
und mischt mit Flötentönen
sich in des Hornes Dröhnen.
Schifflein.
4. Das Mädchen saß so blöde,
als fehlt' ihr gar die Rede;
jetzt stimmt sie mit Gesänge
zu Horn und Flötenklange.
5. Die Rudrer auch sich regen
mit taktgemäßen Schlügen.
Das Schiss hinunterflieget,
von Melodie gewieget.
6. Hart stößt es auf am Strande,
man trennt sich in die Lande:
„Wann treffen wir uns, Brüder,
ans einem Schifslein wieder?"
Ludwig Uhland.
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78. Fürs Herzblutes!. (Gekürzt.)
1. Ich saß im Eisenbahnwagen dritter Klasse. „Hatterath
ratteratt, ratteratt!“
Mir gegenüber saß ein stiller, oft tieftraurig vor sich hin-
blickender Mann und, innig an ihn geschmiegt, ein etwa vier Jahre
altes liebliches Mägdlein mit großen, dunkeln Augen, aber blassem,
schmerzhaftem Antlitze. Der Mann war, wie der Augenschein lehrte,
des kranken Kindes Vater. Er hielt seinen rechten Arm um die
Kleine geschlungen und drückte das von braunem Haar umflossene
Köpfchen von Zeit zu Zeit fest an sich, und wenn er ihr etwas
sagte, so nannte er sie Marie.
2. In Northeim wurde unsre stille Gesellschaft noch durch
drei Personen vermehrt: Zwei junge AVildlinge und deren Vater.
Frisch und fröhlich sprang der blondhaarige Knabe mit seinem
Schwesterchen herein, und ebenso munter kam der Vater ihnen nach.
Das war ein Lachen, Fragen und Schwatzen ohne Anfang und ohne
Ende. Doch vergaßen sie nicht, uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unsrer neuen Keisegenossen hervorging,
fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer Sehn-
sucht ihrer harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr auf das
bevorstehende Wiedersehen, daß sie fast aus dem Häuschen gerieten.
Wohl zwanzigmal fragten sie wie aus einem Munde: „Vater, wieviel
Stationen sind’s noch bis zum Mütterchen?“ Und der Vater wurde
nicht müde, die Fragen seiner Lieblinge immer wieder und wieder
zu beantworten.
3. Plötzlich verstummte die kindliche Kedseligkeit, und das
ferne Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater
hatte nämlich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd
mit einem Taschenmesser die duftende Schale von dem saftstrotzen-
den Balle zu lösen. Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach
dem andern aus der Hand des Vaters und genossen die köstliche
Frucht mit wonnevollem Behagen.
An sich selbst dachte der Vater nicht, auch nicht an das
fremde, kranke Mädchen, das gegenüber auf der Bank saß und in
kindlicher Selbstvergessenheit mit dürstenden Blicken an den Apfel-
sinen hing.
Ich beobachtete die Kleine, wie sie ihre blassen, trocknen
Lippen unbewußt aufeinander preßte, und fühlte es warm in meinem
Herzen aufquellen. O, daß nicht auch ich eine Apfelsine in meiner
Tasche hatte! Die hätte ich der kleinen Kranken geschenkt fürs
„Herzbluten“, wie meine Mutter sagt, wenn sie einem Kinde, das
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in der Vesperstunde bei uns eintritt, etwas darreicht. Soll doch
das Herzbluten bei kleinen Mädchen viel früher und heftiger ein-
treten als bei kleinen Knaben.
4. Als der fremde Vater das Herzbluten seines Lieblings be-
merkte, flog ein schmerzliches Zucken über sein bekümmertes Ge-
sicht. Er zog den Arm inniger um die Kleine, flüsterte mit ihr,
zeigte nach der grünen, wallenden Flur draußen, nach den daraus
hervorragenden Dächern der kleinen Dörfer, nach den majestätisch
emporsteigenden, waldumkränzten Bergen und nach allem, was für
das Auge eine Ablenkung bieten konnte.
Marie schlug wohl dem Vater zuliebe die dunkeln Augen auf,
kehrte sie aber, wie von einer heimlichen Gewalt gezogen, immer
wieder den bestrickend duftenden Apfelsinen zu. Ich geriet in eine
peinliche Stimmung, und schon erwog ich, ob ich nicht auf eine
zarte Meise Mariens Fürsprecher werden könnte.
5. Da erlebte ich eine herzliche Freude. Wie von einer himm-
lischen Regung getrieben, stand der Junge plötzlich auf und reichte
der kleinen Marie ein Apfelsinenstück, indem er ihr bittend zunickte.
Marie zuckte zusammen, und eine helle Röte huschte über ihre
blasse Wange. Sie fühlte sich überrascht, fühlte ihr Verlangen er-
raten und verschloß eiligst ihre Seele.
Immer dringender wurde der Knabe; doch Marie ließ das
Köpfchen verschämt herabhängen und nahm die Apfelsine nicht.
Jetzt erst schien des Knaben Vater des fremden Mädchens ge-
wahr zu werden. Er klopfte den Sohn auf die Schulter und sagte:
„Brav, Otto!“ und zu Marie gewandt, nötigte er in dem gleichen
warmen Tone: „Liebe Kleine, du darfst es schon nehmen. Ich habe
noch viel mehr!“ Dabei schälte er auch schon eine neue Apfelsine.
Doch erst, als Mariens Vater lächelnd sagte: „Na, nimm’s nur,
Kind!“ nahm Marie die Apfelsine aus des freundlichen Knaben
Hand, indem sie ihm zugleich ihr rechtes Händchen gab und ver-
schämt dankte. In Ottos Augen aber stand mit leuchtenden Buch-
staben geschrieben: „Geben ist seliger als Nehmen!“
Heinrich Sohnrey.
79. Sprichwörter und Sprüche.
1. Höfliche Worte vermögen viel und kosten wenig. 2. Höflichkeit
ziert jedermann. 3. Höflichkeit und gute Sitten machen jeden wohlgelitten.
4. Kommt Feuer und Stroh zusammen, so gibt es gerne Flammen.
1. Almosengeben armet nicht. 2. Williges Herz macht leichte Füße.
3. Hast du der Güter llberfluß, so denk an den, der darben muß. 4. Geben
ist seliger denn Nehmen. 5. Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.
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80. Sprichwörtliche Redensarten.
1. Er ist nicht auf den Kopf gefallen. 2. Er hat den Kopf ver-
loren. — 3. Ihm find die Augen aufgegangen. 4. Er ist ihm ein Dorn
im Auge. ■— 5. Er steckt bis über die Ohren in Arbeit, in Schulden.
6. Einem das Fell über die Ohren ziehen. 7. Er ist noch nicht trocken
hinter den Ohren. 8. Sich etwas hinters Ohr schreiben. — 9. Einen an
der Nase herumführen. 10. Seine Nase hoch tragen. 11. Die Nase ins
Buch stecken. 12. Mit einer langen Nase abziehen. — 13. Ein Schloß an
den Mund legen. 14. Kein Blatt vor den Mund nehmen. — 15. Eine
spitze, böse, falsche Zunge haben. l6. Das Wort erstarb mir auf der
Zunge. — 17. Sich etwas vom Halse schaffen. — 18. Nicht ein Haar
breit nachgeben. 19. Haare auf den Zähnen haben. 20. Die Haare stehen
ihm zu Berge. 21. Laß dir darüber keine grauen Haare wachsen. —
22. Sich seiner Haut wehren. 23. Ich möchte aus der Haut fahren.
24. Mit heiler Haut davonkommen. 25. Ich möchte nicht in seiner Haut
stecken. — 26. Die Hände in den Schoß legen. 27. Eine gute Hand
schreiben. 28. Aus der Hand in den Mund leben. 29. Einen auf den
Händen tragen. 30. Es liegt auf der Haud. — 31. Sich auf die Füße
(Beine) machen. 32. Diese Rede hat Hand und Fuß. 33. Ich stehe schon
mit einem Fuße im Grabe. 34. Den Gefangenen auf freien Fuß setzen.
35. Die Sache steht auf schwachen Füßen. — 36. Ein hartes, kaltes,
fühllofes Herz haben. 37. Es fiel ihm ein Stein vom Herzen. 38. Die
Sache liegt mir am Herzen. 39. Das Herz auf der Zunge haben. —
40. Es ist unser Fleisch und Blut. 41. Wie Milch und Blut aussehen.
42. Sich Plagen bis aufs Blut.
II. Fabeln. Parabeln, Märchen,
Sagen, Legenden und Erzählungen.
81. Der Greis und der Tod.
Ein alter Mann fällte einst ans einem Berge Holz und lud es ans
seine Schultern. Nachdem er eine weite Strecke mit seiner Last fort-
gewandert und sehr müde geworden war, legte er das Holz ab und rief
den Tod herbei. Wie nun aber der Tod augenblicklich erschien und ihn
um die Ursache seines Rufens befragte, da antwortete der Greis: „Darum,
daß du diese Last aufhebst und sie mir wieder aufladest." Äsop.
82. Der Igel und der Maulwurf.
Der Igel, als er spürte, daß der Winter sich nahe, bat den Maul-
wurf, ihm ein Plätzchen in seiner Höhle einzuräumen, damit er dort gegen
die Kälte sich schützen könne.
Der Maulwurf war es zufrieden; doch kaum sah sich der Igel darin,
so machte er es sich bequem, spreitete sich aus, und sein Wirt stach sicki
alle Augenblicke bald hier, bald da an des neuen Gastes spitzigen Stacheln.
Jetzt erst erkannte der arme Maulwurf seinen begangenen Fehler,
schwur hoch und teuer, daß dies unerträglich sei, und bat den Igel, wieder
hinauszugehen, weil seine Wohnung offenbar für sie beide zu klein sei
Aber der Igel lachte und sprach: „Wem es hier nicht gefällt, der
kann ja weichen; ich für meine Person bin wohl zufrieden und bleibe."
Überlege ja erst, wen du in deine Gesellschaft aufnehmen willst: du
könntest, wenn es ein Unverträglicher wäre, sonst bald zu deinen Schaden
ihm Platz machen müssen. August Gottlieb Meißner.
83. Zeus und das Schaf.
Das Schaf mußte voil allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor
den Zeus und bat, sein Elend zu mildern.
Zeus schien willig und sprach zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, mein
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frommes Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie
ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit
schrecklichen Zähnen und deine Füße mit Krallen rüsten?" —
„O nein," sagte das Schaf, „ich will nichts mit den reißenden Tieren
gemein haben."
„Oder," fuhr Zeus fort, „soll ich Gift in deinen Speichel legen?"
„Ach!" versetzte das Schaf, „die giftigen Schlangen werden ja so
sehr gehaßt."
„Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflanzen
und Stärke deinem Nacken geben."
„Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig werden wie
der Bock."
„Und gleichwohl," sprach Zeus, „mußt du selbst schaden können, wenn
sich andre dir zu schaden hüten sollen."
„Müßt' ich das?" seufzte das Schaf. „O, so laß mich, gütiger Vater,
wie ich bin! Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich,
die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser Unrecht leiden als Un-
recht tun."
Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an zu klagen.
Gotthold Ephraim Lessing.
84. Zeus und das Pferd.
1. „Vater der Tiere und Menschen," so sprach das Pferd und nahte
sich dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eins der schönsten Ge-
schöpfe, womit du die Welt geziert hast, und meine Eigenliebe heißt
mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch verschiedenes an mir
zu bessern sein?" — „Und was meinst du denn, daß an dir zu
bessern sei? Rede, ich nehme Lehre an!" sprach der gute Gott uttd
lächelte. „Vielleicht", sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger
sein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer
Schwanenhals würde mich nicht verstellen, eine breitere Brust würde
meine Stärke vermehren, und da du mich doch einmal bestimmt hast,
deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der
Sattel anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auslegt." —
„Gut," versetzte Zeus; „gedulde dich einen Augenblick!"
2. Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung.
Da quoll Leben in den Staub, und plötzlich stand vor dem Throne —
das häßliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor ent-
setzendem Abscheu. „Hier sind höhere und schmächtigere Beine," sprach
Zeus; „hier ist ein langer Schwanenhals, hier ist eine breitere Brust,
hier ist der anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so
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umbilden soll?" Das Pferd zitterte noch. „Geh," fuhr Zeus fort:
„dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden! Dich deiner Ver-
messenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so danre du fort,
neues Geschöpf," — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel
— „und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern!"
Gottholb Ephraim Lessing.
85. Die Sperlinge.
Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward
ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze dastand, kamen die
Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie
alle vermauert. „Zu was," schrien sie, „taugt denn nun das große Ge-
bäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!"
Gotthold Ephraim Lessing.
86. Trau, schau, wem?
Ein Fuchs verkündete den Hühnern und Hähnen, die auf einem Baume
saßen, einen ewigen Frieden, der da wäre angestellt mit allen Tieren, also
daß fürderhin Wolf und Schaf, Fuchs und Hühner Freundschaft und
Bündnis ewig miteinander haben sollten. Damit hätte er gern die Hennen
vom Baume geschwätzt. Aber der Hahn sagte: „Das hör' ich gern!" und
reckte dabei den Kopf aus. Der Fuchs fragte: „Was siehst du?" Der
Hahn antwortete: „Ich sehe einen Jäger mit Hunden von ferne." Der
Fuchs sprach: „Da bleib' ich nicht." Antwortete der Hahn: „Harre, so
wollen wir auch mit dir hinab, wenn wir sehen, daß die Hunde mit dir
Frieden haben." Der Fuchs sagte: „Ei, er möchte ihnen noch nicht ver-
kündigt sein; ich fahre dahin." Sebastian Frank.
87. Die Pfauen und die Krähe.
Eine stolze Krähe schmückte sich mit den ausgefallenen Federn
der farbigen Pfauen und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt
zu sein glaubte, unter diese glänzenden Vögel der Juno. Sie ward
erkannt, und schnell fielen die Pfauen mit scharfen Schnäbeln auf
sie, ihr den betrügerischen Putz auszureißen.
„Lasset nach!“ schrie sie endlich, „ihr habt nun alle das Eurige
wieder.“ Doch die Pfauen, welche einige von den eigenen glänzen-
den Schwingfedern der Krähe bemerkt hatten, versetzten: „Schweig,
armselige Närrin; auch diese können nicht dein sein!“ und hackten
weiter. Gotthold Ephraim Lessing.
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88. Das Hühnchen und der Dianlant.
1. Ein verhungert Hühnchen fand
einen feinen Diamant
und verscharrt' ihn in den Sand.
2. „Möchte doch, mich zn erfreun,"
sprach es, „dieser schöne Stein
nur ein Weizenkörnchen sein!"
3. Unglücksel'ger Überfluß,
wo der nötigste Genuß
unsern Schätzen sehten muß!
Friedrich von Hagedorn.
89. Den Besitzer des Bogens.
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem
er sehr weit und sicher schoß, und den er ungemein wert hielt.
Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig
plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade!“ —
„Doch dem ist abzuhelfen!“ fiel ihm ein. „Ich will hingehen und
den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen.“ —
Er ging hin, und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den
Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als
eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. „Du verdienst diese Zieraten,
mein lieber Bogen!“ — Indem will er ihn versuchen; er spannt,
und der Bogen — zersprang. Gott hold Ephraim Lessing.
90. Parabel.
1. Im Feld der König Salomon
schlägt unterm Himmel auf den Thron;
da sieht er einen Sämann schreiten,
der Körner wirft nach allen Seiten.
2. „Was machst du da?" der König spricht;
„der Boden hier trägt Ernte nicht.
Laß ab vom törichten Beginnen;
du wirst die Aussaat nicht gewinnen."
3. Der Sämann, seilten Arm gesenkt,
unschlüssig steht er still und denkt;
dann fährt er fort, ihn rüstig hebend,
dem weisen König Antwort gebend:
4. „Ich habe nichts als dieses Feld,
geackert hab' ich's und bestellt;
was soll ich weitere Rechnung pflegen?
Das Korn von mir, von Gott der Segen."
Friedrich Rückert.
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91. Der Einsiedler.
Voralters lebte ein Mann, der war sehr aufbrausend und schnell
zum Zorn, und wenn er zornig gewesen, gereute es ihn wieder. Da
dachte er: „Das kommt von den bösen Menschen; ließen mich die
in Frieden, würd’ ich auch wohl sanftmütig sein. Ich will lieber
fortgehen in den wilden Maid und ein Einsiedler werden, da werd'
ich keinen mehr hören und sehen und werd’ mich nicht mehr er-
zürnen.“ So geht er fort in den AVald, sucht sich einen Ort, wo
ein Brunnen vom Felsen herabrinnt, und will sich da eine Hütte
bauen. Über der Arbeit wird’s ihm warm, und er trägt seinen Krug
zum Brunnen und stellt ihn unter, daß er voll werde; der Krug aber
fällt um, und er muß ihn zum zweitenmal unterstellen. Nach einer
Meile fällt der Krug abermal, und der Einsiedler, statt ihn wieder
aufzustellen, wird so zornig, daß er ihn nimmt und am Felsen in
tausend Stücke zerschlägt. Als er nun den Henkel in der Hand hat
und die Scherben auf dem Boden liegen sieht, kommt er auf einmal
wieder zu sich, erschrickt und spricht zu sich selbst: „O, ich Tor,
ich dachte, daß der Zorn in mich hineinkommt, und nun sehe ich,
daß er aus mir herauskommt; drum will ich kein Einsiedler mehr
sein, sondern wieder zu meinen Brüdern gehen, daß sie mir guten
Kat geben und mir beten helfen, mein eigen Herz zu bessern.“
Trau dem nicht, der dir der Nächste ist, der in einem Hause
mit dir wohnt, aus einem Löffel mit dir ißt und in einem Bette mit
dir schläft, nämlich — dir selber!
Karl Heinrich Caspari.
92. Parabel.
Es ging ein Mann im Syrerland,
führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
urplötzlich anfing fcheu zu werden
und tat so ganz entsetzlich schnaufen;
der Führer vor ihm mußt’ entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
von ungefähr am'Wege da.
Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
Das inußt' ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
aus des geborstnen Brunnens Bauch;
daran der Mann sich fest tat klammern
und seinen Zustand drauf bejammern
Er blickte in die Höh' und sah
dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
das ihn wollt’ oben fassen wieder;
dann blickt' er in den Brunnen nieder;
da sah am Grund er einen Drachen
anfgähnen mit entsperrtem Rachen,
der drunten ihn verschlingen wollte,
wenn er hinunterfallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
da sah der Arme noch das dritte;
wo in die Mauerspalte ging
des Sträuchleins Wurzel, dran er hing
da sah er still ein Mäusepaar,
schwarz eine, weiß die andre war.
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Er sah die schwarze mit der weißen
abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
die Erd' ab von der Wurzel spülten;
und, wie sie rieselnd niederrann,
der Drach' im Grund' aufblickte dann,
zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und Not,
umstellt, umlagert und umdroht,
im Stand des jammerhaften Schwedens,
sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
sah er ein Zweiglein, welches nickte
vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut
und nicht den Drachen in der Flut
und nicht der Mäuse Tückespiel,
als ihm die Beer' ins Auge siel.
Er ließ das Tier von oben rauschen
und unter sich den Drachen lauschen
und neben sich die Mäuse nagen,
griff nach den Beerlein mit Behagen;
sie deuchten ihn zu essen gut,
aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,
und durch die Süßigkeit im Essen
war alle seine Furcht vergessen. —
Du fragst: „Wer ist der töricht' Mann,
der so die Furcht vergessen kann?"
So wiss', o Freund, der Mann bist du;
vernimm die Deutung auch dazu:
Es ist der Drach' im Brunnengrund
des Todes aufgesperrter Schlund;
und das Kamel, das oben droht,
es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
am grünen Strauch der Welt muß
schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
dich, samt den Zweigen, die dich tragen,
zu liefern in des Todes Macht,
die Mäuse, heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
vom Abend heimlich bis zum Morgen;
es nagt vom Morgen bis zum Abend
die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
lockt dich die Beere Sinuenlust,
Daß du Kamel, die Lebensnot,
daß du im Grund den Drachen Tod,
daß du die Mäuse Tag und Nacht
vergissest und auf nichts hast acht,
als daß du recht viel Beerlein haschest,
aus Grabes-Brunnenritzen naschest.
Friedrich Rückert.
93. Die Heinzelmännchen.
1. Wie war zu Köln es doch vordem
mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn war man faul, mau legte sich
hin aus die Bank und pflegte sich;
da kamen bei Nacht,
ehe man's gedacht,
die Männlein und schwärmten
und klappten imb lärmten
und rupften
und zupften
und hüpften und trabten
und putzten und schabten.
Und eh' ein Faulpelz noch erwacht,
war all sein Tagewerk bereits gemacht.
2. Die Zimmerleute streckten sich
hin aus die Spän' und reckten sich.
Indessen kam die Geisterschar
und sah, was da zu zimmern war,
nahm Meißel und Beil
und die Säg' in Eil';
sie sägten und stachen
und hieben und brachen,
berappten
und kappten,
visierten wie Falken
und setzten die Balken.
Eh' sich's der Zimmermann versah,
klapp! stand das ganze Haus schon fertig da.
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3. Beim Bäckermeister war nicht Not;
die Heinzelmännchen backten Brot.
Die faulen Burschen legten sich;
die Heinzelmännchen regten sich
und ächzten daher
mit den Säcken schwer
und kneteten tüchtig
und wogen es richtig
und hoben
und schoben
und fegten und backten
und klopften und hackten.
Die Burschen schnarchten noch im Chor;
da rückte schon das Brot, das neue,
vor.
4. Beim Fleischer ging es just so zu.
Gesell und Bursche lag in Ruh'.
Indessen kamen die Männlein her
und hackten das Schwein die Kreuz und
Quer.
Das ging so geschwind
wie die Mühl' im Wind;
die klappten mit Beilen,
die schnitzten an Speilen;
die spülten,
die wühlten
und mengten und mischten
und stopften und wischten.
Tat der Gesell die Augen auf,
wapp! hing die Wurst schon da zum Aus-
verkauf.
5. Beim Schenken war es so: es trank
der Küfer, bis er niedersank,
am hohlen Fasse schlief er ein;
die Männlein sorgten um den Wein
und schwefelten fein
alle Fässer ein
und rollten und hoben
mit Winden und Kloben
und schwenkten und senkten
und gossen und panschten
und mengten und manschten.
Und eh' der Küfer noch erwacht,
war schon der Wein geschönt und fein I
gemacht!
6. Einst hatt' ein Schneider große Pein:
Der Staatsrock sollte fertig sein;
warf hin das Zeug und legte sich
hin auf das Ohr und pflegte sich.
Da schlüpften sie frisch
in den Schneidertisch
und schnitten und rückten
und nähten und stickten
und faßten und paßten
und strichen und guckten
und zupften und ruckten.
Und eh' mein Schneiderlein erwacht,
war Bürgermeisters Rock — bereits ge-
macht!
7. Neugierig war des Schneiders Weib
und macht' sich diesen Zeitvertreib:
streut' Erbsen hin die andre Nacht;
die Heinzelmännchen kommen sacht;
eins fähret nun aus,
schlägt hin im Haus,
die gleiten von Stufen
und pluinpen in Kufen,
die fallen mit Schallen,
die lärmen und schreien
und vermaledeien.
Sie springt hinunter auf den Schall
mit Licht: husch, husch, husch, husch! ver-
schwinden all'!
8. O weh! nun sind sie alle fort!
Und keines ist mehr hier am Ort!
Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
man muß uun alles selber tun.
Ein jeder muß fein
selbst fleißig sein
und kratzen und schaben
und rennen und traben
und schniegeln und biegein
und klopfen und hacken
und kochen und backen.
Ach, daß es noch wie damals wär'!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder
her.
August Kopisch.
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94. Fiiigerhütcheii.
Liebe Kinder, wißt ihr, wo
Fin^erhut zu L^ause?
Tief iin Tal von Acherloo
hat er b)erd und Klause;
aber schon in jungen Tagen
muß er einen Bäcker tragen.
Geht er, wunderlicher nie
wallte man auf Erden!
5itzt er, staunen Kinn und Knie,
daß sie Nachbarn werden.
2. Körbe flicht aus Binsen er,
früh und spät sich regend,
trägt sie zum Verkauf umher
in der ganzen Gegend,
und er gäbe sich zufrieden,
wär' er nicht im Volk gemieden;
denn man zischelt mancherlei:
daß ein Hexenmeister,
daß er kräuterkundig sei
und im Bund der Geister.
3. solches ist die Wahrheit nicht,
ist ein leeres Weinen;
doch das Volk im Dämmerlicht
schaudert vor dem Kleinen.
5-o die jungen wie die Alten
weichen aus dem Nngeftalten —
doch vorüber wohlgemut
auf des Echusters Käppchen
trabt er. Blauer Fingerhut
nickt von seinem Käppchen.
Einmal geht er heim bei Nacht
nach des Tages Lasten,
hat den halben Weg gemacht,
darf ein bißchen rasten,
setzt sich und den Korb daneben,
schimmernd hebt der Wond sich eben
Fingerhut ist gar nicht bang,
ihm ist gar nicht schaurig,
nur daß noch der Weg so lang,
macht den Kleinen traurig.
97
5. Etwas hört er klingen fein —
nicht mit rechten Dingen,
mitten aus dem grünen Rain
ein melodisch Gingen:
„Lilberfähre, gleitest leise" —
schon verstummt die kurze Weise.
Fingerhütchen spähet scharf
und kann nichts entdecken;
aber was er hören darf,
ist nicht zum Erschrecken.
6. Wieder hebt das Liedchen an
unter Busch und Decken;
doch es bleibt der Reimgespan
stets im k)ügel stecken.
„Lilberfähre, gleitest leise" —
wiederum verstummt die Weise.
Lieblich ist, doch einerlei
der Gesang der Elfen,
Fingerhütchen fällt es bei,
ihnen einzuhelfen.
7. Fingerhütchen lauert still
auf der Töne Leiter;
wie das Liedchen enden will,
führt er leicht es weiter:
„Lilberfähre, gleitest leise"
— „ohne Ruder, ohne Gleise."
Aus dem Hügel ruft's empor:
„Das ist dir gelungen!"
Unterm Boden kommt hervor
kleines Volk gesprungen.
8. „Fingerhütchen, Fingerhut,"
lärmt die tolle Runde,
„faß dir einen frischen U7ut!
Günstig ist die stunde I
Lilbersähre, gleitest leise
ohne Ruder, ohne Gleise!
Dieses hast du brav gemacht,
lernet es, ihr Länger!
Wie du es zu stand' gebracht,
hübscher ist's und länger!
Klippey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV.
98
9- Zeig dich einmal, schöner Wann!
Laß dich einmal sehen:
Dorn zuerst und hinten dann!
Laß dich einmal drehen!
Weh! Was müssen wir erblicken!
Fingerhütchen, welch ein Rücken!
Auf der Schulter, liebe Zeit,
trägst du grause Bürde!
Ohne hübsche Leiblichkeit
was ist Geisteswürde?
W. Line ganze 5tirne voll
glücklicher Gedanken,
unter einem Höcker soll
länger nicht sie schwanken!
strecket euch, verkrümmte Glieder!
Garst'ger Buckel, purzle nieder!
Fingerhut, nun bist du grad',
deines Fehls genesen!
peil zum schlanken Rückengrat!
£>etl zum neuen Wesen!"
P. plötzlich steckt der Llfenchor
wieder tief im Raine;
aus dem pügelland empor
tönt's im Wondenscheine:
„5>ilberfähre, gleitest leise
ohne Ruder, ohne Gleise."
Fingerhütchen wird es satt,
wäre gern daheime;
er entschlummert laß und matt
an dem eignen Reime.
\2. schlummert eine ganze Nacht
auf derselben stelle;
wie er endlich auferwacht,
scheint die öonne Helle:
Aühe weiden, Lchafe grasen
aus des Llfenhügels Rasen.
Fingerhut ist bald bekannt,
läßt die Blicke schweifen,
fachte dreht er dann die pand,
hinter sich zu greifen.
99
J3. Ist ihm ^eil im Traum geschehn?
Ist das Heil die Wahrheit?
Wird das Tlfenwort bestehn
vor des Tages Alarheit?
^ Und er tastet, tastet, tastet:
Unbebürdet! Unbelastet!
„Jetzt bin ich ein grader Wann!"
jauchzt er ohne Ende;
wie ein Hirschlein jagt er dann
über Feld behende.
sH. Fingerhut steht plötzlich still,
tastet leicht und leise,
ob er wieder wachsen will?
Nein, in keiner Weise!
Selig preist er Nacht und stunde,
da er sang im Geisterbunde —
Fingerhütchen wandelt schlank,
gleich als hätt' er Flügel,
seit er schlummernd niedersank
nachts am Tlfenhügel.
Ronrad Ferdinand Meyer.
95. Die Auster.
i.
Der Zwergkönig Kruppunder hatte zur Feier des Tages, an dein er
auf eine glorreiche, fünfhundertjührige Regierung zurücksah, von der Fürstin
Flundra als Ehrengabe eine Auster geschenkt bekommen. Der Sendung
war ein langes Schriftstück beigegeben, welches außer vielen herzlichen
Glückwünschen die Bemerkung enthielt, daß die Auster das köstlichste Wild-
bret des Salzwassers sei. „Darum" — so hieß es in dem Schreiben —
„achten die Menschen, welche sonst sehr töricht, in der Schätzung dessen
aber, was da gut schmeckt, nur zu gewitzt sind, die Auster über alles hoch
und bezahlen sie teurer als irgend einen seltnen Fisch oder Vogel." Am
Schluß war gesagt, der erhabene Kruppunder möge nun zusammen mit
seiner allerholdesten Gemahlin, der Königin Wurzelinde, sowie mit Hinzu-
ziehung der Angesehensten und Würdigsten seines Hofes, sotanen Lecker-
bissen sich wohl schmecken und wohl bekommen lassen. An edeln Getränken,
wie sie allein zur Gesellschaft für eine so vornehme Speise sich eigneten,
werde es ja wohl in den königlichen Kellereien nicht fehlen.
Auf einem mit zwanzig Seepferdchen bespannten Lastwagen war die
Auster bis vor den Eingang der Höhle gefahren worden, in der Kruppunder
7*
100
seine Residenz hatte. Da war sie abgeladen worden, und die Begleitung
des Wagens, nachdem sie das Schreiben abgegeben und ein reichliches
Botenbrot empfangen, hatte sich vergnügt auf den Rückweg gemacht.
2.
Da lag nun die Auster, festgeschlossen und von außen nicht eben sehr
lecker anzusehen, und um sie herum stand der König mit seinen getreuen
Räten. Keiner wußte, was nun anfangen mit dem Ungeheuer. Daß ein
eßbares Tier in dem steinernen Schalenhause verborgen war, sagte man
sich wohl, wie aber war demselben beizukommen? Es war nicht anzu-
nehmen, daß es auf bloßes Zureden die Schalen voneinander tun würde,
denn es konnte sich unmöglich Gutes davon versprechen. Offenbar mußte
man mit Gewalt vorgehen. Einer hielt es für das beste, über der Auster
ein Hammerwerk zu erbauen und dann von oben her durch einen furcht-
baren Schlag ihr Gehäuse zu zerschmettern, also dasselbe Mittel anzu-
wenden, durch das man schon vor Jahren einmal eine Haselnuß geöffnet
hatte. Ein andrer schlug vor, das Gehäuse auseinander zu sprengen,
indem man in die Schale Löcher bohrte, diese mit Pulver füllte und das-
selbe anzündete. Beide Vorschläge wurden verworfen aus der Erwägung
daß bei Anwendung einer so starken Gewalt gar leicht nicht nur das
Schalengehäuse zerbrochen, sondern zugleich auch der eßbare Inhalt gänzlich
zermalmt und in eine nicht mehr den Appetit reizende Masse verwandelt
werden könnte, wie es ja damals auch mit der berühmten Haselnuß er-
gangen wäre. Das Sprengen aber wäre noch gefährlicher als das Zer-
trümmern mittels des Hammers, weil die umherfliegenden Sprengstücke
große Zerstörungen anrichten und sogar das Leben der Umwohnenden ge-
fährden könnten.
3.
Der Königliche Koch, welcher mit zu der Beratung hinzugezogen war,
wußte nichts Besseres zu tun, als die Achseln zu zucken und sich den
Kopf zu kratzen. Vielleicht, meinte er, sei es das Gescheiteste, das Tier
in und mit der Schale zu sieden, wie man es bei den kleinen Schnecken
täte; wer aber hätte einen Fischkessel, der groß genug dazu wäre?
Übrigens sei das Schlachten großer Tiere nicht seine Sache, sondern käme
andern zu. Diese möchten auch diesmal das Ihrige tun. Wenn dann
das Fleisch ausgeschlachtet in die Hofküche käme, wollte er es schon kochen,
braten, schmoren, spicken, fareieren und solche Saucen dazu machen, daß
jedermann, der überhaupt einen feinen Geschmack habe, damit zufrieden
sein solle.
Während also beraten wurde, hatte sich auch ziemlich viel Volk an-
gesamnlelt, und alles bestaunte das Meerwunder. Da dies sich nicht
101
rührte und regte, sondern sich ganz still verhielt, wuchs deu Leuten, die
anfangs sehr schüchtern und vorsichtig gewesen waren, der Mut. Einige
klopften mit ihren kleinen Hämmern ganz keck auf dem Schalenrande
herum; andre hielten ein Ohr an den Spalt zwischen den Schalen und
versicherten, daß sie deutlich ein unheimliches Brummen, Grollen und
Grummeln aus dem Innern herausschallen hörten. Zuletzt wurden einige
so übermütig, daß sie auf das Ungeheuer hinaufkletterten und auf ihm
umhersprangen. Als aber der König das sah, wurde er unwillig und
befahl, daß alle von der Auster heruntersteigen sollten. Überhaupt sollte
männiglich ein Paar hundert Schritte weit von ihr zurücktreten, denn
niemand wüßte, was geschehen könne. Vielleicht öffnete das reißende
Meertier plötzlich seine Schalen, käme herausgesprungen und verschlänge,
'was gerade in seiner Nähe sei. Dafür wolle er nicht die Verantwortung
tragen, deshalb gebiete er allen, sich von dem Untier, dem jedenfalls nicht
zu trauen sei, in eine Sicherheit gewährende Entfernung zurückzuziehen.
Also geschah es.
4.
Es war aber am Hofe des Königs Kruppunder ein sehr kluger und
kunstreicher Mann, namens Spintifex, der als Maschinenmeister bereits
Tüchtiges geleistet hatte. Von ihm rührte die Blaubeerkelter her, die nachher
allgemein eingeführt wurde, und der vielbewunderte Mohnsamenspalter. Er
hatte auch die nach ihm benannte Raupenfalle erfunden und ein sehr zweck-
mäßiges Ameiseneisen, mit dem er einen von dem Könige ausgesetzten
Preis gewann. Dieser nun machte sich anheischig, in fünf Tagen eine
Maschine zum Öffnen der Auster zu erbauen. Zwar hatte er sich vorher
an so große Dinge noch nicht gewagt, er war aber guten Mutes, und
nachdem der König auf sein Anerbieten eingegangen war und sie alles
beredet hatten, machte er sich ans Werk und brachte richtig in fünf Tagen
eine Vorrichtung zustande, von der er sich den gewünschten Erfolg ver-
sprach. Das Ganze ging darauf hinaus, daß mit Anwendung von zwei-
hundertfünfzig Mäusekrüften ein starker eiserner Keil zwischen die beiden
Schalen der Auster getrieben werden sollte; in dem Geschick aber, mit dem
er diese ungeheure Kraft anbrachte und wirken ließ, zeigte sich die ganze
Kunst des Erfinders.
Die Aufregung am Hofe und im Volke war groß, und man sprach
von nichts anderm als von Spintifex und seiner Austeröffnungsmaschine.
Mau hörte sehr verschiedene Urteile darüber. Diejenigen, die viel von ihm
hielten und ihm wohlwollten, waren davon überzeugt, daß er alles aufs
beste zustande bringen würde, und dann würde er ja wohl zum Hofmaschinen-
meister ernannt werden. Andere aber, die ihn um seinen Ruhm beneideten,
sagten voraus, daß alles schief gehen werde. Dann sei natürlich seines
102
Bleibens am Hofe nicht länger, und er könnte noch froh sein, wenn er
nicht ins Gefängnis gesetzt würde.
5.
Der große Tag, an dem die Maschine ihre Probe bestehen sollte, kam
heran. Spintifex verteilte seine Leute und ordnete alles an, was er für
nötig hielt. Rings um die Auster herum stellte er auf erhöhten Stand-
orten eine große Anzahl von Speerschützen auf. Diese sollten, sowie die
Auster sich auftüte und ihre Schalen auseinanderklappte, mit Speeren nach
ihr werfen und sie erlegen, ehe sie Zeit hätte, herauszuspringen. Für den
König war ein Thron errichtet, von dem er alles bequem besehen konnte,
ohne dabei in Gefahr zu geraten — so meinte Spintifex wenigstens; die
andern konnten sich hinstellen, wo sie wollten, vorausgesetzt, daß sie die
zum Schutz der Zuschauer gezognen Schranken nicht überschritten. Der
Zudrang war gewaltig.
Um die bestimmte Stunde gab der König das Zeichen, daß die Sache
vor sich gehen sollte. Sofort erteilte Spintifex der Bedienungsmannschaft
die nötigen Befehle, und die Maschine sing an zu wirken. Es vergingen einige
Minuten, während welcher man eine Mücke husten und die Marienkäferchen
lachen hören konnte. Dann erfolgte ein furchtbarer Knall, und im Augen-
blick darauf lag das Ungetüm mit aufgeklappten Schalen da. Kaum war
das geschehen, so warfen auch die sämtlichen Schützen schon ihre Speere,
und die meisten verfehlten ihr Ziel nicht.
Als der große Krach erfolgte, flüchteten alle Zuschauer von ihren
Plätzen und verkrochen sich unter das Farnkraut oder suchten Schutz hinter
Steinen. Auch der König verließ seinen Thron und stellte sich hinter den-
selben; da aber alles ruhig blieb, gewann er bald seine Fassung wieder
und näherte sich sogar mit Kühnheit dem Ungeheuer, das, gespickt mit einer
Unzahl der aus feinem Waldgrase verfertigten Speere, in einer Vertiefung
seiner unteren Schale dalag.
6.
Was für ein sonderbares Ungeheuer! Es hatte weder Augen noch
einen Mund oder Schnabel, noch auch Füße. Schon deshalb erschien es
wenig gefährlich, aber es war auch gänzlich regungslos. Offenbar lebte es
nicht mehr, durch die Speerwürfe war es getötet worden. Der König be-
glückwünschte den trefflichen Spintifex zum Gelingen seines Werkes und
ernannte ihn auf der Stelle zum Oberhofmaschinenmeister.
Alles drängte sich heran, um das erlegte Ungeheuer anzustaunen. Es
wurde, nachdem die Speere herausgezogen waren, auf Befehl des Königs
in drei gleiche Teile zerlegt. Die Leute, die dies ausführten, hatten, um
auf der glatten Oberfläche des Untiers nicht auszugleiten, Schuhe mit
103
eisernen Spitzen unter den Hacken angelegt, wie man sie zum Gehen aus
dem Eise gebraucht, die Teilung aber bewerkstelligten sie mit großen Beilen.
Mit den drei Teilen der Auster geschah folgendes: Das eine Drittel wurde
sofort zubereitet und kam noch an demselben Tage aus die königliche Tafel,
das zweite Drittel wurde sauer eingekocht und in Steintöpfe gefüllt, das
dritte wurde geräuchert.
Der Koch hatte seine Sache sehr gut gemacht. Unter Zutat von
Safran, Ingwer, Basilikum, Psop, Muskatnuß und einigen andern Kräutern
und Würzen hatte er aus dem einem Austerdrittel ein Frikassee hergestellt,
das für siebenundzwanzig Personen ausreichte und allen trefflich mundete.
Wenigstens taten alle so, als schmeckte es ihnen herrlich, in der Tat ward
es einigen nicht ganz leicht, die seltne Speise hinabzuwürgen. Getrunken
wurden dazu, außer einem Füßchen alten Blaubeerweins und einem Füßchen
Johannisbeerweins, achtundzwanzig Flaschen Erdbeerchampagner.
7.
Am andern Tage ging der König zu rat mit sich, welch ein Gegen-
geschenk er wohl der Königin Flundra machen könnte. Lange sann er
umsonst nach, endlich siel ihm etwas Gescheites ein. Vor einigen Tagen
hatte er auf der Jagd mit seinen Leuten nach schwerem Kampfe ein sehr
wildes und schreckliches Tier erlegt, das die Zwerge Lindwurm, die Menschen
aber Maulwurfsgrille nennen. Dies erschlagne Ungeheuer lag noch im
Schloßhof, der König aber entschied sich dafür, es ungesäumt der See-
fürstin als Gegengabe zu schicken. „Denn es ist," sagte er zu sich, „unzweifel-
haft ein ebenso merkwürdiges Landtier als die Auster ein Seetier."
Sofort wurde eine Gesandtschaft mit dem toten Lindwurm nach dem
Seestrande abgeschickt. Man folgte den noch deutlich erkennbaren Geleisen,
die der Lastwagen, auf dem die Auster nach Kruppunderheim gekommen
war, in die Erde gefahren hatte. Der Weg ging über den Pimpinellen-
paß und Ouaduxendorf. Zwischen Zaunkönigshausen und dem Ort, der
„die drei Glocken" genannt wird, mußte ein großer Umweg durch einen
dichten Thymianwald gemacht werden, weil eine Ringelnatter die Heerstraße
verlegt hatte. Nahe dem Strande geriet man in ein furchtbares Dickicht
von sehr stachligem Strauchwerk, das ganz wie aus grünein Glase gebildet
zu sein schien, und mehrere von der Gesandtschaft trugen erhebliche Ver-
letzungen davon.
Wo die Wagengeleise sich im feuchten Seesande verliefen, legte man
den Lindwurm nieder und kehrte um. Als man sieben Tage darauf wieder
nachsah, war das Untier verschwunden. Ohne Zweifel hatte die Fürstin
es durch ihre Leute abholen lassen. Johannes Trojan.
104
96. Von Himmel und Hölle,
i.
Es war um die Zeit, wo die Erde am allerschönsten ist und
es dem Menschen am schwersten fällt zu sterben; denn der Flieder
blühte schon, und die Rosen hatten dicke Knospen. Da zogen zwei
Wandrer die Himmelsstraße entlang, ein Armer und ein Reicher.
Die hatten auf Erden dicht beieinander in derselben Straße gewohnt,
der Reiche in einem großen, prächtigen Hause und der Arme in einer
kleinen Hütte. Weil aber der Tod keinen Unterschied macht, so war
es geschehen, daß sie beide zu derselben Stunde starben.
Da waren sie nun auf der Himmelsstraße auch wieder zusammen-
gekommen und gingen schweigend nebeneinander her.
Doch der Weg wurde steiler und steiler, und dem Reichen begann
es bald blutsauer zu werden; denn er war dick und kurzatmig und in
seinem Leben noch nie so weit gegangen. Da trug es sich zu, daß
der Arme bald einen guten Vorsprung gewann und zuerst an der
Himmelspforte ankam. Weil er sich aber nicht getraute anzuklopfen,
setzte er sich still vor der Pforte nieder und dachte: „Du willst auf
den reichen Mann warten; vielleicht klopft der an."
Nach langer Zeit langte der Reiche auch an, und als er die Pforte
verschlossen fand und nicht gleich jemand aufmachte, fing er laut an
zu rütteln und mit der Faust dranzuschlagen. Da stürzte Petrus
eilends herbei, öffnete die Pforte, sah sich die beiden an und sagte zu
dem Reichen: „Das bist du gewiß gewesen, der es nicht erwarten
konnte. Ich dächte, du brauchtest dich nicht so breit zu machen. Viel
Gescheites haben wir hier oben von dir nicht gehört, solange du aus
der Erde gelebt hast!"
Da fiel dem Reichen gewaltig der Mut; doch Petrus kümmerte
sich nicht weiter um ihn, sondern reichte dem Armen die Hand, damit
er leichter aufstehen könnte, und sagte: „Tretet nur alle beide ein
in den Vorsaal; das Weitere wird sich schon finden!"
Und es war auch wirklich noch gar nicht der Himmel, in den sie
jetzt eintraten, sondern nur eine große, weite Halle mit vielen ver-
schlossenen Türen und mit Bänken an den Wänden.
„Ruht euch ein wenig aus," nahm Petrus wieder das Wort, „und
wartet, bis ich zurückkomme; aber benutzt eure Zeit gut, denn ihr sollt
euch mittlerweile überlegen, wie ihr es hier oben haben wollt! Jeder
von euch soll es genau so haben, wie er es sich selber wünscht. Also
bedenkt's, und wenn ich wiederkomme, macht keine Umstände, sondern
sagt's und vergeßt nichts; denn nachher ist's zu spät!"
Damit ging er fort. Als er dann nach einiger Zeit zurückkehrte
105
und fragte, ob sie fertig mit Überlegen wären, und wie sie es sich in
der Ewigkeit wünschten, sprang der reiche Mann von der Bank auf
und sagte, er wolle ein großes, goldenes Schloß haben, so schön, wie
der Kaiser keins hätte, und jeden Tag das beste Essen; früh Schoko-
lade und mittags einen Tag um den anderen Kalbsbraten mit Apfel-
mus und Milchreis mit Bratwürsten und nachher rote Grütze. Das
wären seine Leibgerichte. Und abends jeden Tag etwas anderes. Weiter
wolle er dann einen recht schönen Großvaterstuhl und einen grün-
seidenen Schlasrock; und das Tageblüttchen solle Petrus auch nicht
vergessen, damit er doch wisse, was vorgehe.
Da sah ihn Petrus mitleidig an, schwieg lange und fragte endlich:
„Und weiter wünscht du dir nichts?" — „O ja!" fiel rasch der
Reiche ein, „Geld, viel Geld, alle Keller voll; so viel, daß man es
gar nicht zählen kann!"
„Das sollst du alles haben," entgegnete Petrus; „komm, folge
mir!" Und er öffnete eine der vielen Türen und führte den Reichen
in ein prachtvolles, goldenes Schloß; darin war alles so, wie jener
es sich gewünscht hatte. Nachdem er ihm alles gezeigt, ging er fort
und schob vor das Tor des Schlosses einen großen eisernen Riegel.
Der Reiche aber zog sich den grünseidenen Schlafrock an, setzte sich in
den Großvaterstuhl, aß und trank und ließ sich's gut gehen, und wenn
er satt war, las er das Tageblättchen. Und jeden Tag einmal stieg
er hinab in den Keller und besah sein Geld.--------
II.
Und zwanzig und fünfzig Jahre vergingen und wieder fünfzig,
so daß es hundert waren — und das ist doch nur eine Spanne von
der Ewigkeit — da hatte der reiche Mann sein prächtiges, goldenes
Schloß schon so überdrüssig, daß er es kaum mehr aushalten konnte.
„Der Kalbsbraten und die Bratwürste werden auch immer schlechter,"
sagte er, „sie sind gar nicht mehr zu genießen!" Aber es war nicht
wahr, sondern er hatte sie nur satt. „Und das Tageblättchen lese
ich schon lange nicht mehr," fuhr er fort; „es ist mir ganz gleichgültig,
was sich da unten auf der Erde zuträgt. Ich kenne ja keinen einzigen
Menschen mehr. Meine Bekannten sind schon längst alle gestorben.
Die Menschen, die jetzt leben müssen, machen so närrische Streiche
und schwatzen so sonderbares Zeug, daß es einem schwindlig wird,
wenn man's liest."
Daraus schwieg er und gähnte, denn es war sehr langweilig; und
nach einer Weile sagte er wieder: „Mit meinem vielen Gelde weiß
ich auch nichts anzufangen. Wozu hab' ich's eigentlich? Man kann
sich hier doch nichts kaufen. Wie ein Mensch nur so dumm sein kann
106
und sich Geld im Himmel wünschen!" Dann stand er auf, öffnete
das Fenster und sah hinaus.
Aber obfchon es in dem Schlosse überall hell war, so war es doch
draußen stockdunkel; stockdunkel, so daß man die Hand vorm Auge
nicht sehen konnte, stockdunkel Tag und Nacht, jahraus, jahrein und so
still wie auf dem Kirchhof. Da schloß er das Fenster wieder und
setzte sich aufs neue in seinen Großvaterstuhl; und jeden Tag stand
er ein- oder zweimal auf und sah wieder hinaus. Aber es war noch
immer so. Und immer früh Schokolade und mittags einen Tag um
den anderen Kalbsbraten mit Apfelmus und Milchreis mit Brat-
würsten und nachher rote Grütze; immerzu, immerzu, einen Tag wie
den anderen. —
Als jedoch tausend Jahre vergangen waren, klirrte der große
eiserne Riegel am Tor, und Petrus trat ein. „Nun," fragte er, „wie
gefällt es dir?"
Da wurde der reiche Mann bitterböse: „Wie mir's gefällt?
Schlecht gefällt mir's; ganz schlecht! So schlecht, wie es einem nur
in so einem nichtswürdigen Schlosse gefallen kann! Wie kannst du
dir nur denken, daß man es hier tausend Jahre aushalten kann! Man
hört nichts, man sieht nichts; niemand bekümmert sich um einen.
Nichts wie Lügen sind es mit eurem vielgepriesenen Himmel und mit
eurer ewigen Glückseligkeit. Eine ganz erbärmliche Einrichtung ist es!"
Da blickte ihn Petrus verwundert an und sagte: „Du weißt
wohl gar nicht, wo du bist? Du denkst wohl, du bist im Himmel?
In der Hölle bist du. Du hast dich ja selbst in die Hölle gewünscht.
Das Schloß gehört zur Hölle."
„Zur Hölle?" wiederholte der Reiche erschrocken. „Das hier ist
doch nicht die Hölle? Wo sind denn der Teufel und das Feuer und
die Kessel?"
„Du meinst wohl," entgegnete Petrus, „daß die Sünder jetzt
immer noch gebraten werden wie früher? Das ist schon lange nicht
mehr so. Aber in der Hölle bist du, verlaß dich darauf, und zwar
recht tief drin, so daß du einen schon dauern kannst. Mit der Zeit
wirst du's wohl selbst inne werden."
Da fiel der reiche Mann entsetzt rückwärts in seinen Großvater-
stuhl, hielt sich die Hände vors Gesicht und schluchzte: „In der Hölle,
in der Hölle! Ich armer, unglücklicher Mensch, was soll aus mir
werden?"
Aber Petrus machte die Tür auf und ging fort, und als er den
eisernen Riegel draußen wieder vorschob, hörte er drinnen den Reichen
immer noch schluchzen: „In der Hölle, in der Hölle! Ich armer,
unglücklicher Mensch, was soll aus mir werden?"
107
III.
Und wieder vergingen hundert Jahre und aber hundert, und.
die Zeit wurde dem reichen Manne so entsetzlich lang, wie niemand
es sich auch nur denken kann. Und als das zweite Tausend zu Ende
kam, trat Petrus abermals ein. „Ach!" rief ihm der reiche Mann
entgegen, „ich habe mich so sehr nach dir gesehnt! Ich bin sehr
traurig! Und so wie jetzt soll es immer bleiben? Die ganze Ewigkeit?"
Und nach einer Weile fuhr er fort: „Heiliger Petrus, wie lang ist
wohl die Ewigkeit?"
Da antwortete Petrus: „Wenn noch zehntausend Jahre ver-
gangen sind, fängt sie an."
Als der Reiche dies gehört, ließ er den Kopf auf die Brust
sinken und begann bitterlich zu weinen. Aber Petrus stand hinter
seinem Stuhle und zählte heimlich seine Tränen; und als er sah,
daß es so viele waren, daß ihm der liebe Gott gewiß verzeihen würde,
sprach er: „Komm, ich will dir einmal etwas recht Schönes zeigen!
Oben auf dem Boden weiß ich ein Astloch in der Wand; da kann
man ein wenig in den Himmel hineinsehen."
Damit führte er ihn die Bodentreppe hinauf und durch allerhand
Gerümpel bis zu einer kleinen Kammer. Als sie in diese eintraten,
fiel durch das Astloch ein goldener Strahl hindurch, dem heiligen
Petrus gerade auf die Stirn, so daß es aussah, als wenn Feuer-
flammen auf ihr brennten.
„Das ist vom wirklichen Himmel?" sagte der reiche Mann
zitternd. „Ja," erwiderte Petrus: „Nun sieh einmal durch!" Aber
das Astloch war etwas hoch oben an der Wand und der reiche Mann
nicht sehr groß, so daß er kaum hinaufreichte. „Du mußt dich recht
lang machen und ganz hoch auf die Zehen stellen," sagte Petrus. Da
strengte sich der Reiche so sehr an, als er nur irgend konnte, und als
er endlich durch das Astloch hindurchblickte, sah er wirklich in den
Himmel hinein.
Da saß der liebe Gott auf seinem goldenen Thron zwischen den
Wolken und den Sternen in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit und
um ihn her alle Engel und Heiligen. „Ach," rief er aus, „das ist ja
so wunderbar schön und herrlich, wie man es sich auf der Erde gar nicht
vorstellen kann. Aber sage, wer ist denn das, der dem lieben Gott
zu Füßen sitzt und mir gerade den Rücken zukehrt?"
„Das ist der arme Mann, der auf der Erde neben dir gewohnt
hat und mit dem du zusammen heraufgekommen bist. Als ich euch
auftrug, es euch auszudenken, wie ihr es in der Ewigkeit haben wolltet,
hat er sich bloß ein Fußbünkchen gewünscht, damit er sich dem lieben
108
Gott zu Füßen setzen könne. Und das hat er bekommen, genau so
wie du dein Schloß." —-
Als er dies gesagt hatte, ging er still fort, ohne daß es der Reiche
merkte. Denn der stand immer noch ganz still auf den Fußspitzen
und blickte in den Himmel hinein und konnte sich nicht satt sehen.
Zwar fiel es ihm recht schwer; denn das Loch war sehr hoch oben,
und er mußte fortwährend auf den Zehen stehen; aber er tat es gern,
denn es war zu schön, was er sah.
Und nach abermals tausend Jahren kam Petrus zum letztenmal.
Da stand der reiche Mann immer noch in der Bodenkammer an der
Wand auf den Fußspitzen und schaute unverwandt in den Himmel
hinein und war so ins Sehen versunken, daß er gar nichts merkte,
als Petrus eintrat.
Endlich legte ihm aber Petrus die Hand auf die Schulter, daß
er sich umdrehte und sagte: „Komm mit, du hast nun lange genug
gestanden! Deine Sünden sind dir vergeben; ich soll dich in den
Himmel holen. Nicht wahr, du hättest es viel bequemer haben können,
wenn du nur gewollt hättest?"
Richard von Volkmann-Leander.
07. Der Schwanritter.
1. Herzog Gottfried von Brabant war gestorben, ohne männliche
Erben zu hinterlassen; er hatte aber in einer Urkunde gestiftet, daß
sein Land der Herzogin und seiner Tochter verbleiben sollte. Hieran
kehrte sich jedoch Gottfrieds Bruder, der mächtige Herzog von
Sachsen, wenig, sondern bemächtigte sich, aller Klagen der Witwe
und Waise unerachtet, des Landes, das nach deutschem Rechte auf
keine Weiber erben könne.
2. Die Herzogin beschloß daher, bei dem König zu klagen; und
als bald darauf Karl nach Niederland zog und einen Tag zu Neu-
magen am Rheine halten wollte, kam sie mit ihrer Tochter dahin
und begehrte Recht. Dahin war auch der Herzog von Sachsen ge-
kommen und wollte der Klage zu Antwort stehen. Es ereignete
sich aber, daß der König durch ein Lenster schaute; da erblickte
er einen weißen Schwan, der schwamm den Rhein herdan und zog
an einer silbernen Kette, die hell glänzte, ein Schifflein nach sich;
in dem Schiff aber ruhte ein schlafender Ritter, sein Schild war sein
Hauptkissen, und neben ihm lagen Helm und Halsberg; der Schwan
steuerte gleich einem geschickten Seemann und brachte sein Schiff
an das Gestade. Karl und der ganze Hof verwunderten sich höch-
lich ob diesem seltsamen Ereignis; jedermann vergaß der Klage der
Erauen und lief hinab dem Ufer zu. Unterdessen war der Ritter
erwacht und stieg aus der Barke; wohl und herrlich empfing ihn der
König, nahm ihn selbst zur Hand und führte ihn gegen die Burg.
Da sprach der junge Held zu dem Vogel: „Flieg deinen Weg wohl,
lieber Schwan! Wann ich dein wieder bedarf, will ich dich schon
rufen.“ Sogleich schwang sich der Schwan und fuhr mit dem
Schifflein aus aller Augen weg. Jedermann schaute den fremden
Gast neugierig an; Karl ging wieder ins Gestühl zu seinem Gericht
und wies jenem eine Stelle unter den anderen Fürsten an.
3. Die Herzogin von Brabant, in Gegenwart ihrer schönen Tochter,
hub nunmehr ausführlich zu klagen an, und hernach verteidigte sich
auch der Herzog von Sachsen. Endlich erbot er sich zum Kampf
für sein Recht, und die Herzogin solle ihm einen Gegner stellen, das
ihre zu bewähren. Da erschrak sie heftig; denn er war ein auser-
wählter Held, an den sich niemand wagen würde; vergebens ließ sie
im ganzen Saale die Augen umgehen, keiner war da, der sich ihr
erboten hätte. Ihre Tochter klagte laut und weinte; da erhob sich
der Ritter, den der Schwan ins Land geführt hatte, und gelobte, ihr
Kämpfer zu sein. Hierauf wurde sich von beiden Seiten zum Streit
gerüstet, und nach einem langen und hartnäckigen Gefecht war der
Sieg endlich auf Seiten des Schwanritters. Der Herzog von Sachsen
verlor sein Leben, und der Herzogin Erbe wurde wieder frei und
ledig. Da neigten sie und die Tochter sich dem Helden, der sie erlöst
hatte, und er nahm die ihm angetragene Hand der Jungfrau mit
dem Beding an, daß sie nie und zu keiner Zeit fragen solle, woher
er gekommen und welches sein Geschlecht sei; denn sonst müsse sie
ihn verlieren. '
4. Der Herzog und die Herzogin bekamen zwei Kinder, die waren
wohl geraten; aber immer mehr fing es an, ihre Mutter zu drücken,
daß sie gar nicht wußte, wer ihr Vater war; und endlich tat sie an
ihn die verbotene Frage. Der Ritter erschrak herzlich und sprach:
„Nun hast du selbst unser Glück zerbrochen und mich am längsten
gesehen.“ Die Herzogin bereute es, aber zu spät, alle Leute fielen
zu seinen Füßen und baten ihn zu bleiben. Der Held waffnete sich,
und der Schwan kam mit demselben Schifflein geschwommen; dar-
auf küßte er beide Kinder, nahm Abschied von seinem Gemahl und
segnete das ganze Volk; dann trat er ins Schiff, fuhr seine Straße
und kehrte nimmer wieder. Der Frau ging der Kummer zu Bein
und Herzen, doch zog sie fleißig ihre Kinder auf. Aus dem Samen
dieser Kinder stammen viele edle Geschlechter, die von Geldern so-
wohl als Cleve, auch die Rieneker Grafen und manche andere; alle
führen den Schwan im Wappen.
Brüder Grimm.
110
98. Der Schäferkönig.
Aus fahler Heide erhebt ein einsamer Heidhügel, der höchste Punkt
weit und breit, seinen braunen Kopf. Kurzgeschoren haben Schnucken-
mäuler seine braunen Locken; die Nagelschuhe der Heidbauern haben
quer dadurch einen weißen Scheitel gezogen.
Am Grunde des braunen Hügels, rechts und links von dem hellen,
schmalen Fußpfade, liegen zwei große, mannshohe, von den grünen
Ranken der Krähenbeere am Grunde umsponnene, mit grauen Flechten
bedeckte Steinblöcke, einer licht, einer düster. Zwischen ihnen und der
Kuppe des Hügels, mitten in dem Fußpfade, der sich hier verbreitert,
steht eine hohe, dicke, zerzauste Hängebirke.
Ilm den Hügel breitet sich ein ebenes Feld aus, von Heide und
kurzem, büscheligem Grase bedeckt, bestockt mit Hunderteu und Hunder-
ten struppiger Wacholdersträucher. Weit und breit ist kein Hügel wie
dieser Hügel, keine Birke wie diese Birke, kein Wacholderfeld wie dieses
Hier, kein Findlingspaar wie dieses.
Wenn ich auf dem Hügel im kurzen Heidekraut lag nach dem
Frühanstand, mit Hund und Büchse, und die steif gefrorenen Glieder
sonnte, dann hab' ich mich immer gefragt, warum es weit und breit
nichts Ähnliches gibt; ich konnte es mir nicht erklären. Der Lehrer
im Dorfe da unten, der Steine und Blumen sammelt, sagte mir, früher
hätteu hier mehr Birken gestanden, wären hier mehr große Wander-
steine gewesen; die Bauern hätten die Birken geschlagen, und die Steine
für die Wegebauten zerschossen.
Jetzt liege ich wieder auf dem Hügel und träume hinaus; Nord-
westwind schleudert scharfe Tropfen über die Moorebene, graue Wolken
drängen sich am Himmel und hängen tief herab, kein blaues Fleckchen:
schaut aus ihnen hervor! Unter mir schwenkt die alte Birke mit
stummem Wehklagen die langen, dünnen Zweige, langt in herz-
zerreißend sehnsuchtsvollen Bewegungen damit nach den Wacholder-
büschen, die in wildem Sturme zucken und zappeln, als wollten sie sich
losreißen aus dem blaugrauen Grase. Das langt und greift mit
dürrer Händen so jammervoll hoffnungslos hinab, das ringt und drängt
mit grünen Leibern so willig folgsam hinauf.
Wütender wird der Sturm. Die Birkruten fahren hoch in die
Luft und fallen auf die Spitze des Baumes nieder wie Hände eines
Verzweifelten, der sich das Haar ausraufen will. Und jetzt beugt sich
der Baum, als wollte er hinab zu den Wacholdern; die Äste reiben
sich, daß es gellend pfeift, so gellend, so grell, wie der Pfiff des Heid-
schäfers durch zwei Finger. Dieser gelle, grelle, schneidende Pfiff gibt
mir Antwort auf meine stumme Frage.
111
Es war einmal ein reicher Schäfer, dem gehörte weit und breit
hier alles Land. Würziges Gras bedeckte statt der dürren Heide die
Flächen, statt des sauren Rischs das Gelände. Tausende von Schafen
waren sein, nicht magere, ärmliche Schnucken, nein, hohe, feinwollige,
stolze Tiere, mit Vließen wie Seide. Hier, wo der Hügel sich erhebt,
stand sein Haus, aus behauenen Steinen festgefügt, nicht ärmlicher
Art aus Ortstein und rohen Stämmen wie der übrigen Bauern Hütten.
Darum hießen sie ihn den Schüferkönig.
Sein Reichtum aber tötete seine Seele und härtete sein Herz.
Wenn die anderen Bauern und Schäfer an den heiligen Tagen den
Göttern im Schatten der Eichkämpe auf heiligem Stein Pferdeopfer
brachten oder mit lodernden Holzstößen die Erhabenen priesen, dann
lachte er und schalt sie Toren und Tröpfe. Als seine Knechte von den
Opferstätten die heiligen Mährenschädel heimtrugen und sie an die
Giebel seines Hauses hingen, stieß er mit seinem silberbeschlagenen
Hütestock die Opfergedenken herab und schleuderte sie in die Herd-
flamme. Wenn Wode in stürmischen Herbstnächten in den Wolken
weidwerkte mit Hussa und Horridoh und Hu und Hatz, dann schloß der
Schäferkönig nicht Tor und Luke und legte sich zur Ruhe, sondern
frech trat er in das Tor und lauschte dem Gejaid der Himmlischen. Die
klugen Männer, die weisen Frauen warnten ihn, doch er lachte über
ihre Warnworte.
Einst stand er an einem heißen Sommertage vor seinem Stein-
hause; zu seinen Füßen lagen seine Lieblingshunde Donner und Blitz,
weiß der eine, schwarz der andere. Da zog es schwarz herauf mit
weißen Wetterköpfen in Ost und West, Süd und Nord. Der Schäfer-
könig setzte seine silberne Pfeife an den Mund und pfiff in alle vier
Winde, daß es gellend nach Ost und West, Süd und Nord hinausklang;
da trieben seine Knechte die Herden von allen Richtungen heran, daß
es krimmelte und wimmelte wie ein Meer.
Immer schwärzer wurden die Wolken, immer gelber die Flecken
darin, immer lauter der Donner; die Knechte fielen ihrem Herrn zu
Füßen und flehten ihn an: „Herr, opfere dem Tor, daß er seinen
Steinhammer nicht nach uns werfe!" Der Schüferkönig aber lachte
und schalt.
Da knallte es, als wäre die Erde geborsten, da lohte es, als wäre
das unterirdische Feuer hervorgebrochen, und nach allen Richtungen
hin stoben die Herden auseinander, stürzten in Gräben, sanken in die
Tränken, stolperten über Heck und Steg. Der Schüferkönig schrie nach
seinen Knechten; die aber murrten, ließen die Herden im Stich und
rannten zum heiligen Hain, dem zürnenden Gotte zu opfern. Da winkte
der Schäferkönig seinen Lieblingshunden Donner und Blitz, daß sie
112
die Herden in die Ställe trieben; aber winselnd umkrochen sie seine
Füße und rührten sich nicht vom Fleck.
Schwarz wie die Nacht ward es ringsumher und hell wie der Tag
dazwischen; Blitz um Blitz fuhr grell von Ost und West, Süd und
Nord herab, vier Donnerschläge zugleich ertönten jedesmal dabei. Wie
Spreu im Winde stoben die Herden auseinander. Der Schäferkönig
stieß einen schrecklichen Fluch aus; er drohte mit seinem silberbe-
schlagenen Hütestock zum Himmel hinauf und rief: „Tor, bist du kein
Unhold, so banne mir die Schafe! Aber das vermagst du nicht, du
Segenvernichter!"
Das Dunkel verschwand, licht wurde der Himmel, still der Donner;
stolz wie ein Sieger schaute der Schäferkönig um sich, aber Grauen
verzerrte sein hartes Gesicht: vor seinen Augen schlugen seine Schafe
Wurzel, ihr seidenes Vlies wuchs aus zu struppigem Grün; Tausende
von Wacholderbüschen, eine grüne Riesenherde, bedeckten das Land.
Da schwand des harten Mannes Stolz; er brach in die Knie,
raufte sein Haar, streckte seine Arme nach seinen Herden aus und
schrie und weinte und lachte. Und dann riß er vom Ledergurt das
blanke Schlachtmesser und zückte es verzweifelt gegen seine Kehle. Aber
sein Arm blieb starr, wandelte sich um in einen krummen Ast, seine
Finger in dünne Ruten, seine Füße schlugen Wurzeln, eine mächtige
Birke erhob sich an Stelle des Schäserkönigs. Donner und Blitz,
seine Lieblingshunde, wurden verzaubert in zwei Riesensteine, hell der
eine, düster der andere. Das steinerne Haus polterte zusammen, ein
Trümmerhaufen, den Heide iiberwuchs.
Zum Heidhügel ist des Schäferkönigs Heim geworden, zur Birke
der stolze Mann, zu Steinblöcken seine Hunde, zu Wacholderbüschen
seine Herde.
Wenn der Sturm über die Heide fährt, dann ringt die Birke die
Zweige, rauft mit ihren Ruten ihr Haar, langt und greift verzweifelt
um sich und pfeift gellend den Steinen, die an ihren Wurzeln liegen.
Und die grüne Heide hört den Pfiff und will ihm folgen und
ruckt und zerrt an ihren Wurzeln.
Hermann Löns.
99. Alte Legende.
Als der Herr in Gethsemane
auf Knien lag im schwersten Weh,
als er sich hob, nach den Jüngern zu schauen,
ließ er die Tränen niedertauen;
113
er fand sie schlafend, und mit den Genossen
hatte selbst Petrus die Augen geschlossen.
Zum zweitenmal sucht er die Seinen dann,
die liegen noch immer in Traumes Bann.
Und zum dritten, allein im Schmerz,
zeigt er Gott das kämpfende Herz.
Hie heilige Stirn wird ihm feucht und naß.
„Mein Vater, ist es möglich, daß . . .“
Und durch ein Gartenmauerloch
schlüpft’ ein zottig Hündchen und kroch
dem Heiland zu Füßen und schmiegt sich ihm an,
als ob es ihm helfen will und kann.
Und der Herr hat mild lächelnd den Trost gespürt,
und er nimmt’s und drängt’s an die Brust gerührt
und muß es mit seiner Liebe umfassen,
die Menschen hatten ihn verlassen.
Detlev v. Liliencron.
100. Der Kreuzschnabel.
1. Als der Heiland litt am Kreuze,
himmelwärts den Blick gewandt,
fühlt er heimlich sanftes Zuckert
an der stahldurchbohrten Hand.
2. Hier, von allen ganz verlassen,
sieht er eifrig mit Bemüh'n
an dem einen starken Nagel
ein barmherzig Vöglein ziehn.
3. Blutbetränft und ohne Rasten,
mit dem Schnabel zart und klein,
möcht' den Heiland es vom Kreuze,
seines Schöpfers Sohn, befrein.
4. Und derHeiland spricht in Milde:
„Sei gesegnet für und für!
Trag das Zeichen dieser Stunde
ewig, Blut und Kreuzeszier!
5. Kreuzesschnabel heißt das Vöglein;
ganz bedeckt von Blut so klar,
singt es tief im Fichtenwalde
märchenhaft und wunderbar.
Julius Mosen.
101. Die Flucht nach Ägypten.
1. Fern in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen,
vielen Jahren eine Palme, die ungeheuer alt und ungeheuer hoch war.
Alle, die durch die Wüste zogen, mußten stehen bleiben und sie betrachten,
denn sie war viel größer als andere Palmen, und man pflegte von ihr
zu sagen, daß sie sicherlich höher würde als Obeliske und Pyramiden.
2. Wie nun diese große Palme in ihrer Einsamkeit dastand und
Kappet, u. Koch. Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 8
114
hinaus über die Wüste schaute, sah sie eines Tages etwas, was sie
dazu brachte, ihre gewaltige Blätterkrone vor Staunen auf dem schmalen
Stamm hin und her zu wiegen. Dort am Wüstenrande kamen zwei
einsame Menschen herangewandert. Sie waren noch in der Entfernung,
in der Kamele so klein wie Ameisen erscheinen, aber es waren sicher-
lich zwei Menschen, zwei, die Fremdlinge in der Wüste waren; dem:
die Palme kannte das Wüstenvolk, ein Mann und ein Weib, die weder
Wegweiser noch Lasttiere hatten, weder Zelte noch Wassersäcke. „Wahr-
lich," sagte die Palme zu sich selbst, „diese beiden sind hergekommen,
um zu sterben." Die Palme warf rasch Blicke um sich. „Es wundert
mich," fuhr sie fort, „daß die Löwen nicht schon zur Stelle sind, um
diese Leute zu erjagen. Aber ich sehe keinen einzigen in Bewegung.
Auch keinen Räuber der Wüste sehe ich. Aber sie kommen wohl noch.
Ihrer harrt ein siebenfältiger Tod", dachte die Palme weiter. „Die
Löwen werden sie verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst sie
vertrocknen, der Sandsturm sie begraben, die Räuber werden sie fällen,
der Sonnenstich wird sie verbrennen, die Furcht sie vernichten."
3. Und sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Dieser Men-
schen Schicksal stimmte sie wehmütig. Aber im ganzen Umkreis der
Wüste, die unter der Palme ausgebreitet lag, fand sie nichts, was sie
nicht schon seit Tausenden von Jahren gekannt und betrachtet hätte.
Nichts konnte ihre Aufmerksamkeit fesseln. Sie mußte wieder an die
beiden Wanderer denken. „Bei der Dürre und dem Sturme!" sagte sie,
des Lebens gefährlichste Feinde anrufend, „was ist es, was dieses Weib
auf dem Arme trägt? Ich glaube gar, diese Toren führen auch ein
kleines Kind mit sich."
4. Die Palme, die weitsichtig war, wie es die Alten zu sein pflegen,
sah wirklich richtig. Die Frau trug auf dem Arme ein Kind, das den
Kopf an ihre Schulter gelehnt hatte und schlief. „Das Kind ist nicht
einmal hinlänglich bekleidet", fuhr die Palme fort. „Ich sehe, daß die
Mutter ihren Rock aufgehoben und es damit eingehüllt hat. Sie hat
es in großer Hast aus seinem Bette gerissen und ist mit ihm fortgestürzt.
Jetzt verstehe ich alles: Diese Menschen sind Flüchtlinge."
5. „Aber dennoch sind sie Toren", fuhr die Palme fort. „Wenn
nicht ein Engel sie beschützt, hätten sie lieber die Feinde ihr Schlimmstes
tun lassen sollen, statt sich hinaus in die Wüste zu begeben. Ich kann
mir denken, wie alles zugegangen ist: der Mann stand bei der Arbeit,
das Kind schlief in der Wiege, die Frau war ausgegangen, um Wasser
zu holen. Als sie zwei Schritte vor die Tür gemacht hatte, sah sie die
Feinde angestürmt kommen. Sie ist zurückgestürzt, sie hat das Kind an
sich gerissen, dem Manne zugerufen, er solle ihr folgen, und ist aufge-
brochen. Dann sind sie tagelang auf der Flucht gewesen, sie haben
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ganz gewiß keinen Augenblick geruht. Ja, so ist alles zugegangen, aber
ich sage dennoch, wenn nicht ein Engel sie beschützt — — —
6. Sie sind so erschrocken, daß sie weder Müdigkeit noch andere
Leiden fühlen können, aber ich sehe, wie der Durst aus ihren Augen
leuchtet. Ich kenne doch wohl das Gesicht eines dürstenden Menschen."
Und als die Palme an den Durst dachte, ging ein krankhaftes Zucken
durch ihren langen Stamm, und die zahllosen Spitzen ihrer langen
Blätter rollten sich zusammen, als würden sie über ein Feuer gehalten.
„Wäre ich ein Mensch," sagte sie, „ich würde mich nie in die Wüste
hinauswagen. Der ist gar mutig, der sich hierher wagt, ohne Wurzeln
zu haben, die hinunter zu den niemals versiegenden Wasseradern dringen.
Hier kann es gefährlich sein, selbst für Palmen, selbst für eine solche
Palme wie mich.
7. Wenn ich ihnen raten könnte, ich würde sie bitten, umzukehren.
Ihre Feinde können niemals so grausam gegen sie sein wie die Wüste.
Vielleicht glauben sie, daß es leicht sei, in der Wüste zu leben. Aber
ich weiß, daß es selbst mir zuweilen schwer gefallen ist, am Leben zu
bleiben. Ich weiß noch, wie einmal in meiner Jugend ein Sturmwind
einen ganzen Berg von Sand über mich schüttete. Ich war nahe daran
zu ersticken. Wenn ich hätte sterben können, wäre dies meine letzte
Stunde gewesen." Die Palme fuhr fort, laut zu denken, wie alle Ein-
siedler zu tun pflegen. „Ich höre ein wunderbar melodisches Rauschen
durch meine Krone eilen", sagte sie. „Die Spitzen aller meiner Blätter
müssen in Schwingungen beben. Ich weiß nicht, was mich beim Anblick
dieser armen Fremdlinge durchfährt. Aber dies betrübte Weib ist so
schön. Sie bringt mir das Wunderbarste, das ich erlebt, wieder in
Erinnerung."
8. Und während die Blätter fortfuhren, sich in einer rauschenden
Melodie zu regen, dachte die Palme daran, wie einmal, vor sehr langer
Zeit, zwei strahlende Menschen Gäste der Oase gewesen waren. Es war
die Königin von Saba, die hierher gekommen war, mit ihr der weise
Salomo. — Die schöne Königin wollte wieder heimkehren in ihr Land,
der König hatte sie ein Stück Weges geleitet, und nun wollten sie sich
trennen. — „Zur Erinnerung an diese Stunde," sagte da die Königin,
„pflanze ich einen Dattelkern in die Erde, und ich will, daß daraus
eine Palme werde, die wachsen und leben soll, bis im Lande Juda ein
König ersteht, der größer ist als Salomo." Und als sie dieses gesagt
hatte, senkte sie den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn.
„Woher mag es kommen, daß ich just heute daran denke?" fragte sich
die Palme. „Sollte diese Frau so schön sein, daß sie mich an die
herrlichste der Königinnen erinnert, an sie, auf deren Wort ich erwachsen
bin und gelebt habe bis zum heutigen Tage?"
8*
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9. „Ich höre meine Blätter immer stärker rauschen," sagte die
Palme, „und es klingt wehmütig wie ein Totengesang. Es ist, als
weissagten sie, daß jemand bald aus dem Leben scheiden müsse. Es ist
gut, zu wissen, daß es nicht mir gilt, da ich nicht sterben kann." Die
Palme nahm an, daß das Todesrauschen in ihren Blättern den beiden
einsamen Wanderern gelten müsse. Sicherlich glaubten auch diese selbst,
daß ihre letzte Stunde nahe. Man sah es an dem Ausdruck ihrer Züge,
als sie an einem der Kamelskelette vorüberwanderten, die den Weg um-
grenzten. Man sah es an den Blicken, die sie ein paar vorbeifliegenden
Geiern nachsandten. Es konnte ja nicht anders sein, sie waren verloren.
10. Sie hatten die Palme und die Oase erblickt und eilten nun
darauf zu, um Wasser zu finden. Aber als sie endlich herankamen,
sanken sie in Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war ausgetrocknet.
Das ermattete Weib legte das Kind nieder und setzte sich weinend an
den Rand der Quelle. Der Mann warf sich neben ihr hin, er lag und
hämmerte mit beiden Fäusten auf die trockene Erde. Die Palme hörte,
wie sie miteinander davon sprachen, daß sie sterben müßten. Sie hörte
auch aus ihren Reden, daß König Herodes alle Kindlein im Alter von
zwei und drei Jahren hatte töten lassen, aus Furcht, daß der große
erwartete König der Juden geboren sein könnte. „Es rauscht immer
mächtiger in meinen Blättern," dachte die Palme, „diesen armen Flücht-
lingen schlägt bald ihr letztes Stündlein."
11. Sie vernahm auch, daß die beiden die Wüste fürchteten. Der
Mann sagte, es wäre besser gewesen, zu bleiben und mit den Kriegs-
knechten zu kämpfen, statt zu fliehen. Sie hätten so einen leichteren
Tod gefunden. „Gott wird uns beistehen", sagte die Frau. „Wir sind
einsam unter Raubtieren und Schlangen", sagte der Mann. „Wir
haben nicht Speise und Trank. Wie sollte Gott uns beistehen können?"
Er zerriß seine Kleider in Verzweiflung und drückte sein Gesicht auf
den Boden. Er war hoffnungslos wie ein Mann mit einer Todwunde
im Herzen. Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knien gefaltet.
Doch die Blicke, die sie über die Wüste warf, sprachen von einer Trost-
losigkeit ohne Grenzen.
12. Die Palme hörte, wie das wehmütige Rauschen in ihren
Blättern immer stärker wurde. Die Frau mußte es auch gehört haben,
denn sie hob die Augen zur Baumkrone auf. Und zugleich erhob sie
unwillkürlich ihre Arme und Hände. „O, Datteln, Datteln!" rief sie.
Es lag so große Sehnsucht in der Stimme, daß die alte Palme wünschte,
sie wäre nicht höher als der Ginsterbusch, und ihre Datteln so leicht
erreichbar, wie die Hagebutten des Dornenstrauchs. Sie wußte wohl,
daß ihre Krone voll von Dattelbüscheln hing, aber wie sollten wohl
Menschen zu so schwindelnder Höhe hinaufreichen? Der Mann hatte
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schon gesehen, wie unerreichbar hoch die Datteln hingen. Er hob nicht
einmal den Kopf. Er bat nur die Frau, sich nicht nach dem Unmög-
lichen zu sehnen.
13. Aber das Kind, das für sich selbst herumgetrippelt war, und
mit Hälmchen und Gräsern gespielt hatte, hatte den Ausruf der Mutter
gehört. Der Kleine konnte sich wohl nicht denken, daß seine Mutter
nicht alles bekommen könnte, was sie sich wünschte. Sowie man von
Datteln sprach, begann er, den Baum anzugucken. Er sann und grübelte,
wie er die Datteln herunterbekommen sollte. Seine Stirn legte sich
beinah in Falten unter dem hellen Gelock. Endlich huschte ein Lächeln
über sein Antlitz. Er hatte das Mittel herausgefunden. Er ging auf
die Palme zu und streichelte sie mit seiner kleinen Hand und sagte mit
einer süßen Kinderstimme: „Palme, beuge dich! Palme, beuge dich!"
14. Aber, was war das nur? Was war das? Die Palmenblätter
rauschten, als wäre ein Orkan durch sie gefahren, und den langen
Palmenstamm hinauf lief Schauer um Schauer. Und die Palme fühlte,
daß der Kleine Macht über sie hatte. Sie konnte ihm nicht widerstehen.
Und sie beugte sich mit ihrem hohen Stamm vor dem Kinde, wie
Menschen sich vor Fürsten beugen. In einem gewaltigen Bogen senkte
sie sich zur Erde und kam endlich so tief hinunter, daß die große Krone
mit den bebenden Blättern über den Wüstensand fegte. Das Kind schien
weder erschrocken noch erstaunt zu sein, sondern mit einem Frendenrufe
kam es und pflückte Traube um Traube aus der Krone der alten Palme.
15. Als das Kind genug genommen hatte und der Baum noch
immer auf der Erde lag, ging es wieder heran und liebkoste ihn und
sagte mit der holdesten Stimme: „Palme, erhebe dich! Palme, erhebe
dich!" Und der große Baum erhob sich still und ehrfürchtig auf seinem
biegsamen Stamme, indes die Blätter gleich Harfen spielten. Jetzt weiß
ich, für wen sie die Todesmelodie spielen", sagte die alte Palme zu sich
selbst, als sie wieder aufrecht stand. „Nicht für einen von diesen Men-
schen." Aber der Mann und das Weib lagen auf den Knien und lobten
Gott. „Du hast unsere Angst gesehen und sie von uns gennommen. Du
bist der Starke, der den Stamm der Palme beugt wie schwankes Rohr.
Vor welchem Feinde sollten wir erbeben, wenn deine Stärke uns schützt?"
16. Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die
Reisenden, daß die Blätterkrone der großen Palme verwelkt war.
„Wie mag das zugehen," sagte ein Wanderer, „diese Palme sollte ja
nicht sterben, bevor sie einen König gesehen hätte, der größer wäre als
Salomo." „Vielleicht hat sie ihn gesehen", antwortete ein anderer von
den Wüstenfahrern. V
Selma Säger lös.
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102. Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser.
1. Konrad Balding war der Sohn eines Predigers in einer kleinen
Stadt in Hessen. Er hatte sehr srüh Vater und Mutter verloren; ein
Onkel nahm die arme Waise in sein Haus und seine Pflege. Der Knabe
zeigte viele Anlage, seine Lehrer ermunterten ihn zum Studium. Der
Onkel, so unvermögend er auch selber war, stimmte im Vertrauen auf
Gottes Durchhilfe in den Wunsch der Lehrer ein, und so trat Konrad
mit dem lebendigsten Eifer den Weg der wissenschaftlichen Ausbildung an.
Die gewöhnlichen Schulstudien waren bald vollendet, Konrad konnte mit
Ehren zur Universität entlassen werden. Kurze Zeit darauf starb der
Onkel plötzlich; sein geringer Nachlaß gehörte den unmündigen Kindern;
für den armen Konrad war nichts geblieben als etliche Goldstücke, welche
der Onkel bei seinen Lebzeiten zu Weihnachten und zum Geburtstage seinem
Neffen geschenkt hatte. Konrad weinte am Sarge seines guten Oheims
heiße Tränen, aber nicht Tränen der Sorge, sondern der dankbaren Liebe
und kindlichen Treue gegen den väterlichen Freund.
Nach dem Begräbnis kehrte er nach der Universität zurück. Er ver-
doppelte seinen Fleiß, während er zugleich seine schon vorhin sehr mäßigen
Ausgaben auf die Hälfte heruntersetzte. Bei aller Sparsamkeit aber sah
er sein ererbtes Geld rasch schwinden, und seine Universitätsstudien waren
noch lange nicht beendet. Dennoch behielt er guten Mut; denn er hatte
früh gelernt, auf Gott zu vertrauen.
2. Da wurde er von seinem Paten, dem Lehrer seines Geburtsortes,
auf wohlhabende Verwandte in Holland aufmerksam gemacht. „Warum,"
so fragte dieser alte Freund Konrad, als letzterer ihn einst besuchte,
„warum entschließen Sie sich nicht zu einer Reise nach Holland? Sie
wissen, daß Ihr Großvater eine Zeitlang in Amsterdam gewohnt hat,
und ich weiß es aus Ihres seligen Vaters Munde, daß dort noch sehr
wohlhabende Verwandte von Ihnen leben. Was wäre es für einen von
diesen, Ihnen das Wenige zu geben, was Sie zur Vollendung Ihrer
Studien noch brauchen?" Der Jüngling ging auf den Vorschlag ein
Der Lehrer brachte ihn auf einem kleinen Bauernwagen bis an den
Rhein, verschaffte ihm auf einem Kornschiffe, das nach Rotterdam fuhr,
einen Platz, versorgte ihn mit einigen Lebensmitteln und selbst mit etwas
Geld und wünschte ihm mit herzlichem Händedruck Glück uud Segeu zu
seiner Reise. In Rotterdam handelte ihm der Schiffer einen Platz in
einem wohlfeilen Fahrzeuge aus, das schon am nächsten Tage seine Fahrt
nach Amsterdam antrat.
3. Schon in Rotterdam hatte sich Konrad nach den noch in Amster-
dam lebenden Verwandten erkundigt und erfahren, daß sein mütterlicher
Oheim, ein älterer Stiefbruder seiner Mutter, zwar längst gestorben, daß
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aber dessen Sohn am Leben und ein sehr vermögender Kaufmann sei,
welcher überdies noch eine deutsche Gemahlin und fast lauter deutsche
Kontordiener habe. Auch die Wohnung seiner Verwandten hatte er sich
genau bestimmen lassen. In Amsterdam ließ er sich sogleich dahin führen.
Schüchtern trat er in das große, reiche Haus ein. „Du kommst ja hier
nicht nur zu nahen Vettern, sondern auch zu deutschen Landsleuten," so
sprach er sieh selber Mut zu und fragte nach dem Herrn des Hauses.
Man wies ihn in das Kontor. Nachdem er einige Zeit an der Tür
stillgestanden hatte, fragte man endlich nach seinem Begehren. Er ließ
sich nun zu dem Herrn der Handlung führen, nannte diesem seinen
Namen und erzählte mit wenigen Worten das Schicksal seiner Familie.
Der reiche Vetter betrachtete den Jüngling von Kopf bis zu Fuß, schrieb
dann ruhig fort und fragte endlich ganz kalt: „Nun, und was ist denn
Euer Begehren?" Der Jüngling errötete, und Tränen traten ihm in die
Augen; er konnte nicht gleich Worte finden. Da sprach einer der jüngeren
Herren, ein Schwager des reichen Vetters, von deutschen Bettlern und
Betteleien, griff nach einigen kleinen Silberstücken und wollte sie Konrad
reichen; dieser aber, tief bewegt, verbeugte sich uud eilte zum Zimmer
hinaus, während die beiden Geschäftsleute ganz kalt wieder an ihren
Büchern sortschrieben.
4. Als er wieder allein war, ließ er seinen Tränen freien Lauf.
Es war Mittag schon vorüber, und er wußte nicht, wie er mit dem
wenigen ihm noch übrigen Gelde heute sich sättigen, noch weniger aber,
wie er damit ein Nachtlager, ja zuletzt die Rückreise nach Deutschland
bestreiten solle. Er wollte schnell hinauseilen aus der teuern Stadt und
irgendwo in einem der benachbarten Dörfer ein wohlfeileres Nachtlager
suchen. Doch er verirrte sich in dem Gewirr der Straßen und Gassen
und kam nach einer abgelegenen Stelle des Strandes. Es war eben die
Ebbe vorüber. Die Flut trat wieder herwärts zum Lande. Während er
am Strande hinging, sah er, daß die immer höher anschwellende Flut
eine Flasche herbeischwemmte, aus welcher etwas Weißes hervorschimmerte.
Konrad hielt sie an einer günstigen Stelle, wo er sich ihr leicht nähern
konnte, mit seinem Wanderstabe fest und war so glücklich, sie herauszu-
ziehen. Er bemerkte nun, daß die Flasche ein Papier, dessen Adresse sich
durch das Glas deutlich lesen ließ, in sich enthielt, übrigens aber leer
und an ihrer Mündung wohlverwahrt und versiegelt war. Ein vorüber-
gehender Mann riet ihm, naehdem er die Adresse auf dem inliegenden
Papier gelesen, er solle die Flasche zu dem Kaufmann tragen, an welchen
die Zuschrift gerichtet war; denn auf solche Weise gäben zuweilen Seeleute,
wenn sie den unvermeidlichen Untergang ihres Schiffes vor sich sehen, noch
eine letzte wichtige Nachricht. Nach einigem Bedenken entschloß sich Konrad,
seinen seltsamen Fund an das bezeichnete Kaufmannshaus abzuliefern.
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5. Es war schon Abend geworden, als er das Haus, dessen Lage ihm
von dem Fremden genau beschrieben worden war, endlich gefunden hatte.
Er tritt mit einigem Bangen ein. „Dort warst dn bei deutsch redenden
Leuten und Verwandten, und man behandelte dich so verächtlich; wie wird
es dir erst hier bei den ganz Fremden ergehen?" so denkt er bei sich
selber. Doch sagt er einem Bedienten die Absicht seines Kommens. Man
führt ihn sogleich in das hellerleuchtete Kontor. Ein freundlicher alter
Herr, der Besitzer des Hauses, nimmt die Flasche in Empfang, heißt
Konrad niedersitzen und öffnet dann die Flasche. Nachdem er die Ein-
lage gelesen, sagt er in ziemlich geläufigem Deutsch: „Gottlob, daß wir
indes neue und bessere Nachrichten haben! Das Schiff, welches damals,
als man die Flasche ins Meer senkte, im Kanal in großer Gefahr
schwebte, hat sich gerettet und liegt jetzt wohlbehalten hier vor Anker;
dennoch soll Ihre Mühe nicht umsonst gewesen sein!" Mit diesen Worten
nahm der alte Herr einige Goldstücke und reichte sie dem Jüngling, der
sie dankend empfing uud ehrerbietig grüßend sich entfernen wollte, als
der Kaufmann ihn zurückrief und nach seinem Namen und Vaterlande
fragte. „Ich heiße Konrad Balding," sagte der Jüngling, „und bin aus
Hessen." — „Wie?" fragte der alte Herr, „ist Ihr Vater nicht Prediger
in M.?" — „Mein Vater war allerdings an diesem Orte Prediger, aber
er starb schon vor fast zehn Jahren." — „Und Ihre Mutter?" — „Sie
überlebte den treuen Vater nur wenige Monate." Der Kaufmann wischte
sich eine Träne ab, ergriff den Jüngling bei der Hand, die er ihm treu-
herzig schüttelte, und sagte: „Ich heiße Sie in meinem Hause willkommen.
Ihr lieber Vater hat mich einst sechs Wochen lang, da ich als armer
kranker Soldat zu ihm kam, in seinem Hause wie ein Bruder beherbergt;
seiner und Ihrer seligen Mutter treuen Pflege danke ich nächst Gott
mein Leben, ja, was noch mehr ist, ich danke dem gesegneten Umgänge
und Einfluß Ihres Vaters noch meine innere Besserung. Später ge-
langte ich hierher, trat in diesem Hause, dessen Besitzer nachmals mein
Schwiegervater wurde, mein jetziges Geschäft an, und Gott hat mich
reichlich gesegnet. Jetzt aber kommen Sie mit mir zu meiner Familie."
6. Konrad war bald in dem Hause des edlen Holländers so heimisch,
als sei er von Kindheit an da bekannt gewesen. Als die Zeit seiner
Ferien zu Ende ging, schied er tief gerührt von dem väterlichen Freunde,
der von nun an in hochherziger Weise für ihn sorgte. Nachdem er in
Göttingen seine Studien vollendet hatte, folgte er einer abermaligen Ein-
ladung nach Holland und erhielt durch eine besonders günstige Fügung
dort ein Amt, in welchem er viele Jahre segensreich wirkte. Er hatte es
bald nach seiner Anstellung wagen dürfen, um die Hand der Tochter
seines Wohltäters anzuhalten, und erhielt diese. Das schöne große Haus,
das Konrad Balding in Amsterdam bewohnte, und in welchem so mancher
121
deutsche Landsmann gastliche Begegnung fand, konnte jeden, der die Ge-
schichte seines Besitzers kannte, an die Wahrheit des Spruches erinnern:
„Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser." Den Kindern seines
Oheims in Hessen hatte Herr Balding das mit reichen Zinsen wieder-
erstattet, was ihr Vater in seiner Armut auf ihn gewendet hatte; sie ge-
langten durch die Kraft des nämlichen Segensspruches zu Wohlstand und
Ehren. Gotthilf Heinrich v. Schubert.
103. Das Bild des Großvaters.
1. Zu den Zeiten unsrer Väter saß am Hohen Tore von Danzig ein
altes Mütterchen, namens Else, die in einer hölzernen Bude ein kleines
Warenlager von Nürnberger Spielsachen, bunten Bilderbogen und einigem
alten Gerümpel feil bot. Die Bude war wie das alte Mütterchen ganz
morsch und gebrechlich, denn Else war darin schon als Kind geschäftig
gewesen; sie saß hier als Braut, als junge blühende Frau, als Mutter. Sie
trauerte hier als Witwe, sie saß hier mit bleichem Angesicht und rot-
geweinten Augen, als sie ihr letztes Kind begraben hatte. Alle ihre
Freuden und alle ihre Schmerzen hatte sie hier durchlebt, geduldig in
Trübsal, dabei aber fröhlich in Hoffnung auf die Hilfe des Herrn. Nun
aber wurden ihre letzten Tage immer trüber, denn nur selten blieb noch
ein Käufer vor der kleinen Bude stehn, ja oft, sehr oft mußte sie ihr
kleines Warenlager schließen, ohne einen Groschen gelöst zu haben. Da
mußte sie denn freilich darben und entbehren. Sie hatte zwar nie etwas
von Wohlleben geschmeckt, aber immerdar doch so viel errungen, um des
Leibes Leben von einem Tage zum andern fristen zu können.
2. Jetzt aber war ihre Not überaus groß geworden; denn schon seit
drei Tagen hatte sie auch gar nichts verkauft, und doch war die Miete
für die kleine Kammer, worin sie des Nachts schlief, füllig. Zwar machte
ihr diese Schuld nicht gerade so großen Kummer, denn sie wohnte bei
armen Leuten, die selbst den Mangel und die Not nur zu gut kannten,
und die deshalb mit der noch ärmern Alten Nachsicht hatten bis aus
bessere Zeiten. Aber der Mann, von dem sie die Spielsachen und die
bunten Bilder bezog, war, obwohl reich, doch harten Herzens. Er hatte
gedroht, wenn Else die für ihn unbedeutende Schuld nicht zahlen würde,
ihr gerichtlich die Bude verkaufen, sie selbst aber in den Schuldturm
sperren zu lassen. So saß sie denn ganz sorgenvoll da, das Haupt ge-
beugt, die hagern Hände gefaltet in den Schoß gesenkt zu ihren stillen
Herzensgesprächen. Draußen zwitscherte die Lerche recht fröhlich, denn der
Frühling war gekommen; aber ihr ward immer weher ums Herz, und sie
wünschte sich sehnlich dorthin, wo ihr braver Mann und ihre Kinder
längst ruhten.
3. Da kam ein Mann dahergeschlendert, der störte sie in ihren Be-
122
Pachtungen und Wünschen. Er war auch kein Jüngling mehr, denn sein
Haar ergraute bereits; sonst war er aber noch ziemlich rüstig und kräftig.
Was er war, das verriet seine Teerjacke und der breite, schwankende Gang,
nämlich, daß er ein Seemann war. Er hatte die Arme übereinander ge-
schlagen und sah, wie es schien, befremdet und doch bekannt umher. Nach-
dem er nun jeden Stein am Tore, jeden Sitz und jedes Gebäude lange
gemustert hatte, fiel sein Blick endlich auf die Bretterbude und auf Frau
Elfe. Da trat er näher und sprach: „Es hat sich doch manches in Danzig
verändert! In dieser kleinen Bude saß einst eine muntere junge Frau,
von der ich als Schulknabe manchen Bilderbogen gekauft habe. Wo mag
diese hingekommen sein?" Die Alte lächelte wehmütig und entgegnete:
„Lieber Herr, das kann doch niemand anders gewesen sein als ich selbst;
ich fitze hier schon über fünfzig Jahre."
4. Der Fremde fuhr mit der gebräunten Hand über die Stirn und
rief: „Ja so, ich habe vergessen, daß auch ich gegen vierzig Jahr abwesend
war. Die Zeit verändert viel; mancher meiner frühern Schul- und Spiel-
genossen ist wohl schlafen gegangen, und die da noch leben, werden den
armen Matrosen nicht wiedererkennen, viele werden's auch nicht wollen.
Der Peter Braun, welcher früher in der Langgasse wohnte, ist nun auch
wohl schon lange tot?" — „Selbst gekannt hab' ich ihn nicht, aber ich
habe viel von ihm erzählen hören. Er starb im Spittel!" entgegnete Else.
„Im Spittel?" wiederholte der Unbekannte erschüttert. „Der Mann hat
ein hartes Schicksal gehabt," fuhr die Alte fort, „ihm war es auch nicht
an der Wiege gesungen, daß er so sterben sollte. — Er war der Sohn
von dem Bernhard Braun, der allgemein für einen sehr reichen Mann
galt. Als er aber plötzlich starb, fand man weder Geld noch Geldeswert
in seinem Nachlasse, wohl aber meldeten sich Gläubiger mit bedeutenden
Forderungen. Peter Braun, um des Vaters ehrlichen Namen zu retten,
bezahlte alle Schulden. Aber durch dieses Opfer verarmte er selbst so
sehr, daß er es geschehen lassen mußte, daß sein noch unerwachsener Sohn
als Schiffsjunge in die Fremde ging. — Nun war der alte Mann ganz
allein. Er begann noch manches; aber nichts glückte ihm, und seine ehe-
maligen Freunde hatten sich von ihm abgewandt; die armen konnten ihm
nicht helfen, die reichen wollten nicht. So geschah es denn, daß er krank
und lebensmüde ins Spital gehen mußte."
5. Über das Gesicht des Unbekannten zuckte es jetzt finster wie eine
Wetterwolke. Er wandte sich schnell, um in die Stadt zu gehn, aber noch
einmal kehrte er um und fragte: „Wo liegt denn Peter Braun begraben?"
— „Auf dem Armenkirchhofe," antwortete Else. Der Fremde schien diese
Antwort erwartet zu haben, er senkte das trübe Auge. Da fiel sein Blick
auf ein altes verloschenes Ölgemälde, das im Hintergründe der Bude
hing. „Was wollt Ihr für das alte Bild?" fragte der Mann. „Ich hab'
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es," entgegnete die Alte, „vor vielen Jahren in einer Versteigerung für
ein Geringes erkauft. Es mag wohl nichts mehr wert fein, denn niemand
hat es mir wieder abnehmen wollen, obgleich das alte Gesicht auf dem Bilde
recht fromm und freundlich ausschaut. Gefällt es Euch, lieber Herr, so
mögt Ihr selbst bestimmen, was Ihr dafür geben wollt. Ich bin mit
jedem Gebote zufrieden." Der Unbekannte legte einen spanischen Taler
auf den Tisch und griff nach dem Bilde. „Ach, lieber Herr," rief die
Alte kläglich, „ich kann Euch dieses Geldstück nicht wechseln, denn ich habe
leider seit drei Tagen nichts eingenommen." — „Laßt es nur gut sein,
Mütterchen," versetzte der Unbekannte; „ich bin freilich nur ein armer Teufel,
der sich auch zur Aufnahme in irgendein Spital melden kann; aber ich bezahle
doch wohl mit dem letzten Taler das Bildnis meines Großvaters nicht zu
teuer." Er lief davon, ohne auf einen Dank oder eine Antwort zu hören.
6. Else war anfangs mehr erschrocken als erfreut. Sie konnte es
nicht fassen, daß der Mann, der nach seiner Kleidung und seiner eigenen
Rede selbst nur arm war, ihr für das alte, verloschene Bild einen Taler
gegeben hatte. — Sie traute ihren eigenen Augen nicht und fürchtete
immer, das blanke Silberstück würde ihr aus den Händen entschwinden
oder mindestens in eine Kohle sich verwandeln. Aber wie sie den Spanier
auch wandte, er verschwand und verwandelte sich nicht. Da schwoll ihr
welkes Herz auf vor lauter Freude, die in brünstige Dankgebete überging
zu ihrem treuesten Freunde, dem sie erst kurz vorher ihre Not geklagt,
und in heiße Segenswünsche für ihren Retter, den er ihr gesandt hatte.
Durch diese kleine Gabe war für jetzt beinah ihre Not geendet. Der harte
Gläubiger sollte den Taler auf Abschlag erhalten; denn sie hoffte, daß
er damit sich wohl einstweilen begnügen werde. Vorhin in ihrer Angst
und Sorge war ihr Auge trocken geblieben, und jetzt — weinte sie. Das
waren Freudentränen, sie ivar am Höhepunkte des Dankopfers ihrer Seele.
7. Es war wohl noch nicht eine Stunde vergangen, da kehrte der
Unbekannte zurück. Sein Gesicht war jetzt hoch gerötet, als sei es vom
Trunk oder Zorn erhitzt. Er stürzte in gewaltiger Hast auf die Bude der
alten Else los und schlug mit seiner starken Faust so derb auf ihre Waren
ein, daß er mit diesem Schlage sogleich einen Nürnberger Heuwagen samt
den Rossen und ein ganzes Regiment bleierne Soldaten vernichtete. „Liebe
Alte," rief er in ungezügelter Freude, „tu mir den Gefallen und wirf
deinen ganzen Plunder aus die Straße, daß sich die Jungen daran freuen;
du sollst es fortan nicht mehr nötig haben, hier in Sturm und Unwetter
zu sitzen. Heißa! das Glück ist bei mir eingekehrt, wundervoll und
unverhofft! — Vierzig Jahre hab' ich diesem Glück auf allen Meeren und
in allen Zonen nachgejagt, es wandte mir überall den Rücken, sieh, da
sind' ich es plötzlich in der Heimat an dem Grabe meines Vaters! — Es
war eine bittere, trübe Empffndung, als ich das Grab meines Vaters er-
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blickte, so einsam, so wüst und so verfallen. Ach, ich war von dem guten
Vater ausgezogen mit stolzen Hoffnungen. Reich wollte ich wiederkehren
und sein Alter pflegen. Es war aber alles anders gekommen, er ruhte
in der Erde, und ich war ärmer zurückgekehrt, als ich ausgegangen war.
Da hob ich das Bild des Großvaters, für das ich dir meinen letzten Taler
gegeben, in die Höhe, um mich wenigstens an den gutmütigen Zügen zu
erfreuen, die mich wilden Buben so oft angelächelt hatten. Aber unter
meiner derben Faust, die Sonnenbrand, Eiskälte und schwere Arbeit ab-
gehärtet haben, brach der morsche Rahmen zusammen, und — aus der
Rückseite des Bildes fielen englische Staatspapiere heraus, deren Wert sich
durch die Jahre und durch den fortlaufenden Zins verdoppelt hat. Der
Großvater, der in seinen letzten Lebenstagen ängstlicher um Hab und Gut
geworden war, hatte wahrscheinlich dort alle seine Schütze verborgen, ohne
bei seinem schnellen Tode meinem Vater darüber Nachricht geben zu können.
In einem einzigen Augenblicke bin ich nun ein reicher Mann geworden!
Jene Papiere sind mein rechtmäßiges Eigentum; denn bei diesem Schatze
lag zugleich ein Testament, das mich im Falle des Ablebens meines Vaters
zum Erben des Großvaters ernennt. Jetzt kauf' ich unser Haus in der
Langgasse zurück, und in dem Prunksaale soll wieder wie in frühern Zeiten
das Bildnis des Großvaters hängen. Mit meinem braven Vater kann
ich nun freilich den Reichtum nicht teilen, wohl aber mit dir, du wackeres
Mütterlein, das Gott erkoren hatte, so lange meinen Schatz zu hüten.
Komm mit mir, du sollst bei Jürge Braun gute Tage haben!"
8. So geschah es auch. Mutter Else zog zu Jürge Braun, den man
nun wie einstmals seinen Großvater nur den reichen Braun nannte, —
und sie führte ihm die Wirtschaft. Jürge Braun hat aber auch sonst noch
Wort gehalten, denn Else hatte bei ihm fürwahr gute Tage. Er sorgte
für sie wie für seine Mutter und betrachtete sich stets als ihren größten
Schuldner. Beide ruhen nun längst in Frieden. Jürge Braun aber hat
all sein Hab und Gut, das er in dieser Welt zurücklassen mußte, dem
Spital vermacht, in welchem einst sein Vater verstorben war.
Wilhelm Müller.
104. Weihnachten im Waldhause.
i.
1. Des Pechers Haus steht tief im Walde. Die wilden Büsche und
die hohen Stämme, die es umgeben, streben himmelwärts, und auf den
Wipfeln klingt die Lust, — nur das Haus kauert auf dem Sande, und
seine Kammern sind düster. Der Pecher-Lenz, der darin wohnt, ist bis
zum dreißigsten Jahr ein armer Pechersbursche gewesen; dann nahm er
sich ein Weib und war nun der arme Pechersmann. — Seinem Vater
ist's nicht viel besser ergangen. Der ist Waldhüter gewesen, aber an dem
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Walde war nur das Bitterste sein eigen — das Pech (Harz). Doch ließ
sich's dabei leben; die Terpentiner haben mitunter so schlecht nicht gezahlt.
Das Handwerk ernährte seinen Mann, aber nur den Mann, nicht etwa
auch noch Frau und Kinder.
2. Der Pecher-Lenz ist soviel als ein Bettelmann. Wenn er im
Walde ein grünes Reis ans seinen Hut steckt, — es ist fremdes Gut
Die Hütte, in der er wohnt, steht auf dem Boden des Herrn Gallheim
und ist gebaut aus dem Holze des Herrn Gallheim. Nur Weib und Kind
sind sein eigen. Gallheim ist ein flinker Jäger und ein fröhlicher Lebe-
mann, aber einst ist er dem Lenz zu nahe getreten; der hat dem Guts-
herrn darauf etwas Grobes gesagt. Grobsein aber ist nichts für einen
armen Teufel; der muß allemal Süßwurzeln kauen, wenn er mit dem
„gnädigen Herrn" spricht.
3. Darauf ist dem Lenz eines Tages ein großer Brief ins Haus
gekommen, darin stand:
„An Lorenz Hackbreter im Kesselwald. Demselben diene zur Kenntnis,
daß von nun ab forstwirtschaftlicher Rücksichten wegen das Pechschaben
nicht mehr gestattet ist. Dawiderhandelnde verfallen der Strenge des Gesetzes.
Der Oberförster,
im Aufträge des Herrn von Gallheim, Gutsbesitzers."
Der Lenz steckte die Hände in die Hosentaschen, ging in den Wald
und brummte: „Nicht mehr gestattet! Forstwirtschaftlicher Rücksichten
wegen! Nun ja, die Sache muß einen Namen haben! Dieser schöne
Wald, wie er heute dasteht, uuter der Pechschabe ist er aufgewachsen.
Und jetzt auf einmal ist's ein Verderben. Was heb' ich jetzt an?"
4. Gelernt hat er nichts. Wurzeln- und Kräutergraben ist noch
das einzige; aber wenn er des Abends heimkehrt von feinen gefährlichne
Gängen und Klettereien in den Felswänden, ist er trotzig und launisch,
und unwirsch stößt er sein Kind, das herzige Magdale, von sich, wenn
es wie sonst zu ihm herankommt und in süßer Kindlichkeit fragt, was
das Reh mache draußen im Walde. — Das Reh draußen im Walde? —
das bringt den Lenz auf neue Gedanken. Und eines Tages nimmt er
den alten Kugelstutzen aus dem modernden Schrank hervor und schleicht
damit hinaus. Harmlos kommt ein prachtvoller Hirsch mit hohem Geweih
herangeschritten. Der Mann fährt mit dem Gewehr zur Wange, — da
sieht er in den Schaft eingegraben das Herz, aus dem ein Kreuz wächst.
Das ist das liebe, traute, alte Zeichen, welches sein Vater so gern in
Stab und Stiel seiner Werkzeuge eingegraben hatte. Der Vater ist auch
blutarm gewesen, aber er ist ehrlich geblieben. Das Gewehr entsinkt der
Hand des Mannes, und der Hirsch läuft flink über die Blatte hin. Der
Lenz hat Weib und Kind und wird sie mit Kräuter- und Wurzelngraben
in Gottes Namen ernähren.
126
5. Was geschah? Die Hirten taten sich zusammen und verklagten
den Wurzelsiecher, daß er den Grasboden verwüste. So wurde ihm auch
dieses untersagt, und er ging verloren in den Wäldern umher und wußte
nicht, was er beginnen sollte. Schlimme Gedanken kamen dem Manne,
aber er rief: „Hinweg! Ein ehrlicher Mann will ich bleiben. Das will
ich sehen, ob ich's nicht durchsetze!"
6. Magdale gedieh. Sie war nun sieben Jahr alt, war fleißig und
brav, und als Weihnacht herankam, hoffte sie auf eine gütige Gabe vom
Christkind; Vater und Mutter aber lächelten bitter. Der Lenz hatte an
dem Tage draußen beim Klausenwirt wohl eine Semmel und etliche Äpfel
erstanden, aber auch ein Tannenbäumchen soll dazu sein und Lichtlein
dran. So war's früher stets gewesen, und so wurde es von dem geliebten
Kinderherzen erwartet.
7. Der Lenz ist denselben Tag über wieder nicht daheim. Er streift
im Walde herum. Der Boden ist steinhart gefroren, das Moos knistert
unter den Füßen, die Äste hängen, von Eisnadeln des Nebelfrostes be-
lastet, tief herab. Der Lenz wandelt zwischen den ungezählten Bäumen
des Waldes. Vor manchem jungen Tannenwipselchen bleibt er stehn.
„Es wäre schon das rechte," murmelte er, „aber — darf ich denn? —
Doch mein seliger Vater hat viel tausend Bäumlein gepflanzt und ge-
hütet, — so kann's doch nicht gefehlt sein, wenn ich mir ein einzig
Stämmchen davon heimtrage für mein Magdale!"
8. Mit Hast fährt er nach feinem Taschenmeffer, ein kräftiger Schnitt,
und eine gute Tannenkrone ist geknickt. In diesem Augenblicke stehn
zwei Männer, nüt Jagdgewehren bewaffnet, vor dem Lenz, Gallheim und
sein Förster. „Haben wir dich endlich, du Waldfrevler!" rief der Förster.
„Schon seit lange werden von boshafter Hand in unsern Wäldern Bäume
geknickt. Dieser Lump da tut's!" — „Ho ho," brummte der Lenz, „nicht
not, daß Ihr mich so anknurrt! Ich bin kein Lump, ihr Herren!" —
„Was denn?" sagte Gallheim. — „In böser Absicht hab' ich mein Lebtag
kein Zweiglein vom Ast gebrochen." — „So? Und dieser Wipfel, der
weder einen Spatenstiel noch ein Stück Brennholz gibt?" — „Zu Gnaden,
Herr, — fürs Kind daheim ein Christbäumchen." — „Die Ausrede ist
nicht übel," lachte Gallheim, „aber einen ertappten Dieb und Waldfrevler
läßt man nicht laufen. Förster, nehmt mir den Menschen fest! Die
sichere Kammer wird ihm über die Festtage wohl bekommen."
9. Der Lenz zerstampfte den Moosboden. In seinem Herzen kochte
es. Einerseits sah er's, er war ein Dieb; anderseits fühlte er's, es ge-
schah ihm unrecht. Kein bitteres Wort verlor er mehr. Finster grub er
seinen Blick in den Boden und ließ sich fesseln und davonführen. Und
das Tannenbäumchen blieb liegen auf dem frosterstarrten Boden, und
statt der lieblichen Christlichter glitzerten Eiskörner an den Zweigen.
127
II.
1. Im Arrest hatten seit langem schon die Spinnen ihre Webstühle
aufgerichtet. An diesem Weihnachtsabend nun wurden sie durch den
Pecher-Lenz ein wenig gestört. Er dachte an sein schutzloses Heim, in
welchem ihn heute die Seinen vergeblich erwarten würden, — das Weib
in Furcht und Angst, in Verzweiflung, das Kind schluchzend, bis es ein-
schläft, — das ist ihre Weihnacht. Und er, der Lenz, der sich gehütet
hat sein Leben lang, daß er ein ehrlicher Mann verbleibe, sitzt jetzt im
Gefängnis, wo vor ihm der Räuber saß, wo nach ihm der Strolch sitzen
wird. Das ist seine Weihnacht!
2. Zornig über den Waldfrevler und befriedigt zugleich, ihn erwischt
zu haben, kehrte Gallheim in sein Herrenhaus zurück. Dort aber war
Wirrnis und Jammer. Theobald, der zehnjährige Sohn des Herrn, war
wie gewöhnlich am Nachmittage auf seinem Schimmel ausgeritten, angetan
mit dem blanken Ritterharnisch, den man ihm geschenkt hatte, aber die
übliche Reitstunde ging vorüber, — er kehrte nicht zurück. Es begann
zu schneien, es begann zu dämmern, — er kehrte nicht zurück. Am
Abend kam der Schimmel schnaubend und mit hochfliegender Mähne zum
Tore hereingerannt. Aber auf dem Rosse saß kein Reiter. Jetzt ging
das Entsetzen an. Die Mutter fiel in Ohnmacht, der Vater ward blaß
wie die Mauer seines Hauses, die Dienerschaft stob verwirrt auseinander,
und die Knechte sprengten auf Pferden zum Tore hinaus.
3. Die Frau des Hauses war die erste, welche wieder zur Besinnung
kam. Sie eilte in den Schnee und in die Nacht hinaus; laut und hell
rief sie ihr Kind, bis ihr die Stimme versagte. Durch Heide und Wald
irrte sie, und wo ein Krenzbild stand, da sank sie auf die Knie und rang
die Hände. Herr Gallheim hastete wie ein gehetztes Wild über Berg und
Tal. In der Finsternis stolperte er über ein gebrochenes Bäumchen.
Der Tannenwipfel war's, um deswillen der Pecher-Lenz im Gefängnisse
lag. „Auch dieser Mann hat Weib und Kind!" so rief es in seinem
Herzen. Er eilte weiter und stieß in sein Horn. — Endlich begann ein
wildes Gestöber; der Sturm rüttelte in den Stämmen und erstickte den
Schall der Hörner. Die Schneeflocken tanzten wie rote Sternchen um
die Pechlunten; da sagte einer der Suchenden: Der Herrgott legt schon
das Bahrtuch darüber."
4. „Das ist eine arge Weihnacht!" so seufzte auch das Weib des
Lenz im Waldhause. Sie ging von einem Fenster zum andern, eilte bei
jedem Geräusch an die Tür, — aber er kam nicht. „Der Vater wird
noch zum Christkind zu spät kommen," meinte das kleine Magdale. „So
lange ist er noch nie ausgeblieben," antwortet die Mutter; „mir ist heute
den ganzen Tag so bange. Geh ins Bett, Magdale!"
5. Jetzt klopfte es ans Fenster. Ein verspäteter Holzhauer ging vor-
128
bei, der berichtete, daß er dem Pecher-Lenz begegnet sei, als sie ihn ab-
führten. „Er hat den Hut tief im Gesicht gehabt, aber ich habe ihn doch
erkannt. Die Hände sind ihm gebunden gewesen." Das Weib tat einen
Aufschrei; der Holzhauer ging weiter. — So ist anstatt des Christkindes
im Waldhause der Jammer eingekehrt, vielleicht als Vorbote nur. Wo
dem Christkind Herzen entgegenschlagen, da finden böse Gäste kein Daheim.
6. „Geh schlafen jetzt!" sagte die Mutter zum Mädchen. Magdale
blickte verwundert auf. War denn nicht Christabend? Das Weib hielt
ihr Weinen zurück, das einzige, was sie ihrem Kinde tun konnte. Und
wieder und immer wieder fragte das Kind nach dem Vater. „Sei nur
still!" gab das Weib zur Antwort; „der Vater sucht das Christkind und
hat sich im Walde verirrt." — „Er wird es schon finden," meinte das
Magdale; „das Christkind hat ja eine leuchtende Brust und Äuglein wie
Karfunkelsteine." — „Freilich," versetzte die Mutter; weiter sagte sie kein Wort.
7. Das Weib des Pechers zündete eine rote Kerze an. Das war
die Kerze, die brennen sollte, wenn einstmals nach diesem mühevollen
Leben der Lenz und sein Weib das Auge schließen mußten im Waldhause.
Es war die Sterbekerze. Und jetzt, da des Hauses ältester Bewohner, der
ehrliche Ruf, gestorben war, jetzt brannte sie wieder.
8. Das Weib kniete nieder und betete mit Ergebung zu dem Jesus-
kinde. Da flüsterte das Magdale plötzlich: „Jetzt sind sie draußen."
Und wahrhaftig, es war nicht das Klopfen des Windes, — das war ein
Pochen an der Tür. Sogleich erfaßte das Weib die Kerze und eilte zu
öffnen. — Ein fremder Knabe stand vor ihr, ein seltsamer Knabe; er
hatte eine leuchtende Brust. Die Kleider waren voll Schnee, die langen
Locken voll Eis, die großen Augen voll Wasser; vor Frost gitterte er und
bat um Obdach.
9. „Ist denn kein Mensch bei dir?" rief das Weib; „bist du allein?
So komm, so komm nur!" Und fächelte den Schnee von seinen Kleidern,
aber die Brust blieb leuchtend; sie trocknete seine Augen, da glänzten sie
wie Karfunkel. „Du liebes Christkind," lispelte das Mädchen, „da setze
dich zum Ofen, und wärme dich!" Und immer wieder fragte das Weib,
wo er herkäme, wer er wäre.
10. „Ich bin Theobald Gallheim," antwortete endlich der Knabe;
„ich bin ausgeritten; da sind Waldhühner aufgeflogen, das Pferd ist scheu >
geworden und hat mich abgeworfen. Ich bin herumgelaufen, bis es finster
geworden ist. Dann ist der Wind und der Schnee gekommen, und ick,
habe gar nichts mehr gehört und gesehen und bin gefallen. Dann bin
ich doch wieder weiter gegangen und habe das Licht gesehen. Laßt
mich liegen in eurem Hause, und tut mir nichts Böses! Mein Vater
wird schon kommen!"
11. Das Fieber schüttelte ihn, als er das sprach. Das Weib hatte
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Mühe, ihm die Schuhe von den Füßen zu bringen; sie waren schier an-
gefroren. Der Knabe ächzte vor Schmerz; die Pecherin legte ihm feuchtes
Grubenkraut auf Hände und Füße, dann brachte sie eine warme Suppe
und führte selbst den Löffel zu feinem Munde. Das Magdale schlich spähend
um den Knaben herum, schaute feine zarten Locken und seine frischen
Wangen an und feine harnischglänzende Brust und seine Augen. Das
Weib trug von allen drei Betten, die in der Stube standen, die Kissen
zusammen und baute damit auf der Ofenbank dem kleinen Gaste ein Lager.
Theobald legte sich hin und schloß bald die Augen.
12. Dem geängstigten Weibe war leichter ums Herz geworden. Ihr
war dieser Knabe, der in der Christnacht hilflos zu ihr gekommen, eine
gute Vorbedeutung. Das Magdale, das gar nicht schlafen wollte, zerstreute
sie mit etlichen jener alten Weihnachtslieder, die so reich an Gemüt sind.
Dabei unterbrach sich die Sängerin und horchte auf den Atem des
Schlummernden, und das Magdale faß daneben und faltete die kleinen Hände.
13. Gellender Waldhornschall schlug an die Wände der Hütte. Dem
Weibe blieb der Ton in der Kehle stecken. Draußen knisterten schwere
Tritte, die Tür ging auf, über und über beschneite Männer traten herein,
unter ihnen eine stattliche Frau. Die Pecherin tat einen flehenden Blick
auf die Eintretenden, legte den Finger auf den Mund und wies auf den
schlafenden Knaben. Kaum aber erblickte diesen die eintretende Frau, als
sie mit einem Freudenschrei auf den Schläfer zustürzte. Der Knabe fuhr
empor und blickte um sich. Und als er in dieser düstern Hütte seine
Mutter sah, da zuckten feine roten Lippen.
14. Sogleich wurde auf dem Schollberge ein großes Feuer angezündet,
und weithin durchdrang der Schein die Nebel und das Schneegestöber
Gallheim, der reiche Mann, hatte wohl in feinem Leben einen so glück-
seligen Christbaum nicht gesehen, als diese Feuersäule war, die ihm ver-
kündete, daß sein Kind lebe. Er ist gesunden! So kamen sie nun alle
hier zusammen, und noch nie hatte das kleine Haus im Walde so viele
und so fröhliche Gäste gesehen als in dieser Nacht. Dem reichen Manne
barst schier das Herz. Da sah er seinen Sohn so liebevoll gehalten von
der Familie dessen, den er heute — — — Er dachte es nicht aus.
Den schnellsten Reiter sandte er nach dem Herrenhause, um die eiserne
Tür zu öffnen.
15. Sie waren alle noch beisammen, als der Lenz auf einem vor-
nehmen Wagen, der mit zwei Rappen bespannt war, angefahren kam.
Zur Stunde brach schou der Morgen an. „Lenz, ich habe dir unrecht
getan," sagte Gallheim in tiefein Ernst zum Pecher; „hier seh' ich dein
Weib, dein Kind, denen du das Christbäumchen hast aufstellen wollen.
Verzeiht mir alle drei! Ich will es gutzumachen trachten."
16. Er sprach dem Pecher die Meierstelle im großen Felberhofe zu.
Kapp cp ix. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 9
130
Der Lenz war wortkarg. Er schüttelte den struppigen Kopf, der Felber-
hof wäre ihm zu groß. „Mag nicht fort von da," sagte der Lenz tonlos,
„möchte mir lieber das Pechhaken wieder erlaubt sein." — „Das Pech-
haken, Lenz, das tut Euch schlecht und den Bäumen nicht gut," versetzte
Gallheim; „aber die Försterstelle wird frei, und zu Christbäumen für
Eure Nachkommenschaft haltet von heute an dreißig Joch Waldgrund als
Euer eigen! Dann wollen wir wieder gut sein."
17. „Ich bin nicht bös," sagte der Lenz, „ich wollte den Herrn nur
gebeten haben, daß er's hier vor meinem Weib und meinem Kind laut
sagte, daß ich nicht schuldigerweis eingesperrt worden bin." Gallheim
faßte mit beiden Händen des andern Rechte und rief: „Lenz, Ihr seid
ein braver Mann!" — Und so ist das Christkind doch noch in die Hütte
der Pechersleute gekommen. Peter Rosegger.
105. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten.
1. Das Handelshaus Gruit van Steen war am Beginn des sieb-
zehnten Jahrhunderts eins der angesehensten, reichsten und festbegründetsten
in Hamburg. Das Oberhaupt des Hauses war damals Herr Hermann
Gruit, der nach dem Tode des ehrwürdigen Vaters mit der Handlung
und dem Hause auch den alten Jansen als Erbstück überkommen hatte,
einen goldtreuen Diener des Hauses, mit Leib und Seele, wie sonst dem
alten, nun dem jungen Herrn zugetan, welchen er schon als Kind aus
den Knien geschaukelt hatte. Wenige verstanden das Handelswesen der
damaligen Zeit so von Grund aus wie der alte Jansen; daher galt auch
sein Wort in der Schreibstube wie das des Herrn.
2. Der Dreißigjährige Krieg durchtobte schon seit zwanzig Jahren
unser armes Vaterland von einem äußersten Ende zum andern; Städte
und Dörfer waren zu Hunderten verheert und verlassen von den Be-
wohnern, die mit dem Vieh in die Wälder geflohen waren, um sich vor
den räuberischen, blutigen Händen der gottlosen Kriegsleute zu retten.
Rechnet man hierzu die Unsicherheit der Straßen in allen Ländern, so
war es kein Wunder, daß der Handel stockte und vorzüglich der Vertrieb
ins Innere von Deutschland gelähmt war. Das fühlte man auch im Kontor
des Herrn Hermann Gruit schon seit Jahren. Selten und weniger bepackt
hielten Saumrosse und Frachtwagen vor dem Hause, und drinnen war's
oft wochenlang so still wie in einer Kirche, wo es vormals manchen Tag
in und vor dem Hause fast so lebhaft herging als auf dem großen Markte.
3. Da geschah es eines Morgens, daß, nachdem Jansen im Kontor
lange den Kops geschüttelt und dann gedankenvoll von seinen Briefen weg
hinauf an die braungetäfelte Zimmerdecke so starr geschaut hatte, als
wollte er die Fliegen zählen, er sechsmal nacheinander mit seinem Schwanen-
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kiel in das große silberne Tintenfaß tauchte, die übervolle Feder gewaltig
ans den Tisch stampfte nnd dadnrch den vor ihm liegenden angefangenen
Brief von oben bis nnten mit Tintenflecken bespritzend ans einmal fertig
machte. Herr Hermann, ihm gegenübersitzend, fuhr fast erschrocken vom
Sitz auf, ausrufend: „Ei, Jansen, seid Ihr vielleicht zum erstenmal in
Eurem Leben so früh schon in den Ratskeller geraten nnd habt von einem
spanischen Fäßlein gekostet?" — „Nein, Herr," entgegnete Jansen mürrisch,
„aber so geht's nimmer. Bei uns in Deutschland ist's ans mit dem
Gewinn ans gewöhnlichem Wege bei dem verwetterten Kriege. Was hilft
nns unser großes Schiff, das immer an der Küste wie eine Schnecke sich
hinwindet, um die sündteuren Waren von den geizigen Mynheern aus
Holland beizuholen? Wir müssen zwanzigfach bezahlen, was wir einfach
aus der ersten Hand haben könnten von ihren Nachbarn, den Engländern,
oder in Amerika selbst. Gebt mir ans ein Jahr das Schiff, dazu so viel Geld
und so viel Nürnberger Tand als anfzutreiben, und laßt mich nach der
Nenen Welt fahren; Ihr wißt, der alte Jansen war schon zweimal dort
und versteht den Kram. Zwar der alte Herr war auch immer ängstlich
und meinte, es lasse sich ohne großes Wagnis schon bei uns etwas ge-
winnen, nnd mag damals nicht unrecht gehabt haben, aber nun ist's lange
anders geworden, drum muß man's anders treiben." Da standen die
beiden Herren auf, gingen lange im Zimmer auf und ab und berat-
schlagten. Nachdem jedes Für und Wider hinreichend erwogen war, wurde
beschlossen, daß Jansen reisen sollte.
4. Vier Wochen später schritt Herr van Steen in seinem Ratsherrn-
gewande mit Jansen neben und zwei schwerbepackten Dienern hinter sich
dem Hafen zu. Die den ganzen Hafendamm bedeckende Menge Volkes,
die unter Musik und Jauchzen der Zurüstung und Abfahrt des großen
Handelsschiffes harrte, machte, als Herr Gruit mit Jansen ankam, ehr-
erbietig Platz; denn der wackere Mann war geliebt und geachtet oon alt
und jnng, vornehm und gering. Einige Ratsherren, Freunde der beiden,
traten freundlich grüßend hinzu, und der ältere, ein Mann mit greisem
Haar und Bart, sprach: „Freund Hermann, Euer Schiff ist gar schwer
bepackt und beladen. Ihr habt doch nicht znviel gewagt? Denn weit ist
der Weg, gefährlich die Fahrt, und unser Jansen ist eben auch nicht mehr
einer der Jüngsten!" Herr Hermann zuckte die Achsel und erwiderte:
„Der Jansen hat's auf sich; auf seinen Rat geschieht's; ihm, seiner Treue,
Kenntnis und Geschicklichkeit hab' ich vertraut und alles überlassen." Da-
gegen ließ sich Jansen mnnter vernehmen: „Laßt's euch nicht anfechten,
ihr Herren, zum drittenmal mach' ich die Fahrt, aller guten Dinge sind
drei, darnm hoff' ich fest, wir sehen uns gesund und freudig wieder; wir
haben ja das Sprichwort: Gott verläßt keinen Deutschen — und den
alten Jansen gewiß gar nicht; darnm lebt wohl!"
9*
132
5. Da donnerte der erste Signalschuß zur Abfahrt, das Boot, das
Jansen einnehmen sollte zur Überfahrt nach dem Schisse, hatte eben ge-
landet. Der ehrliche Alte drückte seinem Herrn noch einmal kräftig beide
Hände; ein paar Tränen träufelten dabei in seinen Bart, und er sprang
rasch ins Boot. Die Musik ertönte lebhafter; leicht hintanzend über die
spiegelglatte Wasserfläche, langte das Boot am Schiffe an. Hinauf stieg
Jansen, dann wurde schnell die Leiter wieder zurückgezogen, das Boot
befestigt und der große Anker aufgewunden. Sogleich donnerte der letzte
Signalschuß zur Abfahrt, alle Wimpel flaggten, und stolz flog das Schiff
dahin, alle Segel geblüht vom günstigen Winde; vom Verdeck winkte noch
einmal Jansen das letzte Lebewohl, und bald war das Schiff dem Auge
kaum mehr sichtbar. Die Menge verlief sich, und die Herren schritten
unter freundlichen Gesprächen ihren Wohnungen zu.
6. Fast anderthalb Jahre waren schon seitdem verflossen, und kein
Jansen kam zurück, noch irgend eine Nachricht von ihm, wohl aber hatten
sich dunkle Gerüchte verbreitet von gescheiterten deutschen Handelsschiffen
in der Gegend der Bahamainseln. Immer bedenklicher ward die Miene
des Herrn Hermann und immer sorgenvoller seine Stirn. Einen großen
Verlust nach dem andern hatte er erlitten durch den Fall mehrerer
Handelshäuser zu Brauuschweig, Nürnberg, Augsburg und Ulm, und
täglich noch trafen Unglücksbriefe ein. Herr Gruit war eben daran, die
Bilanz zu ziehen, darum herrschte eine Grabesstille im Kontor; man horte
jeden Atemzug und das leise Schnarren der Federn emsig schreibender
Handlungsgehilfen, die nur manchmal ängstlich die Augenlider hoben,
ohne ihre Körperstelluug zu verändern, wenn ein schwerer Seufzer des
Herrn Gruit wie ein klagender Geist die schwüle Zimmerluft durchzitterte
oder ein großer Schweißtropfen von seiner gefalteten Stirn auf das
Papier niederfiel. Endlich schlug der Herr die Augen auf, sah fest das
ihm gegenüberhängende Bild seines Vaters an, und eine große heiße
Träne tropfte herab auf das Hauptbuch. Da schrak er zusammen, fuhr
mit der Hand über Stirn und Augen, gleichwie aus einem schweren
Traum erwachend, legte langsam die Feder nieder, klappte leise das Buch
zu und ging hinauf in das Familienzimmer. Dort kleidete er sich in
seine volle Amtstracht als Ratsherr, küßte seine Frau und seine drei
muntern Kinder und ging mit der Äußerung, heute sei Ratssitzung, sie
sollten mit dem Essen nicht auf ihn warten, hinunter.
7. Die Grüne Gasse entlang schritt er dem Rathause zu; ein Diener
trug ihm das schwere Hauptbuch nach. Im Ratssaale legte er vor den
erstaunten Kollegen die Ehrenzeichen seiner Würde ab und gab sich als
zahlungsunfähig an. Die Herren erschraken, sahen das Hauptbuch durch,
erkannten daraus zwar seine Zahlungsunfähigkeit, aber zugleich seine
Schuldlosigkeit, und beschlossen einstimmig, ihm noch eine halbjährige Frist
133
zu gestatten als die äußerste Zeit, iu der man Jausen noch zurückerwarten
könne, wenn das Schiss nicht verunglückt sei.
8. Das halbe Jahr und zwei Monate darüber waren schon ver-
strichen, aber Jansen war noch nicht gekommen. Herrn Hermanns Um-
stände hatten, statt sich zu heben, sich noch schlimmer gestaltet. Da drangen
die durch die Fristvergünstigung schon erbitterten Gläubiger so ungestüm
aus den strengsten Vollzug der Versteigerung des Hausrats, daß der
Magistrat notgedrungen dem Recht in voller Ausdehnung seinen Gang
lassen mußte. Alles war unter Siegel gelegt, und dem armen Gruit
samt seiner Familie blieb nur das kleine Stübchen links am Hauseingange,
wo sonst der Hausknecht schlief, zur Wohnung.
9. Eben hatte die Versteigerung der fahrenden Habe begonnen
drüben im geräumigen Kontor, gedrängt voll Menschen war das Zimmer,
laut tönte die Stimme des Ausrufers. Schrecklich klang dieser Nus Herrn
Hermann drüben im Stübchen, und mit jedem Niederfallen des Hammers
fuhr es ihm wie ein Schwert durchs Herz; er saß, den Kops in die Hand
gestützt, tiefsinnig am Fenster und starrte das Schild seines Nachbars,
des Wirts zum Westindiensahrer, an, als wollte er es mit den Augen
festnageln. Die gute Frau Elisabeth aber saß am Ofen, die rotgeweinten
Augen zur Erde gewendet, die Hände gefaltet und fest zusammengepreßt,
während die beiden jüngern Knaben, unbekümmert um alles, mit der
großen Angorakatze spielten. Fritz, der älteste, aber hielt den quer vor
der Tür liegenden zottigen Haushund bei den Ohren fest, als er auf ein
Anklopsen an die Tür aufspringen wollte, und sagte begütigend: „Sei nur
still, Voll, ich leid's nicht, daß sie dich verkaufen!"
10. Vorsichtig über den Hund wegschreitend, trat Stephan, der Rats-
diener, herein, ein gutmütiger Alter, der früher oft mit freundlichem Bück-
linge Herrn Hermann die Türe des Ratssaales geöffnet hatte, und sprach
mit vor Mitleid zitternder Stimme: „Herr Senator, den Lehnsessel soll
ich holen." Da wandte Hermann den Blick und erwiderte seufzend: „Ach,
das Härteste noch; doch dein Wille, o Gott, geschehe!" Es war der mit
grünem Sammet bezogene Lehnsessel des seligen alten Herrn, worin er
sanft verschieden war, nachdem er noch den väterlichen Segen erteilt hatte,
bis dahin als unberührtes Heiligtum im Hause gehalten. Hinaus wurde
der Sessel getragen, und ihm folgte die ganze Familie nach, als könne
sie sich nicht davon trennen, Fritz mit dem Voll voraus.
11. Der Auktionator ries: „Nr. 120, ein noch wohlerhaltener Lehn-
sessel, mit Sammet beschlagen!" worauf eine lange Pause folgte, da sieh
alle Blicke nach der jammernden Familie gewendet hatten. Endlich bot
mit schnarrender Stimme ein dicker Fleischer: „Vier Mark!" — „Also
t>ier Mark zum ersten," ries der Auktionator mißmutig, — iu diesem
Augenblick riß sich der schon seit Minuten unruhig schnobernde Voll von
134
Fritz los und sprang, wie besessen, freudig bellend vors Haus, und zu-
gleich rief eine starke Baßstimme zum offenstehenden Fenster herein:
„Vierzig Mark zum ersten!" Einen Augenblick darauf trat ein von
eiligem Laufe glühender Mann mit sonnenverbranntem Gesicht in Schisser-
tracht hastig ins Zimmer, begleitet vom wedelnden Voll, und wiederholte
mit Donnerstimme: „Vierhundert Mark zum andern, zum dritten und
letztenmal!" und schlug mit seinem spanischen Rohre dergestalt auf den
Tisch, daß des Versteigerers Papiere umherflogen und dieser wie die ganze
Menge zusammenschrak.
12. „Herr Gott, unser Jansen!" rief Herr van Gruit und fiel ihm
um den Hals; der aber fuhr fort: „Ja, ich bin's, unser Schiff liegt voll
Waren, worunter auch Goldbarren, im Hafen; aus ist die Versteigerung;
nun fort ihr alle! Morgen kommt aufs Rathaus, da soll alles samt Zinsen
bezahlt werden; denn wissen sollt ihr: Unser alter Herrgott lebt noch, unser
gutes Haus steht noch, und die Firma Gruit van Steen blüht noch! Und
nun seid erst freudig gegrüßt in der Heimat, mein Herr Hermann und
Frau Elisabeth, von eurem alten Jansen!" Karl Barth.
106. Die Posaune des Gerichts.
1. Gerade dort, wo die Gemarkungen zweier Dörfer sich scheiden, mitten
im Walde, wurde in der Frühlingsnacht zur Zeit des Vollmondes eine
schreckliche Tat vollbracht. Ein Mann kniete auf einem andern, der leblos
dalag. Eine Wolke verhüllte das Antlitz des Mondes; die Nachtigall hielt
inne mit ihrem schmetternden Gesang, als der Knieeude den Dahin-
gestreckten aussuchte und alles, was er fand, zu sich steckte. Jetzt nahm
er ihn auf die Schulter und wollte ihn hinabtragen an den Strom, der
fernher rauschte, um ihn dort zu versenken. Plötzlich blieb er stehen,
keuchend unter der toten Last. Der Mond war herausgetreten und warf
sein sanftes Licht durch die Stämme, und es war, als ob aus den
Strahlen des Mondes die Töne eines herzergreifenden Liedes getragen
würden. Ganz nahe blies ein Posthorn die Weise des Liedes: „Denkst
du daran!" Der Widerhall in Tal und Feld gab es zurück, und es war,
als ob die Bäume und die Berge sängen: „Denkst du daran!" Dem
Tragenden war's, wie wenn die Leiche auf seinem Rücken lebendig würde
und ihn erwürge. Schnell warf er die Last ab und sprang davon, immer
weiter und weiter. Endlich am Strome blieb er stehen und lauschte hin.
Alles war still, und nur die Wellen flössen schnell dahin, als eilten sie
fort von dem Mörder. Dieser ärgerte sich jetzt, daß er die Spuren seiner
Tat nicht vertilgt hatte und sich von sonderbarer Furcht forttreiben ließ.
Er eilte nun zurück, wandelte hin und her, bergauf und bergab; der
Schweiß rann ihm von der Stirn; es war ihm, als ob er Blei in allen
135
Gliedern hätte. Mancher Nachtvogel fuhr flatternd auf, wenn er so
durchs Dickicht drang; aber nirgends fand er das Gesuchte. Er hielt
an, um sich zurechtzufinden, um sich die Gegend genau zu vergegen-
wärtigen; aber kaum war er drei Schritte gegangen, so war er in der
Irre. Alles flimmerte vor seinen Augen, und es war ihm, wie wenn die
Bäume auf- und niederwandelten und ihm den Weg verstellten. Der
Morgen brach endlich an. Die Vögel schwangen sich auf und sangen
ihre Hellen Lieder; vom Tale und aus den Bergen hörte man Peitschen
knallen. Der Mörder machte sich eiligst davon.
2. Die Leiche wurde gefunden und nach dem Dorfe gebracht, in dessen
Gemarkung sie lag. An der rechten Schläfe trug der entseelte Körper
Spuren eines Schlages wie von einem scharfen Steine. Kein Wander-
bnch, kein Kennzeichen war zu finden, aus dem man die Herkunft des
Entseelten entnehmen konnte. Auf dem Kirchhofe, der neben der Kirche
hoch oben auf dem Hügel liegt, an dessen Fuß die Landstraße, in Felsen
gehauen, vorüberzieht, sollte nun des andern Tages der tote Fremde be-
graben werden. Eine unzählige Menge Menschen folgte dem Zuge. Sie
waren aus allen benachbarten Dörfern gekommen; jeder wollte seine Un-
schuld, seine Trauer und seine Teilnahme bekunden. Still, ohne laute
Klage, nur mit tiefem Weh im Herzen bewegte sich der Zug den Berg
hinan. Der Geistliche hielt eine ergreifende Rede. Zuerst redete er den
Entseelten an und sprach:
„Auf dem Wege bist du gefallen. Wer weiß, wohin dein Herz sich
sehnte, welches Herz dir entgegenschlug! Möge der, der alles kennt und
alles heilt, Ruhe und Frieden in die Seele der Deinigen senden! Un-
bekannt bist du gefallen, von unbekannter Hand. Niemand weiß, woher
du kamst, wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang und deinen
Ausgang kennt, hat dich Bahnen hinansteigen lassen, die unser Auge nie
mißt. Zu welcher Kirche du gehörtest, welche Sprache du redetest, wer
mag den stummen Mund fragen? Du stehst jetzt vor ihm, der über
allen Kirchen thront, den alle Sprachen nennen und doch nicht zu fassen
vermögen." „Erhebet mit mir eure Hände!" fuhr der Geistliche zu den
Versammelten fort, und alle hoben die Hände empor. Dann sprach er
wieder: „Wir heben unsere Hände empor zu dir, o Allwissender! Sie
sind rein von Blutschuld. Hier im Lichte der Sonne bekennen wir: Wir
sind rein von dieser Tat. Die Gerechtigkeit wird aber nicht ausbleiben. Wo
du auch weilest, der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst, das
Schwert schwebt unsichtbar über deinem Haupte, und es wird fallen und
dich zerschmettern. Kehre um, solange es noch Zeit ist! Häufe nicht
Frevel auf Frevel; denn einst, wenn sie ertönt, die Posaune des Ge-
richts ..."
3. Da plötzlich hörte man von der Straße herauf das Posthorn er-
136
schallen. Das Lied erklang: „Denkst dn daran!" Alles schwieg und hielt
den Atem an. Aus der Mitte der Versammelten stürzte ein junger
Mann nieder und ries: „Ich bin's!" Nachdem man ihn aufgehoben,
gestand er reumütig seine Tat, wie er in der Stadt das Geld des
Herrn, bei dem er diente, verspielt habe; wie er den Fremden, den er
nur niederwerfen wollte, ermordet habe; wie das Posthorn ihn ver-
wirrt, wie er seine Hand brennend gefühlt, als er sie zum Himmel er-
hoben, und wie jetzt dieselben Tone des Posthorns ihm das Geständnis
abpreßten.
Still, ohne taute Klage, nur mit leisem Weh im Herzen hatte sich
der Zug den Berg hinan bewegt; mit zitternder Seele, Tränen in den
Augen, laut das Unheil beklagend, kehrten viele heim. Zwei Menschen
waren auf ewig aus der Genossenfchaft der Menschen geschieden.
Es wird nichts so fein gesponnen,
es kommt doch endlich an die Sonnen.
Bert hold Auerbach.
107. Der ^heilte Kranke.
1. Reiche Leute haben trotz ihrer gelben Vögel doch manchmal
auch allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen gottlob!
der arme Mann nichts weiß. Denn es gibt Krankheiten, die nicht
in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln und Gläsern
und in den weichen Sesseln und seidenen Betten, wie jener reiche
Amsterdamer ein Wort davon reden kann. Den ganzen Vormittag
saß er im Lehnsessel und rauchte Tabak, wenn er nicht zu faul war,
oder hatte Maulaffen feil zum Fenster hinaus, aß aber zu Mittag
doch wie ein Drescher, und die Nachbarn sagten manchmal: „Windet’s
draußen, oder schnauft der Nachbar so?“ Den ganzen Nachmittag
aß und trank er ebenso, bald etwas Kaltes, bald etwas Warmes, ohne
Hunger und ohne Appetit, aus lauter Langweile, bis an den Abend,
also daß man bei ihm nie recht sagen konnte, wo das Mittagessen
aufhörte und wo das Nachtessen anfing. Nach dem Nachtessen legte
er sich ins Bett und war so müde, als wenn er den ganzen Tag
Steine abgeladen oder Holz gespalten hätte. Davon bekam er zuletzt
einen dicken Leib, der so unbeholfen war wie ein Maltersack. Essen
und Schlaf wollten ihm nimmer schmecken, und er war lange Zeit,
wie es manchmal geht, nicht recht gesund und nicht recht krank.
Wenn man ihn aber selber hörte, so hatte er 365 Krankheiten, näm-
lich alle Tage eine andere. Alle Ärzte, die in Amsterdam sind,
mußten ihm raten. Er verschluckte ganze Feuereimer voll Tränkchen
und ganze Schaufeln voll Pulver, und Pillen, wie Enteneier so groß,
187
und man nannte ihn scherzweise nur die zweibeinige Apotheke. Aber
alle Arzneien halfen ihm nichts; denn er befolgte nicht, was ihm die
Arzte befahlen, sondern sagte: „Wofür bin ich ein reicher Mann,
wenn ich leben soll wie ein Hund, und der Arzt will mich nicht
gesund machen für mein Geld?“
2. Endlich hörte er von einem Arzte, der 100 Stunden weit weg
wohnte, der sei so geschickt, daß die Kranken gesund würden, wenn
er sie nur recht anschaue, und der Tod gehe ihm aus dem Wege,
wo er sich sehen lasse. Zu dem Atzte faßte der Mann ein Zutrauen
und schrieb ihm seinen Umstand. Der Arzt merkte bald, was ihm
fehle, nämlich nicht Arznei, sondern Mäßigkeit und Bewegung, und
sagte: „Wart, dich will ich bald kuriert haben!“ Deswegen schrieb
er ihm ein Brieflein folgenden Inhalts: „Guter Freund! Ihr habt
einen schlimmen Umstand; doch wird Euch zu helfen sein, wenn Ihr
folgen wollt. Ihr habt ein böses Tier im Bauch, einen Lindwurm
mit sieben Mäulern. Mit dem Lindwurm muß ich selber reden, und
Ihr müßt zu mir kommen. Aber fürs erste, so dürft Ihr nicht fahren
oder auf dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuhmachers Rappen;
sonst schüttelt Ihr den Lindwurm, und er beißt Euch die Eingeweide
ab, sieben Därme auf einmal ganz entzwei. Fürs andere dürft Ihr
nicht mehr essen als zweimal des Tages einen Teller voll Gemüse,
mittags ein Bratwürstlein dazu und nachts ein Ei und am Morgen
ein Fleischsüpplein mit Schnittlauch drauf. Was Ihr mehr esset,
davon wird nur der Lindwurm größer, also daß er Euch die Leber
erdrückt, und der Schneider hat Euch nimmer viel anzumessen, aber
der Schreiner. Dies ist mein Rat, und wenn Ihr mir nicht folgt, so
hört Ihr im andern Frühjahr den Kuckuck nimmer schreien. Tut,
was Ihr wollt!“
3. Als der Kranke so mit sich reden hörte, ließ er sich sogleich
den andern Morgen die Stiefel salben und machte sich auf den
Weg, wie ihm der Doktor befohlen hatte. Den ersten Tag ging es
so langsam, daß wohl eine Schnecke hätte können sein Vorreiter
sein. Und wer ihn grüßte, dem dankte er nicht, und wo ein Würmlein
auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten und
dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel schon lange
nimmer so lieblich gesungen hätten wie heute, und der Tau schien
ihm so frisch und die Kornrosen im Felde so rot, und alle Leute,
die ihm begegneten, sahen so freundlich aus und er auch. Und alle
Morgen, wenn er aus der Herberge ausging, war’s schöner, und er
ging leichter und munterer dahin. Und als er am 18. Tage in der
Stadt des Arztes ankam und den andern Morgen aufstand, war es
ihm so wohl, daß er sagte: „Ich hätte zu keiner ungeschickteren
138
Zeit können gesund werden als jetzt, wo ich zum Doktor soll. Wenn
mir's doch nur ein wenig in den Ohren brauste, oder das Herzwasser
liefe mir!“ Als er zum Doktor kam, nahm ihn der bei der Hand
und sagte ihm: „Jetzt erzählt mir denn noch einmal von Grund aus,
was Euch fehlt!“ Da sagte er: „Herr Doktor, mir fehlt, gottlob,
nichts, und wenn Ihr so gesund seid wie ich, so soll's mich freuen.“
Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist geraten, daß Ihr
meinem Rate gefolgt seid. Der Lindwurm ist jetzt abgestanden.
Aber Ihr habt noch Eier im Leibe; deswegen müßt Ihr wieder zu
Fuß heimgehen und daheim fleißig Holz sägen, daß es niemand sieht,
und nicht mehr essen, als Euch der Hunger ermahnt, damit die Eier
nicht ausschlüpfen; so könnt Ihr ein alter Mann werden,“ und lächelte
dazu. Aber der reiche Fremdling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein
feiner Kauz, ich versteh’ Euch wohl,“ und hat nachher den Rat
befolgt und 87 Jahre 4 Monate 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im
Wasser so gesund, und hat alle Neujahr dem Arzte zwanzig Gold-
stücke zum Gruß geschickt.
Johann Peter Hebel.
Arbeit, Mäßigkeit und Ruh’
schließt dem Arzt die Türe zu.
108. Kannitverstan.
1. Der Mensch Hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und
Gundelfingen so gut als in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand
aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden
mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in
der Luft umherfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein
deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahr-
heit und zur Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handels-
stadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen
gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus in die
Augen, wie er auf feiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis nach
Amsterdam noch keins erlebt hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung
dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dache, die schönen Ge-
simse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die
Tür. Endlich konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden an-
zureden. „Guter Freund," redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen,
wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern
voll Tulipanen, Sternenblumen und Levkojen?" — Der Mann aber,
der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück gerade so
viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der
holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan!"
139
und schnurrte vorüber. Das war ein holländisches Wort, oder drei, wenn
man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel als: „Ich kann Euch
nicht verstehn." Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des
Mannes, nach dem er gefragt hatte. „Das muß ein grundreicher Mann
sein, der Herr Kannitverstan," dachte er, und ging weiter.
2. Gaßaus, gaßein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt
Het Ey, oder ans deutsch das Apsilon. Da stand nun Schiff an Schiff
und Mastbaum an Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er es
mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdig-
keiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff
seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt
war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von
Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer wurden
mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und
Pfeffer. Als er aber lange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der
eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße,
dem das Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannitverstan,"
war die Antwort. Da dachte er: „Haha, schaut's da heraus? Kein
Wunder! Wem das Meer solche Reichtümer an das Land schwemmt, der
hat gut solche Häuser in die Welt stellen und solcherlei Tulipanen vor
die Fenster in vergoldeten Scherben." Jetzt ging er wieder zurück und
stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein
armer Mensch sei unter so viel reichen Leuten in der Welt.
3. Aber als er eben dachte: „Wenn ich's doch nur auch einmal so
gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat," kam er uni eine Ecke
und erblickte einen großen Leichenzug. Bier schwarz vermummte Pferde
zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und
traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in feine Ruhe führten.
Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte
nach, Paar an Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der
Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein
wehmütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er
eine Leiche sieht, und er blieb mit dem Hute in den Händen andächtig
stehen, bis alles vorüber war. Doch machte er sich an den Letzten vom
Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an feiner Baumwolle
gewinnen könnte, wenn der Zentner um zehn Gulden aufschlüge, ergriff
ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Entschuldigung. „Das
muß wohl auch ein guter Freund von Euch gewesen sein," sagte er, „dem
das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht."
„Kannitverstan!" war die Antwort.
4. Da sielen unserm guten Handwerksburschen ein paar große Tränen
aus den Augen, und es ward ihm auf einmal schwer und wieder leicht
140
ums Herz. „Armer Kannitverstan!" rief er aus, „was hast du nun
von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch be-
komme, ein Totenkleid und ein Leintuch und von allen deinen schönen
Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute."
Mit diesen Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte,
bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in
seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von
der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher deutschen,
auf die er nicht acht gab. Endlich ging er leichten Herzens mit den
andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man deutsch ver-
stand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm
wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in der Welt so
reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan
in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein
enges Grab. Johann Peter Hebel.
109. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
1. In einer Handelsstadt Norddentschlands lebte ein Kaufmann
namens Müller. Ihm begegnete oft ein junger, wohlgekleideter
Mensch, der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr Müller er-
widerte den Gruß zwar gern, aber da er sich nicht erinnerte, den
jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so glaubte er, daß
dieser ihn mit einem andern verwechsele. Eines Tages nun war
Herr Müller zu einem Freunde eingeladen, und als er zur bestimm-
ten Zeit in dessen Hause eintraf, fand er denselben jungen Mann
schon mit dem Hausherrn im Gespräch. Der Wirt wollte nun seine
beiden Freunde miteinander bekannt machen; aber der jüngere sagte:
„Das ist nicht nötig; wir kennen uns schon viele Jahre.“ „Ich
glaube, Sie sind im Irrtum,“ erwiderte Herr Müller; „ich habe aller-
dings seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von Ihnen be-
kommen, aber sonst sind Sie mir ganz fremd.“ „Und doch kenne
ich Sie lange,“ antwortete der junge Mann, „und freue mich, Ihnen
heute herzlich danken zu können.“ „Wofür wollen Sie mir danken?“
fragte Herr Müller. „Das ist allerdings eine alte Geschichte,“ ver-
setzte jener; „aber wenn Sie mir einige Augenblicke zuhören wollen,
so werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern.
2. Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun
Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe
voll der schönsten Äpfel zu sehen. Ich bekam nur selten Obst und
betrachtete daher recht lüstern die herrlichen, großen Äpfel. Die
Eigentümerin sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer
Ware den Rücken zugekehrt. Da kam mir der Gedanke, einen ein-
141
zigen Apfel heimlich zu nehmen; ich dachte, die Frau behielte ja
noch eine große Menge. Leise streckte ich meine Hand aus und
wollte eben ganz vorsichtig meine Beute in die Tasche stecken: da
bekam ich eine derbe Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den Apfel
fallen ließ. „Junge!“ sagte zugleich der Mann, der mir die Ohr-
feige gegeben hatte, „wie heißt das siebente Gebot? Nun, ich
hoffe, daß du zum erstenmale dagegen sündigst; laß es
zugleich das letzte Mal sein!“ Vor Scham wagte ich kaum,
die Augen aufzuschlagen, aber doch ist mir das Antlitz jenes Mannes
unvergeßlich geblieben. In der Schule war ich sehr unaufmerksam,
ich glaubte immer von neuem die Worte zu hören: „Laß es
das letzte Mal sein!“ Und ich nahm mir fest vor: Ja, es soll ge-
wiß das erste und letzte Mal sein! Aber auch lange nachher, wenn
ich aus dem Katechismus das siebente Gebot aussagen sollte, dachte
ich mit heftigem Herzklopfen an jenen Morgen. — Als ich nach
einigen Jahren die Schule verließ, ward ich Lehrling bei einem
Kaufmann in Bremen; von dort ging ich später nach Südamerika.
Hier kam ich wohl manchmal in Versuchung, in Kaufmannsgeschäften
andere zu betrügen und so die Hand nach fremdem Gute auszu-
strecken; aber dann war es mir immer, als fühlte ich von neuem die
Ohrfeige, und ich erinnerte mich der Worte: „Laß es zugleich
das letzte Mal sein!“ So bin ich ehrlich geblieben, und in dem
Vermögen, welches ich mit herübergebracht habe, ist kein Pfennig
unrechten Gutes. Gott sei dafür gelobt!“
So erzählte der junge Mann; dann aber ergriff er die Hand des
Herrn Müller und sagte: „Darf ich nun diese Hand, die mir eine
solche Wohltat erwiesen hat, recht dankbar drücken?“
Oldenburger Volksbote.
110. Eine brave Tat.
1. In einem fruchtbaren Wiesentale am rechten Ufer des wilden
Inn liegt ein kleines Pfarrdorf. Das Kirchlein, das Pfarrhaus, die
Schule und das Wirtshaus liegen auf einem Hügel einträchtig bei-
sammen und beherrschen das Dorf lein unter ihnen als die vornehmsten.
Zwei der ansehnlichsten Bauernhöfe in der Niederung waren der
Neuhof und der Kreuzhof. Die Güter der beiden Höfe grenzten
aneinander, die Hofbauern waren Nachbarn, und zwar gute und ge-
treue Nachbarn. Ihre Väter aber waren die erbittertsten Feinde
gewesen, die sich jahrelang mit steigendem Hasse bekämpft und sich
beinah an den Rand des Verderbens gebracht hatten um ein Nichts,
um eine mit Geröll und Steinen bedeckte wüste Fläche zwischen
den beiden Hofgütern. Der würdige Ortspfarrer hatte sie endlich
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versöhnt, und beide hatten wenige Jahre danach ihren Söhnen die
wieder in blühenden Stand gebrachten Hofgüter und — ihre Freund-
schaft hinterlassen. Die beiden Söhne, Franz Förster, der Neu-
höf er, und Anton Langer, der Kreuzhöfer, hielten auch diesen
besten Teil der Erbschaft lange in Ehren. Leider aber begann im
Laufe der Zeit der alte Streit von neuem, und es kam zum Prozeß,
den der Kreuzhöfer gewann. Wohl ging er mit seiner Frau Christiane
nach dem Hofe des Nachbarn, um ihm die Hand zur alten Freund-
schaft zu bieten. Doch den hatten die Leidenschaft und der Wein
sinnlos gemacht, er trieb beide aus seinem Hause, ja, er führte, blind
vor Aufregung, einen Schlag nach Frau Christiane, welche der
Schreck über diese rohe Behandlung aufs Krankenlager warf. Ihr
Mann ging in die Stadt und erhob Klage gegen den Neuhöfer wegen
Beleidigung und Körperverletzung. In diesem Falle hatte der
Richter keine schwere Arbeit, der Neuhöfer leugnete nicht, und in
Anbetracht seiner fleckenlosen Vergangenheit wurde auf das geringste
Strafmaß: „drei Tage Gefängnis“, erkannt. Schon am folgenden
Tage meldete er sich zur Verbüßung der Strafe.
2. Das waren drei schlimme Tage, nicht nur für den Neuhöfer,
der im Gefängnis saß, sondern auch für das ganze Tal, namentlich
aber für die Niederung, an der das Dörflein Gert um lag. Schwere
Gewitter zogen herauf, Wolkenbrüche gingen nieder, und die Berg-
wässerlein des Hausruck, sonst nur harmlose Spielplätze der Forellen,
schwollen zu Strömen an. Von allen Halden stürzten sie nieder in
das Tal und schossen dem Inn zu, ihm zu helfen bei seinem Angriff
auf die Dämme. Schon drei Tage und drei Nächte dauerte der
Kampf der Elemente gegen das kleine freundliche Dörflein, und
schon seit drei Tagen und drei Nächten kämpften die braven Bauern
auf den Dämmen gegen die Übermacht des Feindes.
3. Bei schon sinkender Nacht des dritten Tages kehrte Langer,
der Kreuzhöfer, in seine Behausung zurück. In der Wohnstube ließ
er den regendurchnäßten Mantel fallen und warf sich erschöpft in
den Lehnstuhl. „Das hat gegolten, Frau! Ich glaube, der Himmel
ist uns gnädig, Sturm und Regen haben nachgelassen, und das Ärgste
ist überstanden!“ — „O Anton,“ jammerte die Frau, „was für eine
Heimsuchung! Gott wird doch barmherzig sein!“ — „Weine nicht,
er ist’s! Und jetzt koch mir nur Kaffee!“ — „So ist keine Gefahr
mehr?“ — „Ich glaube, nein, sonst wär’ ich nicht hier. Was wohl
der Franz jetzt machen wird? Die ganze Zeit kommt er mir nicht
aus dem Sinn. Na, bis morgen ist er frei. Danke, Christel, dein
Kaffee war gut. Doch jetzt ins Bett, die Knochen fallen mir aus-
einander.“ Der übermüdete Mann fiel in einen unruhigen Schlaf, in
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dem ein Traumbild das andere jagte, und in allen spielte die Person
des Neuliöfers eine Rolle. Da plötzlich trommelten zwei Fäuste an
dem Fensterladen, und „Meister, Meister!“ rief draußen eine Stimme,
„um Gottes willen, wacht auf!“ — „Was gibt es, Sepp?“ — „Her-
aus, alles heraus! Hört Ihr nicht die Sturmglocke? Die Dämme
sind gebrochen, das Wasser steht schon im Hof!“
4. Mit einem Sprunge war Langer am Fenster und stieß den
Laden auf. Auf dem etwas tiefer liegenden Hofe wogten die Fluten
und plätscherten schon bis an die Schwelle der Haustür. Der
Himmel war wieder klar, und der Vollmond lachte mit seinem ewig
dummfreundlichen Gesicht auf die Verwüstung herunter. „Sepp,
schnell hinauf in die Ställe, laß das Vieh heraus!“ — „Ja, Herr,“
sagte der Knecht und sprang hinunter in die Flut. Das Wasser
ging ihm schon bis an die Knie. „Weib, wirf deine Kleider um,
und nimm das Kästchen, es ist mein ganzes Vermögen. Ich hole
den Anton!“ Eine Minute später standen die drei Menschen unter
der Haustür, schon über die Knöchel im Wasser. „Das Wasser
steigt, jetzt gilt’s das Leben! Christiane, halt dich an meinen Rock-
schößen! Anton, klammere dich an meinen Hals! Und nun mit
Gott!“ Den weinenden Buben auf dem Rücken und seine Frau
nach sich schleppend, die ein Vaterunser murmelte, stieg er in das
Wasser hinunter und watete vorwärts durch die strömende Flut. Nach
unsäglichen Anstrengungen hatten sie sich endlich bis aufs Trockene
durchgekämpft, und erschöpft warfen sie sich auf die Erde. „Wir können
hier nicht rasten, Meister,“ warnte der Knecht, „das Wasser steigt
rasend schnell, wir müssen weiter!“ — „Nur einen Augenblick aus-
schnaufen, Sepp, braver Sepp!“ keuchte der Bauer. — „Dort auf dem
Pfarrhügel haben sie Feuer angezündet, dort sind wir in Sicherheit und
können die Kleider trocknen. Die Bäuerin zittert vor Frost und Angst!“
5. Nach zehn Minuten waren sie auf dem Pfarrhügel angelangt.
Die halbe Gemeinde war dort um das Feuer versammelt und starrte
entsetzt in die grausamen Fluten, die ihr Heim verwüsteten. Doch
wurden die Kreuzhöfer mit Jubelruf empfangen. Langer warf sich
erschöpft am Feuer nieder. Der Pfarrer streckte ihm beide Hände
entgegen: „Ja, Gott sei gelobt, wir gaben euch schon verloren!
Anton, führe dein Weib mit ihrem Knaben auf den Pfarrhof, meine
Schwester wird ihnen trockene Kleider und Erfrischung geben.“
Langer erholte sich langsam: „Gottes Dank, Herr Pfarrer, diesmal
ist’s hart am Leben vorbeigegangen. Mein Haus ist hin, — ha,
seht Ihr dort die Balken treiben? Das ist mein Haus gewesen, —
das ist nun fort, aber wir sind noch da, und Gott wird weiter
helfen. Ist niemand verunglückt?“ — „Da schaut hinaus,“ sagte der
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Bürgermeister und zeigte auf den vom Monde beschienenen Strom,
der zwischen den Häusern des Dorfes durchbrauste, „wer kann
wissen, wer in dieser Schreckensnacht umgekommen? Ein Dutzend
Häuser sind schon fort; wenn das Wasser nicht fällt, geht das ganze
Dorf zugrunde!“ — -Der Förster kann sich bei Euch bedanken,
daß Ihr ihn in Numero Sicher und ins Trockene gesetzt habt,“ sagte
der Barbier Martin, der selbst bei dieser Schreckensszene nicht unter-
lassen konnte, einen Witz zu machen. Der Neuhof lag einige hundert
Schritt weit entfernt am Fuße des Pfarrhügels, das Haus war von den
Fluten umtobt, die bereits den angebauten Stall weggerissen hatten.
6. „Der Förster?“ Der Kreuzhöfer sprang auf die Füße, „und
wo ist sein Weib und sein Bub?“ Niemand hatte sie gesehen.
„Barmherziger Gott, sind sie noch in dem verlornen Hause?!
Marianne! Marianne! Hohiho!“ schrie er hinüber. Doch seine
Stimme verklang in dem Brausen der Flut. Er warf seinen Rock
ab. „Was willst du tun?“ rief der Pfarrer und faßte den Kreuz-
höfer am Arm. „Sein Weib und sein Kind retten!“ schrie dieser
und rannte den Hügel hinab. — „Gott schütze ihn, er ist verloren!“ —
Der Knecht Joseph kam eben vom Pfarrhofe herab und sah seinen
Herrn sich mitten in dem Strome vorwärts kämpfen. „Männer, nehmt
Stricke und Stangen, und hinunter zum Wasser! Wir fangen ein
paar Balken auf und binden ein Floß zusammen, vielleicht kommen
wir noch zur rechten Zeit!“
7. Langer hatte inzwischen auf seinem gefahrvollen Wege
glücklich sein Ziel erreicht und sich an dem Rebgeländer des wan-
kenden Hauses festgeklammert. „Frau Marianne, ho! Frau Marianne!“
— „Hier! zu Hilfe, zu Hilfe!“ rief eine Frauenstimme zur Dachluke
heraus. „Ich bin's, der Kreuzhöfer! Weil ich die Ursache bin, daß
dein Mann in dieser Unglücksnacht dir nicht helfen kann, so will
ich’s versuchen. Wirf mir den Buben herunter, ich hole dich her-
nach!“ — „Den Anton? Um Gottes willen, ich kann nicht, das ist
sein Tod!“ schrie das arme Weib. „Wart, ich komme!“ Er kletterte
an dem Geländer hinauf zur Dachluke. „Her mit dem Buben, sonst
ist'8 zu spät.“ — „Mutter, ich will nicht! Es ist der böse Kreuz-
höfer, der den Vater eingesperrt hat! Er will mich ersäufen!“
schrie der Knabe. — „Herunter mit ihm!“ Langer faßte den
schreienden Knaben am Arm und sprang mit ihm hinunter in das
tosende Wasser. Noch hatte er festen Boden, aber die Fluten
reichten ihm schon bis über die Brust. Den Knaben auf der
Schulter rang er sich vorwärts auf diesem Todesgange. Bald lang-
sam vorwärtsschreitend, bald einen von den Fluten getragenen Balken
erfassend und schwimmend, erreichte er glücklich unter dem Jubel
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seiner Freunde das feste Land und fiel erschöpft in die Arme seines
Knechtes Joseph, der vor Freude laut heulte.
8. Doch nur eine Minute blieb die Erschöpfung Herr über ihn.
„Ich muß noch einmal hinunter!“ Der Pfarrer rang die Hände:
„Anton, versuche Gott nicht zum zweitenmal! Denk an dein eigen
Weib und Kind!“ — „Herr Pfarrer, niemand darf sterben meinet-
wegen! Gott wird mich noch einmal beschützen! — „Meister,“ rief
Joseph, „so geht es nicht, das Wasser steigt immer noch, Ihr findet
keinen Boden mehr. Wir haben ein Floß zusammengebunden, ich
gehe mit!“ — „Braver Sepp!“ — Die beiden Männer sprangen auf
das Floß und stießen ab. Die Fahrt war diesmal weniger gefahrvoll.
Das Wasser war ziemlich frei von treibenden Balken, und sie hatten
nur gegen die starke Strömung zu kämpfen. Am Neuhof hatte das
Wasser bereits die Dachluke erreicht, und die Frau hatte sich auf
den Dachfirst geflüchtet. Langer reichte eine Stange hinauf:
„Marianne, dein Bub ist gerettet, halt fest, wir retten auch dich!“
und zog die zitternde Frau auf das Floß herunter. Aber der Rück-
weg war wieder eine Todesfahrt, die Trümmer eines eingestürzten
Hauses bedeckten das Wasser, und auf der Mitte des Weges zerriß
ein mächtiger heranschießender Balken das schwache Floß, und die
drei Menschen stürzten in die Flut. Der Angstschrei der am Ufer
versammelten Menge schlug an ihr Ohr. Der Kreuzhöfer, ein alter
Soldat und rüstiger Schwimmer, hatte die sinkende Frau erfaßt und
mit gewaltiger Anstrengung den Balken erreicht, an dem der Joseph
sich festgeklammert hatte. „Sepp, halt fest, die Frau ist ohnmächtig!“
9. Am Ufer rannten die Leute in furchtbarer Aufregung hin
und her, denn der Rettungsbalken wurde von der Flut abwärts ge-
trieben. Man versuchte, den Schiffbrüchigen Seile zuzuwerfen, aber
die Entfernung war noch zu groß. Jetzt traf der abwärts schießende
Balken auf einen Widerstand und machte eine Schwenkung nach
dem Lande zu, und eines der geworfenen Seile wurde von Sepp
gefaßt und um den Balken geschlungen. „Hurra, Meister, jetzt
haben wir gewonnen! Männer, fest angezogen!“ — Zwei Minuten
später, und sie waren gerettet. Als die Neuhöferin, wieder zu sich
gebracht, die Augen aufschlug, sah sie, wie ihr Haus zusammen-
stürzte und von den Fluten fortgetragen wurde; da fiel sie dem
Kreuzhöfer zu Füßen und umfaßte schluchzend seine Knie. Anton
Langer aber sagte: „Dieweil halt dein Mann im Loch steckt und
nicht gekonnt hat!“ — Was ist noch viel mehr zu erzählen? Diese
Unglücksnacht hatte den feindlichen Freunden die Häuser nieder-
geworfen, aber die alte Freundschaft wieder aufgebaut, eine feste
Burg, die kein Sturm mehr erschütterte. Albert Bürklin.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 10
146
111. Peter Peine.
1. Eingeengt dnrch starke, hohe Ufermauern, fließt mitten durch die
alte Hansastadt Bremen die Weser. Und auf der Seite, wo die Altstadt
liegt, zieht sich dicht hinter der Flußmauer eine breite Straße entlang,
Die seit undenklichen Zeiten „die Schlachte" heißt. Da ragen uralte, rauch-
geschwärzte Packhausgiebel in die Luft, altmodige Häuser stehen zwischen
ihnen, wie sie zu Urgroßvaters Zeiten die Bremer Kaufleute bewohnten,
Häuser mit einer Winde auf dem Flur und mit drei oder vier über-
einander liegenden Böden. Die breite Straße wird von den Fuhrleuten
auch als Wagenplatz benutzt. Dutzende von Frachtwagen stehen da Tag
und Nacht in Reihen kreuz und quer.
Alles, was die fünf Erdteile an Kolonial- und Kramwaren zu
liefern vermögen, ist in den Packhäusern an der Schlachte vertreten, und
den ganzen Tag werden Güter gebracht und andere fortgeschafft. Und
auf der Weser selbst liegen Dampfer und Bockschiffe und Küstenfahrer
und Boote aller Art. Da ankern die breiten, plumpen Bockschiffe mit
Wellblechverdecken, Schleppdampfer, Holländer und Helgoländer Fahrzeuge,
die Fische zur Stadt bringen und den Güterverkehr nach den Unterweser-
orten besorgen.
Und in all diesem Trubel von Wagen und Menschen und Schiffen
tummeln sich die Kinder und erleben stündlich Neues uud Wunderbares.
Wer an der Schlachte groß geworden ist, der kennt die Schiffe alle
und weiß, wohin sie fahren und was sie geladen, und kennt die Fracht-
suhrleute und versteht, mit einer Bodenwinde umzugehen und mit einer
Packnadel.
Freilich vorzeiten war's doch noch schöner dort als heutzutage.
Damals gab's wenig Dampfer auf der Weser und mehr Segler. Und
das war interessanter für uns Jungen. Wie manchmal und wie gerne
liefen wir für einen „Käppen" in die Stadt, um eine Rolle Zwirn oder
ein wenig Tabak zu holen. Und wie köstlich war es, wenn wir dafür
zum Lohne auf das Schiff kommen durften. Dann hockten wir in der
kleinen Kajüte und lernten Schiffsausdrücke und übten uns, Schifferknoten
in Bindfäden zu schlagen, und durften wohl gar am Abend mitessen, wenn
es Bratkartoffeln mit Schellfisch oder Pellkartoffeln mit Hering gab.
So sehe ich sie heute noch vor mir, die „Johanna van Waterhuizen",
den „Jakob van Duilen" und „Grentze vant Hoff." Die Holländer waren
mir die liebsten. Noch heute klingen mir die mojen weichen Worte der
holländischen Schiffer im Ohre. — So hängen meine schönsten Erinnerungen
an jener Zeit. Aber — sie rufen mir auch zugleich das entsetzlichste Er-
eignis meiner Kindheit zurück.
2. Eines Tages — ich weiß es noch wie heute — war die Schlachte
147
wie ausgestorben. Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Ein dicker
Nebel lag über dem Wasser, und die Weser war voll Treibeis. Unzählige
große und kleine Schollen schoben, sich drehend, trüge aneinander vorbei.
Wir Jungen spielten am Kai und freuten uns des Treibens und versuchten
mit langen Stöcken die kleinen Schollen zu zerschlagen und wagten auch
wohl hin und wieder einen Sprung aufs Eis.
Und bei uns stand Peter Peine, mein Freund. Er ist letzte Ostern
konfirmiert und will Schiffer werden. Aber er hat lange Zeit an einer
schweren Rippenfellentzündung im Krankenhause gelegen. Nun ist er
wieder soweit, daß er im Frühjahre seine erste Reise antreten kann. Mit
einem Jndienfahrer will er hinaus auf die See. Manche schöne Geschichte
hat er uns Jungen schon erzählt von den Wundern ferner Länder und
den Herrlichkeiten des Schifferlebens. Der steht bei uns und ruft warnend:
„Laßt das! Laßt das! Sonst geht's nicht gut aus!"
3. Das sollte nicht gut ausgehen? Ja, warum denn nicht? Wir
lachten ihn aus und nannten ihn „Bangbox". Und Jan Beyer, der
Mutigste von uns dreien, schalt ihn und sagte: „Was willst du wohl auf
See anfangen, wenn der Sturm weht und das Schiff auf- und niedertanzt,
wenn du hier schon bange wirst!" — „Was weißt du von See, du Land-
ratte," antwortete Peter ihm, „auf See weiß ich besser Bescheid als du."
„Komm her, wenn du ein Kerl bist und kein Feigling!" schrie ihm Jan
Beyer zu. „Sieh mal, was da für eine Scholle herangeschwommen kommt.
Eine Riesenscholle, halb so groß wie Amerika. Jetzt will ich Kolumbus
sein und Amerika entdecken! — Sie kommt! — Achtung! Wer will mit
mir?"------------Er sah mich herausfordernd an. Ohne Besinnen rief
ich: „Ich gehe mit!" Denn ich wollte mich doch nicht auch Feigling
schelten lassen. Eine Spitze der Riesenscholle kam dem Ufer ganz nahe.
Jan sprang hinauf und ich ihm nach. Und dann standen wir beide
lachend und Hurra rufend mitten auf der glatten Eisfläche. „Kommt
zurück! Kommt zurück!" rief Peter Peine und winkte uns mit den Armen.
„Komm hier her, wenn du ein Herz hast," war Jans Antwort. — Ich
sah, wie Peter vor Zorn die Hand ballte und böse zu uns herüberfah.
Er kam nicht, trotzig blieb er stehen und — plötzlich drehte er sich kurz
um und ging schnell fort. Wir jubelten ihm nach, und manches Hohn-
und Schimpfwort flog ihm nach.
4. Während dessen war die Scholle langsam am Ufer entlang ge-
rutscht. Wir standen dicht beieinander und freuten uns unserer Kühnheit.
Ich sah hinaus auf den Strom und sah Tausende von großen und kleinen
Eisstücken dahinschwimmen dem fernen Meere zu. — —■ —
Inzwischen hatte sich die Scholle gedreht, die Spitze war weit vom
Ufer abgebogen, und von diesem trennte uns ein breiter Wasserstreifen
„Na nu? Was ist denn das?" Erschrocken starrte ich Jan Beyer an.
10*
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„Ach, sei man ruhig, die stößt gleich wieder an das User," sagte er. Mit
gespannten Angen beobachteten wir alle kleinen Bewegungen nnd Drehungen
unserer Scholle; der abgernndete Teil war der Landseite zugedreht, und
die Spitze ragte in die Stromesmitte hinein. Da stieß sie an eine anbere
Scholle an, ein großes Stück brach von ihr ab. Schreckensbleich hatte ich
Jans Arm gefaßt. Dentlich spürten wir in nnseren Körpern das Beben
beim Zusammenstoß.
Um Gottes Willen! Was nnn? Drei bis vier Schollenbreiten waren
wir schon vom Ufer abgekommen. Immer weiter trieb das Eisstück,
vom Strome erfaßt, nach der Wassermitte hin. Da packle nns beide eine
entsetzliche Angst. „Peter, Peter!" schrie ich, „Hilfe, Hilfe!" — Aber
nichts Lebendiges war zu erblicken. Die Schlachte war wie ausgestorben.
Es war ja auch längst Feierabend. Und an diesem kalten, nebligen
Dezemberabend mochten sowieso nnr wenig Menschen unterwegs sein. Und
Peter? — Wie sollte Peter uns helfen können? Der war wohl schon
lange zu Hanse, und selbst, wenn er unser Rufen gehört hätte, der
Feigling würde uns doch nicht helfen wollen. Er hatte ja nicht einmal
den Mut gehabt, aufs Eis zu springen, als es dicht am Ufer dahintrieb.
Wie sollte er uns helfen, nun die Scholle in der Mitte des Stromes
schwamm.
5. Nichts regte sich am User. Niemand hörte uns. Und die Scholle
trieb weiter und weiter. Kleine Wellen plätscherten gegen den Rand, das
Ganze schaukelte ganz leise, ganz wenig. Und rings um nn£ Eisstücke
und schwarze Wassertiefe — rings um uns der Tod. Ein Grauen lief
über meinen Rücken. Wir mochten uns beide nicht mehr bewegen, konnte
nicht durch einen Tritt der Boden unter unsern Füßen zerbrechen, und
konnten wir nicht hinabgerissen werden in die grausige Tiefe?
Eine andere Scholle stieß an die nnsrige, beide scheuerten aneinander
entlang, und von jeder bröckelten Stücke ab. Das Schnurren der zu-
sammenstoßenden Schollen und das Gurgeln des Wassers waren die
einzigen Laute, die ich hörte. Wie lange mochte diese Reise noch dauern!
Würden wir überhaupt noch einmal dem Ufer nahe kommen? — Und
welchem? — Und wann? — Bald mußte die Nacht kommen, und wir
trieben weit ab von der Stadt. Vielleicht landeten wir irgendwo dahinten
an einem Werder und mußten dann im Freien übernachten und konnten
nicht nach Hanse. Und war das nicht noch das Günstigste, was geschehen
konnte? Wenn jedoch die Scholle scheiterte, dann mußten wir versinken
in die schwarze Tiefe.
Das Herz klopfte mir zum Zerspringen, und mit entsetzten Augen
starrte ich nach dem Ufer hinüber, dessen dunkle Silhouette*) noch eben
*) Schattenbild.
149
durch den Nebel zu erkennen war. Vater und Mutter saßen jetzt daheim
in der warmen Stube, der Vater mit der Zeitung und die Mutter am
Ofen mit dem Nähzeug. Ach, sie ahnten ja nicht, welch ein surchtbares
Unglück über ihnen schwebte. Ob sie sich schon sorgten um mein langes
Ausbleiben? O, hätte ich es doch nicht getan! Hätte ich doch auf Peter
Peine gehört! Das war der Gedanke, der mir immer wiederkehrte. Und
Jan Beyer mochte dasselbe denken. Er sah unverwandt auf den Rand des
Eises und war kreideweiß im Gesicht.
6. Da — was war das-----------------Vor uns aus dem Nebel tauchte
ein schwarzer Fleck auf. War es ein Brückenpfeiler? Dann waren wir
verloren. Die Scholle mußte dann zerschellen. — Da — ein Ton —
Was war es? — Ries jemand?
Näher und näher kamen wir dem schwarzen Flecke. Nein, das konnte
kein Brückenpfeiler sein. Es war ein Boot, und ein Mann saß darin,
der vorsichtig zwischen den Eisschollen den Weg suchte — gerade auf uns
zu. Atemlos sahen wir sein Beginnen. Da stieß das Boot an unsere
Scholle. Der Mann im Boote bückte sich und warf seine Ankerkette uns
zu. Dicht vor ineinen Füßen fiel sie nieder. „Faßt an!" rief er. Wir
bückten uns und hielten krampfhaft den Anker fest. „Legt euch nieder!"
kommandierte er. Gehorsam warfen wir uns aufs Eis. Ich kroch auf
allen Vieren, immer die Kette festhaltend, bis an den Schollenrand und
klammerte mich an das Boot. Während der Schiffer sich weiter über den
entgegengesetzten Bootrand beugte, um das Gleichgewicht zu halten, kletterte
ich hinein. Und dann kam Jan Beyer herangerutscht, und dann waren
wir beide im Schiffe und —----------------„Dammi! Das war ein schweres
Stück Arbeit gegen die Schollen an!" sagte unser Retter. Wir starrten
ihm ins Gesicht — es war Peter. Peter Peine hatte uns gerettet. —
Kein Wort haben wir gesprochen. Lautlos und verlegen haben wir im
Schiffe gesessen, und Peter hat uns aus dem Schollengewirr ans Ufer
gerudert, und dann sind wir ausgestiegen, und Peter hat das Boot fest-
gekettet und ist in unserer Mitte mit uns gegangen.
7. Da hab' ich mich nicht mehr zu halten vermocht. „Peter, Peter,"
hab' ich gerufen, „du bist kein Feigling! Du bist der tapferste von uns
dreien." Da sah er mich verwundert an und fragte: „Wie meinst du
das? — Ich konnte euch doch nicht ertrinken lassen!" — Und Jan Beyer
hat nichts gesagt, aber die Tränen sind ihm über die Backen gelaufen,
und Peter Peines Hand hat er nicht wieder losgelassen auf diesem Wege.
— Seit der Zeit weiß ich, was Tapferkeit ist und Mut und Treue.
Peter Peine! Oftmals hab' ich ihn später noch wieder gesehen,
als er Matrose auf einem holländischen Küstenfahrer war. Manchen
schönen Brief bewahre ich von ihm in meinem Briefkasten auf, bis der
letzte Brief kam, den er mir geschrieben, ein paar Tage vor seinem Ende.
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Als Lotse hat er in einem furchtbaren Unwetter sein Leben gelassen —
für andere. Wo ich aber von einem Wunder der Tapferkeit höre zu
Lande oder zu Wasser, da benfe ich dein, lieber Peter Peine.
Heinrich Scharrelmann.
112. Herr Charles.
1. Ein Kaufmann in Petersburg, von Geburt ein Franzose, wiegte
eben sein wunderschönes Büblein auf dem Knie und machte ein Gesicht
dazu, daß er ein wohlhabender und glücklicher Mann sei und sein Glück
für einen Segen Gottes halte. Indem trat ein fremder Mann, ein
Pole, mit vier kranken, halb erfrorenen Kindern in die Stube. „Da
bring ich Euch die Kinder!" Der Kaufmann sah den Polen kurios an.
„Was soll ich mit diesen Kindern tun? Wem gehören sie? Wer schickt
Euch zu mir?" — „Niemand gehören sie," sagte der Pole, „einer toten
Frau im Schnee, siebzig Stunden herwärts Wilna. Tun könnt Ihr mit
ihnen, was Ihr wollt." Der Kaufmann sagte: „Ihr werdet nicht am
rechten Orte sein," und der Hausfreund glaubt's auch nicht. Allein der
Pole erwiderte, ohne sich irre machen zu lassen: „Wenn Ihr der Herr-
Charles seid, so bin ich am rechten Ort," und der Hausfreund glaubt's
auch. Es war der Herr Charles.
2. Nämlich es hatte eine Französin, eine Witwe, schon lange im
Wohlstände und ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor fünf Jahren
die Franzosen in Moskau waren, benahm sie sich landsmannschaftlicher
gegen sie als den Einwohnern wohlgefiel; denn das Blut verleugnet sich
nicht. Und nachdem sie in dem großen Brande ebenfalls ihr Häuslein
und ihren Wohlstand verloren und nur ihre fünf Kinder gerettet hatte,
mußte sie, weil sie verdächtig war, nicht nur aus der Stadt, sondern auch
aus dem Lande reisen. Sonst hätte sie sich nach Petersburg gewendet,
wo sie einen reichen Vetter zu sinden hoffte. Der geneigte Leser will
bereits etwas merken. Als sie aber in einer schrecklichen Kälte und Flucht
und unter unsäglichen Leiden schon bis nach Wilna gekommen war, krank
und aller Bedürfnisse und Bequemlichkeiten für eine so lange Reise ent-
blößt, traf sie in Wilna einen edlen russischen Fürsten an und klagte ihm
ihre Not. Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert Rubel, und als er
erfuhr, daß sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er ihr frei, ob sie
ihre Reise nach Frankreich fortsetzen, oder ob sie mit einem Paß nach
Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes Büb-
leiu an, weil es das verständigste und kränkste war. „Wo willst du hin,
mein Sohn?" — „Wo du hingehst, Mutter," sagte der Knabe und hatte
recht. Denn er ging noch vor der Abreise ins Grab.
3. Also versah sie sich mit dem Notwendigen und vereinbarte mit
einem Polen, daß er sie für fünfhundert Rubel nach Petersburg brächte
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zum Vetter; denn sie dachte, er wird das Fehlende schon darauftegen.
Aber alle Tage kränker auf der langen beschwerlichen Reise, starb sie am
sechsten oder siebenten. — „Wo du hingehst," hatte der Knabe gesagt,
und der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten miteinander
so viel reden, als ein Pole verstehn mag, wenn ein französisches Kind
russisch spricht, oder ein Französlein, wenn man mit ihm reden will auf
polnisch. Nicht jeder geneigte Leser hätte an seiner Stelle sein mögen.
Er war es selber nicht gern. Was anfangen jetzt? sagte er zu sich selbst.
Umkehren — wo die Kinder stassen? Weiter fahren — wem bringen?
Tu, was du sollst, sagte endlich etwas in seinem Inwendigen zu ihm.
Willst du die armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie
von ihrer Mutter zu erben haben, um dein Wort, was du ihr gegeben
hast? Also kniete er mit den unglücklichen Waisen um den Leichnam
herum und betete mit ihnen ein polnisches Vaterunser. „Und führe uns
nicht in Versuchung!" Hernach ließ jedes ein Händlein voll Schnee
zum Abschied und eine Träne auf die jfalte Brust der Mutter fallen,
nämlich, daß sie ihr gern die letzte Pflicht der Beerdigung antun wollten,
wenn sie könnten, und daß sie jetzt verlassene, unglückliche Kinder seien.
4. Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der Straße nach
Petersburg, denn es wollte ihm nicht eingehn, daß der ihm die Kindlein
anvertraut hatte, könne ihn stecken lassen, und als die große Stadt vor
seinen Augen sich ausdehnte, wie ein Hauderer tut, der auch erst vor-
dem Tore fragt, wo er stillhalten soll, erkundigt' er sich endlich bei den
Kindern, so gut er sich verständlich machen konnte, wo denn der Vetter
wohne, und erfuhr von ihnen, so gut er sie verstehn konnte: „Wir wissen's
nicht." — Wie er denn heiße? „Wir wissen's auch nicht." — Wie denn
ihr eigener Geschlechtsname sei? „Charles." Der geneigte Leser will
schon wieder etwas merken, und wenn's der Hausfreund für sich zu tun
hätte, so wäre der Herr Charles der Vetter, die Kinder wären versorgt,
und die Erzählung hätte ein Ende. Allein die Wahrheit ist oft sinniger
als die Erdichtung. Nein, der Herr Charles ist der Vetter nicht, sondern
dieses Namens ein anderer, und bis auf diese Stunde weiß noch niemand,
wie der wahre Vetter eigentlich heißt, nicht, ob und wo in Petersburg
er wohnt.
5. Also fuhr der arnre Mann in großer Verlegenheit zwei Tage lang in der
Stadt herum und hatte Französlein seil. Aber niemand wollte ihn fragen:
„Wie teuer das Pärlein?" Und der Herr Charles begehrte sie nicht
einmal geschenkt und war noch nicht willens, eins zu behalten. Als aber
ein Wort das andre gab und ihm der Pole schlicht und menschlich ihr
Schicksal und seine Not erzählte, „eins," dachte er, „will ich ihm ab-
nehmen," und es füllte sich immer wärmer in seinem Busen: „ich will
ihm zwei abnehmen," dachte er, und als sich endlich die Kinder an ihn
152
anschmiegten, meinend, er sei der Herr Better, und anfingen, auf fran-
zösisch zu weinen, denn der geneigte Leser wird auch schon bemerkt haben,
daß die französischen Kinder anders weinen, und als der Herr Charles
die Landesart erkannte, da rührte Gott sein Herz an, daß ihm ward wie
einem Vater, wenn er die eigenen Kinder weinen und klagen sieht, und
„in Gottes Namen", sagte er, „wenn's so ist, so will ich mich nicht ent-
ziehen," und nahm die Kinder an. „Setzt Euch ein wenig nieder," sagte
er zu dem Polen, „ich will Euch ein Süpplein kochen lassen."
6. Der Pole, mit gutem Appetit und leichtem Herzen, aß die Suppe
und legte den Löfiel weg, — er legte den Löffel weg und blieb fitzen, —
er stand auf und blieb stehn. „Seid so gut," sagte er endlich, „und
fertigt mich jetzt ab, der Weg nach Wilna ist weit. Auf fünfhundert
Rubel hat die Frau mit mir akkordiert." Da fuhr es doch dem milden
Menschen, dem Herrn Charles, über das Gesicht, wie der Schatten einer
fliegenden Frühlingswolke über die sonnenreiche Flur. „Guter Freund,"
sagte er, „Ihr kommt mir ein wenig kurios vor. Jst's nicht genug, daß
ich Euch die Kinder abgenommen habe, soll ich Euch auch noch den Fuhr-
lohn bezahlen?" Denn das kann dem redlichsten und besten Gemüte be-
gegnen, wenn's ein Kaufmann ist, jedem andern aber auch, daß es wider
Wissen itnb Willen zuerst ein wenig handeln und markten muß, sei es
auch nur mit sich selbst. Der Pole erwiderte: „Guter Herr, ich will
Euch nicht ins Gesicht sagen, wie Ihr mir vorkommt. Jst's nicht genug,
daß ich Euch die Kinder bringe? Sollt' ich sie auch noch umsonst geführt
haben! Die Zeiten sind bös, und der Verdienst ist gering." — „Eben
deswegen," sagte Herr Charles, „darüber laßt mich klagen. Oder meint
Ihr, ich sei so reich, daß ich fremde Kinder aufkaufe oder so gottlos, daß
ich mit ihnen handle? Wollt Ihr sie wieder?"
7. Als aber noch einmal ein Wort das andre gab, und der Pole
jetzt erst mit Staunen erfuhr, daß der Herr Charles gar nicht der
Vetter sei, sondern nur aus Mitleiden die armen Waisen angenommen
habe — „Wenn's so ist," sagte er, „ich bin kein reicher Mann, und Eure
Landsleute, die Franzosen, haben mich auch nicht dazu gemacht, aber
wenn's so ist, so kann ich Euch nichts zumuten. Tut den armen Würm-
lein Gutes dafür!" sagte der edle Mensch, und es trat ihm eine Träne
ins Auge, die wie aus einem überwältigten Herzen kam, wenigstens über-
wältigte sie dem Herrn Charles das seinige. „Monsieur Charles," dachte
er, „und ein armer polnischer Fuhrmann" — und als der Pole schon
anfing, eines der Kinder nach dem andern zum Abschied zu küssen und
sie auf polnisch zur Folgsamkeit und Frömmigkeit ermahnte — „Guter
Freund," sagte der Herr Charles, „bleibt noch ein wenig da! Ich bin
doch so arm nicht, daß ich Euch nicht Euern wohlverdienten Fuhrlohn
bezahlen könnte, so ich doch die Fracht Euch abgenommen habe," und gab
153
ihm die fünfhundert Rubel. Alfo sind jetzt die Kindlein versorgt, der
Fuhrlohn ist bezahlt. Und so ein oder der andre geneigte Leser vor den
Toren der großen Stadt hätte zweifeln mögen, ob der Vetter auch zu
finden sei, und ob er's tun werde, so hat doch die heilige Vorsehung ihn
nicht einmal dazu vonnöten gehabt. Johann Peter Hebel.
113. Der arme Musikant und sein Kollege.
1. Ich habe mich immer recht in die Seele hinein geärgert, weitn ich
das Wort hören mußte: „Man hört in unsern Tagen nichts Gutes mehr."
Da sollte man doch wahrlich denken, unsere Zeit sei die allerschlechteste
seit Adams Tagen, und die Menschen seien allesamt Unmenschen. Ich
sag's jedem ins Gesicht: Es ist nicht wahr, wenn's auch Schufte genug
gibt. Eine schlechte Tat wird überall erzählt; aber wenn einmal eine
gute geschieht, schweigt man davon. Die guten Menschen legen sich damit
nicht an den Laden und lassen's nicht austroinpeten, wie es die Pharisäer
machten. Drum will ich auch nicht stillschweigen, wenn ich eine gute
Tat hier oder dort höre, und will gleich eine erzählen, die noch nicht
alt ist.
2. An einem schönen Sommertage war im Prater zu Wien ein großes
Volksfest. Der Prater ist eine sehr große, öffentliche Gartenanlage voll
herrlicher Bäume und ist der Hauptspaziergang und Belustigungsort der
Wiener. Viel Volks strömte hinaus, und jung und alt, vornehm und
gering freuten sich dort ihres Lebens; auch viele Fremde kamen, um sich
an der Volkslust zu erfreuen. Wo fröhliche Menschen sind, da hat auch
der etwas zu hoffen, der an die Barmherzigkeit seiner glücklichen Mit-
menschen gewiesen ist. So waren denn hier eine Menge Bettler, Orgel-
männer und Harsenmädchen, die sich ihren Kreuzer zu verdieuen suchten.
3. In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension
zum Unterhalt nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht. Er griff daher
zur Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein Böhme ge-
wesen war. Er spielte unter einem alten Baume im Prater, und seinen
treuen Pudel hatte er so abgerichtet, daß er vor ihm saß und den alten
Hut im Maule hielt, in den die Leute die paar Kreuzer warfen, die sie
ihm geben wollten. Heute stand er auch da und siedelte, und der Pudel
saß vor ihm mit dem Hute; aber die Leute gingen vorüber, und der Hut
blieb leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie Hütten Barm-
herzigkeit mit ihm haben müssen. Dünnes, weißes Haar deckte kaum seinen
Schädel; ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Kleid. Gar
nmnche Schlacht hatte er mitgekämpft, und fast jede hatte ihm in einer
Narbe einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Verlieren keine Sorge
nötig war. Nur drei Finger an der rechten Hand hielten den Bogen.
154
Eine Kartätschenkugel hatte die zwei andern bei Aspern mitgenommen, und
säst zur gleichen Zeit nahm ihm eine größere Kugel das Bein weg. Und
doch sahen heute die sröhlichen Leute nicht auf ihn, und er hatte doch für
den letzten Kreuzer Saiten auf seine Violine gekauft und spielte mit aller
Kraft seine alten Märsche und Tänze. Trübe und traurig sah der alte
Mann auf die wogende Menschenmasse, aus die fröhlichen Gesichter, aus
die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ihrem Lachen drang ein Stachel in
seine Seele, heute abend mußte er hungern auf seinem Strohlager im
Dachstübchen. Sein Pudel war besser daran. Er fand doch vielleicht auf
dem Heimwege einen Knochen unter einen: Gossensteine, an dem er seinen
Hunger stillen konnte.
4. Schon war's ziemlich spät am Nachmittag. Seine Hoffnung war
fo nahe am Untergange wie die Sonne; denn schon kehrten die Lust-
wandler zurück. Da legte sich ein recht tiefes Leid aus das wetterharte,
vernarbte Gesicht. Er ahnte nicht, daß nicht weit von ihm ein stattlich
gekleideter Herr stand, der ihm lange zuhörte und ihn mit dem Ausdruck
tiefen Mitleids betrachtete. Als endlich alles fruchtlos blieb und die
müde Hand den Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein Bein ihn
kaum mehr trug, setzte er sich auf einen Stein und stützte die Stirn in
die hohle Hand. Er weinte heimlich.
5. Der Herr aber, der daneben am Stannne der alten Linde lehnte,
hatte gesehen, wie die verstümmelte Hand die Tränen abwischte, damit
das Auge der Welt die Spuren nicht sähe. Es war, als ob die Tränen
wie siedend heiße Tropfen dem Herrn aus das Herz gefallen wären, so
rasch trat er herzu, reichte dem Alten ein Goldstück und sagte: „Leihet
mir Eure Geige ein Stündchen!" Der Alte sah voll Dankes den Herrn
an, der mit der deutschen Sprache so holperig umging wie er mit der
Geige. Was er aber wollte, verstand der Invalide doch und reichte ihm
seine Geige. Sie war nun so schlecht nicht; nur der gewöhuliche Geiger
kratzte so übel. Er stimmte sie glockenrein, stellte sich ganz nahe zu dem
Invaliden und sagte: „Kollege, jetzt nehmt Ihr das Geld, und ich spiele."
Und nun sing er an zu spielen, daß der Alte seine Geige neugierig be-
trachtete und meinte, sie sei es gar nicht mehr; denn der Ton ging wunder-
bar in die Seele, und die Töne rollten wie Perlen dahin. Manchmal
war's, als jubilierten Engelstimmen in der Geige, und dann wieder, als
klagten Töne schweren Leids aus ihr heraus, die das Herz so bewegten,
daß die Augen feucht wurden.
6. Jetzt blieben die Leute stehen, sahen den stattlichen Herrn an und
horchten auf die wundervollen Töne. Jedermann sah's, der Herr geigte
für den Armen; aber niemand kannte ihn. Immer größer ward der Kreis
der Zuhörer. Selbst die Kutschen der Vornehmen hielten an. Und was
die Hauptsache war, jedermann sah ein, was der kunstreiche Fremde
155
beabsichtigte, und gab reichlich. Da siel Gold und Silber in den Hut
und auch Kupfer, je nachdem es die Leute hatten, und je nachdem das
Herz war. Der Pudel knurrte. War's Vergnügen oder Ärger? Er
konnte den Hut nicht mehr halten, so schwer war er geworden. „Macht
ihn leer, Alter," riefen die Leute dem Invaliden zu, „er wird noch ein-
mal voll." Der Alte tat's, und richtig, er mußte ihn noch einmal leeren
in seinen Sack, in den er die Violine zu stecken pflegte. Der Fremde
stand da mit leuchtenden Augen und spielte, daß ein Bravo über das
andere erscholl. Alle Welt war entzückt. Endlich ging der Geiger in
die prächtige Melodie des Liedes: „Gott erhalte Franz den Kaiser!"
über. Alle Hüte und Mützen flogen von den Köpfen; denn die Öster-
reicher liebten ihren edlen Kaiser Franz von ganzem Herzen, und er ver-
diente es auch. Allgemach wurde der Volksjubel so groß, daß alle Leute
das Lied fangen. Der Geiger spielte in der größten Begeisterung, bis
das Lied zu Ende war; dann legte er rasch die Geige in des glücklichen
Invaliden Schoß, und ehe der alte Mann ein Wort des Dankes sagen
konnte, war er fort.
7. „Wer war das?" rief das Volk. Da trat ein Herr vor und sagte:
„Ich kenne ihn sehr wohl. Es war der ausgezeichnete Geiger Alexander
Boucher, welcher hier seine Kunst im Dienste der Barmherzigkeit übte.
Laßt uns aber auch sein edles Beispiel nicht vergessen!" Der Herr
hielt seinen Hut hin, und aufs neue flogen die Geldstücke hinein. Alles
gab, und als dann der Herr abermals das Geld in des Invaliden Sack
geschüttet hatte, rief er: „Boucher lebe hoch!" „Hoch! hoch! hoch!" rief
das Volk. Und der Invalide faltete seine Hände und betete: „Herr, lohne
du's ihm reichlich!"
Und ich glaube, es gab an diesem Abend zwei Glückliche mehr in
Wien. Der eine war der Invalide, der nun weithin seiner Not enthoben
war; und der andere war Voucher, dem sein Herz ein Zeugnis gab, um
das man ihn beneiden möchte. Wilhelm Örtel (v. Horn).
Des andern Leid empfinden
heißt nicht Barmherzigkeit;
Barmherzigkeit heißt: wenden
des andern Herzeleid. Friedrich v. Log au.
114. Waldlilie im Schnee. (Gekürzt.)
1. Uns ist ein Stein vom Herzen. Das Unwetter hat sich
gelegt. Ein ganz leichter Wind ist gekommen, hat die Bäume sachte
von ihren Lasten erlöst. Ein paar mildwarme Tage sind gewesen, da
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hat sich der Schnee gesetzt, und man kann mit Fußleitern gehen, wohin
man will.
Es hat sich in dieser Zeit aber doch was zugetragen drüben
in den Karwässern. Der Bertold, dessen Familie von Jahr zu Jahr
wächst und von Jahr zu Jahr weniger zu essen hat, ist ein Wilderer
geworden.
Das Holzen wirft viel zu wenig ab für eine Stube voll von Kindern.
Ich schicke ihm an Lebensmitteln, was ich vermag; aber das genügt nicht.
Für das kranke Weib eine kräftige Suppe, für die Kinder ein Stück Fleisch
will er haben und schießt die Rehe nieder, die ihm des Weges kommen.
Dazu tut die Leidenschaft das ihre, und so ist der Bertold, der Vormaleinst
als Hirt ein so guter, lustiger Bursch gewesen, durch Armut, Trotz und Liebe
zu den Seinigen recht sauber zum Verbrecher heranwachsen. Einmal schon
bin ich vor dem Förster bittend gelegen, daß er es dem armen Familien-
vater um Gotteswillen ein wenig, nur ein klein wenig nachsehen möge; er
werde sich gewiß bessern, und ich wolle mich für ihn zum Pfande stellen.
Bis zu diesen Tagen hat er sich nicht gebessert; aber das Geschehnis dieser
wilden Wintertage hat ihn laut weinen gemacht, denn seine Waldlilie liebt
er über alles.
2. Ein trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fensterchen sind mit
Moos vermauert; draußen fallen frische Flocken auf alten Schnee. Bertold
wartet bei den Kindern und bei der kranken Aga nur noch, bis das älteste
Mädchen, die Lili, mit der Milch heimkehrt, die sie bei einem nachbar-
lichen Klausner erbetteln muß. Denn die Ziegen im Hause sind geschlachtet
und verzehrt; und kommt die Lili nur erst zurück, so will der Bertold
mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Bei solchem Wetter sind die Rehe
nicht weit zu suchen.
Aber es wird dunkel, und die Lili kehrt nicht zurück. Der Schnee-
fall wird dichter und schwerer, die Nacht bricht herein, und Lili kommt
nicht. Die Kinder schreien schon nach der Milch, den Vater ver-
langt schon nach dem Wild; die Mutter richtet sich auf in ihrem Bette.
„Lili," ruft sie, „Kind, wo trottest denn herum im stockfinstern Wald?
Geh heim!"
Wie kann die schwache Stimme der Kranken durch den wüsten Schnee-
sturm das Ohr der Irrenden erreichen?
Je finsterer und stürmischer die Nacht wird, desto tiefer sinkt in
Bertold der Hang zum Wildern, und desto höher steigt die Angst um seine
Waldlilie. Es ist ein schwaches, zwölfjähriges Mädchen; es kennt zwar die
Waldsteige und Abgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den Abgrund
die Finsternis.
3. Endlich verläßt der Mann das Haus, um sein Kind zu suchen.
Stundenlang irrt und ruft er in der sturmbewegten Wildnis; der Wind blüfi
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ihm Augen und Mund voll Schnee; seine ganze Kraft muß er anstrengen,
um wieder zurück zur Hütte gelangen zu können.
Und nun vergehen zwei Tage; der Schneefall hält an, die Hütte des
Bertold wird fast verschneit. Sie trösten sich überlaut, die Lilie werde wohl
bei dem Klausner sein. Diese Hoffnung wird zunichte am dritten Tag,
als der Bertold nach einem stundenlangen Ringen in verschneitem Ge-
lände die Klause zu erreichen vermag; denn dort erführt er, Lili sei vor
drei Tagen wohl bei dem Klausner gewesen und habe sich dann beizeiten
mit dem Milchtopf auf den Heimweg gemacht.
„So liegt meine Waldlilie im Schnee begraben," sagt der Bertold.
Dann geht er zu andern Holzern und bittet, wie diesen Mann kein
Mensch noch so hat bitten gesehen, daß man komme und ihm das tote Kind
suchen helfe.
4. Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie gefunden. Ab-
seits in einer Waldschlucht, in finsterm, wildverflochtnem Dickichte junger
Fichten und Zirbelkiefern, durch das keine Schneeflocke zu dringen vermag,
und über dem die Schneelasten sich wölben und stauen, daß das junge
Gestämm darunter ächzt, in diesem Dickicht, auf den dürren Fichtennadeln
des Bodens, inmitten eiuer Rehsamilie von sechs Köpfen ist die liebliche,
blasse Waldlilie gesessen.
Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich auf dem
Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da es die Schneemassen nicht
mehr hat überwinden können, sich zur Rast unter das trockne Dickicht ver-
krochen. Und da ist es nicht lange allein geblieben. Kaum daß ihm die
Augen anheben zu sinken, kommt ein Rudel von Rehen an ihm zusammen,
alte und junge; und sie schnuppern an dem Mädchen, uud sie blicken es
mit milden Augen völlig verständig und mitleidig an, und sie fürchten
sich gar nicht vor diesem Menschenwesen, und sie bleiben und lassen sich
nieder und benagen die Bäumchen uud belecken einander und sind ganz
zahm; das Dickicht ist ihr Winterdaheim.
Am andern Tage hat der Schnee alles eingehüllt. Waldlilie sitzt in
der Finsternis, die nur durch einen Dümmerschein gemildert ist, und sie
labt sich an der Milch, die sie den Ihren hat bringen wollen, und sie
schmiegt sich an die guten Tiere, aus daß sie im Froste nicht ganz
erstarre.
So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. Und da sich die
Waldlilie schon hingelegt zum Sterben und in ihrer Einfalt die Tiere
gebeten hat, daß sie getreulich bei ihr bleiben möchten in der letzten Sterbe-
stunde, da fangen die Rehe jählings ganz seltsam zu schnuppern an und
heben ihre Köpfe und spitzen die Ohren, und in wilden Sätzen durchbrechen
sie das Dickicht, und mit gellendem Pfeifen fliehen sie davon.
5. Jetzt arbeiten sich die Männer durch Schnee und Gesträuch herein
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und sehen mit lautem Jubel das Mädchen, und der alte Rüpel ist auch
dabei und ruft: „Hab' ich nicht gesagt, kommt mit herein zu sehen, viel-
leicht ist sie bei den Rehen!"
So hat es sich zugetragen; und wie der Bertold gehört, die Tiere
des Waldes hätten sein Kind gerettet, daß es nicht erfroren, da schreit er
wie närrisch: „Nimmermehr! Mein Lebtag nimmermehr!" Und seinen
Kugelstutzen, mit dem er seit manchem Jahre Tiere des Waldes getötet,
hat er an einem Stein zerschmettert.
Ich habe es selber gesehen; denn ich und der Pfarrer sind mit in
den Karwässern gewesen, um die Waldlilie suchen zu helfen.
Diese Waldlilie ist schier mild und weiß wie Schnee und hat die
Augen des Rehes in ihrem Haupte. Peler Rosegger.
115. Der gekreuzte Dukaten.
Sin junger ITcaim hatte seine Hunderttausend geerbt, und er
begnügte sich damit; er wollte bloß sein Geld verzehren, arbeiten aber
wollte er nicht; das, meinte er, sei nur etwas für unbemittelte Leute.
So hatte also der Herr Adolf gar kein Geschäft als essen, trinken, schlafen,
spazieren gehen oder reiten, und was ihm sonst noch einfiel, ^a, das
Aus- und Anziehen war ihm viel zu viel, und er hielt sich einen Aammer-
diener. U)enn er des Morgens erwachte, wußte er eigentlich gar nicht,
warum er aufstehen sollte; es wartete kein Geschäft und keine Freude
auf ihn. Darum blieb er fein liegen, bis ihm das zu beschwerlich war.
Fast ging es ihm wie jenem Engländer, der aus bloßer Langweile, um
sich nicht mehr aus- und anziehen zu müssen, sich das Leben nahm.
Das Nichtstun und die Vertreibung der Langweile ist eigentlich schon
ein Selbstmord. Herr Adolf machte dann jeden Vormittag seinen Spazier-
gang, damit er den Nachmittag für sich frei und nichts mehr zu tun
habe. Meist lag er auf dem Sofa, gähnte und rauchte. Dabei hatte
er mitunter noch seine besonderen Gedanken. „3eder Mensch," dachte
er, „hat so eine Summe von Araft mit auf die U)elt bekommen, die
für seine siebzig Jährchen oder auch mehr ausreichen muß. lVenn ich
also einen schweren Stuhl von einem Drt an den andern hebe, ist damit
ein Stück von meiner Lebenskraft aufgewendet und verbraucht — darum
laß ich's hübsch bleiben." Auf solche Gedanken kann ein Nichtstuer
kommen!
Der Herr Adolf ward aber dick und oft kränklich und mußte seinen
Leib pflegen. Das war auch noch ein Geschäft.
2. Das 3afyr durch ging dem Herrn Adolf manch schön Stück Geld
durch die Hand, und dabei hatte er die besondere Liebhaberei, daß er
bei jeder Goldmünze, die er ausgab, ein kleines zierliches Areuz unter
159
die Nase des geprägten Herrschers machte. Gr dachte wenig dabei, denn
er hatte ja Geld genug; ihn kümmerte überhaupt nicht, wie's andern
Menschen erging, obgleich er manchmal aus angeborener Gutmütigkeit
einem Armen etwas schenkte, Zch will nur einmal sehen, dachte er, ob
nach langer Amherwanderung in der D)elt mir einmal wieder so ein
Goldstück unter die L)ände kommen wird. Da nun der l)err Adols gar
nichts war, so nahm er sich ernstlich vor, etwas zu werden, und er ward
ein Reisender. Das ist noch immer ein Titel, wenn man sonst weiter
nichts ist. Gr reiste nämlich von einer Stabt in die andere, von einem
Land ins andere und ließ stch's überall wohl sein, und wenn er etwas
zu bezahlen hatte, da gab er die mit seinem Ordenskreuze gezierten
Goldstücke hin. Noch nie aber war es ihm vorgekommen, daß er eins
wiedergesehen hatte. Endlich ward er des Herumreifens auf dem festen
Lande müde, er verließ die alte IDelt und schiffte sich nach Amerika ein.
Nun war der Herr Adolf noch etwas mehr als ein Reisender, er war
sogar ein Auswanderer. Diesmal aber ging's gar schlecht auf der Gee
fünf Tage und fünf Nächte wütete ein gewaltiger Gturm; alles, was
auf dem Gchiffe war, mußte mit Hand ans N)erk legen, aber alles ver-
gebens, das Gchiff ging unter, und nur der Beherztheit des Gchiffshaupt-
mannes gelang es, die Mannschaft und die Reisenden in ein Boot zu
retten. Nach zwei Tagen fürchterlichen Umherirrens und schrecklicher
Hungersnot, in welcher viele starben, wurden die Verschlagenen von
einem Aauffahrteischiff ausgenommen und in den trafen von Boston
gebracht. — Arm, hilflos und verlassen irrte hier Adolf uinher, und er-
wünschte sich oft, daß er mit den andern von den Mellen begraben wäre.
3. Da sah er einen Mann eilig des Meges gehen; mit nieder-
geschlagenem Blick bat er ihn um eine Gabe. Der Mann griff in die
Tasche, reichte ihm ein Glück Geld und war schnell verschwunden. Als
Adolf wieder seinen Blick emporhob und das Geld betrachtete, wollte
er seinen Augen kaum trauen, — es war ein holländischer Dukaten, der
das Drdenszeichen von seiner eigenen Hand unverkennbar trug. Gei es
nun, daß der Mann sich vergriffen hatte, oder daß er wirklich eine so
namhafte Gabe schenken wollte, Adolf dachte nicht lange darüber nach,
und er weinte Helle Tränen auf das einzige Goldstück, das ihm von
feinem ganzen Reichtum als Bettlergabe wieder zugekommen war. Mit
Mehmut dachte er daran, daß er es wieder weggeben und vielleicht nie
mehr sehen solle. Da begegnete ihm eine große Menge von Arbeitern,
die an einer Gtraße arbeiteten; schnell war er entschlossen und ließ sich
unter ihre Zahl einschreiben. Gin sonderbarer Gedanke tröstete ihn bei
dieser ungewohnten Lebensweise. „Zch brauchte eigentlich nicht zu ar-
beiten," sagte er sich in der ersten Zeit und fühlte dann an seine Brust,
wo er den Dukaten verborgen hatte, „ich habe ja Geld und könnte
160
eine ganze IPodie oder länger davon leben oder etwas anderes damit
ansangen; aber ich arbeite, weil mir's Vergnügen macht." Dann aber
machte er einen Spaß daraus und sagte oft: „Ich arbeite bloß zu
meinem Vergnügen. Ich arbeite, damit ich was zu essen habe, und das
Lsien macht mir dann Vergnügen." Nach und nach aber erkannte er,
daß nichts Entwürdigendes, ja die Ehre und der Lebenszweck allein
darin liege, für den Genuß seines Daseins und für das, was man
von der Welt hat, auch etwas für sie zu tun. Früher hatte er gedackt,
durch das Wegrücken eines Stuhles, ja durch jede Tätigkeit feine Lebens-
kraft zu schwächen; jetzt erkannte er, daß, je mehr man seine Arast
braucht, sie um so mehr wachse und zunehme, daß die Tätigkeit immer
neu erzeugt wird.
U So war Adolf, für den die Straßen früher nur dagewesen
waren, um als vergnügungssüchtiger Reisender darauf herumzurutschen,
ein Bahnmacher und Straßenarbeiter für andere. Nlit der Zeit aber
gelangte er auch zur Stelle eines Aufsehers bei dem Straßenbau, und
er freute sich in dem Gedanken, daß von seinem Dasein aus der Welt
noch andere Spuren hinterblieben als die bloßen Kreuze auf dem Golde,
das ihm durch die Hand gegangen war. Lange Zeit hatte er den
Dukaten als Andenken aufbewahrt, bis er endlich eingesehen hatte, daß
auch dieser nicht ruhen darf in dem großen Weltverkehr, und er schenkte
ihn einer armen Witwe, deren Wann bei dem Straßenbau verunglückt war.
Bertbold Auerbach.
116. Der Pfennig.
1. In dem Münzhause, wo die Goldstücke, die Taler und die
Groschen gemacht werden, war eben ein Dukaten und ein Pfennig
fertig geworden. Die lagen nun beide blank und sauber auf dem
Tisch dicht nebeneinander, und der helle Sonnenschein flimmerte
recht darauf herum.
Da sprach der Dukaten zum Pfennig: „Du Lump, geh fort
von mir! Du bist ja nur von gemeinem Kupfer gemacht und nicht
wert, daß dich die Sonne bescheint. Bald wirst du schmutzig und
schwarz auf der Erde daliegen, und kein Mensch wird dich aufheben
wollen. Ich dagegen bin von köstlichem Golde. Daher werde ich
weit in die Welt hinausreisen zu großen Herren und Fürsten, werde
große Taten tun und wohl zuletzt noch einmal in die Krone des
Kaisers kommen.“
2. In derselben Münzstube lag auf der Ofenbank ein alter, weiser
Kater. Wie der das hörte, strich er sich bedächtig den Bart, legte
sich auf die andre Seite und sprach dabei: „Umgekehrt ist auch
was wert.“
161
Und so geschah denn auch den beiden Geldstücken gerade das
Umgekehrte von dem, was der Dukaten gesprochen.
Dieser kam zu einem alten, reichen Geizhals; der verwahrte ihn
in seinem Geldkasten, wo er müßig und faul bei andern seinesgleichen
dalag. Doch als der Geizhals merkte, daß er bald sterben werde,
vergrub er all sein Geld vorher in die Erde, damit kein Mensch es
bekäme, und da liegt nun auch der stolze Dukaten noch bis auf
diese Stunde, ist schwarz und schmutzig geworden, und kein Mensch
wird ihn jemals aufheben.
3. Der Pfennig dagegen sollte weit in der Welt herumreisen und
zu hohen Ehren kommen. Und das geschah also:
Zuerst bekam ihn der arme Münzbursche als Lohn; der brachte
ihn nach Hause, und weil sein kleines Schwesterchen an dem blanken
Stück große Freude hatte, schenkte er ihr den Pfennig.
Das Kind sprang damit in den Garten, um ihn der Mutter zu
zeigen. Da hinkte ein alter, kranker Bettler heran, der bat um ein
Stückchen Brot. „Ich habe keins,“ sprach das Mädchen. — „So
gib mir einen Pfennig, daß ich mir Brot dafür kaufen mag,“ sagte
der Bettler. — Und das Kind gab ihm den Pfennig.
Der Bettler hinkte zum Bäcker. Wie er eben beim Laden
stand, kam ein alter Bekannter, als Pilger gekleidet, mit Mantel,
Stab und Tasche die Straße daher und gab den Kindern, die an
dem Bäckerladen standen, schöne Bilder von heiligen und frommen
Männern, wofür die Kinder, die an dem Bäckerladen standen, Geld
in die Büchse warfen, die er in der Hand hielt. Der Bettler fragte:
„Wohin geht die Reise?“
Der Pilger sprach: „Viele hundert Meilen weit nach der Stadt
Jerusalem, wo das liebe Christkindlein gewandelt und gestorben.
Dort will ich an seinem Grabe beten und meinen Bruder loskaufen,
der von den Türken gefangen ist. Dazu sammle ich erst noch Geld
in diese Büchse.“
„So nimm auch mein Scherflein dazu,“ sprach der Bettler, gab
dem Pilger den Pfennig und wollte hungrig, wie er gekommen,
auch wieder weggehen, aber der Bäcker, der alles mit angesehen,
schenkte dem armen Manne das Brot, das er hatte kaufen wollen.
4. Nun wandelte der Pilger durch viele Länder und fuhr zu Schiff
weit übers Meer zur großen Stadt Jerusalem. Als er dort an-
gekommen war, betete er zuerst an dem Grabe des Christkindleins
und ging zu dem türkischen Sultan, der seinen armen Bruder ge-
fangen hielt. Er bot dem Türken eine große Summe Geldes, wenn
er den Gefangenen frei gäbe. Der aber wollte noch viel mehr
haben. Der Pilger sprach: „Dann kann ich dir weiter nichts mehr
Kcippey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. II
162
anbieten als diesen Kupferpfennig, den mir ein armer, hungriger
Bettler aus Barmherzigkeit gegeben hat. So sei auch du barmherzig
wie er, und das Kupferstück wird es dir vergelten.“ Da erbarmte
sich der Sultan, gab den Gefangnen frei und empfing von dem Pilger
den Pfennig.
5. Der Sultan aber steckte das Kupferstück in seine Tasche. Nach
einiger Zeit aber dachte er nicht mehr daran. Da geschah es, daß
der Kaiser nach der Stadt Jerusalem kam und mit dem Sultan
Krieg führte. Dieser schlug sich tapfer herum und ward auch
nie verwundet. Einmal aber wurde ein Pfeil gerade auf seine Brust
abgeschossen, der traf ihn zwar, prallte aber von seinem Kleide ab,
ohne ihn zu verletzen. Der Sultan wunderte sich darüber, und als
man nach der Schlacht das Kleid untersuchte, fand man in der
Tasche den Kupferpfennig, an dem der Pfeil abgeprallt war. Da
hielt der Türke den Pfennig hoch in Ehren und ließ ihn mit einem
goldnen Kettchen oben an seinem krummen Säbel befestigen. Später
aber ward der Sultan selbst vom Kaiser gefangen genommen und
mußte diesem seinen Säbel abgeben. So kam mit dem Säbel auch
der Pfennig an den Kaiser.
6. Wie dieser einmal bei Tische saß und eben einen Becher voll
Wein in der Hand hielt, sagte die Kaiserin, sie möchte auch gern
einmal den türkischen Säbel sehen. Er ward herbeigebracht, und
als der Kaiser ihn seiner Gemahlin zeigte, fiel der Pfennig davon
herunter und gerade in den Becher voll Wein. Der Kaiser hatte
es wohl bemerkt und nahm daher, ehe er den Becher an den Mund
setzte, den Pfennig heraus. Wie er ihn aber näher besah, war der
Pfennig ganz grün geworden. Daran erkannten alle, daß Gift in
dem Wein wäre. Ein böser Kammerdiener hatte dies hineingemischt,
um den Kaiser zu töten. Der Kammerdiener wurde daher zum
Tode verurteilt, doch den Pfennig ließ der Kaiser in seine Krone
setzen.
So hat der Pfennig ein Kind erfreut, einem Bettler Brot ver-
schafft, einen Gefangnen erlöst, einen Sultan vor Wunden geschützt
und einem Kaiser das Leben gerettet. Dafür ward er auch in die
Kaiserkrone gesetzt und ist gewiß noch jetzt darin. Wenn man
die Krone nur zu sehen bekäme! Robert Reinick.
1. In der Vorstadt standen an der Hauptstraße viele Pappeln.
Eine hatte vor langen Jahre ihre Spitze verloren, und ein Storchen-
paar hatte sich darauf angesiedelt.
163
Wenn es in einer kleinen Stadt viele Storchnester, aber nur
einen Geheimen Rat gibt, so ist dieser eine sehr gewichtige Persönlich-
keit; in einer sehr großen Stadt aber, wo es ganz unzählig viele Ge-
heime Räte, aber nur ein Storchnest gibt, da ist dieses viel wichtiger
und merkwürdiger als hundert Geheime Räte. Das hatten die Be-
wohner der Vorstadt denn auch wohl erkannt und waren stolz darauf.
Wenn es im Frühling plötzlich wie ein Lauffeuer durch die Straßen
ging: „Die Störche sind da!" dann sagten sie: „Unsere Störche
sind da!" und der behäbige Bürger ließ sich am Abend in seinem
Lieblingsgasthause das Tageblatt geben, um es schwarz auf weiß zu
lesen. Dann kamen an Sonntagen die Familienväter und Familien-
mütter mit Nachkömmlingen jeglichen Formates und dem gebräuch-
lichen Kinderwagen, die hinaus in das Grüne wollten. Sie hatten
heute diesen Weg gewählt, um „die Störche" zu sehen.
2. Die Störche machten sich nicht viel aus ihrer Berühmtheit.
Sie waren es, wie alle Hochgestellten, von Anfang an gewöhnt, daß die
Augen voll Bewunderung auf sie gerichtet waren, und fanden es
ganz natürlich und in der Ordnung. Sie waren sich ganz genau be-
wußt, daß sie unter einer Million Menschen die einzigen Störche
waren, und wenn an einem schönen Frühlingsnachmittage die Men-
schen unten in ganzen Scharen vorbeizogen und alle nach dem Storch-
nest aufschauten, sagte Storchvater, der würdevoll auf einem Bein
am Nestrande stand, höchstens: „Wie es da wieder wimmelt!" Und
Storchmutter sah über den Rand des Nestes, wo sie emsig brütete,
hinab und meinte: „Was sie für komische Anstalten haben — sieh
mal, wie sie die Nester mit ihren Jungen hinter sich herziehen!"
3. Und die Storchmutter brütete und brütete, bis sie eines Mor-
gens sagte: „Vater, mir ist so, als wäre es soweit — ich glaube, da pickt
was." Es pickte wirklich was, und als Mutter ein wenig mit dem
Schnabel nachhalf, kam der erste kleine Storch aus dem Ei, und am
Abend waren sie alle da, vier Störche von durchaus zufriedenstellender
Beschaffenheit.
Nun flogen Vater und Mutter fleißig auf die Wiese und in den
Sumpf und auf den Saatacker, um die vier hungrigen Schnäbel zu
versorgen. „Ich habe einmal einen Menschen mit Glasaugen sagen
hören," sprach der alte Storch: „,Für unsere Kinder ist das Beste
gerade gut genug/ Ich sehe nicht ein, warum für meine Kinder nicht
dasselbe gelten sollte." So bekamen die jungen Störche die fettesten
Frösche und Mäuse, die in der Umgegend zu haben waren, die lecker-
sten jungen Lerchen und Bachstelzen, die köstlichsten Schlangen und die
appetitlichsten Eidechsen von der Welt. Dabei gediehen sie und wuchsen
und nahmen zu an Weisheit und Verstand.
ll*
164
4. Am Abend, ehe man schlafen ging, pflegten die alten Störche
ihnen zu erzählen. Am liebsten hörten sie die Geschichte aus Afrika
und vom Nil; dahin zu kommen freuten sie sich ebensosehr, wie die
Menschenkinder sich auf Weihnachten freuen.
„Es ist dort sehr schön am Nil," sagte der alte Storch, „aber vor
dem Krokodil muß man sich in acht nehmen. Es liegt im Schlamin
und sieht aus wie ein alter Baumstamm, und wenn man dort einher-
geht und behaglich sein Mittagbrot verzehrt, da sperrt es mit einem-
male seinen roten Rachen auf und schnappt einen weg, ehe man sich
nur besinnen kann."
„Hu, wie schrecklich!" sagten die jungen Störche. „Erzähle uns
noch mehr vom Krokodil — wie sieht es denn aus?"
„Ihr kennt doch die Eidechsen, die ich euch manchmal mitbringe?"
fragte der alte Storch.
„Ja, ja, bringt uns morgen doch wieder welche! Sie krabbeln
so angenehm im Magen, wenn man sie gegessen hat."
„Ich will mal sehen," sagte der Storchvater, „ob ich morgen in
die Gegend komme. Also, das Krokodil sieht aus wie eine Eidechse,
nur daß es ungeheuer viel größer und wohl dreimal so lang wie ein
Mensch ist. Seht, Kinder, so ist es oft in der Welt: wenn die Tiere
kleiner sind als wir, dann essen wir sie, sind sie aber größer als wir,
dann essen sie uns. Darum ist es gut, daß man immer bescheiden
bleibt."
Storchmutter aber sah ihren Mann an und dann die Kinder, als
wollte sie sagen: „Seht, solchen Vater habt ihr!" und die Jungen
schauten ihm ehrfurchtsvoll nach, als er auf den nächsten Schornstein
flog, um zu Bett zu gehen; dann steckten sie die Köpfe unter die
Flügel und schliefen ebenfalls ein.
5. Als die Jungen fast erwachsen waren und schon zuweilen auf
dem Nestrande standen und die Flügel probierten, waren die Alten eines
Morgens beide auf die Wiese geflogen, und die. Kinder waren allein
zu Hause. Sie hatten in den letzten Tagen unten bei den Menschen
ein seltsames Treiben bemerkt und doch immer vergessen, die Alten
nach dessen Bedeutung zu fragen. Heute sahen sie wieder voller Ver-
wunderung über den Nestrand, denn eine solche Rührigkeit und ein
solches Leben war von ihnen noch niemals zuvor beobachtet worden.
„Sie haben etwas vor da unten," sagte der älteste, „das ist gewiß,
— was es nur sein kann?"
„Seht nur ihre Jungen," meinte das Nesthäkchen, „die haben
heute viel buntere Federn als gewöhnlich."
Es war auch wirklich merkwürdig, was die Störche da unten er-
blickten? Menschen mit frohen Gesichtern und im Festanzuge drängten
165
sich in buntem Gewimmel an beiden Seiten der breiten Straße, die
Häuser waren bekränzt und verziert, und Girlanden zogen sich von
Hans zu Haus in bunten Bogen.
Mit einemmal ertönte in dem Hause, das ganz nahe an dem
Storchneste stand, ein Geräusch, und plötzlich kam an einer hohen
Stange, die aus dem Dache ragte, ein fürchterliches Wesen empor-
gestiegen, desgleichen die jungen Störche noch niemals gesehen hatten.
Schwarz, weiß und rot waren seine Farben, und es wand sich schlangen-
artig in schrecklichen Windungen, wobei es ein schauriges, knatterndes
Rauschen vollführte.
„Welch ein schreckliches Tier!" sagte der älteste. „Seht, wie es ans
uns zustrebt! — Wenn es sich nur nicht losreißt!"
„Das ist gewiß das Krokodil," rief das Nesthäkchen, „es schnappt
mit seinem roten Rachen nach uns!"
Und die Störche fürchteten sich sehr, duckten sich hinter den Nest-
rand, daß nur die vier Schnäbel hervorsahen, und starrten unverwandt
auf das Ungeheuer, denn trotz ihrer Furcht konnten sie kein Auge
davon abwenden.
6. Endlich kamen Storchvater und Storchmutter nach Hause.
„Vater," riefen die jungen Störche ihm entgegen, „siehst du das
schreckliche Tier? Es ist gewiß das Krokodil!"
„Dafür, daß ihr meine Kinder seid," meinte der Alte, „seid ihr
eigentlich noch reichlich dumm. Vor dem Ding braucht ihr euch nicht
zu fürchten — das nennen die Menschen eine Fahne. Ihr wißt ja,
liebe Kinder, daß die Menschen unvollkommen eingerichtet sind und
sich kümmerlich behelfen müssen. Wenn wir Störche recht vergnügt
sind, so steigen wir in die Luft und schwimmen in mächtigen Kreisen
unter dem Himmel dahin, oder wir bedienen uns unseres herrlichen
Schnabels zu jubelndem Geklapper. Die Menschen können nicht fliegen,
ja sie können nicht einmal klappern. Wenn nun ihre Freude so groß
wird, daß sie in ihren Häusern nicht mehr Platz hat, so lassen sie
zum Wahrzeichen etwas Buntes in der Luft fliegen, unb wenn sie
klappern wollen, so binden sie sich eine runde Höhlung vor den Magen
und schlagen sie mit hölzernen Schnäbeln."
„Das haben wir schon gesehen und gehört!" riefen die jungen
Störche.
„Seht ihr wohl," sagte der Alte. „Nun möchtet ihr auch wohl
gern wissen, warum heute so viel Freude dort unten herrscht?"
„Ach ja, bitte, erzähle!" riefen die Jungen.
„Es gibt furchtbar viele Menschen, das müssen wir Störche am
besten wissen," sagte der Alte, „denn wir haben viel Arbeit davon.
In Afrika gibt es sogar ganz schwarze, denen, wie ihr wißt, die schwarzen
166
Störche die Kinder bringen. Die Menschen teilen sich in verschiedene
große Herden, die einen Obersten haben, gerade wie wir Störche,
wenn wir nach Afrika reisen, einen haben, der voranfliegt. Zuweilen
geraten nun diese Menschenherden miteinander in Streit, und dann
gibt es das, was sie Krieg nennen. Der Krieg ist sehr fürchterlich,
und es werden viele, viele Leute getötet. Seht, solch einen Krieg
haben die Menschen in diesem Lande mit deni Nachbarlande über-
standen, und sie haben gesiegt und dem Nachbar viele schöne Wiesen
und Sümpfe abgenommen. Darum sind sie heute so vergnügt, denn
sie feiern heut' ein Fest des Sieges, und die Söhne des Landes, die
den Sieg gewonnen haben, sollen von ihnen begrüßt werden."
„Vater," sagte das Nesthäkchen, „die Fahne hat ja ebensolche
Farben wie wir: schwarz, weiß und rot!"
„Der Bengel hat Beobachtungsgabe," meinte der Alte, indem er
seiner Frau zunickte. Dann fuhr er fort: „Da hast du recht, mein
Sohn. Die Menschen haben eingesehen, daß es ungerecht wäre, unser
für all die Mühe, die wir gehabt haben, zu vergessen. Alle die
kräftigen Söhne, die ihnen den Sieg gewonnen, haben sie uns zu
verdanken. Wir sind ab und zu geflogen an den geheimnisvollen See
und haben ihnen immer die besten ausgesucht, die vorrätig waren.
Darum haben sie zum Dank unsere Farben gewählt: schwarz, weiß
und ror, und nun wollen wir uns wiederum dankbar beweisen, damit
diese Farben immer hoch und stolz im Wind fliegen mögen."
Mit einemmal ging eine Bewegung durch das Volk aus der
Straße, Taschentücher wehten, und unter dem Klange der Musik kamen
die Sieger vorübergezogen — voran auf prächtigen Rossen die Helden
und Anführer, hinterher, gebräunt und mit sicherem Siegestritt, die
Scharen der Krieger. Die Musik und die Trommeln tönten, die
Tücher wehten, die Menschen riefen hurra! und Glockenläuten und
Kanonendonner erschütterte gewaltig die Luft. Da überkam es den
alten Storch ganz sonderbar, und indem er seines Anteils an diesem
großen Siege gedachte, schwellte Stolz ihm die Brust; er legte den
Hals auf den Rücken und klapperte in all den Jubel hinein, so hell
und schneidig, daß es durch das ganze Siegesgetön hindurch ver-
nommen ward.
„Hurra, die Störche!" riefen die Krieger. „Hurra, die Störche!"
rief das Volk, und wenn der alte Storch später einmal diese Geschichte
erzählte, pflegte er zu sagen: „Es war doch der größte Augenblick
meines Lebens!"
Heinrich Seidel.
167
118. Der Eselstrieb.
1. „Und den Esel meinem lieben Bruder Stephan!" So hatte er
noch gesagt, und dann war er gestorben.
Einen Tag später erhielt ich die Nachricht vom Tode des älteren
Bruders, am zweiten Tage war ich als ein Hauptleidtragender unter den
Erben beim Leichenbegängnis, und am dritten Tage nahin ich sein teures
Vermächtnis in Empfang — den stattlichen, mausfarbigen Esel. Rührend
war es, daß der Bruder mit dem Esel an mich gedacht hatte, und ich
faßte den Entschluß, solches Andenken an ihn heilig zu halten.
„Jetzt, mein lieber Grauer, jetzt gehören wir zwei zusammen," sagte
ich zu dem freundlichen Tiere und legte ihn: das Stricklein um den Hals,
was es, die Ohren spitzend, ruhig geschehen ließ. Und dann machten wir
uns auf den Weg nach Sitzeldorf, wo ich daheim bin. Ein sechs Stunden
langer Weg — schier zuviel Ehre für das kleine Sitzeldorf; und was
wird der Esel sagen, wenn er nach so vielen Umständlichkeiten nur eine
kümmerliche Hütte findet! Freilich ein schlechtes Haus, aber einen guten
Herrn! Schon im ersten Augenblick, als ich es sah, hatte ich das Tier-
lieb, und die Zuneigung wuchs von Schritt zu Schritt, die wir selbander
wegshin trabten.
2. Als wir aber zur Flußbrücke vom Tadelbach kamen, da blieb der
Esel stehen und schüttelte sein ehrwürdiges Haupt. Ich tat anfangs, als
verstünde ich das nicht, aber er schüttelte es zum zweiteumal, und das be-
deutete: „Nein, mein Lieber, da gehe ich nicht hinüber." — Ich ging voraus
und zerrte am Strick, mußte aber doch zu wenig Anziehungskraft für ihn
haben, denn er stemmte die Vorderfüße ein und stand fest. —
Ein Schock Schulkinder kam des Weges; die Kinder stellten sich um
uns herum und waren sehr lustig über das anziehende Schauspiel, das
ich ihnen bot, und über die strenge Zurückhaltung, die der Esel sich auf-
erlegte. Ich schämte mich so viel, daß ich mit der linken Hand mein
Gesicht verdeckte, während die Rechte den Strick hielt. Die Kinder neckten
ihn mit Rutenzweigen, da schlug er mit den Hinterfüßen aus, und hieraus
lachten sie noch mehr. Endlich kamen drei Holzknechte des Weges, die eben
in den Wald gingen. „Wenn du deinen Kameraden über den Brucken
haben willst, so mußt du ihn hinübertragen," sagte einer der Männer.
„Will er nicht gehen, so geht er nicht; ein ordentlicher Esel läßt sich zu
nichts zwingen."
Was ich mich da geniert hab', daß der Eselbesitzer sich so über den
Esel muß belehren lassen von stockfremden Leuten — es ist nicht zu sagen.
Ich steckte mein Gesicht nur so zwischen die Achseln hinein und brummte:
„Wie kunnt' ich den tragen, wo er vier Füße hat und ich nur zwei!"
Packten sie auch schon an, hoben das Tier an Füßen, Bauch und Kragen
in die Höhe und trugen es sachte über die Brücke.
168
Als der Graue wieder auf festem Erdboden stand, neigte er in würde-
voller Selbstgefälligkeit das Haupt und trabte wieder ruhig seine Straße.
Die Holzhauer gingen ebenfalls ihres Weges, und ich horte sie noch lachen
von weitem.
3. Der Graue hatte Charakter gezeigt und mir eine gewisse Achtung
eingeflößt; allein je näher wir dem Aubache kamen, der wieder auf einer
Brücke zu überschreiten war, desto eifriger saun ich auf ein Mittel, den
strammen Charakter des Genossen ein wenig zu biegen. Mit Brot und
Salz, so ich mithatte, wurden Bestechungsversnche gemacht, zugleich aber
auch eine Zwangsvollstreckungsanstalt gegründet. Ich schnitt eine Birken-
gerte, streifte das Laub herab und flocht sie zierlich zu einer Rute. Der
Esel schaute mir ziemlich gleichgültig zu. Dann nahten wir uns der
Aubachbrücke. Da war kein Mensch, der mir das Tier über die Brücke hätte
tragen und mich hätte auslachen können. „Wollen wir halt einmal sehen,
Grauer, wer von uns beiden nachgibt?" Ich tat nichts dergleichen und
wollte mit ihm nur so forttraben, als ob die Brücke nichts als der gewöhn-
liche Kiesweg wäre. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und stand. Das
Brot fraß er mir aus der Hand und stand ruhig da; die Gerte bekam er in
die Weichen, das erste Mal zuckte er ein bißchen, das zweite Mal nicht mehr,
sondern stand fest angenagelt auf dem Fleck.
„Ja," fragte ich ihn, „was glaubst du denn? Sollen wir da stehen
bleiben selbander, bis die Bäche versiegen?" Er schüttelte das graue Haupt.
„Nun, mein Lieber, wenn du keinen eigenen Antrieb spürst zu gehorchen,
so sollst du fremden wahrnehmen." Hinter ihn stellte ich mich, spuckte
mir in die hohlen Hände, wand die Mute und ließ sie mit aller Macht
hinpfeifen auf die mausgraue Kreatur. Diese hüpfte zuerst mit den Hinter-
beinen empor, dann mit den Vorderfüßeu, tat eine Wendung, sprang in
den Fluß und watete daun ruhig durch das Wasser hinüber ans andere
Ufer. Dort stand sie, schüttelte von ihrem Leib das Wasser und schaute
zu mir herüber — gerade als ob sie sagen wolle: „Damit du nicht glaubst,
ich fürchte mich vor dem Wasser; du sollst nur wissen, daß ich grund-
sätzlich über keine Brücke gehe!"
Ich hinwiederum springe grundsätzlich nicht in den Fluß, sondern
gehe über die Brücke. Also ging ich hinüber, und wir waren zusammen
gute Kameraden. Anfangs stapfte der Graue wieder leidlich voran, erhaschte
unterwegs manchmal eine Schnauze voll Heidekraut, das am Wege stand;
endlich hub er an, stehen zu bleiben und stehen zu bleiben. Mit guten
Worten versuchte ich es, begann ihm seine neue Heimat zu schildern, das
duftige Heu, das er fressen werde, das weiche Stroh, auf dem er liegen
werde; von den Disteln, die am Raine wachsen, sagte ich nichts, weil ich
nicht weiß, ob man einen Esel nicht etwa beleidigt, wenn man mit ihm
von Disteln spricht. Zwar heißt es, er fresse sie gern, doch ich machte keine
169
Anspielung. Auch den Karren, an den ich ihn spannen, die Säcke, die ich ihm
ausladen wollte, wurden verschwiegen, weil ich nicht glanbe, daß diese Dinge
ein wesentlicher Beweggrund gewesen wären.
4. Auf die Länge fruchtete auch der brüderliche Zuspruch nichts, das
Vieh wurde immer stutziger und war endlich gar nicht mehr von der Stelle
zu bringen.
In dieser Not bemerkte mich ein alter Schäfer, der auf der Heide ein
Rudel Schafe weidete. Anfangs sah er nur eine Weile zu, dann kam er
herbei und sagte: „Schrecklich plagt ihr euch alle zwei. Du kannst dir's
nichr anschicken, verstehst den Esel nicht. Der Esel ist ein praktischer Mann,
der nicht alleweil so ins Ungewisse fortgehen mag. Er will wissen, wofür.
Paß einmal auf, ich werde ihm ein Versprechen machen, das der Graue
lieber glauben wird, als deine Redereien. Paß nur auf!"
Ein Bündchen Heu, wie es auf der Au zum Trocknen lag, machte
er zusammen, befestigte es an ein Stänglein und band mit dem Stricke das
Stänglein so an den Nacken und Kopf des Esels, daß das Heubündel
zwei Spangen lang vor den Augen des Tieres baumelte. Früher als ich
verstand diese Anstalt der Esel. Er hob sofort die Schnauze nach dem
Heu, aber in demselben Augenblick ging das Bündel in die Höhe. Der
Esel tat ein paar Schritte nach vorwärts, um es zu erlangen, allein das
Bündel ließ sich nicht so leicht erwischen, sondern schnellte immer weiter
und weiter.
„Jetzt wird er schon gehen," sagte der alte Schäfer, und ich sagte zu
mir: „Wenn mir das selber eingefallen wäre, ich müßte mich mein Lebtag
in Ehren halten. Dem dummen Schäfer konnte es freilich leicht einfallen,
der hat immer mit Heu zu tun."
5. Heiß war es geworden, ich zog meinen Rock aus und hängte ihn
meiner Bequemlichkeit halber auf den Rücken des Grauen. Dem war's
ganz einerlei, ihm ging's nur nach dem Heubüschel, und diesem eilte er
nach, daß wir schneller vorwärts kamen, als mir selber lieb war. Denn
weil dies verdammte Heu, das ihm immer vor den Augen hin und her
baumelte, nicht zu erreichen war, so fing der Esel endlich an zu lausen,
sprang bei einer Biegung vom Wege ab und galoppierte über die Heide
hin wie ein tolles Rindvieh.
Ich natürlich ihm nach; wie dem Esel mit dem Heu, ging's mir mit
dem Esel, ich sah ihn vor mir und konnte ihn doch nicht einholen. Schließlich
sah ich ihn auch nicht mehr; denn er war ins Gebüsch hineingefahren —
und ich stand da ohne Esel und ohne Rock. Ersterer wäre zu ersetzen
gewesen — einstweilen durch mich selber — allein im Rocksack war meine
Brieftasche, und diese konnte so leicht nicht ersetzt werden; denn sie barg
all mein Zurückgelegtes, für die Sparkasse Bestimmtes.
Als ich nun so dastand — einzig auf Erden — hub ich an zu fluchen.
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Ich fluchte gut und scharf, half aber nicht viel oder eigentlich gar nichts.
So versuchte ich ein andres Mittel, um wieder zu meinem Esel zu kommen,
ich kroch ins Gebüsch und suchte ihn. Im Gestrüpp, so meinte ich, wird
er ja hangen oder im Moor stecken oder im Brombeergeschlinge liegen
bleiben. Das Gestrüpp kam, zerkratzte mir das Gesicht, aber der Esel
hing nicht; das Moor kam, ich versank in den Morast bis über die
Waden, aber der Esel stak nicht; das Brombeergeschlinge kam, zerfetzte
mir die Hosen, aber der Esel lag nirgends herum. — „In dem Tiere steckt
der Satan," anders konnte ich mir's auf natürliche Weise nicht erklären.
6. Es erklärte sich selbst. In einem Lärchendickicht stand er und fraß
behaglich an dem Heubüschel, das hier abgeworfen auf dem Boden lag.
Ich habe sofort meinen Rock vom Strick losgerissen, dann den Strick fest
in die Hand gefaßt und folgendermaßen zum Grauen gesprochen: „Lieber
Freund, ich sollte dich jetzt eigentlich totschlagen, aber es hilft nichts, des-
halb würdest du nicht dümmer und ich nicht klüger. Du bist eine ganz
vertrackte Bestie. Ich habe dir's gut gemeint, wollte dich nicht ausnutzen
gleich am ersten Tage, habe dir die Ehre erwiesen, neben dir gemütlich auf
der Straße daherzuspazieren. Und du tust mir alles Schlechte und Nieder-
trächtige an. Bei der ersten Brücke hast du mich vor den Leuten zu-
schanden gemacht, bei der zweiten Brücke hast du mich gefoppt, nachher
bist du halsstarrig gewesen wie ein Stier, endlich bist du mir gar mit
Rock und Geld davon gelaufen wie ein Schelm. Daß es solchergestalt
mit unsrer Freundschaft aus ist, wirst du einsehen. In diesem Augenblick
— das Heu hast du gefressen — trittst du deinen Dienst an. Wir haben
noch ein gut Stück Weges, den wirst du.für uns beide machen. Wollen
doch sehen, wer von uns beiden der Stärkere ist!" Und damit schwang
ich mich auf den Rücken des Esels, daß er schier einknickte unter meiner
Last. „Also vorwärts, Kreatur!"
Was geschah? Der Esel hub sachte an auszuschreiten, ernst und
ruhig trabte er mit mir davon. Auf das ergebenste ließ er sich leiten;
zeigte sich sehr unterrichtet, schaute nicht nach rechts und links; er streckte
seinen Kragen nach keinem Grasbüschel aus, er blieb nicht stehen, und er
lief nicht, er trabte ernst und ruhig des Weges. Zu einem Tümpel kamen
wir, den ein ausgetretener Mühlbach auf die Straße gegossen, er trug
mich gemessen hinüber; zu einer Brücke kamen wir. „Da setzt's was,"
dachte ich, aber er zögerte keinen Augenblick, trabte ernst und ruhig über
die Brücke. In großer Eintracht ging die Strecke vor sich, bis wir gegen
Abend wohlbehalten nach Sitzeldorf kamen. —
Heute ist der Graue schon lange tot. Ich werde ihm meine Hoch-
achtung bewahren wie jedem, von dem man etwas Rechtes gelernt hat. Ich
habe von ihm gelernt, daß der Esel ein gutes und nützliches Tier ist,
wenn man ihn als — Esel behandelt. Peter Rosegger.
171
119. Der Korbflechter vom Abelsberg.
1. Es ist immer gut, wenn der Mensch zweierlei Handwerk kann,
und besonders gut für einen Teichgräber, wenn er sich auch ein wenig
aufs Korbflechten versteht; denn der Teich ist im Winter zugefroren,
aber die Körbe lassen sich in der warmen Stube flechten, und des
freut sich der Teichgrüber von Ober-Abelsberg.
Die böse Welt sagt freilich, er hätte das Körbemachen von den
Weibsleuten gelernt, die ihn mit derlei Ware einstmals reichlich ver-
sorgt haben sollen. Nun, jeder Mensch hat seinen Teil Spott zu
tragen, und wenn einer ein doppelter ist, nämlich Teichgrüber und
Korbflechter, so gebührt ihm der doppelte Spott, da ja doch die Welt
damit allemal freigebiger ist als mit der Ehre. Und ich vermute,
diese Geschichte hat ebenfalls nichts Gutes im Sinue.
2. Kam einst der Bauer von Lärchland herüber und fragte im
Häuschen des Teichgräbcrs höflich an, ob der Mann auch Kohlenkrippen
flechten könne, oder ob zu diesem Geschäfte eine besondere Wissenschaft
gehöre. „Zu einem Kohlenkrippenflechten gehört mancherlei, vor
allem aber recht viel Weiden," antwortete der Teichgräber in seiner
vernünftigen Weise, „bringst du mir die Weiden ins Haus, so kannst
du in acht Tagen die Krippen haben."
Der eine tat's, und der andere hielt Wort. Er ließ sich in seiner
Stube warm einheizen, damit die Weiden weich blieben und die Finger
nicht steif wurden — denn es war ein scharfer Winter —, er erwog
Weite und Tiefe, schnitzte die Jöcher, stellte das Schragwerk auf und
begann zu flechten. So eine Kohlenkrippe, wer sie kennt, ist nichts
Kleines! Sie ist berechnet, auf einen vierrädrigen Unterwagen ge-
stellt zu werden und so viel Holzkohlen zu fassen, als zwei schwere
Pferde vom Fleck bringen können. Da gehört schon Schick und Fleiß
dazu, in einer Woche eine solche Krippe! Und der Flechter hatte
einige Angst, ob er sein Wort wohl werde einlösen können.
Weil er ein gemütliches Haus war, der Flechter, so blieb er
bei seiner Arbeit nicht lange allein. Es kamen die Nachbarskinder
zu ihm, es fanden sich auch Erwachsene ein, die ihre Pfeife rauchten,
der Flechterei zuschauten und ihren Spaß hatten, wenn der Mann
recht lustige Schwänke erzählte.
3. Der Jugend gegenüber war er stets lehrhaft gestimmt lind er-
zählte diesmal aus Anlaß der Krippe die Naturgeschichte der Weiden,
die gerne am Bache wachsen und recht tüchtig hin- und herwedeln,
wenn der Wind geht. Dann sprach er von den Holzkohlen, daß die-
selben aus Holz gebrannt würden, daß sie dann der Schmied zum
172
Eisenmachen brauche, daß der scharfe Schnitzler, mit dem er hantiere,
ohne Kohlen nicht hätte zustande kommen können, daß es daher recht
und billig sei, daß der Schnitzler jetzt mithelfe, den Kohlen eine neue
Krippe zu machen, weil die Dankbarkeit eine Tugend und Zier sei
aller Kreatur. So wird dem Weisen auch das einfache Handwerk zu
einer Quelle der Weisheit. Den Erwachsenen gegenüber war er der
Humorist, erzählte die Schwänke vom daumlangen Hansel, von dem
Eulenspiegel oder Eigenspiegel, wie er sagte, von den sieben Schwaben
auch, z. B- wie sie ein Haus bauten, bei dem sie vergaßen, Fenster
zu machen, so daß sie das Licht in Säcken hereintragen mußten,
und so weiter.
Dabei wurde recht gelacht, aber der Korbmacher erklärte, es sei
in solchen Stücken viel Weisheit drin, und die sieben Schwaben wären
noch nicht ausgestorben, selbst in Abelsberg seien einige Nachkommen
derselben zu finden, so die Turmbauer von Abelsberg, welche das
Geld, aus dem ein zweiter Kirchturm hätte erbaut werden sollen,
vertranken, worauf sie den einen Turm doppelt gesehen; oder der
Türken-Sepp, der sich bei einem Heutrogkauf aus Irrung durch einen
Zweiten selber gesteigert hat; oder der Bürgermeister selber, der vom
Gemeindediener beim Wildern ertappt und ins Gemeindehaus ge-
trieben wurde — das waren lauter Streiche, wo die Schlauheit von
der Dummheit geschlagen werde. Eine ähnliche Moral war allemal
das Küpplein, das der Korbflechter solchen Geschichten schließlich auf-
setzte.
4. Weil der Korbflechter ein ganzer Mann war, bei dem jedes Wort
eine Tat ist, so war am achten Tage die Krippe fertig. Der Bauer
von Lärchland kam, trat in die Stube und stieß einen Schrei aus.
Der Korbmacher erschrak; sollte dem Bauer die Krippe nicht recht
sein? „Über und über recht!" rief der Bauer, „eine brave Form,
die rechte Größe, was nicht leicht ist." — „Ja, das glaube ich, daß
es nicht leicht ist," versetzte der Flechter, „wenn du sagst, fünfzehn
Faß Kohlen muß sie tragen, da nimmt der Mensch den Bleistift und
rechnet. Wäre das Ding viereckig oder rund, so möchte Umfang und
Durchschnitt leicht berechnet sein, aber Sachen, die unten eng sind und
in der Mitten einen Bauch haben sollen — mein Lieber, da gehört
schon ein Kopf dazu!"
„Ist ja alles recht, aber Flechter, aber Korbflechter!" rief der
Bauer wieder, „wie bringst denn das Ungetüm bei der Tür hinaus?!"
„Herr Jesses, auf das hab' ich vergessen!"
— — Das ist die Geschichte vom gescheiten Korbflechter von
Ober-Abelsdorf. Wie sich der Konflikt zwischen der Kohlenkrippe und
der Haustür gelöst hat, das erhellt nicht; wahrscheinlich hat erstere
173
nachgeben müssen und sich in hundert Trümmer auseinanderreißen
lassen. Wenn nicht, so steht sie heute noch in der Stube.
Peter Rosegger.
120. Wunderbare Abenteuer des Freilierrn von
Münchhausen.
1. Eine Kletterpartie nach dem Monde.
In dem Türkenkriege hatte ich das Unglück, durch die Menge
übermannt und zum Kriegsgefangenen gemacht zu werden. Ja, was
noch schlimmer war, aber doch unter den Türken gebräuchlich ist,
ich wurde als Sklave verkauft.
In diesem Stande der Demütigung war mein Tagewerk nicht
sowohl hart und sauer als vielmehr seltsam und verdrießlich. Ich
mußte nämlich des Sultans Bienen alle Morgen auf die Meide treiben,
sie daselbst den ganzen Tag lang hüten und dann gegen Abend
wieder zurück in ihre Stöcke treiben. Eines Abends vermißte ich
eine Biene, wurde aber sogleich gewahr, daß zwei Bären sie an-
gefallen hatten und ihres Honigs wegen zerreißen wollten. Da ich
nun nichts anderes Waffenähnliches in Händen hatte als die silberne
Axt, die das Kennzeichen der Gärtner und Landarbeiter des Sultans
ist, so warf ich diese nach den beiden Käubern, in der Absicht, sie
damit fortzuscheuchen. Die arme Biene setzte ich auch wirklich
dadurch in Freiheit. Allein durch einen unglücklichen, allzu starken
Schwung meines Armes flog die Axt in die Höhe und hörte nicht
auf zu steigen, bis sie im Monde niederfiel. Wie sollte ich sie nun
wieder herunterkriegen? mit welcher Leiter auf Erden sie herunter-
holen?
Da fiel mir ein, daß die türkischen Bohnen sehr geschwind und
zu einer ganz erstaunlichen Höhe emporwüchsen. Augenblicklich
pflanzte ich also eine solche Bohne, die wirklich emporwuchs und
sich an einem von den Hörnern des Mondes von selbst anrankte.
Nun kletterte ich getrost nach dem Monde empor, wo ich auch
glücklich anlangte. Es war ein ziemlich mühseliges Stückchen
Arbeit, meine silberne Axt an einem Orte wiederzufinden, wo alle
andern Dinge gleichfalls wie Silber glänzten. Endlich aber fand ich
sie doch auf einem Haufen Spreu und Häckerling.
Nun wollte ich wieder zurückkehren, aber ach! in der Sonnen-
hitze war indessen meine Bohne verdorrt, so daß daran schlechter-
dings nicht wieder hinabzusteigen war. Was war nun zu tun? —
Ich flocht mir einen Strick von dem Häckerling, so lang ich ihn
nur immer machen konnte. Diesen befestigte ich an einem von des
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Mondes Hörnern und ließ mich daran herunter. Mit der rechten
Hand hielt ich mich fest, und in der linken führte ich meine Axt,
Sowie ich nun eine Strecke hinuntergeglitten war, hieb ich immer das
überflüssige Stück über mir ab und knüpfte es unten wieder an,
wodurch ich dann ziemlich weit hinuntergelangte. Dieses wieder-
holte Abhauen und Anknüpfen machte nur freilich den Strick eben-
sowenig besser, als es mich völlig hinab auf des Sultans Landgut
brachte.
Ich mochte wohl noch ein paar Meilen weit droben in den
Wolken sein, als mein Strick auf einmal zerriß, und ich mit solcher
Heftigkeit hinab zu Gottes Erdboden fiel, daß ich ganz betäubt
davon wurde. Durch die Schwere meines von solcher Höhe herab-
fallenden Körpers fiel ich ein Loch, wenigstens neun Klafter tief
in die Erde hinein. Ich erholte mich zwar endlich wieder, wußte
aber nun nicht, wie ich wieder herauskommen sollte. Allein, was
tut nicht die Not! Ich grub mit meinen Nägeln, deren Wuchs da-
mals vierzigjährig war, eine Art Treppe, und förderte mich dadurch
glücklich zutage.
2. Die gefrorenen Post hörn töne.
Als die Russen mit den Türken Frieden machten, wurde ich
nebst anderen Kriegsgefangenen wieder nach St. Petersburg aus-
geliefert. Ich nahm aber nun meinen Abschied und verließ Rußland.
Es herrschte damals über ganz Europa ein so außerordentlich strenger
Winter, daß die Sonne eine Art von Frostschaden erlitten haben
muß, woran sie bis auf den heutigen Tag gesiecht hat. Ich empfand
daher auf der Rückreise in mein Vaterland weit größeres Ungemach
als ich auf meiner Hinreise nach Rußland erfahren hatte.
Ich mußte, weil mein Litauer in der Türkei geblieben war, mit
der Post reisen. Als sich’s nun fügte, daß wir an einen engen
Hohlweg zwischen hohen Dornhecken kamen, erinnerte ich den
Postillon, mit seinem Horn ein Zeichen zu geben, damit wir uns in
diesem Engpässe nicht etwa gegen ein anderes, entgegenkommendes
Fuhrwerk festfahren möchten. Mein Kerl setzte an und blies aus
Leibeskräften in das Horn, aber alle seine Bemühungen waren um-
sonst, Nicht ein einziger Ton kam heraus, was uns ganz unerklärlich
war und beinahe zu einem Unglück wurde, da bald eine entgegen-
kommende Kutsche auf uns stieß, vor der nun schlechterdings nicht
vorbeizukommen war.
Nichtsdestoweniger sprang ich aus meinem Wagen und spannte
zuvörderst die Pferde aus. Hierauf nahm ich den Wagen nebst den
vier Rädern und allem Gepäck auf meine Schultern und sprang
175
damit über Ufer und Hecke, ungefähr neun Fuß hoch, auf das Feld
hinüber, was in Rücksicht auf die Schwere der Kutsche eben keine
Kleinigkeit war. Durch einen andern Sprung gelangte ich hinter
der fremden Kutsche wieder in den Weg. Darauf eilte ich zurück
zu unseren Pferden, nahm unter jeden Arm eins und holte sie auf
die vorige Art, nämlich durch einen zweimaligen Sprung hinüber
und herüber, gleichfalls herbei. Dann ließ ich wieder anspannen
und gelangte glücklich zur Herberge.
Noch hätte ich anführen sollen, daß eins von den Pferden, das
sehr mutig und nicht über vier Jahre alt war, ziemlichen Unfug
machen wollte; denn als ich meinen zweiten Sprung über die Hecke
tat, verriet es durch sein Schnauben und Trompeten ein großes
Mißbehagen an dieser heftigen Bewegung. Das verwehrte ich ihm
aber gar bald, indem ich seine Hinterbeine in meine Rocktasche steckte.
In der Herberge erholten wir uns wieder von unserm Aben-
teuer. Der Postillon hängte sein Horn an einen Nagel beim Küchen-
feuer, und ich setzte mich ihm gegenüber. Nun hört, ihr Herren,
was geschah: Auf einmal ging's: Tereng! tereng! teng! teng! Wir
machten große Augen und fanden nun auf einmal die Ursache,
warum der Postillon sein Horn nicht hatte blasen können. Die
Töne waren in dem Hörne festgefroren und kamen jetzt, so wie sie
nach und nach auftauten, hell und klar zu nicht geringer Ehre des
Fuhrmanns heraus; denn die ehrliche Haut unterhielt uns jetzt eine
ziemliche Zeitlang mit den herrlichsten Melodien, ohne den Mund
an das Horn zu bringen.
3. Der Sprung durch die Kutsche.
So leicht und fertig ich im Springen war, so war es auch mein
Pferd. Weder Gräben, noch Zäune hielten mich jemals ab, überall
den geradesten Weg zu reiten. Einst setzte ich darauf hinter einem
Hasen her, der querfeldein über die Heerstraße lief. Eine Kutsche
mit zwei schönen Damen fuhr diesen Weg gerade zwischen mir und
dem Hasen vorbei. Mein Gaul setzte so schnell und ohne Anstoß
mitten durch die Kutsche hindurch, deren Fenster aufgezogen waren,
daß ich kaum Zeit hatte, meinen Hut abzuziehen und die Damen
wegen dieser Freiheit untertänigst um Verzeihung zu bitten.
4. Im Sumpfe.
Ein anderes Mal wollte ich über einen Morast setzen, der mir
anfänglich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten
im Sprunge war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder
um, wo ich hergekommen war, um einen größeren Anlauf zu nehmen.
4
176
Gleichwohl sprang ich auch zum zweiten Male noch zu kurz und
fiel nicht weit vom andern Ufer bis an den Hals in den Morast.
Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke
meines eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe wieder
herausgezogen hätte samt dem Pferde, das ich fest zwischen meine
Knie schloß. Dresdener Jugendschriften-Ausschuß.
121. Allerlei Scherzfragen.
Mas tut der Storch, wenn er auf einem Beine steht?
2. Warum hüpft der Eperling über die 5traße?
3. Wieviel Erbsen gehen in den großen Aochtopf?
4. Nenne mir fünf Wochentage, die kein a enthalten!
5. Welche Echafe fressen mehr, die weißen oder die schwarzen?
6. Welche Apfel wachsen nicht auf Apfelbäumen?
7. Worin gleichen sich ein Rock und ein Pferd?
8. Welches ist die gefährlichste Jahreszeit?
9. Wer hat Zähne und kaut nie?
10. Wann läuft der Base über die meisten Löcher?
11. Was brennt Heller als zwei Lichter?
12. Welches ist der Unterschied zwischen einem nagelneuen 50 Pfennig-
stück und einem alten abgegriffenen Fünfmarkschein?
f3. Welcher Abend sängt schon am Blorgen an?
14. Wer hat es am bequemsten, Tee oder Kaffee?
15. Wie liegt die Katze auf der Blauer?
16. Wer hat das längste Bett?
1?. Welcher Apfel hat den höchsten Wert?
18. Welcher Totenkops lebt?
»
III. Bilder aus der Natur.
Die Schönheit der Natur.
1. Freuet euch der schönen Erde,
denn sie ist wohl wert der Freud';
o, was hat für Herrlichkeiten
unser Gott da ausgestreut!
2. Und doch ist sie seiner Füße
reichgeschmückter Schemel nur,
ist nur eine schön begabte,
wunderreiche Kreatur.
3. Freuet euch an Mond und Sonne
und den Sternen allzumal,
wie sie wandeln, wie sie leuchten
über unserm Erdental!, ^
4. Und doch sind sie nur Geschöpfe
von des höchsten Gottes Hand,
hiugesät auf seines Thrones
weites, glänzendes Gewand.
5. Wenn am Schemel seiner Füße
und am Thron schon solcher Schein,
o was muß an seinem Herzen
erst für Glanz und Wonne sein!
123. Im Vorfrühling.
Philipp Spitta.
1. Im März ein Sonnentag,
verheißungsvoll und schön,
die Luft voll Amselschlag
und lieblichem Getön.
2. Noch zeiget keine Spur
von Grün und Blumen sich
und auf des Waldes Flur
nur Laub, das längst verblich.
3. Doch weht so ahnungsreich
die milde Sonnenluft,
und auf dem Baumgezweig
liegt's wie ein zarter Duft.
u. Koch,
4. Noch schläft die Welt gelind,
doch regt sie sich schon still,
gleich einem Wiegenkiud,
wenn es erwachen will.
Deutsches Lesebuch für Mittelschulen, IV.
Heinrich Seidel.
12
Kadp ey
178
124. Frülilingslied in der Stadt.
1. Der Frühling weiß zu finden
mich tief in Stadt und Stein,
gießt mir ins Herz den linden
fröhlichen Hoffnungsschein.
2. Manch grüne Wipfel lauschen
zwischen den Dächern vor,
ein Lerchenklang durchs Lauschen
der Stadt schlägt an mein Ohr.
3. Ein Schmetterling als Bote
flattert im Wind vorbei,
hinschwebend über das tote
steinerne Einerlei.
Heinrich Seidel.
/
1. Wenn der Frühling ans die Berge steigt
nud im Sonnenstrahl der Schnee zerfließt,
wenn das erste Grün am Baum sich zeigt
und im Gras das erste Blümlein sprießt, —
wenn vorbei im Tal
nun mit einemmal
alle Regenzeit und Winterqual,
schallt es von den Höhn
bis zum Tale weit:
O, wie wunderschön
ist die Frühlingszeit! '
2. Wenn am Gletscher heiß die Sonne leckt,
wenn die Quelle von den Bergen springt,
alles rings mit jungem Grün sich deckt
und das Lustgetön der Wälder klingt, —
Lüfte, lind und lau,
würzt die grüne Au,
und der Himmel lacht so rein und blau,
schallt es von den Höhn
bis zum Tale weit:
O, wie wunderschön
ist die Frühlingszeit!
Friedrich von Boden st edt.
179
126. Im März.
1. Nun im März
hoff, mein Herz!
Horch! es regt sich in den Lüften,
und ein ahnungsreiches Düften
weht im Garten.
Kaum erwarten
ann ich, was die Tage bringen.
Hörst du nicht? Die Lerchen singen!
2. Junges Blühn!
Frühes Grün!
Überall ein keimend Regen,
stilles, heimliches Bewegen;
Säfte quellen,
Knospen schwellen:
Nur ein wenig stilles Warten,
und die Veilchen blühn im Garten.
Heinrich Seidel.
127. Spaziergang im Frühlinge.
s. Da wandere ich in den Frühlingsmorgen hinein, und der Himmel
ist voll von zahllosen unsichtbaren Lerchen, die singen und jubeln; und
die Grashalme zittern im Morgenwinde. Hübsche Wolken mit freund-
lichen Gesichtern reisen in derselben Richtung wie ich, und alles um
mich herum ist voll wunderbarer Frühlingsfreude und Lebenslust. (D,
du mein Gott! denke ich da bei mir, wie ist doch deine Grde so schön,
so wunderschön! Und das letzte bißchen Gram und 5orge verweht
beim Anblick all der Fracht um mich herum. Auch in mir fängt's an
zu singen und zu trillern und zu blühen. Draußen und drinnen, überall
ist Frühling, eitel Frühling und Sonnenschein!
2. stundenlang führt mich mein Weg in die Marsch. Was für
eine Menge Wiesenschaumkraut es doch in der Welt gibt! And mir
zur Seite ist wieder alles gelb von Spiegel- und Butterblumen. Bald
muß ich über einen Graben springen, bald über Rickelwerk klettern.
Seh, da stelzt ein Sorch durch das hohe Gras am Rumpfe, und oben
über mir, da kreisen ein paar. Fast ohne alle Flügelbewegungen segeln
sie unter dem Blau des Himmels dahin. Lautlos und ruhig drehen sie
sich beide um denselben s)unkt, immerfort, ganz gleichmäßig. Das
möchte ich können! Ganz ohne Mühe und ohne Last schweben sie da-
hin. Ihr Gefieder leuchtet hell, von 5onnenglanz umflossen, im reinsten
Weiß. Und rings um beide breitet sich das Himmelsblau. Wie schön
12*
180
sieht's aus zusammen. Dazu kommt noch das frische Grün der weiten
Miesen mit all den roten und weißen und gelben Blumenflecken darin,
das braune Rickelwerk, der Helle Weg, das rote Bauernhaus in der
Ferne und die dunklen Baumspitzen. Nun, Augen, seht euch satt!
3. Aber der Weg ist weit, und die Lonne ist höher gestiegen.
Mir wird's zu warm. Ich ziehe meinen Rock aus und wandere in
Hemdsärmeln weiter. Warum sollte ich es mir nicht bequem machen?
Nun wird wieder tapfer auf den Rirchturm zu marschiert. Gr
wächst, je näher ich komme. In deiner Nähe werde ich mich vom
weiten Wege ausruhen, denn wo eine Rirche steht, pflegt auch ein
Wirtshaus nicht weit zu sein.
Da ist schon der erste Zaun. Gr schließt einen großen Obstgarten
ab. Die Bäume stehen in voller Blüte. Alle Rronen sind schneeweiß.
Wenn nun jede Blüte zur Frucht würde! Die Bäume müßten brechen
unter all den: Gottessegen. Doch wahrlich schade wär's, wenn Wind
und Nachtfrost gar zu viel der weißen Fracht verdürben. Gin gutes
Obstjahr ist sicher ebensoviel wert wie ein gutes Rornjahr. Das ist
das Röstliche am frischen Dbste, daß es den junger stillt, den Durst
löscht und zugleich für die Zunge das feinste Labsal ist.
q.. Ich komme ins Dorf. Rinder stehen an den Türen und rufen
mir „Goen Dag!" zu. Auf einem Dache, dicht hinter den zwei jDferde-
köpfen, klappert ein Ltorch. Rühe brüllen, Hühner laufen über die
Ltraße. Gin großer Hund beschnuppert mich. Ich wandere weiter.
Da ist das Wirtshaus. Zwei Rrippen stehen vor der Tür. hinter
einem Fenster große Gläser mit Bonbons, einige schachteln Wichse und
ein paar Ltücke Leise. Über der Haustür prangt ein Lchild mit der
Aufschrift: Rolonialwarenhandlung und Lchankwirtschaft. Ich trete in
die Gaststube. Zwei Rnechte sitzen an einem Tische und sprechen mit-
einander. Beide haben heiße Röpse und rauchen Zigarren und trinken
Bier. Die ganze Luft ist mit Tabaksqualm gefüllt. Gs riecht nach
schal gewordenen Bierresten und nach Lchnaps.
5. Der Wirt ist draußen. Ich stehe und überlege. Lchade, nach
einem solchen Lpaziergange in der dumpfigen Ltube zu sitzen und noch
dazu in Gesellschaft von lärmenden, angetrunkenen Leuten, die sich streiten
und zanken und auf den Fußboden spucken, ist sicher nicht schön. Gin
Frühstück habe ich mir mitgebracht, aber für meinen Durst muß der
Wirt sorgen. Ob denn sonst nirgend ein Plätzchen ist zum Ausruhen?
Auf dem Hausflur ist der Rramladen. Lieh da, da steht auf dem Tresen
eine große Riste mit Apfelsinen. Also gibt's doch etwas Frisches und
Lebendiges in dieser Dunsthöhle? Davon werde ich inir kaufen.
Hurra, jetzt bin ich aus der Rlemme! hinterm brause ist ein
Garten. Da hab' ich eine dichte Laube gefunden, ganz aus Hainbuchen
181
bestehend. Dort werde ich mich ausruhen und frühstücken und den
frischen Saft der Apfelsinen dazu trinken. Behalte nur Bier und Mein
und schnaps! Der beste Mein ist und bleibt doch immer der Saft der
frischen Frucht, wie ihn unser cherrgott, der's immer noch tausendmal
besser versteht als alle Bier- und ^chnapsfabrikanten zusammengenommen,
uns beschert hat.
Und ich setze mich aus die Bank und esse mein Brot und verzehre
ein paar Apfelsinen und höre die 5tare auf dem Strohdach pfeifen,
und — wahrlich, so schön hat's mir lange nicht geschmeckt, ch
Heinrich Scharr eimann.
128. Was der Schwalbe auf der Reise passiert ist.
1. Recht verdrießlich ist es für die Spatzen im Frühjahre, wenn
die Schwalben kommen. Die „lieben Vogerln“ sind sie im Winter,
wenn alle anderen fortgeflogen und die Sperlinge allein häuslich
daheim geblieben sind. „Das Vogerl singt!“ heißt’s, wenn ein Sper-
ling kreischt. Von dem Augenblick aber, wo die Schwalben zurück-
kommen aus der fernen Fremde, gilt der Spatz nichts mehr. Die
Schwalbe ist just auch keine Nachtigall, was das Singen anbelangt,
ist keine Lerche, was das Hochfliegen betrifft, ist kein Paradies-
vogel, was die Farbe angeht. Aber einzuschmeicheln versteht sie
sich bei den Menschen, indem sie ihr Nest an ihre Wohnungen baut,
die Hausgiebel umkreist und das Kindermärlein zwitschert vom Glück,
das die Schwalben bringen.
2. Es ist also kein Wunder, daß bei solcher Erwägung die
Spatzen sich ärgern im Frühjahre, wenn die Schwalben kommen.
Der alte Spatz, der jetzt auf dem Ast einer Esche saß, als die erste
Schwalbe sichtbar wurde wie ein winziger Punkt am blauen Himmel,
und als sie rasch heranschoß gegen das Landhaus — dieser Spatz
hätte sich am liebsten eilig zurückgezogen ins Laub der Esche, um
den mißliebigen Nebenbuhler nicht begrüßen zu müssen bei seiner
Ankunft. Aber die Esche hat zu solcher Zeit noch kein Laub, die
Schwalbe war da, und dem Spatzen blieb nichts übrig, als zu piepsen:
„Glückliche Ankunft! Seid ihr wieder da?“
„Ich bin wieder da,“ zwitscherte der Ankömmling traurig und
ließ sich ganz erschöpft auf dem Dachfirste nieder, aus offnem
Schnäblein den Atem kurz hervorstoßend.
„Wie geht’s? Wie war die Reise?“ fragte der Spatz, ohne
übrigens die Antwort abwarten zu wollen. Als er aber sah, daß die
Schwalbe heute kein Gefolge hatte, daß sie nicht wie in frühern
Jahren in langen Schleiern heranzogen am Firmament, blieb er sitzen
182
auf seinem Ast und erkundigte sich bei dem rastenden Schwalben-
männchen nach seiner geschätzten Familie.
Die Schwalbe schwieg und ließ ihr Köpfchen niedersinken
zwischen den eingezogenen Flügeln.
„Frau Gemahlin hoffentlich wohl? Kindlein auch?“ fragte der
Spatz.
„O Freund!“ antwortete die Schwalbe, recht mitteilungs- und
trostbedürftig. Aber sie konnte lange nichts hervorbringen als ein
schluchzendes, unverständliches Piepsen. Auch arbeitete ihre kleine
Lunge immer noch heftig, halb siech von der Reiseanstrengung.
Dem Spatzen kam es nicht recht vor; er vergaß seine Mißgunst und
flog auf den Dachfirst hin. Ein paar Spannen von der Schwalbe
entfernt ließ er sich nieder, flatterte mit den Flügeln und sprach:
„Du bist vorausgeflogen, um Quartier zu machen, nicht wahr? Und
sie kommen morgen erst nach?“
„Sie kommen nie wieder nach!“ schmetterte die Schwalbe schrill
aus ihrer Kehle.
„Mas ist denn geschehen? Erzähle, Schwalbenmann!“ so sagte
der Spatz.
„Laß mich!“ antwortete die Schwalbe. „Dich kann mein Un-
glück ja doch nur freuen. Weiß es recht gut, daß du mir und meiner
Farnilie nie gewogen warst. Du hast dir’s während unsrer Abwesen-
heit wohl wieder in unserm Neste bequem gemacht!“
3. Der Spatz schwieg einen Augenblick. Dann sprach er: „Ich
will dir nicht unrecht geben. Angenehm ist es gerade nicht für
nnsereinen, wenn du und deinesgleichen im Sommer bei uns der
Hahn im Korbe seid. Und wenn der kalte Winter kommt, wo der
Vogel erst zeigen soll, daß er auch was ertragen kann, geht ihr auf
die Sommerfrische ins Morgenland. Unsereiner hat die Ehre, der-
weil daheim bei Sturm und Gestöber im verlassenen Neste der Haus-
meister zu sein; ist aber gleich himmelhoch gefehlt, wenn man sich
darin ein wenig häuslich eingerichtet. Nun, jeder, wie er kann.
Will euch weiter nichts nachtragen, und schließlich gehören wir
Vögel doch alle zusammen und sollen uns gegenseitig beistehen in
der Not. Wie ich merke, hast du ein Anliegen, Schwalbenmann.
Sollte deinen Leuten der Geier etwas angetan haben?“
„Was, Geier!“ sagte ' die Schwalbe. „Der holt uns nicht ein.
Aber der Mensch! Dieser danklose, falsche Mensch, dem wir so viele
Freude bringen!“
„Wenn der Geier euch nicht einholt, wieso dann der Mensch
mit seinem lächerlichen Gehwerk?“ fragte der Spatz.
„Freilich, freilich, Sperling. Als Tierwesen ist der Mensch der
183
armseligsten eins. Aber so viele Schlauheit und Falschheit hat er
in sich, und das sind seine Mittel und seine Waffen, in denen ihm
kein andres Geschöpf gewachsen ist!“
„Ich weih es, wir erfahren es alle,“ sagte der Spatz. „Hier,
Nachbar, warte ich dir mit einem kleinen Imbiß auf!“ Er hatte aus
dem bemoosten Dachbrett ein Würmchen gepickt und es vor die
Schwalbe hingelegt.
Diese ließ das Ehrenbrot liegen, ward jedoch ein wenig zutrau-
licher. Sie fuhr fort zu sprechen: „Einen solchen Verrat hast du
noch nicht erfahren, als wir in diesen Tagen! Du beneidest uns
um die Sommerfrische im Morgenlande, während ihr da den kalten
Winter habt. Schön ist es freilich dort. Und doch solltest du froh
sein, daß deine Gesundheit dem rauhen Klima gewachsen ist und
du die weite Reise nicht machen mußt, jedes Jahr zweimal. Der
Mensch braucht auf Dampfwagen und Schiffen wochenlang dahin,
Du, mein lieber Spatz, würdest überhaupt nicht hinkommen.“
„Wieso?“ sagte dieser. „Wenn ich auch langsamer fliege als
du, weil mir das Hetzjagen durchaus zuwider ist, hinkommen würde
ich ja doch, wenn ich wollte. Auf ein paar Tage länger kommt’s
mir nicht an. Ich würde mir anständig Zeit lassen, über Nacht mich
auf einem Baum oder Busch wohl ausrasten, Körnlein brocken, Käfer
jagen und am nächsten Tage wieder gemütlich weiterfliegen.“
„So!“ antwortete die Schwalbe und blickte mit ihren Rund-
äuglein ganz sonderbar auf den Spatzen. „So würdest du tun!
Lieber Freund, man merkt diFs an, daß du noch nicht weit umher-
gekommen bist in der Welt. Bis Dalmatien und etwas weiter hin
dürftest du mit deinem Reiseplan auskommen. Aber hernach das
Meer! Das hat keinen Baum und keinen Strauch zur Nachtherberge.
Da heißt es ununterbrochen fliegen, ich glaube, du würdest, wenn’s
überhaupt nicht ganz und gar unmöglich wäre, mehrere Tage brauchen,
um über das Mittelländische Meer zu setzen und im heißen Afrika
Fuß zu fassen.“
„Und ihr?“ fragte der Spatz, indem er mit einer raschen Be-
wegung das Würmlein selber aufpickte.
„Das Meer? Wir überfliegen es in wenigen Stunden. Und selbst
da wollen die Kräfte manchmal nicht langen, und wir müssen Gott
danken, wenn wir Schiffe finden, auf deren Masten und Getakel wir
uns setzen können zu kurzer Rast?“
„Und wenn’s Piratenschiffe sind?“
„Die Seeleute tun uns nichts zuleide, nicht einmal die Piraten.
Sie wissen, daß wir Schwalben Glück bedeuten. Und wäre auch
das nicht der Fall, sie, die selbst in steter Gefahr sind, sehen
184
unsre Not und verschonen uns, bis wir erfrischt weiterfliegen
können. “
Der Spatz war etwas kleinlaut geworden. Nicht ohne Ehrfurcht
guckte er auf das Schwalbenmännchen und dachte wohl bei sich:
Deine Sommerfrische ist erst nicht ganz so billig zu haben, als man
es sich vorstellt.
„Aber schön muß es sein im Morgenlande,“ sagte der Spatz.
„Schön ist es freilich. Es ist ja das Paradies,“ antwortete die
Schwalbe.
„Mich wundert nur, daß ihr nicht dort bleibt, wenn es so
schön ist, und wenn die Reise hierher so beschwerlich ist,“ sagte
der Spatz.
„Wir haben Heimweh,“ sagte die Schwalbe.
„Wo seid ihr denn daheim?“ fragte der Spatz. „Ein halbes
Jahr hier, ein halbes Jahr dort. So seid ihr dort so gut daheim
als hier. Oder besser dort, weil dort ja das Paradies ist!“
4. Darauf sprach die Schwalbe: „Wir sind daheim, wo wir ge-
boren sind, und das ist hier im Abendlande. Wir sind daheim,
wo wir unser Haus bauen und unsre Kinder zur Welt bringen, und
das ist hier im Abendlande. Dort im fernen Süden, in den Oasen
der Wüste, ist es heiß, unter Palmenblättern und Kakteen suchen
wir unsre Schatten, und die Rosen von Kairo duften uns an, wenn
wir muntern Fluges die Pyramiden umkreisen wie hier die Haus-
giebel und die Kirchtürme. Aber in den schwülen Nächten, wenn
der Nil am Ufer rieselt und die Schakale des Sandes schreien, da
träumen wir voller Sehnsucht von den kühlen Wäldern der fernen
Heimat, von den blühenden Apfelbäumen auf grünem Rain. In langer
Regenzeit harren wir unter triefenden Blättern der Palme den Tagen
entgegen, wo der Samum sich erhebt, der ewige Sonnenschein kommt,
die heißen Lüfte zittern und endlich vom Meere herab laue Winde
streichen. Nun ist es Zeit. Wir rufen das aus und versammeln uns.
Wir machen Flugübungen und ruhen und stärken unsre Kräfte und
nehmen dann Abschied vom Paradiese. Es ist nicht der betrübte
Abschied wie im Herbste von der nordischen Heimat, es ist ein
frohes: Lebewohl, Morgenland! Und dann davon in großen Scharen
durch die Lüfte, pfeilschnell der Heimat zu! Beim Abfliegen von
der felsigen Küste Afrikas müssen wir uns darauf gefaßt machen
daß unsre Flügel rastlos ausgebreitet bleiben, unser Schnabel keinen
Bissen und keinen Tropfen genießen wird, bis die Gestade des Abend-
landes unter unsern Füßen sind. Gott mit uns! so schmettern wir
das Reisegebet gegen den Himmel auf. Frühmorgens reisen wir ab
in Afrika, am Nachmittage werden wir auf den lieben Giebeln rasten,
185
unter deren Brettern unsre Nester des vorigen Jahres kleben. —
So war es auch am gestrigen Morgen, als ich mit Weib und Kindern
abflog von den Türmen der Türkenstadt. Laut jubelte unter uns
jung und alt, schneller wie der Sturm schossen wir im unendlichen,
wohlgeordneten Zug über dem dunkeln Gewässer dem Norden zu,
der lieben, süßen Heimat, Die kleinen Vogelherzen voller Freude,
keine Ahnung von dem Unglücke, das uns auf dieser Reise treffen
sollte.“
„Um Gottes willen, was ist denn geschehen?“ fragte der Spatz.
„Noch lange nicht Mittag ist’s,“ erzählte die Schwalbe weiter,
„über uns der blaue Himmel, unter uns das dunkle Wasser. Kein
Eiland, kein Schiff. Ich fühle, wie die Flügel schwerer werden,
wie ich sinke unter die Linie des Fluges. Mein Weib hinter mir
kreischt auf: ,Ich kann nicht mehr weiter, es verlassen mich die
Kräfte!‘ Da ruft von oben herab einer unsrer Jungen: ,Mut! Ich
sehe den weißen Streifen! Die Küste von Dalmatien! Frisch vor-
wärts !* — Nach wenigen Minuten sind wir dem Lande so nahe, daß
mit freiem Auge die Menschen zu sehen sind, die am Strande
sich beschäftigen. Endlich wieder die lieben Menschen! Wir sausen
den Felsen zu, da wird unten geschossen, an meinen Ohren pfeifen
Schrote vorüber. Wie? Uns sollte das gelten? ,Gut Freund!* rufe
ich hinab. Es kracht das zweitemal, das drittemal, mein Jüngster
vom vorigen Jahre zuckt zusammen, aus seinen Flügeln sprühen die
Federn davon. ,Gut Freund! Gut Freund!* schreien wir. Mein
Weib, das viel tiefer fliegt, gibt uns ein Zeichen, ihr nachzukommen.
Hinter den Felsen, in Gebüschen habe sie ein sicheres Versteck
wahrgenommen. Dort sitze ein andrer Schwalbenvogel und lade
uns ein mit hellem Ruf. Wir eilends darauf hin ins Gebüsch, in
ein feines Flechtwerk, wie geschaffen zur sichern Rast. Kaum aber
hocken wir drin, so zieht das weite Netz sich blitzschnell zusammen,
ich entkomme noch zur Not und fahre empor, viele Genossen aber
sind gefangen, darunter mein Weib, meine Kinder. Ich fahre wieder
niederwärts, fluchend dem Lockvogel, der uns verraten hat. Und
war doch selbst ein Opfer abscheulichen Verrates, der arme Schelm.
Mit glühendem Draht hatte man ihm die Augen ausgestochen, mit
einem durch die Nase gezognen Faden hat man ihn an den Oliven-
zweig gebunden, damit er durch sein Geschrei uns andre in das
Verderben locken sollte. Meine unglücklichen Genossen! Wie sie
kreischten und flatterten und sich immer mehr vergarnten im Netze,
bis ein Menschenmann kommt, das Netz aus dem Gebüsche löst
und es mit seinen in Todesangst schreienden Opfern über den
steinigen Boden davonschleift . . .“
186
5. So hatte die Schwalbe erzählt, ihr Gefieder sträubte sich auf
vor Grauen. Der Spatz saß sprachlos da. Endlich begann er doch
zu fluchen über den Strandräuber, den bübischen Strolch, der die
arglosen Wesen so heimtückisch einfing.
„Ich rate dir, dich zu mäßigen,“ sagte die Schwalbe in bittrer
Ironie. „Sonst könntest du Unannehmlichkeiten haben! Es war
durchaus kein bübischer Strolch, es war der Herr Bezirksrichter
von Benka-Lica! Ich bin noch weinend, flehend über seinem Haupte
gewesen, als er die Beute in sein Haus zog und an den Vogelherd,
wo die armen, — armen . . .“
Sie konnte nicht weiter. Die kleine Kehle zog sich zusammen
in Herzeleid. Stöhnend hat sie es später herausgestoßen, wie man
ihre Lieben, eins ums andre, aus dem Netze fing und den in roher
Faust entsetzlich zitternden Geschöpflein den Hals umdrehte, ihnen
den Hals umdrehte, sie briet und verspeiste! Der Herr Bezirks-
richter habe dabei mit der Zunge geschnalzt. Ein köstlicher Lecker-
bissen! —
„Und bist du nicht niedergefahren und hast dem Ungeheuer
nicht die Augen ausgepickt?“
„Die Bache überlasse ich einem Stärkern!“ sagte die Schwalbe.
„Du kannst es nicht glauben, Spatz, wie traurig ich dann weiter-
geflogen bin. Die schönen Sommerfreuden in der Heimat, das junge
Familienglück — alles ist hin. Koch einmal bin ich in diese Gegend
gekommen, die wir so selig unsre Heimat nannten, und die mir jetzt
so fremd und trostlos geworden ist. Noch einmal will ich die Wipfel
und die Giebel sehen, die wir in glücklichen Zeiten umkreist haben.
Dann fliege ich weiter.“
„Wohin willst du denn?“ fragte der Spatz mit Teilnahme.
„Das weiß ich nicht. Wohin? das ist mir gleich, nur fort von
den Menschen.“
6. „Deinen Unmut begreife • ich,“ sagte der Spatz mit wohl-
wollender Überlegenheit. „Aber du weißt das Neuste nicht. Du
weißt nicht, daß die Menschen unter sich einen Bund von Vogel-
freunden gegründet haben, der dem Herrn Bezirksrichter von Benka-
Lica und seinesgleichen das Handwerk legen will.“ Die Schwalbe
horchte auf. Der Spatz fuhr fort: „Es wird nämlich in ganz Dal-
matien und auch in Südtirol die Quälerei getrieben. Man fängt,
wie ich in der Zeitung las, in diesen Ländern jährlich Millionen
von durchziehenden Vögeln mit allen denkbaren Vorrichtungen und
Tücken. Durchaus nicht bloß arme Leute, die sonst nichts zu essen
haben, auch hochaiisehnliche Herrschaften! Denn sie machen sich
ein Vergnügen daraus, die lieben Singvögel zu morden! Die meisten
187
der armen Tierlein werden aufgefressen von jenen Kannibalen, die
schönsten, buntfarbigen, aber werden an eitle Frauenzimmer ver-
kauft, und die Törinnen stecken aus lauter Hoffart die kleinen,
bunten Vogelleichen auf ihre Hüte.“
„Unglaublich!“ rief die Schwalbe aus.
„Nicht wahr? So etwas kann in einem Narrenturme doch nicht
vorkommen; denn zu solcher Narrheit gehört auch eine gute Portion
Schlechtigkeit, Herzlosigkeit! Dieser bunte Kopfputz der Damen ist
endlich aber den andern doch zu bunt geworden, und sie haben
auch einen Bund gegründet, um die abscheuliche Vogelmörderei ab-
zuschaffen. Das wird durch ein Gesetz geschehen, und der Thron-
folger von Österreich selber hat sich an die Spitze des Bundes
gestellt. “
„Ist es doch wahr?“ rief die Schwalbe hoch erregt aus. „Heute
habe ich unterwegs so etwas gehört von diesem Vogelbunde. Ich
konnte es kaum glauben, daß es nebst den bösen Menschen auch
noch so gute gibt; aber nun es schon die Spatzen auf dem Dache
pfeifen, wird es wohl wahr sein.“
„Ich will dir auch sagen, Schwalbenvogel,“ zwitscherte der Spatz
dem andern vertraulich zu, „daß sogar in diesem Hause, auf dessen
Giebel wir sitzen, Leute wohnen, die den Vogelschutzbündlern an-
gehören.“
Als die Schwalbe das gehört hatte, hob sie ihr stahlblinkendes
Köpflein und sagte: „Auch in diesem Hause? Wenn dem so ist,
dann will ich nicht fortfliegen. Dann will ich mich auf meinem
alten Familiensitze niederlassen und versuchen, ein neues Leben an-
zufangen. Das Haus soll gesegnet sein!“
Peter Rosegger.
129. Der Kiebitz.
(Gekürzt.)
1. Auf den Uferwiesen, von welchen das Wasser langsanr zurück-
tritt, hat sich ein Flug Kiebitze niedergelassen. Ihre goldgrünen Rücken-
federn schimmerit in der Märzsonne, und ihre roten Schultern fünf ein
im Hellen Lichte. Ab und zu ruft einer klagend „Kiebitt", spreizt die
Schwingen und fächert den Stoß, daß die weißen Binden hell auf-
leuchten, er sträubt den Schopf, macht einen Diener, daß der weiße
Nacken aufblitzt, und dann steigt er empor, ruft jauchzend „Kuwitt,
kiuwitt, huitt", saust dahin, daß es dunipf „Wutt, wutt, wutt" klingt,
wacht einen jähen Bogen nach unten, überschlägt sich nach hinten,
jauchzt wieder und taumelt über die Wasserlachen, auf denen nordische
188
Möwen sich von den kleinen Wellen schaukeln lassen, und läßt sich auf
der fahlen Wiese nieder.
2. (Süt Hund taucht bei dem Gehöfte auf. Langsam kommt er
herangebummelt. Er will das Wasser absuchen, ob er nicht wieder,
wie gestern, einen Knochen findet. Aber schon hat der Kiebitz ihn er-
späht. „Pie-wie," erklingt es und noch einmal, „pie-wie". Und nun
stehen alle die zwanzig Kiebitze, die auf der Reise vom Süden hier
rasteten, auf; wie eine schwarz-weiße Wolke weht es empor, es teilt
sich in schwarz-weiße Fetzen, die hin- und herflattern; sie sausen in
jähem Stoß über die Wiesen, taumeln im Bogen über das Wasser,
und mit „Pie-wie" und „Ui-witt", „Kiebitt" und „Huitthuiet" stößt
bald dieser, bald jener nach dem Hunde, der sich erst dumm umsieht
und darin ärgerlich nach dem Hofe zurücktrollt.
3. Die ganze Nacht über ruhen die Kiebitze in den nassen Wieseil;
am Morgen aber sind sie fort. Andere kommen vom Süden und
verschwinden wieder nach ihren Brutplätzen in Pommern, Ost-
preußen, Ostfriesland, Holsteirr; wieder andere rücken nach, die in
Dänemark und Schweden, England und Norwegen brüten. Zwei Paare
aber bleiberr in der Marsch am Flusse. Das eine richtet sich häuslich
auf derrr Stück Unland ein, über das der Fluß in jedem Frühling
der: Sarrd schiebt. Disteln sprießen dort und starre Binsen, rrnd weil
das Stück Land hoch liegt, kanrr der Kiebitz von da aus die Gegend
überspähen. Das andere Paar nimrrrt rrach dern Abzugsgraben hirr
Wohnung, >vo allerlei totes Gestrüpp urrd Schilf ivirr umherliegt und
die Krötenbinse dichte Rasen bildet..'
4. Üppig schießt und sprießt unter der Frühlingssonne alles Gras
und Kraut. Die Disteln spreizen ihre Stachelblätter, und die Binsen
reckeir ihre spitzen Halnre. Den Kiebitzen scheint es an der Zeit zu
sein, dafür zu sorgen, daß ihr Geschlecht trotz Wiesel und Iltis, Fuchs
und Katze, Habicht und Weihe blühe, wachse und gedeihe. Und trotz
des Menschen! Hier haben sie nichts zu fiirchten, der Bauer nimmt
ihnen die Eier nicht. Er hat keine Zeit für solche Dummheiten; und
er weiß auch, daß ihm die Kiebitze die Raupen der Graseulen und
die Ackerschnecken wegfangen. Aber an anderen Orten, da läuft
hungriges und geldgieriges Menschenvolk in den Wiesen und Mooren
herum und nimmt den schönen Vögeln die Eier fort, zilm Dank da-
für, daß sie mit Flug und Stimme das Land beleben und Acker und
Wiese von Ungeziefer befreien. Und der deutsche Mann von Bildung
und Besitz setzt sich hin lind schlemmt Kiebitzeier und schiinpft dabei
über die rohen Italiener, die den Deutschen die Singvögel wegfangen;
und er entrüstet sich ungeheuer darüber, daß ein armer Teufel sich
einen Hänfling oder einen Stieglitz für den Käfig fängt, um seine
189
Freude an dem Vögelchen zu haben und in seiner engen dumpfen
Mietsklause einmal etwas anderes zu hören als Straßenlärm und
Kindergeschrei.
5. Die Kiebitze in der Flußwiese brauchen den Menschen nicht zu
fürchten. Aber der Sperber macht ihnen Not; denn alle paar Tage
kommt er angestrichen und greift, was er kriegen kann: heute den
Star, morgen die Wiesenstelze, übermorgen die Rohrammer oder die
Lerche. Darum paßt der Kiebitzhahn scharf auf, unterdes die Henne
ihre Nestmulde zwischen den Disteln scharrt und mit Wurzeln und
Halmen ausfüttert; und wenn er warnt und mit schwankendem Fluge
hin- und hertaumelt, steigt auch die Henne in die Luft und wirbelt
mit so unberechenbarem Geflatter über der Wiese, daß das Sperber-
weibchen nicht daran denkt, sie zu schlagen. Die hellgraue Wiesenweihe,
die jeden Morgen und jeden Abend hier auf Mäusejagd fliegt, küm-
mert sich um die alten Kiebitze gar nicht.
6. Vier Eier liegen nun in dem Neste zwischen den Disteln, gelb,
lichtbraun wie der Sand, und mit schwarzen Flecken bedeckt, als wüchse
Moos auf ihnen. In dem Neste zwischen den Schachtelhalmen am
Graben sind die Eier dunkler, wie der Boden, der dort auch einen
tieferen Ton hat. Eifrig brüten die Weibchen und suchen nur dann
und wann nach Nahrung. Geht der Bauer durch die Wiesen, so
drücken sich die Weibchen platt auf das Nest, und die Hähne umfliegen
den Mann und locken und rufen kläglich, bis er vorüber ist. Dann
lassen sie sich auf einer hohen Stelle nieder und suchen erst wieder
nach Gewürm, bis er ganz hinten in den Wiesen verschwindet. Ab
und zu verirrt sich auch die Katze hierher, aber die Kiebitze setzen ihr
dann gleich so zu, daß sie bald nach dem Hofe zurückschleicht.
7. In der Mittagszeit, wenn die Sonne ganz heiß scheint, treiben
sich die beiden Hähne auf der Sandbank am Ufer herum. Da waten
sie bis an die Brust in das Wasser, rennen am feuchten Ufer hin und
her, nehmen ein Sandbad, putzen sich und fliegen dann mit weiten
Flügelschlägen langsam den Fluß entlang, bis sie sich wieder auf der
Wiese niederlassen und eifrig nach Raupen, Schnecken, Würmern und
Käfern suchen. Sowie sich aber eine Krähe oder Elster zeigt, fahren
sie darauf los, stoßen danach und vollführen einen solchen Lärm, daß
das Raubgesindel es aufgibt, nach den Eiern zu suchen, und von
daunen fliegt.
8. Bald aber heißt es, noch achtsamer zu fein, denn bei jeder
Henne wimmeln jetzt vier kleine, hochbeinige, bunte Wollklümpchen
herum, deren Zottelkleidchen es nicht anzusehen ist, daß es sich ein-
mal in das schwarz-weiß-goldgrün-kupferrote Prachtkleid verwandeln
wird. Wie die Mäuse huschen sie hinter den Hennen her, rennen bald
190
hochbeinig zwischen den Binsen umher, Küferchen und Räupchen auf-
lesend, bald schlüpfen sie tiefgeduckl durch das Gekraut. Sowie aber
der Warnruf der Alten erschallt, sind sie verschwunden im Gras und
Gestrüpp, drücken sie sich zwischen Stengel und Halme, und wie sie
da liegen, sehen sie mit ihren langen Schutzdaunen aus wie ver-
schimmelte Kotballen oder moosbewachsene Erdklumpen.
9. Immer länger wird das Gras, und Sauerampfer, Hahnenfuß
und Lichtnelke schmücken es mit bunten Farben. Immer versteckter
ist das Leben der beiden Kiebitzfamilien. In dem langen Grase ist
soviel Gewürm, daß die Kiebitze sich nicht auf den Sand und den
Schlamm des Ufers hinauszutrauen brauchen. Die heißen Stunden
verträumen sie im Verstecke, und erst des Abends stöbern sie am Ufer
umher, wo die Jungen, schon fast so groß wie die Alten, zum ersten-
male ihre Schwingen erproben.
10. Im Juli kommen die Mäher, und den Kiebitzen wird es zu
laut in der Wiese. So ziehen sie über Nacht fort. Ein paar Tage
treiben sie sich auf den Kartoffelfeldern umher und suchen Schnecken
und Raupen; und dann wandern die einen in die Marsch hinein und
die anderen in das Hügelland, wo die Wiesen Nahrung genug bieten,
bis es ihnen auch dort nicht mehr gefällt und sie nach der Marsch
zu streichen, wo viele Hunderte von Kiebitzen zwischen dem schweren
Vieh aus- und abtrippeln und dafür sorgen, daß die Graseulenraupen
verschwinden.
11. Aber auch dort wird das Gras geschnitten, und so teilen sich
die Scharen, wandern nach den Stoppelfeldern und Brachen und
halten die Schnecken kurz, verweilen hier eine halbe Woche, dort ein
paar Tage, und wo ein feuchtes Feld ihnen Futter bietet, dort bleiben
sie, bis die Raupen und Schnecken alle sind, und es sie weitertreibt.
Die Leute in den Städten, die in den heißen Nächten bei offenen
Fenstern schlafen, hören das Rufen der streichenden Kiebitze hoch über
den Dächern und fragen sich verwundert, was das für unbekannte
Vogelstimmen sind, denn so dünn und so klagend hört es sich an.
12. Ruhelos streifen die Kiebitze im Lande umher, erscheinen
dort, wo sie niemals brüten, auf den Äckern des Hügellandes und in
den Vorbergen, ja selbst auf den hochgelegenen Bergweiden lassen sie
sich sehen, bleiben aber nur einen Tag und suchen wieder das tiefe
Land auf. Je rauher die Luft und je kälter die Nächte werden, um
so mehr eilen sie dem Süden zu, und nur noch einige verspätete Trupps
setzen auf den kahlen Feldern die Suche nach Raupen und Schnecken
fort, bis auch ihnen die Nächte zu kalt werden und sie dorthin ziehen,
wo der Tisch besser für sie gedeckt ist.
Hermann Löns.
191
130. Das Frühlingsmahl.
1. Wer hat die weißen Tücher
gebreitet über das Land,
die weißen, duftenden Tücher
mit ihrem grünen Rand?
2. Und hat darüber gezogen
das hohe blaue Zelt,
darunter den bunten Teppich
gelagert über das Feld?
3. Er ist es selbst gewesen,
der gute reiche Wirt
des Himmels und der Erden,
der nimmer ärmer wird.
4. Er hat gedeckt die Tische
in seinem weiten Saal
und ruft, was lebet und webet,
zum großen Frühlingsmahl.
5. Wie strömt's aus allen Blüten
herab von Strauch und Baum!
Und jede Blüt' ein Becher
voll süßer Düste Schaum!
6. Hört ihr des Wirtes Stimme?
Heran, was kriecht und fliegt,
was geht und steht auf Erden,
was unter den Wogen sich wiegt!
7. Und du, mein Himmelspilger,
hier trinke trunken dich,
und sinke selig nieder
aufs Knie, und denk an mich!
Wilhelm Müller.^x^
1. Nach langer Winterzeit war es endlich Frühling geworden. Der
Star hatte es schon vor zwei Monaten gesagt. Laut in alle Welt hatte
er es geschrien vom Giebel des Hauses herab und aus dem kahleil Zweig
des Kirschbaumes. Aber er war ein Alleswisser, und denen darf man
nicht trauen, sie prophezeien manchmal ganz verkehrt. So war es denl
Starmatz auch ergangen. Wie trübselig ließ er den Kopf hängen, als ihni
der Nordost um die Ohren pfiff, als der Boden hart fror lvie Stein, als
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der Schneesturm alles mit einer weißen Decke einhüllte. Nun sollte der
Matz aber doch wohl recht bekommen, denn die Schneeglöckchen waren schon
herausgekommen, der Huflattich ließ seine goldigen Blüten leuchten, und
an der Hecke duftete es nach Veilchen. Es war einer von den „nenn
Sommertagen" im Monat Mürz. Der warme Sonnenschein ließ die
kleinen Mücklein spielen, lockte den gelben Zitronenvogel und den bunten
Fuchsfalter aus ihren Winterquartieren und drang auch tief hinunter
auf den Grund des Grabens, der quer durch die Wiese führte und sie
entwässern sollte. Da regte es sich unten im Schlamm. Ein verschlafenes
Fröschlein kam hervorgekrochen und tauchte empor zum hellen Sonnen-
schein. Es war eine Fröschin, die mit goldrandigen Augen neugierig in
die Welt hineinblickte und nun recht tief Atem schöpfte und vergnügt war,
daß die lange Winternacht nun endlich vorbei war. — Leider waren die
glücklichen Tage bald vorüber. Sie hatte ihren Laich abgesetzt und war
todesmatt davongekrochen. Da bekam der April seine Launen. Eisiger
Nordwind brachte Schneeschauer und Hagelwetter, und die unerwartete
Kälte brachte der erschöpften und ausgehungerten Fröschin den frühen Tod.
2. Unterdessen lagen ihre Eier wohlverwahrt in der schützenden Gallert-
hülle. Mochte der April auch stürmen und wettern, wie er wollte, es
machte ihnen durchaus nichts. Aber der April mußte sich ergeben, die
Sonne zwang ihn. Da ging denn in den Froscheiern eine merkliche Ver-
änderung vor. Die kleinen, schwarzen Eikerne wurden länglich, und bald
sah man in der glashellen Umhüllung ein schwarzes Tierchen sich bewegen.
Es hatte hinten einen langen Schwanz, trug an der Seite des Kopfes
große Kiemenbüschel und an der Unterseite desselben zwei Haftscheiben, mit
denen es sich oben auf der Eihülle festhielt, denn es war schon heraus-
gekrochen. Kaulquappen nannte man diese kleinen, schwarzen Geschöpfe,
und wir wollen dieses eine, von dem wir eben schon gesprochen haben, der
Einfachheit halber kurzweg „Quapp" nennen.
3. Quapp saß also auf dem alten Gallertklnmpen mit allen seinen
Geschwistern. Derselbe war für sie, was die Milchflasche für die kleinen
Menschenkinder ist. Sie nährten sich also von demselben und zehrten ihn,
da so viele Mäuler von ihm satt werden sollten, bald auf. Aber sie ge-
diehen gut dabei und fühlten sich wohl und kräftig, auch wuchs der Appetit
mit dem Essen. Als dann die Nahrung knapp wurde, schien es unserem
Quapp, man müßte sich nach einer anderen Quelle umsehen, und so verließ
er denn mit vielen Kameraden die Neste des Gallertklumpens und heftete
sich an einem alten, abgebrochenen Zweige fest, der am Grunde im Graben
lag. Hier gab es Futter im Überfluß, Quapp knabberte den ganzen Tag
nur einmal, es war das reine Schlaraffenland. Trotzdem hatte es feine
schlimmen Seiten, und wenn die jungen Kaulquappen auch nicht schreien
konnten, wie die Menschenkinder, so hätten sie doch wohl llrsache dazu
193
gehabt. Am Boden krochen große Insektenlarven umher, deren Hinterleib
in einer Hülse steckte. Es waren Hülsenwürmer oder Köcherfliegen. Diese
bissen mit ihren scharfen Freßwerkzeugen die Kaulquappen mittendurch
und fraßen sie auf. Auch kleine Schwimmkäfer und deren Larven kamen
und fielen über die wehrlosen Froschkinder her. Da war es denn nicht
mehr geraten, so auf einem Haufen still sitzen zu bleiben.
4. Mittlerweile hatte unser Quapp ein ganz anderes Aussehen be-
kommen. Die Kiemenbüschel waren verschwunden, und auch die Haftorgane
hatte er nicht mehr. Kopf und Rumpf bildeten zusammen einen eiförmigen
Klumpen, an dessen spitzem Ende ein Maul mit hornigen Kiefern saß.
Zwei große Augen guckten munter in die Welt. Auf dem Hinterende
setzte sich an den Körper ein langer Schwanz an, der mit breiten Haut-
säumen zum Rudern eingerichtet war und es ihm möglich machte, im
Graben hierhin und dorthin zu schwimmen. Er atmete nun wie die Fische
durch innere Kiemen. Seine Lebensweise hatte er aber beibehalten: er fraß
den ganzen Tag faulende Pflanzen und Algen, tote Schnecken und Würmer
und andere Tiere, sogar die Überreste feiner eigenen Geschwister und
Kameraden, welche die räuberischen Wasserkäfer, Ruderwanzen und Insekten-
larven hatten liegen lassen. So wuchsen ihm denn bald ein paar Hinter-
beine mit großen Schwimmhäuten zwischen den Zehen, und dann kamen
auch allmählich die Vorderbeine. \/
5. Es war Sommer geworden, Mai und Juni hatten das ihrige
getan, die ganze Natur war ein einziger Blütenflor. Am Graben wuchsen
gelbe Schwertlilien und blaue Vergißmeinnicht. Die Wolke hatte sie be-
gossen, und die Sonne hatte die Wärme gespendet. Damit hatte sie es
aber in der letzten Zeit ein bißchen reichlich gut gemeint; denn das Wasser
im Graben wurde immer weniger und die Nahrung in demselben für
unsern Quapp immer knapper. Er sah drollig aus mit seinen vier Beinen
und dem Ruderschwanze, der nun immer kürzer wurde. Jetzt war derselbe
überflüssig geworden, denn die Beine waren viel bessere Fortbewegungs-
mittel, und doch brauchte er ihn nötiger denn jemals. Sein Maul war
nämlich auch anders eingerichtet wie früher, es war sehr in die Breite
gegangen und hatte auch die nötige Weite bekommen, damit es, der ver-
änderten Lebensweise angepaßt, die Insekten im Fluge erhaschen konnte.
Aber Lehrwerk ist kein Meisterstück, und so hätte es wohl für Quapp recht
hungrige Tage gegeben, wenn nicht der Schwanz zurückgebildet und vom
Körper als Nahrungsstosi verwandt worden wäre.
6. So saß er eines Tages am Ufer — er atmete jetzt nämlich durch
Lungen — und guckte hinein in die fremde Welt. Es war ein bedeutungs-
voller Entschluß in ihm zur Reife gekommen, er wollte feine Heimat, den
Graben, in dem er seine Kindheit verlebte, verlassen und in die Fremde
ziehen. Fast ging es ihm wie dem „Peter in der Fremde". Er ver-
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen, IV. 13
194
spürte ein sonderbares Gefühl, einen ganz sonderbaren Zustand, den er
sonst nie gekannt hatte. Es war ihm so weh, daß ihm nichts schmecken
wollte, daß er die fettesten Mücken, die größten Zirpen lustig herum-
schwirren ließ, ohne sich im mindesten darum zu kümmern. Fressen war
sonst die Hauptbeschäftigung seines Lebens gewesen, und jetzt diese Appetit-
losigkeit?! Es ging ohne Zweifel in seinem Innern etwas vor! Dem
war auch so, aber nicht aus seinem Herzen, sondern aus seinem Bauche
kam das ungewohnte Gefühl. Sein Darm, der sonst wie eine Uhrfeder
aufgerollt in der Bauchhöhle lag, erlitt eine Veränderung, er wurde be-
deutend verkürzt und dabei fast gerade gestreckt. Das dauerte zwei volle
Tage, in welcher Zeit unserm Quapp natürlich die Lust zum Essen gänzlich
vergangen war. Als aber die Prozedur vorüber war, holte er gründlich
nach, was er versäumt hatte.'
7. Weit ging die Reise nicht, sie erstreckte sich zunächst nur auf
einige Meter Entfernung vom Graben, und doch war sie weit genug, ihn
ein recht schlimmes Abenteuer erleben zu lassen. Es war Abend, hell schien
der Mond, und Quapp saß im Grase und hörte andächtig auf das Konzert
seiner grünen Vettern, der Wasserfrösche, und seiner bunten Basen, der
Kreuzkröten oder Röhrlinge, und dachte an nichts Böses. Da kroch es
heran durchs taufeuchte Gras, langsam und unheimlich. Quapps feines
Gehör vernahm das leise Knirschen eines Halmes gegen den andern, er
wandte sich und sah ein schwarzes, langes, häßliches Tier, einen Kammolch.
Entsetzt tat er einen jähen Sprung, und es war hohe Zeit, denn schon
schnappte der Meuchler zu, doch Quapp suchte mit langen Sätzen das Weite.
8. So ein Zwischenfall ist bald vergessen. Quapp hatte sich wieder
auf die Wanderschaft begeben und war nach mancherlei Fahrten in ein
wahres Paradies gekommen. Es war ein stiller, abgelegener Tümpel, rund
herum mit Buschwerk umkränzt, und Mücken gab es hier zu Millionen.
Man brauchte nur den Mund aufzumachen, so flog schon ein Bissen
hinein. Hier war's gut sein. Quapp saß mit einem etwas größeren
Kameraden am Ufer, da raschelte es im Gestrüpp, und wie er aufguckte,
sah er ein fürchterliches Haupt. Der glatte Leib einer Ringelnatter glitt
aus dem Dickicht hervor. Ihre funkelnden Augen waren auf die Fröschin
gerichtet, während ihre Gabelzunge unter leisem Zischen hierhin und dahin
spielte. Quapp war gelähmt vor Angst, er drückte sich gegen den Erd-
boden und lag regungslos da, fast ohne Besinnung vor Furcht. Jetzt hob
die schreckliche Feindin den Kopf, jetzt schnellte sie ihn vor, und um den un-
glücklichen Gefährten war's geschehen. Ein halb erstickter Wehlaut, ein krampf-
haftes Zucken der Hinterbeine, dann verschwand er in dem Todesrachen.
Nun erst kam wieder Leben in Quapp, mit jähem Satze stürzte er sich
köpflings ins Wasser, tauchte bis auf den tiefsten Grund und kam nicht
eher wieder zum Vorschein, bis die Not ihn zwang, Atem zu holen.
195
9. Das „Paradies" war ihm verleidet, Quapp wanderte aus. Er ging
aus ein Stoppelfeld. Das letzte schreckliche Ereignis hatte ihn vorsichtig
gemacht; sobald sich etwas regte, sobald nur der Schatten einer vorüber-
fliegenden Krähe ihn streifte, duckte er sich nieder und schmiegte sich an
den braunen Erdboden, daß er in seiner braunen Schutzfärbung so leicht
nicht zu entdecken war. Nahrung gab es auch hier in Menge. Eines Abends
hüpfte er im Dämmerlicht am Rande des Grabens entlang, der den Acker
von einem Erdwalle trennte, auf dem eine hohe Dornhecke stand. Bald
kam er zu der Heckpforte und wollte gerade aus den Feldweg hinaus-
spazieren, da sah er einen fetten Regenwurm mit halber Leibeslänge aus
dem Erdboden heransliegen, eifrig bemüht, einen Strohhalm zu erfassen,
den er als Futter in sein Loch hineinziehen wollte. Schnell hatte Quapp
ihn gefaßt und wollte den leckeren Braten verschlingen. Das war aber
nicht so leicht, denn der Regenwurm war ein kräftiger Bursche. Er
stemmte seine Kriechborsten gegen den Rand seines Loches und strebte aus
Leibeskräften rückwärts. Quapp hatte einen harten Stand mit ihm, aber
er wollte ihn zwingen! Da verspürte er einen rasenden Schmerz am
linken Hinterfuße. Er ließ den Wurm fahren und wandte sich mit Angst-
geschrei herum. Ein schwarzes Ungeheuer hatte seinen Fuß zwischen den
Zähnen. In Todesangst setzte Quapp den anderen Hinterfuß gegen die
Stirn des Räubers, und wieder schrie er auf, denn spitzige Stacheln
drangen ihm ins Fleisch. Doch er achtete nicht der Schmerzen, die Not
verlieh ihm Riesenkräfte, noch einmal stemmte er den freien Hinterfuß gegen
die Stirn des Igels und war gerettet. Ein paar Zehen mußte er freilicl)
zwischen den Zähnen seines Feindes zurück lassen, aber er achtete nicht
darauf, sondern verschwand, so schnell es gehen wollte, im Dunkel des
Grabens.
10. Oktober ist ins Land gekommen. Morgens liegt schon Reif aus
dem Grase. „De Voß bradt," sagen die Leute, wenn der wallende Nebel
steigt. Ost wird es Mittag, ehe die Sonne ihn ordentlich durchdringen
kann. Die Frösche sammeln sich an den Ufern der Gräben und Tümpel,
und wenn der Herbstwind gar zu rauh über die leeren Felder bläst und
kalter Regen aus düsterm Wolkenflor herunterrieselt, kriechen sie schläfrig
hinein ins wärmere Wasser. Auch Quapp ist unter ihnen. Ihn fröstelt,
er ist müde, müde zum Tode. Der Novembersturm wirbelt die letzten
Blätter durch die Luft, knickt die letzten Blumen, jagt die Wolken in wilder
Flucht vor sich her, peitscht mit dem Regen die Erde; Quapp merkt nichts
davon, er liegt am Grunde im Schlamm unter den Wasserpflanzen und
schläft einen tiefen und ruhigen Schlaf, wochenlang. Endlich tritt milderes
Wetter ein. Quapp schläft unruhig. Er fühlt sich voll und beängstigt,
ihm ist, als müßte er platzen. Mühsam arbeitet er sich zur Oberwelt
empor. Goldiger Sonnenschein liegt auf den Fluren, fast sollte man
13*
196
meinen, es sei wieder Sommer geworden. Aber die Sonne scheint nur,
sie wärmt nicht, es singen keine Vögel, es summen keine Fliegen, es
blühen keine Blumen. Alles sieht so öde aus, und doch ist Quapp froh,
daß er die Lungen wieder einmal mit frischer Luft füllen kann. Dann
übermannt ihn aber wieder die Schlafsucht, er kriecht zurück ins Wasser
und schlummert ein auf viele Wochen. Und wieder wird er wach. Die
Wasserfeder bei seinem Sehlammbett zeigt das Prächtigste Grün, ein kleiner
Streifenmolch kommt aus ihrem Dickicht hervor und stellt sich schweif-
wedelnd vor sein Weibchen, geschäftig trägt die Wasserfpinne mit queck-
silberglänzendem Hinterleib Luft in ihre Tauchglocke. Quapp fühlt neuen
Lebensmut in feinen Adern, er taucht empor und grüßt freudig das
goldige Licht.
11. Frühling ist ins Land gekommen. Laut verkünden es Lerche
und Amsel und Buchsink und Starmatz. Hoch oben in der Luft zieht
der heimkehrende Storch seine Kreise, und die Kinder im Dorf jubeln
ihm zu und singen: „Storch, Storch, bester, bring mi 'u lütte Swester,
Storch, Storch, oder bring mi 'u lütten Broder!" Und der Storch fliegt
hinunter nach dem Moor, wo die tiefen Torflöcher sind und sucht eifrig
umher, aber nicht nach kleinen Menschenkindern, sondern nach einem kräf-
tigen Frühstück. So ereilte auch den armen Quapp fein Geschick. Kaum
hatte er begonnen, sich des neuen Lebens zu erfreuen, da glitt ein schwarzer
Schatten über das Gras, ein mächtiger, roter Schnabel fuhr herab, ein
Schnapp, ein Schluck, mit Quapp war es aus!
Chr. I. E. Brüning.
132.
Ausfahrt.
1. Berggipfel erglühen,
Waldwipfel erblühen,
vom Lenzhauch geschwellt;
Zugvogel mit Singen
erhebt seine Schwingen,
ich fahr' in die Welt.
2. Mir ist zum Geleite
in lichtgoldnem Kleide
Frau Sonne bestellt;
sie wirft meinen Schatten
auf blumige Matten,
ich fahr' in die Welt.
3. Mein Hutschmuck die Rose,
mein Lager im Moose,
der Himmel mein Zelt!
Mag lauern und trauern,
wer will, hinter Mauern,
ich fahr' in die Welt!
Viktor v. Scheffel.
197 —
133. Wanderlust.
\. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus,
da bleibe, wer Lust hat, mit borgen zu ^»aus;
wie die Molken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Melt.
2. Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott euch behüt'!
Mer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht!
Ts gibt so manche Straße, da nimmer ich marschiert,
es gibt so manchen Mein, den ich nimmer noch probiert.
3. Frisch auf drum, frisch auf im hellen Sonnenstrahl,
wohl über die Berge, wohl durch das tiefe Tal!
Die Quellen erklingen, die Bäume rauschen all',
mein Herz ist wie 'ne Lerche und stimmet ein mit schall.
U Und abends im StäMlein, da kehr' ich durstig ein:
„Herr Mirt, f}err Mirt, eine Kanne blanken Mein!
Trgreife die Fiedel, du lust'ger Spielmann, du!
Von meinem Schatz das Liedel, das sing' ich dazu."
3. Und find' ich keine Herberg', so lieg' ich zur Nacht
wohl unter blauem Fimmel; die Sterne halten Macht;
im Minde die Linde, die rauscht mich ein gemach,
es küsset in der Früh' das Morgenrot mich wach.
6. O Mandern, o Mandern, du freie Burschenlust!
Da wehet Gottes Gdem so frisch in die Brust;
da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:
Mie bist du doch so schön, o du weite, weite Melt!
E m a n u e l Getbc
134. Das Wandern.
1. Ich wandre sonder Zweck und Ziel,
das ist das rechte Wandern.
Die Bächlein fragen nicht wohin,
und kommt doch eins zum andern.
2. Ein wenig Grün für meinen Hut
und Blumen gibt’s all wegen,
und wenn der Sonnenschein nicht lacht,
erfreu’ ich mich am Regen.
3. Und ist’s kein fröhlich Menschenkind,
so sind die lust’gen Wellen,
die Lieder hell, die Wolken hoch
mir traute Weggesellen.
198
4. Wenn auch die Heimat noch so fern,
winkt mir nur eine Klause,
ein freundlich Aug’, ein guter Trunk
— da bin ich gleich zu Hause.
Jakob Löwenberg.
135. Rosenzeit.
1. Wenn die wilden Rosen blühn
an des Feldes Rand,
frischgemähtes Wiesengrün
duftet durch das Land,
wenn in stillen Waldesgründen
sich die roten Beeren ründen
und die Sommerszeit verkünden,
tvenn der Himmel blaut so weit,
o du schöne Rosenzeit!
2. Hell und warm ist nun die Nacht,
länger wird der Tag,
daß er all der Schönheit Pracht
in sich fassen mag.
Frühling ist noch nicht gegangen,
Sommer hat schon angefangen,
beide hold vereinigt prangen;
Herbst und Winter sind noch weit —
o du schöne Rosenzeit!
3. Ja, in Rosen steht die Welt,
aber ahnnngsbang
rauschet durch das Ährenfeld
.schon ein fremder Klang:
bald ertönt der Erntereigen,
und die Rose wird sich neigen,
und die Vögel werden schweigen.
Ach wie bald dann liegst du weit —
o du schöne Rosenzeit!
Heinrich Seidel.
136. Im Waldesschatten.
1. Es war ein heißer Maientag. Drückend lag die Hitze auf den
Feldern, durch die sich wie eine weiße Schlange die staubige Landstraße
hinwand. Glühend hing die Sonne am wolkenlosen Himmel, und das
nahe Waldgebirge sandte kein erfrischendes Lüftchen herüber; der Wald
199
brauchte seine Kühle für sich selbst. Auf der Flur war's einsam. Die
geschäftige Frau Feldmaus lag faul und verdrossen auf ihrem Lotterbettleiu
im unterirdischen Haus. Sie getraute sich nicht, nach dem Stand ihres
Weizens zu sehen. Im tiefen Keller saß Meister Maulwurf; aber auch
zu ihm drang die Hitze. Er verspeiste Engerlinge, Regeuwürmer und
andere kühlende Sachen in großer Menge; doch das half nur wenig; er
litt viel und verwünschte seinen Pelzrock, auf den er sonst so stolz war.
Es gab auch einen, der sich des unfruchtbaren Wetters freute, das war
der Hamster. Der alte Geizhals hockte in seinem geräumigen Vorrats-
hause, bewachte wie ein Drache seinen Hort und berechnete an seinen
Krallen, wieviel er bei der zu erwartenden Mißernte an seinem vor-
jährigen Korn verdienen könne.
2. Von den vornehmen Bewohnern der Flur war also keiner sichtbar;
aber Gesindel trieb sich genug umher. Der Buschklepper Laufkäfer lauerte
an der Heerstraße, um unschuldige Marienkäfer und harmlose Würmer zu
würgen. Das Ameisenvolk schaffte und schanzte, und das Heupferd in
seinem grünen Wämslein, nebst seiner Sippe, Grille und Heimchen, geigten
und spielten auf ihren Hackebrettleiu unverdrosfen; denn dem Volk wird
jeder Tag zum Feste.
3. Die Vögel waren allesamt dem Buchenwald auf der Höhe zu-
geflogen; dort war's kühl. Aus dem Porphyrfelsen sprang schäumend
und sprudelnd ein lebendiger Brunnen, der sich als Bach in vielen
Krümmungen, oft durch Steine gehemmt, talwärts seinen Weg suchte.
Uber den saftigen Kräutern und Blumen, die am Bache wuchsen, schwebten
blaue Wasserjungfern und buntscheckige Falter. Goldiggrüne Küfer schwärmten
brummend um die duftigen Holunderdolden, und aus der Krone der höchsten
Buche erscholl das Lied des Edelsinken. Er sang nicht lange allein; die
andern Vögel, nachdem sie an der Quelle ihren Durst gelöscht hatten,
sielen ein, und bald sang der Chor vollstimmig das ewige Lied von der
Waldschönheit. Das klang so glockenrein und wunderbar, wie kaum der
Englein Gesang im Himmelssaal erschallen mag.
4. Plötzlich schwiegen die Sänger und verbargen sich im Laub. Nahte
sich ein Marder oder eine Wildkatze, schlich sich ein hungriger Fuchs heran,
oder zog ein Weih seine Kreise über dem Wald? Keins von denn Es
kam ein Wanderer, ein junger, schlanker Gesell, der gar mühsam am
Stab einherhinkte. Sein mit Federn geschmückter Hut war arg bestäubt
und zerdrückt. Er trug an einem Bandelier von Leder ein langes Stoß-
rappier, auf dessen stählernem Gefäß die Sonnenstrahlen, die durch das
Blütterdach hie und da drangen, lustig blinkten und blitzten. Hinten hing
ihm ein kleines Ränzel, doch schien nicht viel darin zu sein. Der Bursche
zog den Hut vom Haupte und strich sich die brannen Locken aus dem
erhitzten Gesicht zurück. Die frische Waldluft spielte mit seinen Haaren
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und kühlte ihm wohltuend die heißen Schläfen. „Hier will ich Mittags-
ruhe halten," sprach er, „die Quelle ist Wirt, ich bin der Gast."
Nach diesen Worten löste er sein Schwertgehänge, warf Degen und
Ränzel auf das Moos und zog aus dem Sack ein Stück Brot nebst einer
strohumflochtenen Flasche hervor. Diese füllte er knieend an der Quelle
und trank in tiefen Zügen das kalte Bergwasfer. Dann streckte er sich
am Rande des Baches zum Mahle nieder. Das Brot war schwarz und
von der Sonne wohl ausgedörrt. Der Gesell fragte indes nicht lange, hieb
vielmehr wacker mit den Zähnen ein, und in kurzer Zeit war er fertig.
5. Als der Wandergesell seine karge Mahlzeit beendigt hatte, seufzte er
tief auf und lächelte hinterdrein. Dann starrte er in das schäumende
Wasser, als wolle er die Steine auf dem Grunde zählen, und schließlich
summte er halblaut ein Lied. Es war ein Wanderlied, in welchem das
Wasser, der Vogel und die Sonne gefragt werden: Wohin des Wegs?
und alle geben Bescheid, alle haben ein Ziel. Der Schluß aber lautet:
Wohin des Wegs
müd' Menschenkind?
Zum Glück durch Leid,
zur Ruh' durch Qual
über Berg und Tal —
die Welt ist weit.
6. So sang der junge.Gesell und wischte sich eine Träne von der
Wange. Sein Haupt sauk matt zurück; er hatte eben noch Zeit, sich das
Räitzel unter den Kopf zu schieben und das Rappier an sich heranzuziehen;
dann sielen ihm die Augen zu. Droben in den Buchen rauschte es leise
unb lind, der Brunnen murmelte und schäumte, und auf dem Moos am
Bache lag der juuge Wanderer und träumte von seinem Glück.
Jetzt kamen die Vögel wieder aus ihren Verstecken hervor. Fürwitzig
flog die Meise voran, ihr folgte mutig der Fink, der Sperling schwirrte
im Zickzackflug herbei, und mit Würde nahte sich der Dompfaff, um das
schlafende Menschentier zu beobachten. Aber sie sollten bald wieder ver-
scheucht werden. Eine Peitsche knallte, das Knirschen von Wagenrädern
ward vernehmbar, und abermals zerstob die gesiederte Schar.
Rudolf Baumbach.
137. Der Wanderer und der Bach.
1. Wohin, o Bächlein, schnelle?
„Hinab ins Tal."
Verhalte deine Welle!
„Ein andermal."
201
2. Was treibt dich so von hinnen?
„Ei, hielt ich je?"
Willst du nicht ruhn und sinnen?
„Ja, dort im See."
3. Bist du schon gram der Erden?
„Ich eile zu."
Du wirst schon stille werden!
„Nicht minder du."
Martin Gr ei
138. Weißt du wohl noch?
Sei mir gegrüßt,
du süße Heimat!
Sei mir gegrüßt,
ich habe dich wieder!
Viel schöner leuchtet
am Himmel die Sonne,
viel lustiger rauschen
die schattenden Bäume,
viel munterer plätschert
die fließende Welle! —
Im weiten Lande
verloren und einsam
war ich und traurig —
du süße Heimat,
ich habe dich wieder! —
Aus jedem Busch, von jedem Hügel
grüßt mich Erinnerung
und schaut mich an blauäugig
aus Flüssen und Seen
und lächelt mir zu und flüstert:
„Weißt du wohl noch?“
Und blickt voll Wehmut
von blühenden Gräbern
und nicket schmerzlich mir zu:
„Weißt du wohl noch!“ Heinrich Seidel
139. Sommerlied. (Gekürzt.)
1. Geh aus, mein Herz, und suche Freud'
in dieser lieben Sommerzeit
202
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier,
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben!
2. Die Bäume stehen voller Laub,
das Erdreich decket seinen Staub
mit einem grünen Kleide;
Narzissus und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an
als Salomonis Seide.
3. Die Lerche schwingt sich in die Lust,
das Tüublein fliegt aus seiner Kluft
und macht sich in die Wälder;
die hochbegabte Nachtigall
ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Tal und Felder.
4. Die Glucke führt ihr Völklein aus,
der Storch baut und bewohnt sein Haus,
das Schwälblein speist die Jungen;
der schnelle Hirsch, das leichte Reh
ist froh und kommt aus seiner Höh'
ins tiefe Gras gesprungen.
5. Die Büchlein rauschen in dem Sand
und malen sich und ihren Rand
mit schattenreichen Myrten;
die Wiesen liegen hart dabei
und klingen ganz von Lustgeschrei
der Schaf' und ihrer Hirten.
6. Die unverdroßne Bienenschar
fleugt hin und her. sucht hier und dar
ihr' edle Houigspeise;
des süßen Weinstocks starker Saft
bringt täglich neue Stärk' und Kraft
in seinen: schwachen Reise.
7. Der Weizen wächset mit Gewalt:
darüber jauchzet jung und alt
und rühmt die große Güte
des, der so überflüssig labt
und mit so manchem Gut begabt
das uienschliche Gemüte.
203
8. Ich selbsten kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wann alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen.
Paul Gerhardt
140. Morgenwanderung.
1. Wer recht in Freuden wandern will,
der geh’ der Sonn’ entgegen!
Da ist der Wald so kirchenstill,
kein Lüftchen mag sich regen;
noch sind nicht die Lerchen wach,
nur im hohen Gras der Bach
singt leise den Morgensegen.
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,
darin uns aufgeschrieben
in bunten Zeilen manch ein Spruch,
wie Gott uns treu geblieben;
Wald und Blumen nah und fern
und der helle Morgenstern
sind Zeugen von seinem Lieben.
3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
durch alle Sinne leise;
da pocht ans Herz die Liebe auch
in ihrer stillen Weise,
pocht und pocht, bis sich’s erschließt
und die Lippe überfließt
von lautem, jubelndem Preise.
4. Und plötzlich läßt die Nachtigall
im Busch ihr Lied erklingen;
in Berg und Tal erwacht der Schall
und will sich aufwärts schwingen;
und der Morgenröte Schein
stimmt in lichter Glut mit ein:
Laßt uns dem Herrn lobsingen!
Emanuel v. Geibel
204
141. Der Morgen tut Walde.
1. Ein sanfter Morgenwind durchzieht
des Forstes grüne Hallen,
hell wirbelt der Lerche muntres Lied,
die jungen Birken wallen.
2. Das Eichhorn schwingt sich von Baum zu Baum,
das Reh durchschlüpft die Büsche,
viel hundert Käfer im schattigen Raum
erfreun sich der Morgenfrische.
3. Und wie ich so schreit' in dem lust'gen Wald,
und alle Bäume erklingen,
um mich her alles singt und schallt:
wie sollt' ich allein nicht singen?
4. Ich singe mit starkem, mit freudigem Laut
dem, der die Wälder säet,
der droben die luftige Kuppel gebaut
und Atem und Kühlung wehet.
Egon Ebert.
142. 1)6^' Lote im Junius.
Aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön, wenn
der Dornstrauch blüht und die Erde mit Gras und Blumen pranget!
So’n heller Dezembertag ist auch wohl schön und dankenswert, wenn
Berg und Tal in Schnee gekleidet sind und uns Boten in der
Morgenstunde der Bart bereift; aber die Lenzgestalt der Natur ist
doch wunderschön! Und der Wald hat Blätter, und der Vogel
singt, und die Saat schießt Ähren, und dort hängt die Wolke mit dem
Bogen vom Himmel, und der fruchtbare Regen rauscht herab! —
Wach auf, mein Herz, und singe
dem Schöpfer aller Dinge!
Es ist, als ob Er vorüberwandle, und die Natur habe Sein
Kommen von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Weg in ihrem
Eeierkleide und frohlocke. Matthias Claudius.
143. Aus dem Störfang.
1. Es ivar ein schöner Tag im Monat Mai. Durch einen Freund,
den ich in Glückstadt besuchte, war ich mit einem dortigen Störfischer
bekannt geworden, und dieser hatte uns zu einem Fischzuge einge-
205
laden. Nur zu gern folgten wir der freundlichen Einladung. Es war
Hochwasser, als wir am Hafen anlangten. Schon regten sich dort ge-
schäftige Hände, denn der Fang sollte sogleich beginnen. In dem
langen Boote, das wir bestiegen, befanden sich bereits der Fischer
und sein Maat. Nun setzte die Ebbe ein, und langsam fuhren wir
aus dem Hafen in die von Fahrzeugen belebte Elbe. Vom Boote
aus, das ehemals zu einem Glückstädter Walfischfahrer gehörte, ward
jetzt das große, 150 Meter lange Netz ins Wasser gelassen; die End-
schnüre wurden von Holzklötzen gehalten, und vom Ebbstrom geführt,
trieb es langsam stromabwärts.
2. Langsam folgte unser Boot, von unserem Fischer geleitet, dem
treibenden Netze. Plötzlich bewegten sich die Holzklötze des Netzes
heftiger; die Angen des Fischers und seines Maats leuchteten: ein
Fisch hatte sich in den Maschen verstrickt. Langsam ward das Netz
von den Fischern in die Höhe gezogen. Der Rücken des spindelförmig
gestreckten Fisches, mit fünf Längsreihen großer Knochenschilder zu
beiden Seiten des Körpers, dann eine Art Rüsselschnauze, an der
vier Bartfäden herabhingen, erschien an der Oberfläche des Wassers.
Der Fischer hatte die bereitliegende Harpune ergriffen, ein kräftiger
Stoß — und das Eisen saß fest im Rücken des Fisches. Es war ein
prächtiges Tier, das trotz des starken Harpunenstoßes das dahin-
rauschende Wasser noch peitschte. Doch das Eisen hielt, und endlich
befand sich der wertvolle Fisch wohlgeborgen im Boote. Er hatte
eine Länge von 21/2 Metern; und doch sagte uns der Fischer, daß
der Stör bisweilen eine Länge von 4—5 Metern erreiche.
3. Erwartungsvoll blickte Christian, der Maat, jetzt seinen Herrn
an, und beinahe ängstlich kamen die Worte: „Hett he ok Moos?"
von seinen Lippen. „Jawohl, Krischan," erwiderte der Fischer, „Moos
in Hüll' und Füll'!" Ein befriedigendes Lächeln glitt über die ge-
bräunten Züge des alten Maats. „Aber was ist Moos?" fragten wir
den Fischer, „und warum schmunzelt Christian noch immer so ver-
gnügt?" — „Moos ist Rogen," antwortete der Fischer, „ein Rogener
wird uns vom Händler in Glückstadt doppelt so teuer wie ein Milchener
bezahlt. Da nun mein Maat ein Drittel des Handgeldes erhält, werden
Sie seine Freude verstehen können."
Während dieses Gesprächs hatten Fischer und Maat einen Strick
durch die Kiemen des Fisches gezogen und mit einem zweiten auch
den Schwanz des Tieres gefesselt. Dann wurde der Gefangene ins
Wasser gelassen, beide Taue mit künstlich geschlungenen Knoten am
Bootsrand befestigt, und Netz, Boot und Stör trieben nun weiter
elbabwärts.
5. Die Störe, die vorzüglich Nord- und Ostsee, aber auch das
206
Schwarze Meer und in ungeheuren Mengen den Kaspischen See be-
wohnen, suchen zur Laichzeit das süße Gewässer der Flüsse auf. Im
Rhein, in der Donau, in der Elbe und Eider werden sie ziemlich weit
landeinwärts gefangen. Der Fang währt vom April bis August. Das
Fleisch der Störe ist sehr schmackhaft, aber was ihnen einen so hohen
Rang unter den Geschlechtern in beschuppter Haut gegeben, ist ihr
Rogen, der unter dem Namen Kaviar den geschätztesten Leckerbissen
der Frühstückstafeln bildet. Aus der Schwimmblase des vornehmsten
unter ihnen, des Hausen, bereitet man einen vorzüglich feinen, zu
mannichfachen Zwecken verwendbaren Leim.
Die Störe sind arge Räuber, die sich im Meere von Heringen,
Makrelen und Schellfischen, in den Flüssen von Karpfen und anderen
Tieren nähren. Sie wandern in Gesellschaft, legen ihre zahlreichen
Eier am Grunde der Flüsse ab und kehren bald ins Meer zurück,
während die Jungen länger, vielleicht zwei Jahre, in den Flüssen
verweilen. Im Spätherbst gehen sie wieder in die Flüsse, um ihren
Winterschlaf zu halten.
Die großartigsten Fischereien befinden sich in den Strömen, die
ins Schwarze und ins Kaspische Meer münden, an den Mündungen
der Wolga, des Dnjestr, Dnjepr, der Donau und in der Meerenge
von Jenikale oder Kaffa. Schon die Alten schätzten den Stör sehr hoch.
6. „Störort!" schrie Christian und weckte uns aus unseren natur-
geschichtlichen Träumereien. Die Glückstädter Störfischer betreiben
nämlich den Störfang nur bis zur Störmündung, weil jenseits der-
selben weit in den Strom hineinziehende „Stacks", sowie Überreste von
Wracks die kostspieligen Netze leicht beschädigen könnten. Das Boot
drehte bei, das Netz ward gehoben, und mit einer guten Brise aus
Westen fuhren wir gegen den Elbstrom nach Glückstadt zurück.
Unsere Fischer hatten es eilig, denn sie wollten während dieser
„Tide" noch einmal bis Störort zum Fange. Endlich hatten wir den
Glückstädter Hafen wieder erreicht. Hier befanden sich mehrere Flöße,
auf denen die gefangenen Störe, die für die Glückstädter Räucherei
bestimmt waren, geschlachtet wurden; die größte Anzahl wird aber,
da Glückstadt nur eine Räucherei hat, nach Hamburg gebracht. Der
Störschlachter betäubte zunächst den noch immer lebenden Fisch durch
einen Hammerschlag auf den Kopf und tötete ihn, indem er ihm die
Pulsader in der Nähe des Schwanzes durchschnitt. Jetzt ward der
wertvollste Teil des Fisches, der Rogen, ausgenommen. Um die
Schleimhäute, die ihm anhaften, zu entfernen, wird er mehrmals mit
Kochsalz durch ein Sieb gerieben, dann in kleine Tönnchen verpackt
und unter dem Namen Kaviar in den Handel gebracht.
7. Die Fangerträge sind natürlich verschieden. In ertragreichen
207
Jahren werden bisweilen von einem Fischer zwei oder drei Störe in
einer „Tide" gefangen. Von einem Fischer in Störort wurde mir er-
zählt, daß sein jährlicher Fangertrag bisweilen 1200 Mark über-
stiegen habe. Nachdem unser Fischer sich seines Fanges entledigt und
am Hafen schmunzelnd die Glückwünsche entgegengenommen hatte, fuhr
er alsbald mit seinem Boote wieder stromabwärts; wir aber blieben
am Ufer zurück. Die Elbe war von Fahrzeugen belebt, und das dahin-
rauschende Wasser glitzerte im Frühlingssonnenschein. Am Maste des
Bootes stand der alte Christian und schwenkte seinen Südwester. Als
Gegengruß ließen wir von der Mole unsere Tücher flattern. Glückliche
Heinrich Momsen
\. Ls ist schon lange her, als der alte siecht zum erstenmal im
Teiche frühstückte. Er hatte sein Lebtag mit einem schlimmen Erbübel zu
kämpfen, dem junger, der ja auch manchem viel zu schaffen macht, der
kein brecht ist. Ls ist ein sehr schlimmes Ding, wenn einer nur dadurch
satt werden kann, daß er die andern auffrißt.
2. Zunächst machte der brecht sich an die kleinsten Fische im Teiche.
Die munteren Gründlinge hatten ihre hellblauen Lier an den steinen
des Grundes festgekittet; das gab bequeme Blahlzeiten für den hungrigen
Burschen. Lrst speiste er den Laich, und wie die jungen Gründlinge aus-
schlüpften und sich eben umsehen wollten, wo sie eigentlich wären, da
hatte der brecht schon ein Dutzend und mehr von ihnen weggeschnappt.
Die andern stoben nach allen Leiten auseinander oder versteckten sich
unter die Lteine.
3. Als er größer und stärker geworden war, machte er auch Jagd
auf größere Fische. Diese wissen recht gut, welch ein schlimmer Patron
der Deckst ist, und nehmen beizeiten vor ihm Reißaus. Fede Art verfährt
dabei auf ihre besondere Weise; die einen tauchen rasch nach dem Grunde,
die andern schießen im Bogen dahin, noch andere können blitzschnell links-
und rechtsum machen. Da gilt's für den brecht, noch schneller und schlauer
zu sein als sie alle; sonst bleibt sein knurrender Blagen leer, und er hat
allenthalben nichts als das Nachsehen.
' H. Biele Fahre hatte der bsecht in dem Teiche sein Wesen getrieben
und manches hundert Fische verspeist,) große und kleine. Einmal hatte
er auch eine Wasserratte verschlungen, ein andermal ein junges Entchen
verschluckt. Er war dabei lang und schwer geworden und verstand es,
alle Angeln und Netze schlau zu vermeiden. Fe größer und stärker er
aber ward, desto größer ward auch sein bsunger und desto schlimmer
208
sein Übermut und feine Frechheit. Pa ward ihm zuletzt seine Freßbegier
doch zum Verderben.
5. Lines schönen Tages schwamm der alte Schwan aus dem Teiche
und spiegelte sich in dem klaren Wasser, steckte auch den langen £)als
tief hinab in die helle Flut, um sich einen Bissen zu suchen; denn er
hatte noch nicht gefrühstückt. Raum sieht ihn der Hecht, der sich hinter
dem Laichkraute versteckt hielt, so schießt er wie der Blitz daraus los
und beißt den Schwan in den Rops. Per arme Vogel schlägt mit
Flügeln und Beinen, kann aber nicht loskommen; denn der Fisch hat
in seiner Gier die Zähne fest eingeschlagen und den Rops schon im
Rachen. Per Schwan mußte ersticken. PerHecht starb aber auch; denn
dieser Bissen war ihm doch zu groß. So zog denn der Fischer beide
aus dem Wasser hervor und brachte den alten Räuber zur Rüche, und
nun ward endlich der brecht selbst verspeist zur Strafe dafür, daß
er sein ganzes Leben hindurch nichts weiter getan hatte als andere
verschlungen. Hermann Wagner.
145. Ein Nestbauer unter den Fischen.
1. Die Stichlinge sind seltsame Gesellen, seltsam in mehr als einer
Beziehung. Setzen wir uns für einen Augenblick an den Rand jenes Wässer-
leins! Wie das hier lebt und webt, sich seines Daseins srent, frißt und
gefressen wird! Da kommt gleich ein Stichling geschwommen, ein wunder-
voller kleiner Kerl, durch und durch rotglühend. Gewiß sind drüben in den
dichten Wasserpflanzen Nester; wir wollen doch einmal sehen. Wir brauchen
nur mit dem Stocke darin herumzufahren, und gleich werden die Männchen,
denn das sind die Baumeister, verraten, ob sie schon zu bauen anfingen,
da sie dann wütend auf jeden Störenfried losfahren, ohne Ansehen der
Person, ob klein, ob groß, ob schwach, ob stark — tapfere kleine Geschöpfe!
Ah, richtig, da sind die jähzornigen Fischzwerge, und hier und hier ihre
Bauwerke! Von hohem künstlerischem Werte sind dieselben gerade nicht;
aber ich bezweifle, ob selbst der größte Baumeister alter und neuer Zeit
mehr aus einfachen Pflanzenfasern, die er bloß mit dem Maule zusammen-
schleppen und verfilzen dürfte, hätte machen können. Ja, er könnte das
nicht einmal leisten, wenn er meinetwegen auch wie der Stichling noch
verschluckten Sand darüber speien wollte; denn ihm würde der Körper-
schleim fehlen, wie ihn das Fischchen besitzt, und der den Mörtel abgibt,
die Baustosie zu verkitten. Da hängen die runden Nestchen, an allerlei
Wassergewächsen befestigt, so groß wie eine mäßige Kartoffel, mit ein
oder zwei einander gegenüberstehenden Öffnungen; denn sie sind nicht ein-
fach napfartig gestaltet, sondern kuppelförmig.
2. Nachdem das Weibchen ein bis zwei Schock kleiner, wasserheller
209
Eierchen darin ablegte, wird es vom Männchen verjagt und darf sich seiner
Nachkommenschaft nickt mehr nähern. Für die Männchen beginnt jetzt eine
aufregende Zeit großer Sorge. Keinen Augenblick haben sie Ruhe! Jedes
Tier, das nur in die Nähe kommt, und fei es ohne die geringsten bösen
Hintergedanken, wird vertrieben, und es ist lustig zu sehen, wie die winzigen
Burschen mit gesträubten Stacheln und, vor innerem Zorn erglühend, noch
viel röter als sonst, aus einen Hecht losschießen, der hundertmal mehr wiegt
als sie. ®antt fahren sie einmal wieder hinein ins Nest, um zu sehen,
ob noch alles in Ordnung ist, kommen befriedigt Heraus, und nachdem
sie es einige Male stolz umschwommen haben, stellen sie sich unmittelbar
vor dessen Eingang und schlagen lebhaft und schnell mit den Brustflossen,
so daß immer neues Wasser mit dem für die Entwickelung der Eier nötigen
Sauerstoff hineingepeitscht wird.
3. Bald sehen sie denn auch ihre Bemühungen belohnt. Eines Tages
sind die ersten winzig kleinen Weltbürger da, und nicht lange, so wimmelt
es im Nestchen von ihnen. Aber jetzt erst, du lieber Himmel, die Arbeit
für den armen Vater! Er möchte sich verdoppeln und verdreifachen; denn
die Jugend ist leichtsinnig und naseweis; das erführt er reichlich an seinen
zarten Sprößlingen. Die Eier lagen wenigstens still, wo sie lagen, und
hatten keinen eigenen Willen; aber bei den flinken Jungen ist die Sache
ganz anders. Denen wird es bald langweilig in dem engen Nest, und sie
schlüpfen neugierig heraus, um sich auch einmal die Welt da draußen
zu betrachten. Solchen Vorwitz unerfahrener Kinder kann aber das Herz
des ängstlichen Vaters nicht dulden. Er kriegt seine hoffnungsvollen
Nachkommen mit dem Maule zu packen und schleppt sie zurück in ihre
Wiege. Aber, o weh! Kaum hat er eins hineinkomplimentiert, so sind
schon wieder zwei andre draußen, und so geht das den ganzen lieben
Tag lang. William Marshall.
146. Aus dem Walde.
1. Mit dem alten Förster heut'
bin ich durch den Wald gegangen,
während hell im Festgeläut
aus dem Dorf die Glocken klangen.
2. Golden floß ins Laub der Tag,
Vöglein sangen Gottes Ehre,
fast als ob's der ganze Hag
wüßte, daß es Sonntag wäre.
3. Und wir kamen ins Revier,
wo umranscht von alten Bäumen
junge Stämmlein sonder Zier
sproßten aus besonnten Räumen.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV.
14
210
4. Feierlich der Alte sprach:
„Siehst du über unsern Wegen
hochgewölbt das grüne Dach?
Das ist unsrer Ahnen Segen.
5. Denn es gilt ein ewig Recht:
Wo die hohen Wipfel rauschen,
von Geschlechte zu Geschlecht
geht im Wald ein heilig Tauschen.
6. Was uns not ist, uns zum Heil
ward's gegründet von den Vätern;
aber das ist unser Teil,
daß wir gründen für die Spätern.
7. Drum im Forst ans meinem Stand
ist mir's oft, als böt' ich linde
meinem Ahnherrn diese Hand,
jene meinem Kindeskinde.
8. Und sobald ich pflanzen will,
pocht das Herz mir, daß ich's merke,
und ein frommes Sprüchlein still
muß ich beten zu dem Werke:
9. ,Schütz' euch Gott, ihr Reiser schwank!
Mögen unter euren Kronen,
rauscht ihr einst den Wald entlang,
Gottesfurcht und Freiheit wohnen!
10. Und ihr Enkel, still erfreut
mögt ihr dann mein Segnen ahnen,
wie's mit frommem Dank mich heut'
an die Väter will gemahnen!'"
11. Wie verstummend im Gebet
schwieg der Mann, der tief ergraute,
klaren Auges, ein Prophet,
welcher vorwärts, rückwärts schaute.
12. Segnend auf die Stämmlein rings
sah ich dann die Händ' ihn breiten:
aber in den Wipfeln ging's
wie ein Gruß aus alten Zeiten!
Emanuel v. Geibe
211
147. Die Tanne.
1. Auf des Berges höchster Spitze
steht die Tanne, schlank und grün,
durch der Felswand tiefste Ritze
läßt sie ihre Wurzeln ziehn.
2. Nach den höchsten Wolkenbnllen
läßt sie ihre Wipfel schweifen,
als ob sie die vogelschuellen
mit den Armen wollte greifen,
3. Ja, der Wolken oielgestalt'ge
Streifen, flatternd und zerrissen,
sind der Edeltann' gewalt'ge,
regenschwangre Nadelkissen.
4. Tief in ihren Wurzelknollen,
in den faserigen, braunen,
winzig klein und reich an tollen
Launen, wohnen die Alraunen,
5. die des Berges Grund befahren
ohne Eimer, ohne Leitern,
und in seinen wunderbaren
Schachten die Metalle läutern.
6. Wirr läßt sie hinunterhangen
ihre Wurzeln ins Gewölbe;
Diamanten sieht sie prangen
und des Goldes Glut, die gelbe.
7. Aber oben mit den dunkeln
Ästen sieht sie schönres Leben,
sieht durch Laub die Sonne funkeln
und belauscht des Geistes Weben,
1. Inmitten der Fregatte
hebt sich der starke Mast
mit Segel, Flagg' und Matte;
ihn beugt der Jahre Last.
2. Der schaumbedeckten Welle
klagt zürnend er sein Leid:
„Was hilft mir nun dies Helle,
dies weiße Segelkleid?
8. der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält
und mit seinen klugen Zwergen
alles leitet und bestellt,
9. oft zur Zeit der Sonnenwenden
nächtlich ihr vorübersaust,
eine Wildschnr um die Lenden,
eine Kiefer in der Faust.
10. Sie vernimmt mit leisen Ohren,
wie die Vögel sich besprechen;
keine Silbe geht verloren
des Gemurmels in den Bächen.
11. Offen liegt vor ihr der stille
Haushalt da der wilden Tiere.
Welcher Friede, welche Fülle
in dem schattigen Reviere!
12. Menschen fern; — nur Rot-
wildstapfen
| auf dem moosbewachsnen Boden! —
! O, wohl magst du deine Zapfen
freudig schütteln in die Loden.
13. O, wohl magst du gelben Harzes
dust'ge Tropfen niedersprengen
und dein straffes, grünlichschwarzes
Haar mit Morgentau behängen!
14. O, wohl magst du lieblich wehen!
O, wohl magst du trotzig rauschen!
Einsam aus des Berges Höhen,
stark und immer grün zu stehen!
Tanne, könnt' ich mit dir tauschen!
II.
3. Was helfen mir die Fahnen,
die schwanken Leiterstricke?
Ein starkes innres Mahnen
zieht mich zum Forst zurücke.
4. In meinen jungen Jahren
hat man mich umgehauen;
das Meer sollt' ich befahren
und fremde Länder schauen.
14*
212
5. Ich habe die See befahren;
Meerkön'ge sah ich thronen;
mit schwarzen und blonden Haaren
sah ich die Nationen.
6. Isländisch Moos im Norden
grüßt' ich auf Felsenspalten;
mit Palmen auf südlichen Borden
hab' Zwiesprach' ich gehalten.
7. Doch nach dem Heimatberge
zieht mich ein starker Zug,
wo ich ins Reich der Zwerge
die haarigen Wurzeln schlug.
8. O stilles Leben im Walde!
O grüne Einsamkeit!
O blumenreiche Halde!
Wie weit seid ihr, wie weit!"
Ferdinand Freiligrath.
.148. Die Ameisen als Straßenräuber.
'
1. Im stillen Walde kann man allerhand sehen, natürlich, wenn
man die Augen aufmacht. So sah ich’s denn, sah’s anfangs zufällig
und hernach mit Bedacht.
Was nur der Auflauf bedeutete! Der ganze Platz war voll von
hinzueilenden und davonspringenden Ameisen. Sie drängten und
wogten hin und her, sie stießen in der Hast aneinander; die nicht
schnell weiterkonnten, wurden niedergedrückt, ja, hie und da lief
sogar eins über den Leib des andern hinweg. Ich ragte wie ein
Ungeheuer über der erregten Menge, und zwar so hoch, daß die
kleinen Augen selbst mittels eines Ferngläschens kaum imstande
gewesen sein würden, mein Haupt zu erblicken. So bückte ich mich,
um zu sehen, was denn dieser Auftritt der Ameisen auf dem sandigen
Waldweg bedeute, und sah es bald. Es war der Kampf der Ameisen
mit einer Kieferraupe. Diese mochte träge ihres Weges gekrochen
sein. Da waren die Straßenräuber hervorgebrochen aus dem Laub-
gehölze des Heideibeerkrautes und hatten die Wallerin überfallen.
Den ersten Anfall hatte sie mit geschickten Wendungen und scharfen
Bissen abgewehrt, ihre braune Behaarung steifte sie zu einem Panzer-
hemde, und eine und die andere der Angreifenden trat sie sogar
mit ihren Pfoten zugrunde. Aber immer mehr der Ameisen sprangen
herbei und packten die Raupe von hinten und vorn. Sie richtete
sich in der Mitte zu einem Bogen auf, da liefen einige unter den
Bauch, andere stiegen rasch auf den emporstrebenden Rücken und
drückten ihn nieder, und sie setzten ihre Zähne ins Fleisch des
hilflosen Tieres. Der Hinterleib der Raupe war bereits ganz um-
klammert, da bäumte sie sich noch mit dem Vorderkörper zur Höhe
wie ein unstetes Pferd und schlug mit dem Haupte wild um sich.
AIsogleich schossen ein paar Ameisen unter ihre Brust und ver-
setzten ihr mit den Zangen wütende Bisse, wobei die Raupe noch
einmal mit dem ganzen Körper emporschnellte und ihre Angreifer
213
über den Haufen warf. Nun griffen diese noch hitziger an; ihrer
zwanzig rangen mit dem Wurme, bissen und schlugen ihn und
spritzten unter den verzweifeltsten Zuckungen des Tieres ihr heißes
Gift in die Wunden.
2. Ich hatte Mitleid mit der armen Raupe, die, von aller Welt
verlassen, gegen eine Unzahl von Feinden sich mit unerhörter
Tapferkeit ihres Lebens wehrte. Rasch riß ich einen steifen Rispen-
halm ab und versuchte mit demselben die kleinen Würger von der
in Todesangst sich windenden Raupe wegzuschieben und weg-
zustechen. Nun wollten die erbitterten Ameisen aber auch mit mir
den Kampf beginnen; hastig kletterten sie den Halm empor bis zu
meinen Fingern, die bald das Prickeln ihres scharfen Saftes zu
spüren bekamen. Die andern aber klammerten sich so fest an das
unterliegende Tier, daß ich den schwachen Halm gegen einen dürren
Baumzweig vertauschen mußte, um die Raupe mit Gewalt von den
Räubern zu befreien. Es war jedoch zu spät. Als die Ameisen
fortgescheucht waren, brach die Raupe zusammen und regte sich
nicht mehr. Helle Tröpfchen standen auf ihrem braunen, stellen-
weise stahlblau schillernden Körper. Es tat mir leid um das Tier,
das in einem rechtlosen Streite, nur weil es der Schwächere war,
sein Leben lassen mußte, und mir kam zu Sinne, die strafende Ver-
geltung zu spielen und die hin und wieder schwärmenden Ameisen,
ja ihr ganzes, nur wenige Schritte entferntes Raubnest mit einigen
Fußtritten zu zerstören. — Ich tat es nicht und ließ die Ameisen
gewähren.
3. Die Menge hatte sich verlaufen. Die wenigen Zurück-
bleibenden befaßten sich mit dem Fortschaffen der erlegten Beute.
Aber sie vermochten den Körper, der eine Ameise wohl dreißigmal
überwog, nicht von der Stelle zu bringen. Da lief eine davon und
brachte bald Gefährten zur Hilfeleistung. Nun faßten sie die tote
Raupe an beiden Seiten an, einige krochen unter den Körper, als
wollten sie diesen heben und tragen, und bald bewegte sich die Last
weiter. Es ging rasch über den glatten Boden hin. So ohne jeg-
liches Hindernis aber sollte die Untat doch nicht abgehen. Ich legte ein
flaches Steinchen auf die Raupe. Für den ersten Augenblick entstand
allerdings einige Verwirrung und Verlegenheit unter den Ameisen.
Aus der Wucht, unter welche sie zum Teil selbst gekommen, hatten
sie sich aber bald wieder und unversehrt hervorgearbeitet. Nun um-
kreisten sie den Stein, stiegen auch darüber hin, prüften die Last
und schienen dann Rat zu halten, wie ihre Beute unter dem Steine
herauszukriegen wäre. Der Versuch, den Stein wegzuwälzen, erwies
sich als vergeblich. Das etwa ein Achtelpfund schwere Stückchen
214
regte sich trotz aller Anstrengung der Ameisen nicht von der Stelle.
Was taten sie nun? Sie fingen an, den Boden zu unterhöhlen, gruben
einen Kanal unter dem Stein, höhlten dann die Raupe und unter
derselben das Erdreich aus, was ich für den Augenblick zwar nicht
beobachten konnte, jedoch später sah, und nach einer Viertelstunde
zogen sie den Leichnam unter dem Steine hervor.
Diese Tat erfüllte mich mit Hochachtung, und ich legte den
kleinen Wesen nichts mehr in den Weg; ungesäumt schleppten sie
die Raupe dem Ameisenhaufen zu, wo sie dieselbe in eine der
Vorratskammern gebracht haben mögen. In wenigen Wochen, so
dachte ich, werden Kiefernspinner aus dem Geschlechte der ge-
töteten Raupe den Ameisenhaufen umgaukeln und in ihrem Fluge
höhnend niederblicken auf die krabbelnden Wesen. So geht das
Spiel im Kreise der Natur.
Peter Rosegger.
140. Der Jäger Abschied.
1. Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?
Wohl, den Meister will ich loben,
solang' noch mein' Stimm' erschallt!
Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald!
2. Tief die Welt verworren schallt,
oben einsam Rehe grasen;
und wir ziehen fort und blasen,
daß es tausendfach verhallt:
Lebe wohl, lebe wohl, dn schöner
Wald!
3. Banner, das so kühle wallt!
Unter deinen grünen Wogen
hast du treu uns auferzogen,
frommer Sagen Aufenthalt!
Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald!
4. Was wir still gelobt im Wald,
wollen's draußen ehrlich halten;
ewig bleiben treu die Alten,
deutsch Panier, das rauschend wallt:
Lebe wohl, schirm dich Gott, du deutscher
Wald!
Joseph v. Eichendorff.
150. Das Kornfeld.
1. Wer zwischen Kornfeldern ausgewachsen ist, der vergißt ihr Rauschen
und Wiegen und Wogen sein Leben lang nicht. Sie sind gleichsam trockene
Meere, in deren Fluten der Hase und das Rebhuhn untertauchen und
über dem, statt schreiender Möwen, singende Lerchen schweben. Hat das Korn-
feld nun die Einförmigkeit und den gleichmäßigen Wogenschlag des Meeres,
so birgt es gleich diesem auch Reichtum und Schönheit in sich. Lauter
Brot ist es, das in ihnt Wellen schlägt, und bei näherer Betrachtung
wird das fortwährende Einerlei schlanker Ähren durch manches anmutige
Zwischenspiel unterbrochen. Die Kornblume, der Rittersporn, die rote
Rade und der Feldmohn schimmern leuchtend aus dem einförmigen Ähren-
werke hervor. Und wie niedliche Wendeltreppen baut nicht die Ackerwinde
215
mit den weißen, rosa angehauchten Blüten, wenn sie sich zierlich an einem
Halme bis zur Ähre emporringelt! Niedrig ans dem Boden treibt sich
ein zahlreiches Geschlecht winziger Pflänzchen umher, welche man erst recht
zu Gesicht bekommt, wenn das Korn abgemäht ist, eine wunderliche, aller-
liebste Stoppelgesellschast. Da sind winzige Stiefmütterchen mit feinen,
blaßgelben Gesichtern, Ackervergißmeinnichte, so klein und zierlich, daß sie
als Erinnerungszeichen gar nicht mehr zu brauchen sind, außerdem allerlei
Kriechwerk mit weißen, blauen und leuchtend roten Sternchen. Diese bunte
Herrlichkeit, welche dem Städter Ausrufe des Entzückens ablockt, ist dem
Landbebauer lästiges Unkraut, welches er gern mit Stumps und Stiel
vertilgen möchte. Sein größter Stolz ist ein ganz reines Feld, aus dem
nichts weiter wächst als die körnerreichen Ähren, und zwar möglichst dicht.
2. Welch ein geschäftiges kleines Volk treibt sich zwischen den Halmen
herum! Ist nicht das Schwirren der Grillen und das Wetzen der grünen
Heuschrecken untrennbar von einem Kornfelde? Obgleich die Natur der
Heuschrecke eine große Beweglichkeit verliehen hat, so ist ihr Benehmen,
wenn sie an einem Halme kriecht, doch äußerst würdevoll und bedächtig.
Plötzlich jedoch macht sie einen ungeheuern Satz und sitzt dann an einem
anderen schwankenden Stengel mit einer so ernsthaften Miene da, als ob
sie es gar nicht gewesen sei. Mit diesem spaßhaften Beinkünstler ist die
verdrießliche Grille verwandt, welche ein kleines Erdloch bewohnt und im
Sonnenscheine gern aus ihrer Haustür guckt und Musik macht.
3. Besonders lebhaft geht es auf dem schmalen Feldraine zu, wo
allerlei vergnügliche Blumen, die niemals im Kornfelde selbst sich vorsinden,
fröhlich gedeihen. Da gibt es welche, auf denen in großen Dolden lauter
goldene Westenknöpfe wachsen. Dort neigt sich zum Boden die dornige
Hauhechel, von rosigen Blüten wie mit kleinen Schmetterlingen besetzt,
nebenan halten die Schafgarbe und die wilde Möhre ihre weißen Blumen-
teller und der Mauseklee seine grauen Pelzmützchen empor. Blaue Glocken-
blumen stehen hin und wieder in Gesellschaften beieinander, und dicht
daneben reißt das goldene Löwenmaul seinen kleinen unschädlichen
Rachen aus.
4. Hier schwärmt es nun von allerlei Besuchern und Güsten, hier
summt es die ganze Tonleiter hindurch vom tiefen, brummenden Tone der
großen Hummel, welche der Bür unter den Insekten ist, bis zum seinen
Singen der zierlichen Mücke. So eine große Blütendolde ist wie ein
Wirtshaus, wo alles einkehrt und sein Schöppchen trinkt. Die fleißige
Biene hat es eilig; mit ruheloser Hast fliegt sie von einer Blüte an die
andere, und ohne Besinnen schwebt sie weiter; — man merkt ihr an, daß
sie nach dem Grundsätze lebt: „Zeit ist Honig". Behaglicher treibt das
Ding schon der leichtsinnige Lüstebummler, der Schmetterling. Während
er seine spiralige Rollzunge behutsam in ein Blütenschöppchen versenkt
216
vergißt er nicht, das schimmernde Flügetpaar von Zeit zu Zeit auszubreiten
und es dem Sonnenscheine und der Betrachtung darzubieten. Die seß-
hafteren Käfer dagegen sind als Stammgäste zu betrachten. Sie gleichen
kleinen Weltweisen, welche mit vornehmer Verachtung aus den emsigen
Fleiß der Biene wie auf den flatterigen Leichtsinn des Schmetterlings
blicken, ihr Schöpplein schlückchenweise leeren und tiefsinnigen Gedanken
über das Wohl und Wehe des Küferlebens nachhangen, bis ein hungriger
Vogel vorüberkommt und sie samt ihrer Weisheit auffrißt.
5. Uber das Kornfeld Hin schießen gern die Schwalben, um Jagd zu
machen auf das winzige Geflügel, das die Ähren umschwärmt. Der
eigentümlichste Vogel bleibt jedoch außer den Ammern immer die Lerche,
welche bescheiden auf dem Erdboden zwischen den Halmen nistet und von
da sich singend emporschwingt in die blauen himmlischen Höhen.
6. Andere versteckt lebende Bewohner des Kornfeldes bekomm: man,
so lange das Getreide steht, selten zu Gesicht, so das Rebhuhn und die
flinke Wachtel. Dafür macht sich der klingende Ruf dieser letzteren desto
inehr bemerklich. An stillen, warmen Frühlingsabenden, wenn ein feuchter
Dunst über den Feldern schwebt und die nebelbedeckten Wiesengründe wie
weiße Seen dazwischen liegen, hört man ihr durchdringendes „Pickperwick"
unaufhörlich. Die Wiesenralle läßt dazu von der feuchten Wiese her ihren
merkwürdigen schnarrenden Ruf ertönen, und aus der Ferne schallt der
einförmige Gesang der Frösche.
7. Mancherlei Sagen und Gebräuche knüpfen sich in allen Gegenden
an das Kornfeld. Besonders lieblich ist die Geschichte vom Kornkind,
welche man sich in der Schweiz erzählt. — Ein Bauer kam an sein
prächtiges Saatfeld und sah dort auf weißen Windeln ein kleines, hilf-
loses Kind mit hellen, weizen gelben Löckchen. Das Kind lächelte ihn an und
streckte ihm bittend die Hände entgegen. Der Bauer erbarmte sich seiner
und wollte es aufheben, um es mit heimzunehmen. Da ward aber das
Kind unter seinen Händen schwerer und schwerer; er vermochte es nicht
einmal von der Erde zu heben. Zuletzt erglänzte es wie Gold und sang:
„Hast wohl vertrauet, hast wohl gebauet, gebaut auf Gott!" und ver-
schwand ihm unter den Händen.
Kann man wohl anmutiger den schwerer und schwerer werdenden
Segen des Kornfeldes darstellen? Heinrich Seidel.
151. Abend im Erntefeld.
1. Schon breiten sich die Abendschatten,
in toter Stille ruht das Feld,
die Lerche nur will nicht ermatten
in ihrem Flug zum Himmelszelt.
— 217
2. Ihr Nest, in Ähren tief verborgen,
gesichert ist’s für diese Nacht,
und weiter wird der Schöpfer sorgen,
der über ihrem Leben wacht.
Martin Greif.
152. Das Habermus.
1. 's Habermus ist fertig, so kommt, ihr Kinder, und esset!
Betet: „Aller Augen" — und gebt mir ordentlich Achtung,
daß am rußigen Topf sich keins das Ärmelchen schwarz macht.
So, nun esset, und fegn' es euch Gott und wachst und gedeihet!
Seht, es hat die Haferkörnlein der Vater im Frühjahr
zwischen die Furche gesäet mit fleißiger Hand und beegget.
Aber, daß sie gewachsen und zeitig geworden, dafür kann
euer Vater hier nicht; das tut der Vater im Himmel.
Denkt nur, Kinder, es schläft ein Keimchen im mehligen Körnlein,
klein gestaltet und zart; nicht regt noch rührt sich das Keimchen,
nein, fest schläst's und redet kein Wort und ißt nicht und trinkt nicht,
bis es die Furche bedeckt und der aufgelockerte Boden.
Aber sodann in der Furch' und in der befeuchteten Wärme
wacht allmählich es auf aus seinem verschwiegenen Schlafe,
streckt die Gliederchen aus und sauget am saftigen Körnlein,
wie an der Mutter das Kind; es fehlt nur, daß es noch weinte.
Nach und nach wird's größer und heimlich auch schöner und stärker,
schlüpft aus den Windeln heraus und streckt ein Würzelchen abwärts,
tiefer hinab in den Grund, sich Nahrung suchend und sindend.
Ja, und der Vorwitz plagt's; neugierig möcht' es auch wissen,
wie es nun weiter oben wohl sei. — Gar heimlich und furchtsam
guckt's aus dem Boden heraus. — Potz tausend, wie g'sällt's ihm!
Und der liebe Gott schickt einen Engel hernieder:
„Bring ihm ein Tröpfchen Tau und sag ihm freundlich: Willkommen!"
Und es trinkt, und es schmeckt ihm so wohl, und es streckt sich behaglich.
Aber nun kämmt sich die Sonne, und ist sie gekämmt und gewaschen,
tritt mit dem Strickzeug schnell sie hervor dort hinter den Bergen,
wandelt daher den Weg hoch an der himmlischen Straße,
strickt und schaut herab, wie eine freundliche Mutter
nach den Kinderchen sieht. Sie lächelt freundlich deut Keimchen,
und es tut ihm so wohl bis tief hinein in das Würzlein.
„Solch eine prächtige Frau, und doch so gütig und freundlich!"
Aber was sie wohl strickt? Gewölk aus himmlischen Düften!
<L>chon setzt's Tropfen, ein Sprützelchen kommt, jetzt regnet es reichlich,
Keimlien trinket sich satt, drauf wehet ein Lüftchen und trocknet's.
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Und es sagt: „Nicht kehr' ich zurück jetzt unter den Boden,
nicht um alles! Da bleib' ich und schau', zu was ich noch gut bin!"
2. Esset, ihr Kindlein, und segn' es euch Gott und wachst und gedeihet!
Bittre Zeit doch harrt auf das Keimlein. Wolken an Wolken
stehen am Himmel bei Tag und bei Nacht, und die Sonne verbirgt sich.
Hoch auf den Bergen, da schneit es, und weiter unten da hagelt's.
Hu, — wie schauert es jetzt dem Keimlein, wie fchlottert's und weint es!
Und der Boden ist zu und hat gar ärmliche Nahrung.
„Ist denn die Sonne gestorben," so spricht's, „daß sie gar nicht zu sehn ist?
oder fürchtet sie auch, sie erfror'? Ach, wär' ich geblieben,
wo ich gewesen, bescheiden und klein im mehligen Körnlein,
in dem heimischen Grund und in der befeuchteten Wärme!"
Seht, ihr Kinder, so geht's! Ihr sprecht wohl auch noch dereinst so,
wenn in die Welt ihr kommt, bei nie gesehenen Leuten
schassen müßt und euch rühren und Brot euch verdienen und Kleidung:
„Wäre daheim ich doch bei Mütterchen, hinter dem Ofen!"
Tröst' euch Gott, es währet nicht immer, und endlich wird's besser,
wie auch das Keimlein erfahren. Nun hört! Am heiteren Maitag
weht es so lau, und es steigt die Sonne so kräftig vom Berg aus,
und sie schaut, wie's dem Keimlein ergeht, und gibt ihm ein Küßchen.
Ach, wie ist's ihm so wohl, es weiß nicht zu bleiben vor Freude!
Allgemach pranget die Matte mit Gras und farbigen Blumen,
allgemach duftet die Blüte der Kirschen, es grünet der Pflaumenbaum,
buschiger wird das Korn und buschiger Weizen und Gerste,
und mein Hüferlein spricht: „Jetzt bleib' ich allein nicht dahinten!"
Nein, es spreitet die Blättchen: — wer hat sie so zart ihm gewoben?
Jetzt auch schießet der Halm; — wer treibt in Röhren an Röhren
aus den Wurzeln das Wasser hinaus zur saftigen Spitze?
Endlich schlüpft ein Ährlein heraus und schwankt in den Lüften; —
sage mir doch ein Mensch: Wer hat an seidene Fäden
dort ein Knöspchen gehängt und hier mit künstlichen Händen? —
Himmlische Engel, wer sonst? — Sie wandeln zwischen den Furchen
auf und ab von Halm zu Halme und schaffen gewaltig.
Jetzt hängt Blüte bei Blüt' an der zierlichen, schwankenden Ähre,
und mein Hüferlein steht gleich einem Bräutlein im Kirchstuhl.
Jetzt sind zarte Körnchen darin und wachsen im stillen,
und mein Hafer beginnt zu merken, was es will werden.
Käferchen kommen und Fliegen; sie kommen und machen Besuch ihm,
schauen, wie es ihm geht, und singen: „Eia, Popeia!" —
Und auch der Glühwurm kommt, potztausend! mit dem Laternchen
nachts um neun auf Besuch, wenn Flieg' und Käferlein schlafen. —
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3. Esset, ihr Kinder, gesegn' es euch Gott und wachst und gedeihet
Späterhin hat man geheut und Kirschen gesammelt nach Pfingsten;
späterhin saftige Pflaumen gepflückt dort hinten im Garten;
späterhin hat man Roggen gemäht und Weizen und Gerste; —
aber die Kinder der Armen sind barfuß zwischen den Stoppeln
Ähren lesen gegangen, und 's Müuslein machte den Kehraus.
Drauf hat auch der Hafer gegelbt; voll mehliger Körner
hat er gefchwankt und gesagt: „Jetzt ist's mir endlich verleidet:
meine Zeit, ich merk' es, ist aus; was mach' ich allein hier-
zwischen den Stoppelrüben und zwischen dem Kraut der Kartoffeln?"
Drauf ist die Mutter hinaus mit Euphrosinchen und Lieschen,
und schon fror's an die Finger, so kalt war's morgens und abends;
endlich haben wir heim ihn gebracht in die staubige Scheune
und ihn gedroschen von früh um zwei bis zu Abend um viere.
Drauf hat des Müllers Esel ihn abgeholt in die Mühle
und ihn wiedergebracht, in feine Körnlein zermahlen;
und mit sahniger Milch von jungen fleckigen Kühen
Hat ihn lieb' Mutter gekocht, — gelt, Kinder, es schmeckte? —
Wischet die Lössel nun ab, und bet' eins: „Danket dem Herrn!"
Und jetzt geht in die Schule, dort hängt das Rünzchen am Simse!
Falle mir keins, gebt Achtung und lernt hübsch, was man euch aufgibt!
Kehrt ihr zurück, dann gibt es gebackene Pfläumlein.
Rein ick nach Johann Peter Hebel.
153. Schmetterlings Leben.
1. Das Schmetterlingsweibchen kann für feine Nachkommenschaft nichts
weiter tun, als daß es feine Eier an einen Ort legt, an welchem die aus-
schlüpfenden Kleinen auch Nahrung finden. Es heftet die Eier deshalb
auch nicht an die Blätter, welche absterben und vom Winde verweht
werden, sondern klebt sie an die Zweige, an die Rinde der Stämme oder
ähnliche sichere Stellen. Hat aber das Schmetterlingsweibchen seine Eier
gelegt, so ists auch mit ihm selbst zu Ende, und der große Vater alles
Lebens muß die weitere Sorge für die kleinen Schmetterlingseier über-
nehmen.
2. Nicht wenige dieser Eier werden zur Winterloft für Meisen und
Baumläufer, es bleiben aber noch genug übrig, um im nächsten Sommer
als Schmetterlinge das Feld zu bevölkern. Lockt dann die warme Frühlings-
fonne die grünen Blätter aus deu Knospen hervor, so erwacht auch das
schlummernde Leben im Schmetterlingsei, — aus dem kleinen Dotter er-
wächst ein winziges Räupchen. Die Sonne selbst hat dafür gesorgt, daß
es frisches, weiches Gemüse findet, wenn es herauskommt. Das junge
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Räupchen muß sich selbst aus der Eierschale heraushelfen, es frißt ein
Loch hindurch und schlüpft hervor ans Tageslicht.
3. Sind die Räupchen ausgeschlüpft, so droht den hilflosen Wesen von
allen Seiten Gefahr. Schlupfwespen schwirren herbei, um sie anzustechen
und ihre Eier in ihren Körper hinein zu legen; Stare, Sperlinge, Finken
und alle die vielen Singvogel, welche uni dieselbe Zeit Junge im Neste
haben, durchsuchen Feld und Busch nach Raupen, und selbst der Land-
mann sucht sie zu töten, wenn sie sich beikommen lassen, von seinem Kohl
zu kosten oder die Obstbäume zu besuchen.
4. Haben die kleinen Raupen einige Tage lang tüchtig gefressen, so
sind sie schon auffallend größer und dicker geworden. Sie sitzen daun still
an den Ästen, als seien sie krank, und nun platzt ihnen oben auf dem
Kopfe die Haut entzwei. Die Raupe wackelt hin und her und arbeitet sich
aus ihrer eigenen Haut heraus. Selbst von den Beinen streift sie diese
mit ab, und es mag ihr feine geringe Anstrengung kosten, den engen Rock
auszuziehen. Endlich ist sie von ihm befreit, aber sie scheint auch völlig
erschöpft. Die junge Haut ist noch sehr zart und gegen Kälte und Nässe
in hohem Grade empsindlich. Tritt zur Zeit der Häutung unfreundliches
Wetter ein, so stirbt manches Räupchen durch Erkältung. Vier- bis
fünfmal wiederholt sich der Hergang des Häutens, dann erst sind die
Tiere völlig erwachsen und denken ans Einpuppen. Sie spinnen sich einen
Strick aus feinen seidenen Fäden und binden sich mit dem Schwanzende
am Zweige fest. Ein zweites Seil legen sie um den Leib und schützen
sich so gegen das Abfallen. Nun aber verstehn sie es, einzuschrumpfen
und sich klein zu machen. Die Haut wird noch einmal abgestreift, zugleich
aber mit dem Arbeitsrock das ganze Handwerkszeug beiseite gelegt: Augen,
Freßzaugen und Füße. Daun wird die Haut hart, grünlich und gold-
schimmerud, und die Puppe ist fertig. Von dem vielen Futter, welches
die Raupe verzehrte, haben sich in ihrem Körper reichliche Vorratsstoffe
aufgespeichert; aus diesen bildet sich nun der Schmetterling mit den schönen
Flügeln.'
5. Viele Raupen, besonders die der Abend- und Nachtfalter, begnügen
sich nicht mit einem einfachen Faden zum Aufhängen der Puppe, sondern
fertigen ein großes, dichtes Gespinst, einen Kokon, als Schutz gegen die
Nässe und Külte. Manche kleben auch Erdkrümchen, Holzspäne und Blättchen
zusammen, um sich ein Häuschen zu bauen. Manche Raupen, besonders solche
von Nachtschmetterliugeu, werden auch in einem Sommer noch nicht fertig mit
ihren Vorbereitungen zum Einpuppen. Sie müssen sich dann im Herbst
ein sicheres Plätzchen suchen, um vor den Übeln des Winters geschützt zu
sein. So verstecken sie sich ins Moos, unter abgefallene Blätter, oder
kriechen in die lockere Erde, kleben Holzstiickchen und Sandkörnchen rundum
zusammen und machen sich eine Winterhütte daraus. Dort rollen sie
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sich zusammen und schlafen, bis sie im Frühjahre droben wieder etwas
für ihren Hunger finden können. Daun fahren sie mit ihrer Arbeit
rüstig fort, wo sie im vorigen Jahre aufgehört hatten, bis sie sich einpuppen.
6. Lange liegt oder hängt die Puppe wie tot; desto reger arbeitet es
inwendig in ihr. Das Köpfchen mit den großen zufammengesetzten Augen
und den kleinen Äuglein auf der Stirn bildet sich. Die Brust, welche
mit dem Hinterleib durch einen Stiel zusammenhängt, erhält sechs hübsche
schlanke Beine. Alle diese Teile bekommen ein zierliches Haarkleid. Die
Flügel sind noch weich und zusammengefaltet. Endlich zerplatzt die Puppen-
hülle, und der schöne Falter arbeitet sich heraus. Die Nachtschmetter-
linge, welche in festem Gespinst liegen, müssen dieses erst aufweichen.
Sie tun es, indem sie aus ihrem Munde einige Tropfen Flüssigkeit darauf
fallen lassen.
7. Das ausgekrochene Tierchen klettert am Stengel ein Stückchen
empor und entfaltet allmählich die großen Schwingen. Diese werden
breiter, länger und fester. Und was für eine Pracht zeigen sie! Daß
die herrlichen Farben bei allen Schmetterlingen leicht abgehn, weißt du
aus Erfahrung; besiehst du dir aber solch Stäubchen durch ein gutes Ver-
größerungsglas, so wirst du mit Erstaunen wahrnehmen, welch wunder-
baren Bau die Fittiche des Tierchens haben. Auf der dünnen, durch-
sichtigen Flügelhaut haften an beiden Seiten kleine Schuppen, wie die
Ziegel eines Daches einander bedeckend. Jedes dieser Schüppchen steckt mit
einem seinen Stielchen in einer kleinen Vertiefung des Flügels und ist
oft an seinem freien Ende mit Spitzen und Zacken verziert. Bei manchen
Schmetterlingen sind diese Schüppchen auf beiden Seiten verschieden ge-
färbt, und die Flügel zeigen deshalb ein abweichendes Aussehen, je nach-
dem man von oben oder von der Seite her darauf schaut. Jedes Schüppchen
zeigt ferner zarte Längsstreifen und noch feinere Querstreifen. — Die
großen Augen des Schmetterlings sind aus vielen kleinen Äuglein zu-
sammengesetzt; beim Totenkopfschwärmer besteht jedes Auge aus 12 500
kleineren, das Tier hat also deren 25 000.
8. Wie die Raupen verschiedener Arten ihre besondern Weisen haben,
so zeigen auch die Falter mancherlei Eigentümlichkeiten; die einen tummeln
sich im hellen Sonnenschein, andere, z. B. der Totenkops, schwärmen am
Abend, noch andere in der Nacht. Von den Nachtschwärmern ist der
kleine Stachelbeerfpanuer wegen seines bunten Harlekinkleides bekannt und
das blaue Ordensband wegen seiner blaustreifigen Unterslügel. ^
Hermann Wagner.
154. Ein lästiger Bummler.
1. Leider hat nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern auch die
Tierwelt ihre Bummler. Einer derselben verfolgt uns im Sommer über-
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allhin. Kaum haben wir uns in der schattigen Laube niedergelassen, so ist
er da. Er ißt mit uns und liebt gute Bissen, er schaut in die Milchtöpfe,
in die Zuckerdose, er dringt in unsere Wohnzimmer ein, läuft auf den
Tischen, Spiegeln, Bildern, ja sogar an der Decke herum. Dabei ist er
so frech, daß er keine Persou achtet: er setzt sich auf die Stirne des
Kaisers, wie auf die Nase des Bettlers; ja, er ist sogar so unhöflich, daß
er brummt und summt, wenn man ihn fortjagt.
Ihr erratet wohl, wen ich meine. Es ist die Stubenfliege, die den
Großvater so oft in der Mittagsruhe stört und euch schon manches
Krümchen Zucker vorn Kuchen gestohlen hat. Ihr möchtet wohl böse aus
sie sein. Aber ihr werdet Achtung vor ihr bekommen, wenn ihr sie euch
näher, vielleicht durch ein Vergrößerungsglas beseht. Ihr werdet staunen
über die Weisheit und Liebe des Schöpfers, die auch an diesem kleinen
Tierchen sich offenbart.
2. Die Fliege ist, wie ihr wißt, ein Insekt. Sie trägt ein schwärzliches
Kleid, hat sechs Beine, mit denen sie sehr schnell läuft, einen Säugrüssel
und zwei Fühler. Aber das Merkwürdigste an ihr sind die Augen.
Jedes derselben ist wie eine Kuppel gewölbt und besteht aus Tausenden
von sechseckigen Flächen. Mit diesem Auge, welches eigentlich aus vielen
einzelnen Augen besteht, wird es der Fliege möglich, nicht nur nach vorn,
sondern auch nach den Seiten und allerwärts zugleich hinzusehen.
Daher entgeht sie auch der Gefahr leicht, weil sie ihren Feind sofort
wahrnimmt, wenn er sich ihr nähert. Durch die Flügel und andere
Körperteile gehen Röhrchen, die sich mit Luft füllen und ihr das Schweben
und Fliegen leicht machen.
3. Freilich ist die Fliege ein furchtbarer Näscher und verschont nichts
in der Küche. Es geht ihr dann aber oft so wie den Naschkätzchen unter
den Kindern: sie gerät über Gift. Mitunter füllt sie auch in den Kaffee,
in die Milch und muß elend sterben. Wie ein Geck beschäftigt sie sich
viel mit Putzen und mit ihrem Äußern. Mit den seinen Borsten ihrer
Beine bürstet sie jedes Stäubchen von ftch ab; aber wie macht sie es
denn in unserm Zimmer? Da hat die reinliche Hausfrau gar viel über
sie zu klagen, weil sie überall Schmutz hinträgt.
Doch wir wollen uns mit ihr aussöhnen. Sie ist doch viel harm-
loser und ungefährlicher als ihre schlimmen Verwandten, die Mord- und
Raubfliegen, die Stechfliegen, Schmeißfliegen, und wie sie sonst heißen mögen.
Sie kitzelt und krabbelt uns höchstens wie ein kleiner Schäker, sticht aber nie.
4. lind nun denkt nur, was sie alles kann! Sie ist ein gewandter
Seiltänzer, und sie läuft auf der schmälsten Kante hin; sie kann sich sogar
an der Decke halten und an der glattesten Glasfläche nmherspazieren,
weil sie feine Härchen oder Haarlappen an den Füßen hat. Sie ist ein
kühner Luftschiffer, der lange Zeit sich schwebend erhält; sie ist ein großer
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Chemiker, der jedes Körnchen Zucker durch eine Flüssigkeit auflöst, damit
es ihm besser munde; sie ist ein Freund des Lichtes, sie fliegt um die
Lampe herum, versengt sich aber leider oft dabei die Flügel. Die Mer-
mehrung dieser Bummler ist in jedem Jahre außerordentlich groß. Sie
legen viele Eier, ans welchen weiße, gefräßige Maden herauskriechen.
Die Made verwandelt sich in ein rötlich braunes Tönnchen, aus welchem die
geflügelte Fliege herauskommt.
5. Natürlich hat sie, weil sie so lästig ist, viele Feinde. Nicht nur
die Menschen suchen sie durch Räuchern, durch Fliegenpapier, durch Stäbe,
die mit Leim bestrichen sind, und durch gläserne Fliegenfänger zu vertilgen,
auch die Spinnen, die Fliegenschnäpper, die Rotkehlchen, Schwarzköpfchen,
Bachstelzen und andere Vögel machen Jagd auf sie. jsi Karl Pilz.
155. Ein Abendausgang des Iltis. (Gekürzt.)
Es ist Abend geworden, und die Schatten der Nacht legen sich wie
ein grauer Mantel über Feld und Flur. Lerchen und Rebhühner ruhen
in den Furchen des Ackerlandes, und du meinst, alles schlummre in süßem
Frieden, alles träume süß vom Sonnenschein und Blumenduft des Tages.
Du irrst dich; denn auf dem Felde gibt es einen Unhold, der den Schlaf
der friedlichen Tiere stört und die sorglosen mordet. Es ist der Iltis.
Zwischen den breiten Klettenblättern der Hecke hindurch schimmern
zwei grünlichblaue Flämmchen, das sind die Augen des tückischen Mörders.
Im dichten Strohdach der Scheune hat das Tier den ganzen Winter über-
ein warmes Lager gehabt. Zum Dank für das Quartier würgte es den:
Bauern die beste Henne, stürzte ihm den Bienenkorb um und fraß den
Honig. Jetzt zieht der Iltis mit dem Anfang des Sommers in das Feld,
mordlustig und blutdürstig wie der wildeste Raubgeselle.
Dein scharfes Auge erkennt beim matten Schimmer der Mondsichel
die schlanke Gestalt des Iltis. Bedächtig und leise hebt er die Beine, und
von seinen Sprüngen hörst du nicht das mindeste Geräusch; die beharrteu
Sohlen seiner Pfoten geben ihm einen leisen Tritt, wie ihn die Katze hat.
Bei jedem Sprunge biegt sich der schlanke Leib im Bogen nach oben; er
gleitet zwischen Gras und Kräutern hindurch gleich einer schwärzlichen
Schlange. Beim Lichte des Tages würdest du jedoch das Pelzwerk des
Tieres dunkelbraun sinden.
Ringsum wachsen das schönste Gemüse, die saftigsten Blätter, am Wald-
rande duften die leckersten Erdbeeren, im Quell plätschert das frischeste
Wasser, das alles reizt den Iltis nicht — er hat nur Hunger nach frischem
Fleisch, nur Durst nach warmem Blut; so schlüpft er weiter und späht
mit funkelnden Augen nach Speise.
Ein Mäuschen hüpft in der Ackerfurche. Es springt flink wie ein
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Tanzmeister, aber der Iltis versteht das Hüpfen und Springen noch besser
— ein (Latz und ein Biß! — kaum daß das Tierchen noch einen Not-
schrei ausstoßen konnte, da ist sein Kopf schon zermalmt.
„Ein schlechter Anfang," meint der Iltis und leckt das warme Blut,
„aber etwas ist besser als nichts!" Bald ist er fertig und zieht weiter
zum Hamsterbau. Der alte Geizhals hat sich behaglich dort eingerichtet.
Eben war er noch ausgegangen und hatte die Felder besichtigt, wie weit
der Roggen und Weizen getrieben, und wie's mit den Erbsen stünde.
Jetzt sitzt er dicht an der Fallrohre, die senkrecht nach seiner Burg führt,
und putzt sich mit den Pfoten den Tan vom Bart ab — da springt ihm
der Iltis von hinten auf das Genick, und ehe der Erschreckte noch Zeit
hat, fauchend sich umzuwenden, um sich mit den kräftigen Zähnen zu
wehren, sind ihm schon die Halsadern zerrissen.
„Die Mahlzeit lohnt sich schon besser!" berechnet der Mörder; „das
Fleisch kann für morgen gespart werden, und das Beste ist das weiche
Nest, es gibt ein hübsches Sommerquartier. Unsereins wird von aller
Welt gehetzt und gejagt, da ist's gut, wenn man der Wohnungen mehrere
hat, dann stndet man allerwärts eine Zuflucht und während des hellen
Tages eine sichere Schlafstelle."
Er könnte nun eigentlich schon zufrieden sein mit seiner Beute; aber
die wilde Mordlust treibt ihn weiter. Am Feldrain macht er Halt: „Hier
riecht es nach Honig, die Hummeln scheinen schon eingetragen zu haben;
etwas Süßes zur Abwechslung ist gut!" Der Iltis kratzt die schlafenden
Hummeln heraus und speist ihren Honig; dann wendet er sich seitwärts
nach dem Teichuser.
Eine Kröte schleicht langsam zwischen den Kohlpflanzen umher und
sucht die Nacktschnecken ab. „Fades Fleisch das," knurrt der Iltis, „kaum
zwei Tropfen Blut im ganzen Tier und obendrein kalt wie Bachwasser,
aber für den Fall der Not doch zu gebrauchen." Er beißt ihr den Kopf
entzwei und schleppt sie nach dem Hamsterloche.
Wenige Minuten darauf ist er schon wieder auf der Jagd. Diesmal
hat er Spuren von Rebhühnern entdeckt und verfolgt sie leise und vor-
sichtig wie ein Spürhund. Dort hinter dem Klee hat das alte Rebhuhn
sein Nest; es sitzt auf den Eiern und schläft. Vielleicht träumt es von
den künftigen Küchlein, wie es die kleinen Dinger durchs Getreidefeld
führen und sie pflegen will. Es wird's nicht erleben: denn hinter ihm
funkeln schon die Augen des Mörders. Der Iltis faßt es und beißt ihm
den Kops ab. Er hat keinen Hunger mehr und will nur etwas Leckeres
haben, so säuft er ein wenig Blut, frißt etwas vom Hirn und schleppt
dann das Rebhuhn nach Hause. Dann kehrt er zurück und holt auch die
Eier, eins nach dem andern; er versteht es, sie geschickt mit dem Kinn
gegen die Brust zu drücken und in seinen Schlupfwinkel zu bringen, ohne
225
eins zu zerbrechen. Hindert ihn morgen etwa schlechtes Wetter am Aus-
gehen, so wird er sie vorsichtig mit den Zähnen ösinen und sie auslecken.'
Hermann Wagner.
156. Ter Sommerabend. (Gekürzt.)
1. O sieh, wie ist die Sonne müd',
sieh, wie sie still nach Hause zieht!
O sieh, wie Strahl um Strahl verglimmt,
wie sie ihr Tüchelchen da nimmt,
ein Wölkchen, blau mit rot vermischt,
und sich damit die Stirne wischt!
2. Wahr ist es, sie hat schlimme Zeit,
im Sommer gar! Der Weg ist weit,
und Arbeit find't sie überall;
in Haus und Feld, in Berg und Tal
drängt alles sich nach ihrem Schein
und will von ihr gesegnet sein.
3. Manch Blümlein hat sie ausstaffiert,
mit Farben prächtig ausgeziert.
Dem Bienchen gibt sie seinen Trunk
und sagt zu ihm: „Hast auch genung?"
Kam noch ein Käferchen in Eil',
gewiß bekam es auch sein Teil.
4. Manch Samenhülschen sprengt sie aus
und holt den Samen draus herauf.
Wie bettelten die Vögelchen,
wie wetzten sie die Schnäbelchen!
Und keins geht hungrig doch zu Bett,
das nicht sein Teil im Kröpfchen hätt'.
5. Der Kirsche, die am Baume lacht,
hat rote Backen sie gemacht.
Und wo im Feld die Ähre schwankt,
und wo am Pfahl die Rebe rankt,
gleich kümmert sich die Sonne drum,
hängt ihnen Laub und Blüten um.
6. Und auf der Bleiche, seht doch an!
macht sie sich Arbeit, wo sie kann;
das hat dem Bleicher schon behagt,
doch hat er nicht „Gotts Lohn!" gesagt.
Knppcy u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 15
226
Ist irgend Wäsche wo im Ort,
sie trocknet hier, sie trocknet dort.
7. Und wirklich wahr: allüberall,
wo irgend nur die Sens' im Tal
durch Gras und durch die Halme ging,
da macht sie Heu. Wie geht das flink!
Es will was sagen, meiner Treu',
am Morgen Gras, am Abend Heu.
8. Drum ist sie jetzt so schrecklich müd'
und braucht zum Schlaf kein Abendlied.
Kein Wunder ist es, wenn sie schwitzt;
sieh, wie sie auf dem Berg da sitzt!
„Schlaft alle wohl!" so ruft sie jetzt
und lächelt noch zu guter Letzt.
9. Da ist sie weg! Behüt' dich Gott!
Der Hahn am Kirchturm, seht, wie rot!
Er guckt ihr nach ins Haus hinein;
du Naseweis, so laß es sein!
Da hat er es! In guter Ruh'
zieht sie den roten Vorhang zu.
10. Ich denk', wir gehen auch ins Nest;
wen sein Gewissen ruhig läßt,
schläft sicher ein auch ohne Lied,
die Arbeit macht von selber müd';
so manches ist doch heut' vollbracht.
Gott geb' uns eine gute Nacht!
Reinick nach Johann Peter Hebel.
157. Gewitter.
1. Ihr Kinder, kommt herein vom Spiel,
die Lüfte wehn so dumpf und schwül,
die Wolken stehn so schwarz zuhauf,
ein schwer Gewitter zieht herauf, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
2. Schauet, schon kommen die Winde geflogen,
himmelan wirbelt erstickender Staub,
Pappeln erbrausen, vom Sturme gebogen,
silbern erzittert das rauschende Laub;
227
dampfend noch in die geöffnete Scheuer
ziehen die Rosse das duftende Heu,
und in dem Neste am Giebelgemäuer
duckt sich das Vögelein schweigend und scheu.
3. Ihr Kinder, duckt euch nicht so scheu,
seid unverzagt, kommt all’ herbei,
ein treues Vaterauge wacht
auch über schwarzer Wolkennacht, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
4. Sehet, wie schaurig die Lüfte sich schwärzen,
Mittag verkehrt sich in dämmernde Nacht;
stille wird’s draußen, es klopfen die Herzen,
mächtige Tropfen schon melden sich sacht.
Plötzlich ein Blitz, der mit feuriger Lohe
blendet das Aug’ und erhellt das Gemach,
und durch das Himmelsgewölbe, das hohe,
rollet der Donner mit dumpfem Gekrach!
5. Ihr Kinder, fleht zum starken Gott:
Erbarme dich, Herr Zebaoth,
in Donnerhall und Blitzesschein
vertrauen dir die Kindlein dein,
behüt uns, Gott, in Gnaden!
6. Habt ihr die feurige Schlange gesehen?
Hört ihr den plötzlichen, schmetternden Streich?
Ist in der Stadt wo ein Unglück geschehen?
Wimmert vom Turme das Glöckchen sogleich? —-
Nein, es ist stille; auf feurigem Wagen
fuhr uns im Wetter Jehova vorbei;
aber nicht wollt’ er mit Jammer uns schlagen,
denn er ist gnädig, barmherzig und treu.
7. Ihr Kinder, fleht im Blitzeslicht:
Herr, geh mit uns nicht ins Gericht,
mit Wetterschlag und Feuersnot
verschon, verschon uns, lieber Gott,
behüt uns, Gott, in Gnaden!
8. Wo jetzt im Feld sich ein Wandrer noch eilet,
fern auf der Heide noch hütet ein Hirt,
unter dem Baum sich ein Mäher verweilet,
weinend im V ald sich ein Kind hat verirrt,
15*
228
laßt uns der Fernen, Verlassenen, Armen
betend gedenken im sichern Gemach!
Schütze der Herr sie mit mildem Erbarmen
unterm unendlichen himmlischen Dach!
9. Ihr Kinder, ruft zur Himmelshöh’:
Du Herrscher über Land und See,
den Pilger schütz in Sturmesnot,
auf wildem Meer das schwanke Boot!
Behüt uns, Gott, in Gnaden!
10. Siehe, nun stürzen die himmlischen Quellen,
strömend ergießen die Wolken den Schoß!
Dächer, sie traufen, und Bäche, sie schwellen,
alle die Schleusen des Himmels sind los;
dämmernd verschwindet im düsteren Regen
Himmel und Erde, die weite Natur,
aber den süßen, befruchtenden Segen,
durstig verschluckt ihn die lechzende Flur.
11. Ihr Kinder, lobt den Herrn der Welt,
er tränkt die Flur, er labt das Feld,
er schmückt das Blümlein, speist den Wurm
und segnet auch im Wettersturm; —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
12. Milder schon fallen die silbernen Tropfen,
munter schon zwitschert ein Sperling vom Dach;
frisch in der Werkstatt vernimmt man das Klopfen,
all das verschüchterte Leben wird wach;
fern am Gebirge, dahin er gezogen,
murrt noch der Donner, ein fliehender Leu;
aber am Himmel der leuchtende Bogen
kündet’s der Erde: Der Herr ist getreu!
13. Ihr Kinder, auf, hinaus ins Feld!
Wie weht’s und duftet’s durch die Welt!
Wie glänzt die Luft, wie perlt die Flur!
Hab Dank, o Herr der Kreatur!
Behüt uns, Gott, in Gnaden!
158. Ein Gewitter auf dem Lande.
1. Schnell rollten die Wagen auf das Erntefeld, die Pferde waren
unruhig, schüttelten die Köpfe und schlugen mit dem Schweife die Flanken,
229
und die Knechte klatschten ohne Aufhören mit der Peitsche. „Heut' stechen
die Fliegen," sagte im Vorbeifahren grüßend der Großknecht, „es kommt
ein Wetter." Rot hob sich die Sonne aus trockenem Qualm; die Arbeiter
im Felde fühlten die Mattigkeit in den Gliedern und hielten immer wieder
bei der Arbeit an, das Antlitz zu trocknen. Der Schäfer war heut' mit
der Herde unzufrieden, seine Hammel waren auf Kraftübungen versessen:
statt zu fressen, stießen sie mit den Köpfen zusammen. Unordnung und
Widersetzlichkeit waren nicht zu bändigen, der Hund umkreiste die Auf-
geregten unaufhörlich mit hängendem Schwänze, und wenn er heut' ein
Schaf in das Bein zwickte, so merkte es lange den Schaden.
2. Höher stieg der Sonnenball am wolkenlosen Himmel; heißer
wurde der Tag; ein leichter Dunst hob sich vom Boden und machte die
Ferne undeutlich; die Sperlinge flogen unruhig um die Baumgipfel; die
Schwalben fuhren längs dem Boden und zogen ihre Kreise um die Menschen.
Die Hitze wurde unerträglich; die Nachmittagssonne brannte auf die Haut;
Fels und Mauer fühlten sich heiß an; den Himmel überzog ein weißes
Gewölk, das sich zusehends verdichtete und zusammenfuhr. Eifrig trieb
der Knecht die Pferde zur Scheuer; die Arbeiter hasteten, die Garben
abzuladen; im schnellen Trabe fuhren die Wagen, noch eine Ladung unter
das schützende Dach zu retten.
Die Freunde standen vor der Hoftür und blickten aus die schweren
Wolken, die vom Himmelsrande heraufzogen. Das gelbe Sonnenlicht
kämpfte kurze Zeit gegen die dunkeln Schatten der Höhe, endlich ver-
schwand auch der letzte grelle Schein; glanzlos und trauernd lag
die Erde.
3. Die ersten Stöße des Windes fuhren heulend an das Haus.
„Ich muß durch den Hof, zum Rechten sehen!" rief Ilse, die Tochter des
Gutsherrn, band ein Tuch um das Haupt und drang vorwärts zu dem
Hofgebäude, in welchem die Spritze stand; sie sah zu, ob die Tür geöffnet
und Wasser in den Tonnen war. Dann eilte sie nach den Ställen,
mahnte die Mägde und kehrte nach dem Hause zurück. Sie warf einen
Blick in die Küche und nach dem Herde und trat dann wieder zu den
Freunden, die vom Fenster der Wohnstube in den Aufruhr der Elemente
blickten. Langsam wälzte sich das Wetter näher. Eine schwarze Masse
nach der andern schob sich heran, unter ihnen stieg ein fahler Dunst-
schleier wie ein ungeheurer Vorhang höher und höher, der Donner rollte,
kürzer die Pausen, wilder sein Dröhnen. Der Sturm heulte um das
Haus, jagte zornig dicke Staubwolken um die Mauern; Blätter und
Halme flogen in wildem Tanze dahin.
4. Während der Donner tobte, ward es plötzlich finster in der Stube
wie bei einbrechender Nacht, und immer wieder wurde die unheimliche
Dämmerung durch den Schein der feurigen Schlangen zerrissen, die über
230
den Hof dahinfuhren. Plötzlich ein Licht, fo blendend, daß es zwang, die
Augen zu schließen, ein kurzer, markerschütternder Krach, der in miß-
tönendem Knattern endete. „Das hat eingeschlagen!" rief einer der Freunde
besorgt. „Nicht in den Hof!" versetzte Ilse. Wieder ein Schlag und
wieder ein Feuerschein und ein Schlag, wilder, kürzer, schärfer. „Es
schwebt über uns," sagte Ilse ruhig sind drückte das Haupt des kleinen
Bruders an sich, als wollte sie ihn schützen. Hoch aufgerichtet, unbeweg-
lich stand sie da, umringt von den angstvollen Geschwistern. Länger
dröhnte der Donner, der Regen schlug an das Fenster, ein Wasserguß
rasselte und klatschte um das Haus, die Fenster zitterten in einem wüten-
den Anprall des Sturmes. „Es ist vorüber!" sagte die Jungfrau leise.
Die Kinder fuhren auseinander und liefen an das Fenster.
5. Eine halbe Stunde später war alles vorüber. Über den Bergen
lag noch die dunkle Wolke, und aus der Ferne tönte gefahrlos der Donner.
In dem leeren Hofe regte sich wieder das Leben. Zuerst zog in fröhlichem
Eifer der Entenchor aus seinem Versteck, putzte die Federn, untersuchte
die Wasserlachen und schnatterte längs den Wagengeleisen. Dann kam
der Hahn mit seinen Hühnern, vorsichtig schreitend und die quellenden
Körner pickend. Die Tauben flogen an Vorsprünge der Fenster, wünschten
einander mit Verbeugungen Glück und breiteten die Federn im neuen
Sonnenlicht. Nero fuhr in kühnem Sprunge aus dem Hause, trottete
durch den Hof und bellte herausfordernd in die Luft, um die feindliche
Wolke vollends zu verscheuchen. Dann schritten die Mägde und Arbeiter
wieder rührig über den Platz und atmeten erfrischt den Balsam der
feuchten Luft. Der Hofverwalter kam und berichtete, daß es zweimal in
den Berg nebenan geschlagen. — Auch der Gutsherr ritt in starkem Trabe
herein, tüchtig durchnäßt, um zu sehen, ob Haus und Hof ihm unversehrt
geblieben. Er sprang fröhlich vom Pferde und rief: „Es hat draußen
eingeweicht, aber, gottlob, daß es so vorübergegangen! Solch Wetter ist
hier seit Jahren nicht erlebt." Gustav Freytag.
159. Rätsel.
Unter allen Schlangen ist eine auf Erden nicht gezeugt,
mit der an Schnelle keine, an Wut sich keine vergleicht,
sie stürzt mit furchtbarer Stimme auf ihren Raub sich los,
vertilgt in einem Grimme den Reiter und sein Roß.
Sie liebt die höchsten Spitzen;
nicht Schloß nicht Riegel kann vor ihrem Anfall schützen;
der Harnisch lockt sie an.
Sie bricht wie dünne Halmen den stärksten Baum entzwei;
sie kann das Erz zermalmen, wie dicht und fest es sei.
231
Und dieses Ungeheuer hat zweimal nie gedroht;
es stirbt im eignen Feuer; wie's tötest ist es tot.
Friedrich v. Schiller.
160. Obstbau und Obstbaumpflege.
1. Der Frühling zieht durch die Lande, sein Ruf dringt in alle Winkest
wo Blatt und Blüte der Auferstehung harren. Da beginnt in den
Knospen der Obstbäume ein Recken und Strecken, die winterlichen Knospen-
hüllen werden beiseite geschoben, und in weißen, festlichen Kleidern schauen
die Bäume dem Frühling entgegen. Entlang des Weges, aus den Gärten
und au sonnigen Hängen nicken die schneeigen Zweige den Willkomm.
Wie leuchtet die weiß-rosige Blütenfülle; wie kosen Wind und Sonnen-
schein mit ihr! Die Bienen summen von Kelch zu Kelch, und kleines
Getier schlüpft hurtig umher. —
Die Tage eilen, bald ist der Blütenschmuck dahin. Der Obstbaum
legt sein grünes Werktagskleid an. Auf den Blütenstielen quellen junge
Früchte, vom Sommerwinde hin- und hergewiegt. Schon reifte die Kirsche
gelb, rot und schwarz; schon lockte die Pflaume in strotzender Fülle; da
haben auch Äpfel und Birnen ihr Werk geschafft. Es ist Herbst, ist
Feierabend geworden. Gleich treuen Arbeitern hoben die Obstbäume die
Schütze der Erde und gaben sie weiter an geschäftige Menschen. Nun
gehen sie zur Ruhe, legen ab das graue, falbe Blütterkleid und schlafen
dem kommenden Morgen entgegen.
2. Ja, treue Arbeiter und Gehilfen find die Obstbäume dem Menschen-
geschlecht. Ihre Früchte bilden gesunde, erfrischende Kost. Sieh den
Knaben, wie er eifrig im Kirschbaum schmaust, als wollte er den lüsternen
Spatzen zuvorkommen! Zwetschen und Pflaumen werden roh, gekocht,
gedörrt und eingemacht verwertet. Die schlanke Birne ist äußerst zucker-
reich, fault aber leicht und muß vornehmlich als frisches Tafelobst genossen
werden. Die vielseitigste Verwendung stndet der Apfel. In rohem Zu-
stande, als Apfelbrei, Bratäpfel, gedörrte Schnitte, Apfelkuchen, Apfelwein
und dergleichen wird sein Wohlgeschmack geschätzt.
3. Bei solch ausgiebiger Verwertung muß es wunder nehmen, daß die
Obstzucht noch kein nationaler Erwerbszweig geworden ist. Der Gesamt-
bestand an ertragfähigen Obstbäumen in Deutschland kann heute auf
38 150 000 Apfelbäume, 19 063 000 Birnbäume, 54 681 000 Pflaumen-
bäume und 16 742 500 Kirschbüume geschätzt werden. Die Erntemenge
an Obst aller Sorten wurde im Jahre 1900 auf 13 559 064 Doppelzentner,
der Erntewert auf 104 552 150 Mk. berechnet. Daraus geht hervor, daß
in Deutschland in runder Summe 25 kg Obst auf den Kopf der Bevölkerung
hervorgebracht werden. Trotz dieser großen Obstproduktion im eigenen
Lande führt Deutschland bekanntlich sehr viel ausländisches Obst ein. An
232
dieser Einfuhr beteiligen sich vornehmlich Österreich, die Vereinigten Staaten,
Serbien, die Türkei, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Italien und
die Schweiz. Im Jahre 1905 wurden über 2 000 000 Doppelzentner
Tbst eingeführt. Um diese gewaltige Menge wegzuschaffen, würden mehr
als 20 000 Eisenbahnwagen oder weit über 400 Eisenbahnzüge zu je
50 Wagen nötig sein. Wollte ein Fuhrmann sie wegfahren und lüde aus
jeden Wagen 20 Doppelzentner, so müßte er 100 000 mal fahren, oder,
bei 10 Fuhren täglich, 10 000 Tage, oder 33^ Jahre. Aus obigen
Zahlen ergibt sich aber auch, daß allein im Jahre 1905 für 30 Millionen
Mark Obst eingeführt worden ist. Diese große Summe geht jährlich den
deutschen Landwirten verloren; sie wandert auf Nimmerwiedersehen ins
Ausland. Und das wird leider noch lange so bleiben, denn noch ungefähr
6 Millionen Bäume sind erforderlich, um allein die Einfuhr an Äpfeln
unnötig zu machen.
4. In unserer Provinz Hannover hat der Obstbau in den letzten Jahren
recht erhebliche Fortschritte gemacht. Im Jahre 1901 betrug die Anzahl
der Obstbäume an unseren Chausseen 189 586 Stück, die in demselben
Jahre der Provinzialverwaltnng eine Einnahme von 167 734 Mk. brachten.
Das ist gewiß ein schönes Ergebnis, besonders wenn man bedenkt, daß
ein großer Teil der Obstbäume erst in den letzten Jahren angepflanzt
worden ist und deshalb noch keine nennenswerten Erträge liefern konnte.
Im ganzen brachte der Obstbau an den Chausseen in den 25 Jahren von
1876-1901 2 410 146 Mk., also im Durchschnitt jährlich 92 698 Mk.,
welche Summe zur Unterhaltung der Landstraßen ganz erheblich beigetragen
hat. Einzelne Gebiete an der Unterelbe, namentlich das „Alte Land"
bilden wahre Obstgärten. Im allgemeinen aber sind Süd- und Mittel-
deutschland in der Obstkultur dem nördlichen Deutschland weit voran,
trotzdem hier die natürlichen Bedingungen einer lohnenden Zucht: passender
Boden und geeignetes Klima, vollauf erfüllt sind. Der Grund dieses
Rückstandes ist mangelndes Verständnis gegenüber den Forderungen des
Obstbaus. Ohne Hegen kein Segen. Obstbaumpflege ist die erste Vor-
aussetzung des Erfolges.
5. Die nachhaltigsten Einwirkungen, teilweise eine völlige innere Umge-
staltung erführt der Obstbaum in der Baumschule. Frisch und kräftig ent-
sprießt der junge Baum der edlen Obstsrucht. Den Kernfrüchtlern aber
strömt noch das wilde Ahnenblut im Stamm, ein unedler Saft, der später
nur holzige, ungenießbare Früchte erzengt. Da gilt es, den wertlosen
Saft durch reinigende, hochentwickelte Zellen zu leiten, damit er geläutert
eine köstliche Frucht entwickele. Also schneidet man den Jungstamm glatt
ab und setzt fest und anschließend ein Edelreis auf. Die Säfte steigen
und drängen hinauf, erfahren in den neuen Zellgängen ihre Wiedergeburt
und vermögen nun edelgeartete Zweige, Blüten und Früchte zu treiben.
238
Wird bei dem eben gezeigten Kopulieren gleich ganze Arbeit gemacht, in-
dem man den wilden Schößling einfach abschneidet, so findet beim
„Okulieren" zunächst das Einsetzen eines edlen Knospenauges mit an-
liegendem Rindenteile statt. Ist der Pflegling zum Zweiglein gediehen,
dann fällt der Stamm oberhalb des Einsatzes ebenfalls dem Messer zum
Opfer. In der Folge werden die Bäumchen, das Steinobst eingeschlossen
sorgfältig gepflegt, von unnützen Auswüchsen befreit und zu guten Kronen-
sätzen gezwungen. Nach 5 bis 6 Jahren ist Schulentlassung, und der
Zögling wandert in die Welt hinaus.
Unter möglichster Schonung seines Wurzelgeflechts wird der junge
Bauni der Erde enthoben. Sein zukünftiger Standort ist ihm in ge-
fälliger Reihe mit anderen Fruchtbäumen zugewiesen und gestattet allseits
den Zutritt von Licht und Luft. Der Wurzelballen wird in einer geräumigen
Grube fest in fruchtbare Erde gesenkt. Eine Stütze gegen Sturm und
Wind bewahrt den Neuling vor Entwurzelung, Krümmung und Stammbruch.
Die hegende Hand entfernt unablässig die überflüssigen Triebe, stutzt auch
alljährlich die Zweige zurück, um Baum nebst Krone gedrungen zu ziehen.
6. Der Ertrag unserer Obstbäume würde weit bedeutender sein, wenn
nicht manche Gliedere Tier- und Pslanzengattungen Anspruch auf freie
Ausnutzung unserer Pflegebefohlenen zu haben glaubten. Diese über-
lieferten Rechte beziehen sich auf Blatt, Blüte, Frucht und Stamm. Der
Obstzüchter hat ein scharfes Auge auf diese Schädlinge. So haften oft
einige Blätter verloren am entblätterten Baum. Es schaukelt die Raupe
des Goldafters darin, die zeitig ihr Nest am Zweige festgesponnen hat,
geborgen vor Frost und Wetter, den kommenden Blättern so nah. Der
Wärter zerstört ihr Hoffen. — Das fast flügellose Weibchen des Frost-
spanners strebt im Herbste den Stamm hinan, um seine Eier, denen die
blattliebenden Raupen entschlüpfen, in die Nähe der Weideplätze zu bringen
Die Fürsorgliche wird mit Klebringen abgefangen. Auch Ringelspinuer
und Baumweißling sind diesen Schädlingen zuzurechnen. Der Apfel-
blütenstecher, ein kleiner Käfer, sucht in der Knospenzeit die Baumkrone
auf, bohrt mit seinem Rüssel die Blütenknospen bis an die Staubgefäße
durch, schiebt ein Ei hinein, und die bald erscheinende weiße, augenlose
Made frißt Staubgefäße und Stempel weg. Die inzwischen geöffnete
Blüte krankt, nimmt eine bräunliche Farbe an und stirbt ab. Die Larve schreitet
in der Entwicklung zum Käfer fort, der im nächsten Frühjahr den
winterlichen Erdschlupfwinkel verläßt, um wiederum am Apfelbaum empor-
zuklettern. Der vorsichtige Obstzüchter aber empfängt ihn mit Leimringen.
Die Raupe des Apfelwicklers gar hat mitten im saftigen Apfel ihre
Wohnung genommen. — Den Verheerungen der Blutläuse und einiger
Pilze, welch letztere an Früchten die Rostflecke, am wunden Baumstamme
Brand und Krebs erzeugen, begegnet man am besten durch sorgfältigste
234
Reinigung der angegriffenen Stellen. Wer den Feind kennt, seine Ge-
wohnheiten und Schwächen, vermag leicht zu siegen, und der Siegespreis
ist — eine Fülle der köstlichsten Früchte. Otto Platz.
161. Der Araber und sein Pferd.
1. Der Pascha zu Mardin bei Bagdad stand schon lange mit einem
arabischen Stamme wegen einer schönen Stute in Unterhandlung. Endlich
einigte man sich zu dem Preise von sechzig Beuteln, d. h. einer Summe
von fast sechstausend Mark. Zur verabredeten Stunde trifft der Häupt-
ling des Stammes mit seiner Stute im Hofe des Paschas ein. Dieser
versucht noch zu handeln, aber der Scheich erwidert stolz, daß er nicht
einen Para ablasse. Verdrießlich wirft der Türke die Summe hin, mit
der Äußerung, daß dreißigtausend Piaster ein unerhörter Preis für ein
Pferd seien. Der Araber blickt ihn schweigend an und bindet das Geld
ganz ruhig in seinen weißen Mantel; dann steigt er in den Hof hinab,
um Abschied von seinem Tiere zu nehmen. Er murmelt ihm einige
arabische Worte ins Ohr, streicht ihm über Stirn und Augen, untersucht
die Hufe und schreitet bedächtig und musternd rings um das aufmerksame
Tier. Plötzlich, ehe noch ein anderer es ahnt, schwingt er sich auf den
nackten Rücken des Pferdes, das nun augenblicklich zum Hofe hinaus«
schießt.
2. In der Regel stehen bei den Morgenländern die Pferde Tag und
Nacht angeschirrt, mit dem Sattel aus Filzdecken auf dem Rücken. Jeder
vornehme Mann hat wenigstens einen oder zwei Renner im Stalle bereit,
die der Reiter nur noch zu zäumen braucht. Die Araber der Wüste jedoch
reiten ganz ohne Zaum, indem der Halfterstrick genügt, um das Pferd
anzuhalten, und ein leiser Schlag mit der flachen Hand auf den Hals es
beliebig links oder rechts lenkt. So dauerte es nur wenige Augenblicke,
da faßen die Agas (Aufseher) des Paschas im Sattel und jagten dem
Flüchtlinge nach; der unbeschlagene Huf des arabischen Rosses hatte noch
nie ein Steinpflaster betreten; es mußte also mit Vorsicht den holprichten,
steilen Weg vom Schlosse hinuntereilen. Am Ausgange des Ortes hatten
denn auch die Agas den Scheich beinahe ereilt. Aber jetzt sind sie in der
Ebene, der Araber ist in seinem Elemente und jagt fort in gerader
Richtung, unermüdlich, unerreichbar; denn hier hemmen weder Gräben noch
Hecken, weder Flüsse noch Berge seinen Lauf. Einem geübten Jockei gleich,
der die Spitze des Wettrennens führt, kommt es dem Scheich darauf an,
nicht so schnell, sondern so langsam wie möglich zu reiten. Indem er sich
beständig nach seinen Verfolgern umblickt, hält er sich auf Schußweite
von ihnen entfernt. Dringen sie auf ihn ein, so beschleunigt er seine
Flucht; bleiben sie zurück, so hemmt er den Lauf seines Tieres; halten sie
an, so reitet er Schritt. In dieser Weise geht die Jagd fort, bis die
235
glühende Sonnenscheibe sich gegen Abend senkt. Da erst nimmt der
Scheich alle Kräfte seines Rosses in Anspruch; er lehnt sich vornüber,
stößt die Fersen in die Flanken des Tieres und schießt mit einem lauten
Geschrei davon. Der feste Rasen erdröhnt unter dem Stampfen der
kräftigen Hufe, und bald zeigt nur noch eine fern auswirbelnde Dampf- und
Staubwolke den Verfolgern die Richtung an, in welcher der Araber entrann.
3. Im Orient, wo die Sonne fast lotrecht unter den Horizont hinab-
sinkt, ist die Dämmerung äußerst kurz, und die Nacht verdeckte also bald
jede Spur des Beduinen. Die Türken, ohne Lebensmittel für sich, ohne
Wasser für ihre Pferde, waren wohl zwölf bis fünfzehn Stunden von
ihrer Heimat entfernt und in einer ihnen gänzlich unbekannten Gegend.
Was war zu tun, als umzukehren und dem erzürnten Herrn die unwill-
kommene Botschaft zu bringen, daß Roß und Reiter und Geld verloren
seien! Erst am dritten Abend trafen sie, halbtot vor Erschöpfung und
Hunger, mit Pferden, die sich kaum noch fortschleppten, in Mardin wieder
ein. Es blieb ihnen nur der traurige Trost, über dieses neue Beispiel
arabischer Treulosigkeit laut zu zürnen, wobei sie aber doch genötigt waren,
dem Pferde des Verräters alle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und
einzugestehen, daß ein solches Tier nicht zu teuer bezahlt worden war.
Am folgenden Morgen, als eben der Priester zum Frühgebete ruft,
hört der Pascha Hufschlag unter seinen Fenstern, und in den Hof reitet
ganz harmlos unser Scheich. „Herr," ruft er hinauf, „Herr, willst du
dein Geld oder mein Pferd?"
Helmut von Moltke.
162. Die Haustiere im Sprichwort.
ft Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul.
2. U)enn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis.
3. Man muß den Bock nicht zum Gärtner setzen.
Ein räudiges Echaf steckt die ganze Herde an.
5. Der geduldigen Echafe gehen viele in einen Stall.
6. Hunde, die viel bellen, beißen nicht.
7. Hüte dich vor den Aatzen, die vorne lecken und hinten kratzen.
163. Herbst.
1. Rot wird das Laub am wilden Wein,
die Luft geht schon so herbstlich kühl.
Das Eichhorn sagt: „Jetzt fahr' ich ein;
schon lose sitzt die Nuß am Stiel."
236
2. Dem Sperling geht's nicht schlecht, er speist
den ganzen Tag, bald hier, bald dort.
Er sagt: „Die Schwalb' ist schon verreist.
Gut, daß sie fort! Gut, daß sie fort!"
3. Im Garten um den Rosenstrauch,
da klingt ganz anders das Gered'!
Ein Blümchen spricht: „Merkt ihr's nicht auch?
es wird so trüb, so still und öd?
4. Das Bienchen flog doch sonst so flink
bei uns umher — wo ist es nun?
Weiß eines was vom Schmetterling?
Der hatt' sonst hier so viel zu tun."
5. Ein zweites sagt: „Eh' man's gedacht,
kommt schon die Nacht und weilt so lang.
Wie lieblich war doch einst die Nacht!
Nun ist sie gar unheimlich bang.
6. Wie muß man warten morgens früh,
bis daß die Sonn' guckt übern Zaun!
Ach, und ganz anders wärmte sie,
als sie noch gern uns mochte schaun!"
7. Ein drittes drauf: „Mir sinkt der Mut,
der Morgentau, der ist so kalt!"
Die Spinne sagt: „Es wird noch gut!
Ach, wenn's nur würd'! Und würd's doch bald!
8. Nur einmal noch so, wie es war,
nur ein paar sonn'ge Tage noch!
's wird nicht mehr viel — ich seh' es klar;
und leben, leben möcht' man doch!" Johannes Trojan.
104. Herbstlicher Laubfall.
Es ist schon recht herbstlich in unserm Garten. Viele Bäume
und Sträucher stehen kahl, andre sind mit bunten Blättern bedeckt, die
auch bald abfallen und die Menge des raschelnden Laubes unter
unserm Fuße vermehren werden. Die Aräuter und Stauden auf den
Beeten sind größtenteils verdorrt. „Der gerbst hat den armen pflanzen
ihren Blätter- und Blütenschmuck geraubt." Zst unser Bedauern aber
auch am Platze? Zst nicht vielleicht der Verlust des Laubes den
pflanzen nützlich? Mancherlei spricht dafür. Erinnert ihr euch eines
Frühjahrs, in dem noch starker Echneesall eintrat, als schon viele Bäume
belaubt waren, oder eines herbstes, wo der erste 5chnee die pflanzen
237
vor dem Laubfall überraschte? Wie traurig ging es ihnen da! Auf
den großen Blattspreiten blieb der feuchte Schnee in Menge liegen, die
pflanzen konnten sein Gewicht nicht tragen, große Stauden wurden zu
Boden gedrückt, Zweige und ganze Äste, oft sogar Bäume abge-
brochen. Aus den entblätterten Zweigen dagegen kann der Schnee
nicht haften. Opfert der Baum zur Zeit sein Laub, so schützt er
sich dadurch vor größeren Verlusten, die ihm der Winter mit Sicherheit
bringen würde.
2. Nicht alle pflanzen tun das. Zn wärmeren Ländern ist die
Menge der immergrünen Gewächse weit größer als bei uns, nicht etwa,
weil dort Schneebrüche zu den Seltenheiten gehören, sondern auch, weil die
gleichmäßigere Wärme günstigere Lebensbedingungen schafft. So behält
unser Flieder am Schwarzen Meere das ganze Jahr sein Laub. Gr
hat dort auch winterüber die Möglichkeit, sich zu ernähren. Dazu braucht
er aber seine Blätter. Denn mit diesen nehmen die Pflanzen einen
Teil ihrer Nahrung auf. Sie sind es auch, die den von den Wurzeln
aufgesogenen Saft so umwandeln, daß ihn die Pflanze brauchen kann.
— Bei uns machen die meisten Gewächse notgedrungen eine Ruhezeit
durch, in der sie keine Nahrung aufnehmen, also auch keine Blätter
brauchen.
3. Aber geben denn die pflanzen freiwillig ihr Laub her? Wird es
ihnen nicht vielmehr durch Frost und Stürme geraubt? Das können
wir untersuchen. Die Stielenden der abgefallnen Blätter sind glatt wie
abgeschnitten, nie losgerissen. Die der Kastanie ähneln kleinen Knochen.
Sie haben sich von den Zweigen losgelöst und am andern Ende auch
von den fünf bis sieben Blättchen, die fingerartig daran saßen. Die
Pflanze selbst hat das besorgt, indem sie allmählich, schon vor Eintritt
der kalten Jahreszeit, das Blatt lostrennte. An jetzt noch festsitzenden
sehen wir schnittartig die Loslösungsstelle vorgezeichnet als eine dünne,
durchsichtige Schicht, die so mürbe ist, daß schon ein leiser Druck den
Zerfall bewirkt.
Das abgeworfne Laub gewährt kleineren Gewächsen, abgefallnen
Samen und Früchten Schutz vor der Winterkälte und im nächsten
Frühjahre guten Dung. Bernhard Landsberg.
165. Sommersäden.
1. Die kleinen Spinnen haben den ganzen Sommer hindurch auf
der Wiese gewohnt. Sie haben viele von den schlimmen Mücken gefangen,
die Gesicht und Hände der Kinder zerstachen. Im Winter wird die
Wiese vom Flusse überschwemmt, und was von kleinem Getier nicht
im Wasser zu leben vermag, muß ertrinken.
238
Der kleinen Spinne ergeht s am Ende des Sommers gerade wie
den Zugvögeln; die Reiselust überkommt sie. Zu Fuß würde sie aber
nimmer weit kommen; schon am nächsten Wassergraben müßte sie
Halt machen. Die kleine Spinne weiß sich aber trefflich zu helfen.
Sie achtet auf Wetter und Wind wie ein erfahrener Schiffsführer. —
„Heute ist schöner Sonnenschein,“ meint sie, „heute ist günstiger
Wind, nicht zu schwach und nicht zu stark, jetzt kann die Reise angehen.“
2. Sie klettert flink hinauf auf den Erlenbusch und steigt bis
zum äußersten Ende eines Zweiges. Dort stellt sie sich auf den Kopf
und streckt den Leib mit den Spinnwarzen in die Höhe. Sie spinnt
einen langen Faden, läßt ihn im Winde dahin treiben, lang und immer
länger. Der Wind trägt den Faden und zieht gewaltig dran. Jetzt
kann ihn die Spinne nicht mehr halten; sie läßt mit den Füßen den
Zweig los und segelt mit dem Faden davon wie ein Luftschiffer in seinem
Ballon. Auf dem fliegenden Faden in der Luft spaziert sie hin und her
nach Belieben; — er ist ihr Schiffchen. Der Faden steigt höher und
fliegt weiter über die Wassergräben der Wiesen und über den Fluß,
über die Büsche und Bäume, über die Häuser der Stadt, ja selbst über
den Kirchturm. Die Kinder sehen das Luftschiffchen der Spinne ziehen
und rufen: „Sieh, sieh, welch langer Sommerfaden!“
3. Endlich ist es der Spinne weit genug. Sie will Halt machen.
Wie fängt sie es aber an, um mit ihrem Schiff hinab zur Erde zu
kommen? Auch hier weiß sie Rat, so klein sie ist. Sie faßt den
fliegenden weißen Faden mit den flinken Beinen und wickelt ihn all-
mählich zu einem Knäuel zusammen. Je mehr sie ihn einzieht und
aufwickelt, desto weniger vermag ihn der Wind zu tragen. Er sinkt
allmählich zu Boden.
Hier sucht sich die Spinne ein Plätzchen, an welchem sie ohne
Schaden Winterquartier nehmen kann. Findet sie keine passende Stelle,
so spinnt sie am nächsten hübschen Tage sich abermals ein lustiges
Luftschiff und reist wiederum weiter. Lenken und steuern kann sie
ihr Fahrzeug freilich nicht, es treibt mit dem Winde. Sie überläßt
es dem lieben Gott, der auch für die kleinste Spinne väterlich sorgt.
Allein ihrerseits muß sie auch ihre Schuldigkeit tun und hübsch
darauf achten, wohin der Wind weht. Hermann Wagner.
166. Die Spinne.
1. Nun seht mir doch das Spinn-
fein an,
wie zart's die Fäden zwirnen kann!
Du glaubst, du könnttst es auch so sein?
Gevatter, nein! Das läßt du sein! —
Es macht es so subtil und nett:
Schlimm wär's, wenn ich die Arbeit
hätt'!
239
2. Wo mag solch Flachs zu haben
sein?
Wer hechelt ihn so zart und fein?
Müßt' manche Frau, wo sie ihn kriegt,
sie holt' ihn sich und wär' vergnügt.
Nun schaut, wie es sein Füßlein setzt,
die Ärmel streift, die Finger netzt.
3. Jetzt zieht es lange Fäden aus,
spinnt eine Brück' zum Nachbarhaus,
baut eine Landstraß' in die Luft,
die hängt dann früh voll Morgenduft;
baut auch 'neu Fußweg nebendran,
damit es flink hinüber kann.
4. Es spinnt und wandelt auf
und ab,
potztausend! in Galopp und Trab,
jetzt in die Quer', jetzt wieder krumm,
sieh, einen Ring spannt es herum,
jetzt schießt es zarte Fäden ein;
das soll wohl ein Gewebe sein?
5. Da stutzt es, schau, jetzt hält es
still,
es weiß nicht recht, wohin es will,—
es läuft zurück, es scheint mir doch,
es hätt' da was vergessen noch;
nun hält es wieder ein im Lauf
und denkt: „Ei was! das hält mich
auf!"
6. Es spinnt und webt ohn' Ruh'
und Rast
so zierlich, man verguckt sich fast.
Des Pfarrers Paul hat gar gesagt:
solch Faden sei aus zwei'n gemacht.
Der hat kuriose Augen wohl,
der's zählen und erkennen soll.
7. Jetzt putzt es seine Händchen ab,
es steht und reißt den Faden ab.
Jetzt sitzt es da im Sommerhaus
und schaut die lange Straß' hinaus.
Es sagt: „Man quält sich früh und spät
und freut sich doch, wenn 's Häuschen
steht."
8. In freien Lüften wogt's und
schwankt's,
und an der lieben Sonne hangt's;
sie scheint ihm grad durchs Beinchen her,
das tut ihm wohl! Im Feld umher
sieht's Mücken tanzen, jung und fett;
da denkt es: „Ja, wenn ich die hätt'!"
9. Du Tierchen hast mich ganz ver-
zückt,
wie bist so klein und so geschickt!
Wer hat dich nur das Ding gelehrt?
Ich denk? „Er, der uns alle lehrt,
der jedem gibt, was ihm gebricht,
vertrau ihm, er vergißt dich nicht."
10. Da kommt 'ne Fliege, nein, wie
dumm!
Sie rennt ihm fast sein Häusel um.
Die winselt jetzt und macht Geschrei,
du armer Schelm, es ist vorbei!
Hast denn kein Aug' am Kopfe dran?
Was gehn dich unsre Sachen an?
11. Sieh, 's Spinnchen hat schon auf-
gepaßt,
es zuckt, ■— da hat es sie gefaßt,
es denkt: „Wer so sich plagt den Tag,
verdient auch Braten dann hernach."
Ich sag's ja: wenn dir was gebricht,
der alle nährt, vergißt dich nicht.
Reinick nach Johann Peter Hebel.
240
167. November.
1. Solchen Monat muß man loben:
keiner kann wie dieser toben,
keiner so verdrießlich sein
und so ohne Sonnenschein!
Keiner so in Wolken maulen,
keiner so mit Sturmwind graulen!
Und wie naß er alles macht!
Ja, es ist 'ne wahre Pracht!
2. Seht das schöne Schlackerwetter!
Und die armen welken Blätter,
wie sie tanzen in dem Wind
und so ganz verloren sind!
Wie der Sturm sie jagt und zwirbelt
und sie durcheinander wirbelt
und sie hetzt ohn' Unterlaß:
Ja, das ist Novemberspaß.
3. Und die Scheiben, wie sie rinnen!
Und die Wolken, wie sie spinnen
ihren feuchten Himmelstau
ur und ewig, trüb' und grau!
Auf dem Dach die Regentropfen:
wie sie pochen, wie sie klopfen!
Und an jeder Traufe hängt
Trän' an Träne dicht gedrängt.
4. O wie ist der Mann zu loben,
der solch unvernünft'ges Tobeu
schon im voraus hat bedacht
und die Häuser hohl gemacht!
So daß wir im Trocknen hausen
und mit stillvergnügtem Grausen
und in wohlgeborgner Ruh'
solchem Greuel schauen zu!
Heinrich Seidel.
168. Aus der Dachrinne.
Erster Spatz: Wie geht’s?
Zweiter Spatz: Sagtest du etwas? Ich verstand nicht.
Erster Spatz: Der Wind bläst hier so furchtbar.
Zweiter Spatz: Komm hierher! Hier ist es geschützter.
241
Erster Spatz: Ja, hier ist’s besser. Was machst du?
Zweiter Spatz: Es geht mir gut. Und dir?
Erster Spatz: Ach, das AVetter ist ja so schrecklich? Und dabei
die Sorge um die Nahrung! — Wenn man jetzt ein reicher Mann wäre!
Zweiter Spatz: Was hätte man viel davon?
Erster Spatz: Man säße warm und hätte keine Sorgen. —
Und dann die Annehmlichkeiten! Man ginge mitunter ins Schauspiel.
Man bäte sich Freunde, wär’ lustig mit ihnen, und wenn sie gehn
wollten, sagte man: O, bleibt doch, bleibt doch! Es ist ja noch früh,
und es ist ja noch mehr da. Frau, wo hast du den Kellerschlüssel?
Ich will selbst gehn und ein paar von den Gelbgesiegelten herauf-
holen. So sagte man. — Dann täte man was für die Wissenschaft,
unterstützte Künstler und ließe auch den Stiftungen was zufließen.
Zweiter Spatz: O geh doch! Sieh doch, was Reichtum aus
den Leuten macht! Einige werden Schmalhänse und Geizkragen,
die sind zu bedauern; denn sie betrügen niemand mehr als sich selbst.
Andre werden hochmütig und aufgeblasen; die muß man auslachen,
denn unter allen Toren sind sie die albernsten. Manche ergeben
sich auch dem Wohlleben. Die haben etwas davon, aber nicht lange;
denn bald kommt Schwäche im Kopf und Schmerz im Rücken, und
alle Glieder fangen an, auseinander zu gehn, wie die Latten an einer
alten Laube. Oder sie verschwenden, werden wieder arm und fühlen
das doppelt schwer, weil sie verlernt haben, an Arbeit und Salz-
kartoffeln Geschmack zu finden.
Erster Spatz: Es gibt doch auch Verständige unter den Reichen.
Zweiter Spatz: AVenige, Bruder! Besonders wenige unter denen,
die früher arm gewesen sind. So gute Vorsätze sie auch hatten,—
sobald das Geld anfängt ihnen zuzufließen, wird es ihnen zum Zweck.
Das macht sie schlecht oder doch unglücklich.
Erster Spatz: Du bist mir auch der Rechte! Du schimpfst
auf die Bratwurst, weil du sie nicht bekommst. Ich möchte wohl,
daß der Himmel dich auf die Probe stellte.
Zweiter Spatz: Er mag es tun, wenn er will. Bis dahin dank’
ich ihm für die Armut; denn sie wetzt den Verstand, macht die Glied-
maßen rüstig und hilft sehr zur Gerechtigkeit und zum Ehrlichsein.
Erster Spatz: Das ist richtig! — Aber, was ich sagen wollte,
ich weiß nicht weit von hier einen Kornboden und weiß auch, wie
'man unbemerkt hineinkommt. — AYie wär’s?
Zweiter Spatz: O Bruder, das ist ja köstlich! Mir hüpft das
Herz vor Lust wie ein Lämmerschwänzchen. Schnell wollen wir
hinfliegen, eh’ uns andere zuvorkommen.
Erster Spatz: Komme mit! Johannes Trojan.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch sür Mittelschulen. IV. 16
242
169. Das Schlafen der Blumen im Winterstübchen.
1. Wie oft haben uns unsere lieben Obstbäume durch ihre Blütenpracht
und durch ihre lachenden, köstlichen Früchte, die sie uns freigebig in den
Schoß werfen, erfreut und entzückt! Verdienen sie es nicht, daß wir sie
auch einmal im frostigen Winter betrachten? Die kahlen Gestalten sind
keineswegs verlassen und freudlos. Ein Heer von lebensfreudigen Knospen
bedeckt die Kronen, und eine jede davon ist das traulichste Stübchen, das
wir uns denken können, das warm gepolstert, zart tapeziert, mit vielen
Zwischenwänden versehen, trotz seiner Enge so viele Dinge enthält, daß
wir darüber staunen müssen. Darin schläft tausendfaches Leben, von der
Mutterhand der gütigen Natur zärtlich verwahrt, und träumt süß von
einem kommenden Frühling. Fahren die eisigen Winde durch die Zweige,
so wiegen sie nur die Bettchen Tausender von schlafenden Pflanzenkindern,
die sich durch des Winters Macht nicht irre machen lassen; sie wissen, ein
Lenztag bricht doch endlich an, der ihnen ihre Wünsche erfüllt.
2. Wir wollen eine solche Blütenknospe näher kennen lernen und brechen
deshalb im schneebedeckten Garten eine vom Apfelbaum. Um einen Blick
in ihr Inneres zu tun, schneiden wir sie der Länge nach durch. In ihr
sind schon Blätter und Blüten deutlich erkennbar, ja sogar alle Teile der
Blüten sind im Keime vorhanden. Es ist nicht schwer, daran nicht nur
Staubgefäße und Griffel, Kelche und Blütenblütter, sondern sogar den
Sitz der Honiggefüße, au denen sich kommende Bienengeschlechter ergötzen
werden, zu erkennen. Die Blüte, die wir hier schlummern sehen, wurde
in ihren Uranfängen schon gebildet, als der Sommerbaum noch voll
werdender Äpfelchen hing. Während die Wurzeln zu ihnen hinauf den
Nahrungssaft beförderten, der durch fleißige Arbeit der Blätter ihuen
mundgerecht gemacht wurde, ging schon ein Teil von ihm in zahllose kleine
Knospen, uin das kommende Geschlecht ins Leben zu rufen, und im Herbst
kann der gute Apfelbaum mit Recht auf zwei Geschlechter blicken, die er
jetzt als Stammbaum auf sich trägt, die reifen Äpfel und die in den
Fruchtknofpen schlummernden Blütchen. Sorgfältig ist jede Knospe durch
Schuppen gegen die Kälte geschützt. Die Decken sind von derber, leder-
artiger Beschaffenheit, aus sehr dickwandigen Zellen aufgebaut und scheiden
auf ihrer Oberfläche ein balsamähnliches Harz aus, das sie vor jeder
Durchnüsfung schützt.
3. Noch wehen draußen vom bleiernen Himmel die Flocken wirbelnd
nieder, und Tausende von Tieren, Pflanzen und Keimen liegen noch im
Schlaf. Aber bald wird ein lauer West sich erheben; er bricht des Winters
Leiden und Gewalt und läßt .seine Posaunen als Weckruf der schlafenden
Natur erschallen. Dann springen Milliarden der aufgerüttelten Knospen-
türen an Bäumen und Sträuchern ans. Blättchen recken sich hervor
243
gegen den heiteren Frühlingshimmel, und in alle geheimen Winkel unseres
Gärtchens dringt mit den belebenden Sonnenstrahlen Freude und Glück-
seligkeit.
Heinrich Freiherr Schilling v Canstatt.
17V. Der Winterschlaf der Tiere.
1. Der Winterschlaf der Tiere scheint hauptsächlich zwei Ursachen
zu haben, die zusammenwirken können, aber durchaus nicht immer
müssen. Die eine ist die herabgesetzte Luftwärme und die zweite der
durch diese veranlaßte Mangel an Nahrung. Die Kälte vernichtet die
einjährigen Pflanzen und versenkt die meisten ausdauernden auch in
einen Winterschlaf. So muß eine winterliche Pause im großen Stoff-
wechsel der Natur eintreten: der Mehrzahl der Pflanzenfresser ist mit
der verschwundenen oder schlafenden Pflanzenwelt ihr Brot genommen;
sie ist damit selbst zur Ruhe gezwungen. Und diese Ruhe der Pflanzen-
fresser, der sie meist in sicheren Verstecken pflegen, nötigt wieder eine
Reihe von Fleischfressern, einige Zeit von der Bühne des öffentlichen
Lebens abzutreten, — aber bei weitem nicht alle. Sämtliche Vögel,
die Sämereien und lebende oder tote tierische Kost genießen, soweit bei
ihnen der Winterschlaf nicht durch Wegwandern ersetzt wird, sowie ein
Teil der Säugetiere überwintern in einem schlafähnlichen Zustand. Und
ich behaupte, daß kein Säugetier durch die Kälte unmittelbar zum
Winterschlaf veranlaßt wird, sondern nur durch den Nahrungsmangel.
Die Fledermäuse, die ausschließlich dem Fang fliegender Insekten an-
gepaßt sind, halten sämtlich in kälteren und gemäßigten Gegenden einen
Winterschlaf, während die teilweise kleineren Spitzmäuse, die auf dem
Erdboden und gelegentlich auch in ihm jagen, trotz ihrer Gefräßigkeit
genügende Nahrung zu finden wissen, um munter zu bleiben. Auch der
Maulwurf ist kein Winterschläfer; aber da beim Eintritt der kälteren
Jahreszeit seine Beutetiere sich tief unter die Erde zurückziehen, so folgt
er ihnen dorthin. Merkwürdig jedoch ist es, daß der Igel, unser ansehn-
lichster Insektenfresser, der noch dazu eine viel reichhaltigere Speisekarte
hat als die bloß fleischfressenden Spitzmäuse, den größten Teil des
Winters im Schlaf verbringt.
Ähnliche Unterschiede finden wir unter den Nagetieren: der Ziesel,
die Bilchmaus und das Murmeltier sind Winterschläfer von reinstem
Wasser; der Hamster schlummert nur an den kältesten Tagen, an denen
selbst die Eichhörnchen sich in ihre eigenen Nester oder in die leer-
stehenden von Krähen und Raubvögeln zurückziehen. Die kleineren
Mäuse indessen sind immer auf dem Platze. Die Eichhörnchen finden,
wenn kein Schnee liegt, doch noch genug; sie sind außerdem auf den
schlauen Gedanken verfallen, in den Tagen des Wohllebens für die Zeit
16*
244
der Not zu sparen, und legen sich an geeigneten Orten Vorratsräume an.
In noch viel großartigerem Maßstabe tut dies bekanntlich der Hamster,
jener griesgrämige Einsiedler, der sich seine Häuslichkeit für den Winter
sehr behaglich einzurichten versteht: seine fünf Fuß tief in die Erde
gegrabene Wohnkammer polstert er mit dürrem Grase aus und ver-
schließt die Zugangslöcher, nachdem er seine Speisekammern mit aller-
lei Getreidekörnern und Hülsenfrüchten wohl versah, — so wohl, daß
man schon gegen einen Zentner Vorrat aus der Behausung eines ein-
zigen Hamsters zum Vorschein gebracht hat. Er hat also genug zu beißen,
und wenn er auch den ganzen Winter nichts tut als fressen und schlafen,
so ist er doch durchaus nicht schlafsüchtig. Die Mäuse aber, auch die
Arten, die sich nicht an den Menschen angeschlossen haben, sind keine
Kostverächter, fressen, was genießbar ist, aus dem Pflanzen- und Tier-
reiche mit großer Unparteilichkeit, sind dabei meist klein, und wenn sie
auch eine verhältnismäßig nicht schlechte Klinge schlagen, so finden sie
doch für ihre bescheidenen Verhältnisse auch im Winter, selbst unter
dem Schnee, genügende Nahrung.
Aus dem schwankenden Verhalten, mit dem der Winterschlaf bei
den Säugetieren auftritt, und der Tatsache, daß er diejenigen, die sich
während der kalten Jahreszeit zu erhalten vermögen, auch wenn sie
klein sind, nicht befällt, wohl aber oft größere, die gegen die Kälte
eigentlich widerstandsfähiger sein sollten, — daraus ergibt sich mit
sehr großer Wahrscheinlichkeit, ja fast mit unbedingter Sicherheit, daß
die Kälte unmittelbar nicht von wesentlichem Einflüsse auf den Winter-
schlaf der Tiere ist.
2. Nach meiner Meinung liegt die Sache tiefer. Der Winterschlaf
kann nichts anderes sein als eine Anpassungserscheinung; er ist nicht
plötzlich und auf einmal fix und fertig in die Welt getreten, er hat wie
jedes Ding seine Geschichte. Und die denke ich mir etwa so: vor langer,
langer Zeit — es ist ganz müßig, dieselbe in Jahren ausdrücken zu
wollen —, gegen Ende der Tertiärzeit etwa, änderten sich, gleichgültig
durch welche Ursachen, die Witterungsverhältnisse auf Erden. Es wurde
kälter und kälter an den Polen, und sehr langsam, aber stetig eroberte
sich die Kälte äquatorwärts neuen Boden, — aber in einem periodischen
Wechsel von Vordringen und Zurückweichen, je nach dem Stand der
Sonne zur Erde. Mit jedem Male indessen drang die Kälte etwas
weiter und früher vor und wich etwas weniger weit und spät zurück;
der Winter wuchs unmerklich während vieler Jahrtausende, er dehnte
sich weiter nach dem Äquator hin aus, und er dauerte länger. Sehr
allmählich muß dieser Prozeß vor sich gegangen sein, so allmählich,
daß die Ahnen unserer winterschlasenden Säugetiere in ihrer Körper-
beschaffenheit eine so große Umwälzung durchmachten, daß diese ihr
245
zufolge Monate ohne Nahrung, fast ohne Stoffwechsel überhaupt zu-
bringen können. Welch lange Zeit gehört wohl dazu, eine Fledermaus,
ein fliegendes Tier mit höchster Lebenskraft, dahin zu bringen, daß sie
aus einem gleichwarmen Tier für längere Zeit ein wechselwarmes wird,
daß die Zahl ihrer Pulsschläge von 200 in der Minute bei der wachen-
den auf 50 bei der in Schlafzustande befindlichen herabsinkt, daß der
Blutumlauf in den Haargefäßen der Körperoberflüche aufhört, daß das
Atmen beim tiefsten Winterschlaf fast gänzlich eingestellt wird, so daß
sie ohne Schaden längere Zeit in unatembaren Gasarten gehalten
werden kann! Es ist dieselbe Geschichte wie mit Milo, dem Athleten
von Kroton, der ein Kalb von dessen Geburt an täglich einige Zeit
trug, bis es eines Tages ein Stier geworden war!
Viele Geschlechter von Fledermäusen hatten, als hierzulande wäh-
rend des Winters eine Luftwärme herrschte wie heutigestags in Süd-
italien, nicht nötig, lange und tief zu schlafen; nur selten und nur
wenige Tage hintereinander wurde ihnen die Nahrungsquelle abge-
schnitten; aber von Geschlecht zu Geschlecht wurden solche Tage häufiger
und folgten dichter aufeinander, — und von Geschlecht zu Geschlecht
allmählich, ganz allmählich änderten sich bei unseren Tieren die physio-
logischen und teilweise die anatomischen Verhältnisse. Durch lang-
währende Vererbung wurde der Winterschlaf ein Teil ihres Seins, und
der Schlaftrieb überfällt sie, wenn seine Zeit kommt, auch im warmen
Zimmer, wie den Zugvogel im Käfig der Wandertrieb.
Wenn wir die Reihe unserer winterschlafenden Säugetiere mustern,
finden wir Anpassungen des Schlafzustandes in verschiedenem Grade
vom Murmeltier bis zum Dachs: jenes schläft sehr tief und lange,
dieser verläßt gelegentlich seinen Bau und schläft höchstens einige Wochen
ohne Unterbrechung. Auch der Bär ist in Sachen des Winterschlafes
nur eiu Dilettant; er kommt nicht selten aus seinem Versteck hervor,
frißt zwar sehr wenig, säuft aber öfter, und das Wunderbarste ist, daß
die Bärenmutter während des Winters, die Dachsin im Februar sogar
Junge bekommt. Wenn Murmeltiere, Ziesel, Igel und Fledermäuse
unter den Winterschläfern das sind, was unter den Wandervögeln die
echten Zugvögel, dann können wir den Dachs und den Bären mit den
Strichvögeln vergleichen.
William Marshall.
171. Für arme Vögel.
1. Vögel sind des Himmels Gäste
als die Jünger freier Kunst,
und für sie das Allerbeste
auf der Welt ist seine Gunst.
246
2. Daß er hold sich ihnen zeige,
wohl daraus vertraun sie fest,
wenn auf einem schwanken Zweige
sie erbaun ihr leichtes Nest.
3. Und sie freun sich ihrer Schwingen,
laben sich am goldnen Licht,
doch bei all der Lust am Singen
denken sie ans Sammeln nicht.
4. Um die schöne Zeit der Blüten
finden sie ihr reichlich Brot,
doch wenn rauhe Stürme wüten,
leiden viele Vöglein Not.
5. Muß man's noch den Menschen sagen,
daß sie Körner denen streun,
die dafür in bessern Tagen
sie durch ihre Kunst erfreun? Johannes Trojan.
172. Als ich das erstemal auf dem Dampfwagen fast. (Gekürzt.)
1. Als ich schon hübsch zu Fuße war, wollte mich mein Pate einmal
mitnehmen nach der Wallfahrtskirche Mariaschutz am Semmering. „Meinet-
wegen," sagte mein Vater, „da kann der Bub' gleich die neue Eisenbahn
sehen, die sie jetzt über den Semmering gebaut haben. Das Loch durch
den Berg soll schon fertig sein." „Behüt uns der Herr, daß wir das
Teufelszeug anschaun!" rief mein Pate, der sehr abergläubig war; „'s
ist alles Blendwerk, 's ist alles nicht wahr." „Kann auch sein," sagte
mein Vater und ging davon.
2. Ich und der Pate machten uns auf den Weg. Wir gingen über
das Stuhleckgebirge, um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kommen, in
welchem nach der Leute Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als
wir aber auf dem hohen Berge standen und ins Tal hinabschauten, sahen
wir eine scharfe Linie entlang einen braunen Wurm kriechen und darüber
ein Rauchwölklein schweben. „Jesus Maria," schrie mein Pate, „das ist
schon so was! Spring, Bub'!" Und wir liefen die entgegengesetzte Seite
des Berges hinunter. Gegen Abend kamen wir in die Niederung; doch
entweder der Pate war hier nicht wegkundig, oder es hatte ihn die Neu-
gierde, die ihm zuweilen arg zusetzte, überlistet — anstatt in Mariaschutz
zu sein, standen wir vor einem ungeheuren Schutthaufen, und hinter ihm
war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so
groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß und
Geschick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten
247
daher und schnurgerade in den Berg hinein. Mein Pate stand tange
schweigend da und schüttelte den Kopf. Endlich murmelte er: „Jetzt stehen
wir da. Das wird die neumodische Landstraße sein. Aber erlogen ist's,
daß sie da hineinfahren!" Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loche.
Weiter hin gegen Spital in der Abendsonne stand an der eisernen Straße
ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser bau-
melten zwei blutrote Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange, und eine
der Kugeln ging wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken
baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken.
Doch standen wir wie festgewurzelt. „Pate," sagte ich leise, „hört Ihr nicht
so ein Brummen in der Erde?" „Ja, freilich, Bub'," entgegnete er, „es
donnert was; es ist ein Erdbeben!" Da tat es schon ein kläglich Stöhnen.
Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien
anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem
Schnauben und Pusten und stieß aus dem hochgehobenen Rachen ge-
waltigen Dampf aus und hinterher. — Jetzt rief mein Pate: „Da hängen
ja ganze Häuser dran!" Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten,
an die Lokomotive feien ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die
Reifenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit
vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschen-
köpfe heraus, und schrecklich schnell ging's, und ein solches Brausen war,
daß einem der Verstand stillstand. „Das bringt kein Herrgott mehr zum
Stehen!" fiel's mir noch ein. Da hob der Pate die beiden Hände empor
und rief mit verzweifelter Stimme: „Jesus Maria, jetzt fahren sie richtig
ins Loch!" Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in
der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen; nur ein
Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden.
Bloß der Boden dröhnte, und aus dem Loche stieg still und träge der
Rauch. Mein Pate wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht
und starrte in den Tunnel. Dann sah er mich an und fragte: „Hast du's
auch gesehen, Bub'?" „Ich hab's auch gesehen." „Nachher kann's kein
Blendwerk gewesen sein," murmelte der Jochem.
'3. Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan und sahen aus
mehreren Schachten Rauch emporsteigen. Tief unter unsern Füßen im
Berge ging der Dampfwagen. „Die übermütigen Leute sind selbst ins
Grab gesprungen," sagte mein Pate und meinte die Eisenbahnreisenden.
Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still. Die großen
Stallungen waren leer; die Tische in den Gastzimmern, die Pferdetröge
an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst der stolze Beherrscher
dieser Straße, lud uns höflich zu einem Imbiß ein. „Mir ist aller Appetit
vergangen," antwortete mein Pate; „gescheite Leut' essen nicht viel, und
ich bin heut' um ein Stücket gescheiter worden " Als wir nach Maria-
248
schütz kamen, war es schon dunkel. Wir gingen in die Kirche, wo das
rote Lämpchen brannte, und beteten. Dann genossen wir beim Wirt ein
kleines Nachtmahl und gingen auf den Heuboden, um zu schlafen. Wir
lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke kein
Auge schließen, vermutete jedoch, daß der Pate bereits süß schlummere.
Da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte: „Schläfst schon, Bub'?"
„Nein," antwortete ich. „Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah da-
bei sind, probieren wir's?" Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine
Antwort. „Was kann uns geschehen?" fuhr er fort. „Wenn's die andern
tun, warum wir nicht auch? Ich lass' mich's was kosten." „Er schwätzt
im Traum," dachte ich bei mir selber und horchte mit Fleiß. „Da werden
sie einmal schauen," fuhr er fort, „wenn wir heimkommen und sagen, daß
wir auf dem Dampfwagen gefahren sind."
4. Als wir am andern Tage heimwärts lenkten, da meinte der Pate
nur, er wolle den Semmering-Bahnhof sehen, und wir lenkten unsern Weg
dahin. Hier sahen wir das Loch auf der andern Seite, war auch kohlfinster.
Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Pate unterhandelte mit dem
Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich hinter dem Berg,
wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen. „Gleich hinter dem
Berg hält der Zug nicht," sagte der Bahnbeamte lachend. „Aber wenn
wir absteigen wollen?" meinte Jochem. „Ihr müßt bis Spital fahren.
Ist für zwei Personen 32 Kreuzer." Mein Pate meinte, er lasse sich's
was kosten; aber so viel wie die hohen Herrn könne er armer Schlucker
nicht geben; zudem sei an uns beiden ja kein Gewicht da. Es half nichts;
der Beamte ließ nicht handeln. Der Pate zahlte; ich mußte zwei „gute"
Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel
der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewaltige
Ding wolle nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte — da stand
es still. Wie ein Huhn, dem man das Hirn aus dem Kopfe geschnitten,
so stand mein Pate da, und so stand ich da. Wir wären nicht zum Ein-
steigen gekommen; da schubste der Schaffner den Paten in einen Wagen
und mich nach. In demselben Augenblick wurde der Zug abgeläutet, und
ich hörte noch, wie der hereinstolpernde Pate murmelte: „Das ist weine
Totenglocke." Jetzt sahen wir's aber; im Wagen waren Bänke, schier wie
in einer Kirche, und als wir zum Fenster hinausschauten, schrie mein
Pate: „Jesus Maria, da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!" Jetzt
wurde es finster, und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden
Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und
toste es, als wären wir von gewaltigen Wasserfällen umgeben, und ein
ums andere Mal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten nnter der Erde.
Der Pate hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: „In
Gottes Namen. Jetzt geb' ich mich in alles drein. Warum bin ich der
249
dreidoppelte Narr gewesen?" Zehn Vaterunser lang mochten wir so be-
graben gewesen sein, da lichtete es sich wieder. Draußen flog die Mauer,
flogen die Telegraphenstangen und die Bäume, und wir fuhren im grünen
Tale. Mein Pate stieß mich in die Seite: „Du, Bub'! Das ist gar
seltsam gewesen, aber jetzt hebt's mir an zu gefallen. Richtig wahr, der
Dampfwagen ist was Schönes! Da ist ja schon das Spitalerdorf! Und
wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld
noch nicht abgesessen. Ich denk', Bub', wir bleiben noch sitzen." Mir war's
recht. Ich blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug
werden. Und mein Pate rief: „Na Bub', die Leut' sind gescheit! Und
daheim werden sie Augen machen! Hätt' ich das Geld dazu, ich ließe mich,
wie ich jetzt sitze, auf unsern Berg hinauffahren." „Mürzzuschlag!" rief
der Schaffner. Der Wagen stand; wir schwindelten zur Tür hinaus. Der
Türsteher nahm uns die Papierschnitzel ab, die wir beim Einsteigen be-
kommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. „He, Vetter!" rief er,
„diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt's nachzahlen, und zwar
das Doppelte für zwei Personen; macht einen Gulden sechs Kreuzer!" Ich
starrte meinen Paten an, mein Pate mich. „Bnb'," sagte dieser endlich
mit umflorter Stimme, „hast du Geld bei dir?" „Ich hab' kein Geld
bei mir," schluchzte ich. „Ich hab' auch keins mehr," murmelte der
Jochem. Wir wurden in eine Kanzlei geschoben; dort mußten wir unsere
Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, ein hart Rindlein Brot, eine
rußige Tabakspfeife, etwas Schwamm und Feuerstein und der lederne
Geldbeutel endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messing-
Amulettchen, das der Pate stets mit sich trug im festen Glauben, daß sein
Geld nicht ganz ausgehe, solange er das geweihte Ding im Sacke habe.
Es hatte sich auch bewährt bis auf diesen Tag, und jetzt war's auf einmal
aus mit seiner Kraft. Wir durften unsere Habseligkeilen zwar wieder
einstecken, wurden aber stundenlang auf dem Bahnhöfe zurückbehalten und
mußten mehrere Verhöre bestehen. Endlich, als schon der Tag zur Neige
gmg, da nach so rascher Fahrt wir leicht schon hätten zu Hause sein
können, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in
stockfinsterer Nacht zurückzulegen. Als wir durch den Ausgang des Bahn-
hofes schlichen, murmelte mein Pate: „Beim Dampfwagen da — 's ist
doch der Teufel dabei!" Peter Rosegger.
173. Die Geschichte von der Wunderlampe.
1. Bei den Bauern oben in den Bergen wurden wir für die langen
Winterabende zumeist mit Spanlicht bedient. Das war ein ehrliches,
gesundes Licht, das sich gegen ein landläufiges Kerzenlichtlein ausnahm
wie eine rotwangige Baiterndirne gegen ein blasses Stadtfräulein. Wenn
250
Wir aber bei solchen Unschlittschwänzlein, wovon 'zwölf auf ein Pfund
gingen, den ganzen, langen Abend nadeln sollten, da sagte mein guter
Meister manchmal: „Hausfrau, wie dein Licht da, ist mir das ewige
Lümplein in der Kirche lieber." Antwortete die Hausfrau: „Meine
Gießform ist nicht größer;" denn sie goß die Kerzen selber. „Den
Docht nimm größer!" riet der Meister. Aber da ging ihr zuviel Unschlitt
drauf, weil es schneller verzehrte. Beim Kaufmann jedoch brannten
wir Achter oder Sechser, das heißt solche Kerzen, wovon acht oder sechs
ein Pfund ausmachten. Die gaben freilich einen sürnehmen Schein,
wenn sie ordentlich geschneuzt wurden. Trotzdem besorgten wir alle
feineren Arbeiten beim lieben Tagesschein.
2. Einmal nun im Advent, als wir beim Kaufmann arbeiteten und
dieser spät abends aus der Stadt heimkehrte und uns um das matte
Kerzenlicht kauern und lugen sah, klopfte er den Schnee von den Schuhen,
blinzelte uns an und sagte: „Na, Schneider, heut' hab' ich was heim-
gebracht für euch." Und als die neuen Waren ausgepackt wurden, da
kam eine stattliche Öllampe zum Vorschein und ein langes Rohr aus
Glas dazu und ein grüner Papierschirm unö ein Zwilchstreisen und ein
feuchtes Fäßlein. „Was du alles für Sachen hast!" sagte der Meister.
„Das alles miteinander," berichtete der Kaufmann, „gehört zum neuen
Licht, das aus Amerika gekommen ist. Es brennt so hell wie der Tag;
wirst es schon sehen." Er begann die Lampe aus dem Fäßlein zu füllen
und den Zwilchstreifen durch das wie eitel Gold glänzende Ding mit der
eichelförmigen, geschlitzten Kapsel zu ziehen. Dann setzte er die Bestand-
teile zusammen, zündete das hervorstehende Ende des Dochtstreifens an,
stülpte das bauchige Glas auf, daß wir meinten, so eng ums Feuer müsse
es zerspringen — und nun sollten wir einmal sehen. Aber es war ein
trübes Licht, das mit seinem schwarzen, stinkenden Rauch allsogleich das
Glasrohr schwärzte. Der Mann drehte an dem feinen Schräublein den
Docht weiter auf, da rauchte es noch mehr; er drehte ihn tiefer nieder,
da wurde es finster. Und als wir toll zu lachen begannen, knurrte er
während seiner fieberhaft hastigen Versuche: „Na, dieser Lampenhändler
hat mich sauber angeschmiert. Aber ich hab's ja gesehen in der Stadt,
wie das Zeug wunderschön brennt." „Versuchen wir's einmal," meinte
mein Meister, „und tun das Glasröhrlein weg," riß seine Finger aber
sogleich mit einem Hellen Aufschrei davon. Als nun das Glas mit einem
Lappen entfernt war, brannte die Flamme noch trüber, und das Kerzen-
licht daneben zuckte nicht ohne Schadenfreude hin und her. Nachdem
wir mit der neuen Lampe noch allerlei versucht hatten und die Stube
endlich voll Rauch und Gestank geworden war, schalt der Hausherr
dieser höllischen Flamme ein Schimpfwort zu und blies sie aus. Die
Kerze brannte mit stiller Würde fort, und der Meister sagte: „Ja, ja,
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die Ganzgescheiten heutzutag'! Bisweilen schmiert man sie halt doch an.
Die alten Leut' sind auch keine Esel gewesen."
„Was ist denn das für ein Öl, das Petroleum?" fragte jetzt der
Geselle. „Das soll aus der Erde Herausrinnen," erklärte der Kaufmann.
„Ja so," rief der Geselle; „dann wird's freilich das Helle Wasser sein."
„Sei mir still!" sagte der Kaufmann und stellte die so vornehme und
doch so untaugliche Lampe in den Winkel.
3. Nun vergingen zwei Tage. Da kam ein Feiertag, und der Meister
und der Hausherr gingen frühmorgens in die Kirche. Ich saß allein
bei der Kerze und schneiderte. Nur eine Viehmagd war im Hause, die
vorhin die Kühe gemolken hatte und sich nun an meinen Tisch setzte, um
an ihr Christtagskleid ein seidenes Schleiflein zu nähen. Da wollten
wir's noch einmal mit der neuen Lampe versuchen. Wir zündeten sie an
und stülpten das Glas darüber. Aber es war dasselbe trübe, rußige
Licht wie das erstemal. Ich drehte sie höher und tiefer und zuletzt
so tief, daß der Docht ganz in die eichelsörmige Hülse zurückging. Und
jetzt ward's hell. Aus dem Spalt strahlte 'eine breite, blendend weiße,
rauchlose Flamme hervor. Wir erschraken vor dem hellen Schein, der
auf Tisch und Wand und unsern Gesichtern lag. So sind wir dem
Geheimnis der Wunderlampe auf die Spur gekommen, und als die
beiden Alten aus der Kirche zurückkehrten und in der Stube die lichte
Herrlichkeit sahen, rief der Hausherr freudig aus: „Da haben wir's ja!
Wer hat's denn zuweg' gebracht?"
Noch einmal ist die Kerze neben der neuen Lampe angezündet
worden. Ach, wie armselig war ihr Licht! „Schäm dich!" rief der
Meister und blies sie undankbar aus. Ich aber wüßte keine Neuerung,
die beim Landvolke so rasch Eingang gefunden hat als vor vierzig
Jahren die Petroleumlampe. Peter Rosegger.
IV. Aus Vaterland und Ferne.
174. Deiche und Fluten.
1. Wer die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Deiche ganz begreifen
wich muß einmal eine gewaltige Sturmflut mit angesehen haben. Wer
ein solches Ereignis nie erlebte, wird sich schwerlich von seiner Größe und
Schrecklichkeit eine Vorstellung machen können. Die rechte Zeit der Sturm-
fluten ist vom Oktober bis zum April.
Wenn eine Zeitlang ein anhaltender Westwind weht, der große
Wassermassen durch den Kanal treibt; wenn sich der Wind dann nach
Nordosten oder Norden umsetzt und das Wasser gegen die Küsten und
weit in die Flüsse hinaufpeitscht; wenn sich dazu noch eine Springflut
gesellt: dann steigen die wilden Wasser oft zu einer Höhe und Furchtbar-
keit, die einem das Herz erbeben machen.
2. Aber ruhig erwartet sie der Marschbewohner; weiß er doch, daß
seine Deiche hoch und stark genug sind, ihm sicheren Schutz zu gewähren.
Höchstens mag ihm ein trüber Gedanke an die Mühen und Kosten der
Deicharbeit kommen, die wenige Stunden herbeiführen können.
So steht er, unbekümmert um den heulenden Sturm, auf der Kappe
des Deiches und schaut in ernstem Sinnen auf die wallenden Fluten,
von denen er genau weiß, wann sie an den Deich heranströmen werden.
Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten in ihrem Bette; doch
man sieht schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen und die weißen Zähne
zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der Stunde, da eine höhere Macht
ihnen das Zeichen zum Angriff gibt.
Jetzt nahen sie. Lauter und lauter wird das Brausen und Donnern.
Sie erreichen das Vorland. In kurzer Zeit ist es bedeckt und bietet nun,
soweit das Auge reicht, nur eine einzige wilde Wasserwüste, deren Schaum-
kämme blendend weiß gegen das trübe Grau der Wogen abstechen. Kein
Schiff ist weit und breit zu erspähen; alle sind sie vor dem Sturm in
sichere Buchten geflüchtet. Und nur hier und dort kündet ein einsamer
Weidenbaum, der mit seinem nickenden, wild zerzausten Haupte aus den
Fluten ragt, daß da unter den wilden Wogen grünes, fruchtbares Land liegt.
Und noch immer höher schwillt das Gewässer. Jetzt ist auch die
253
Berme, der Fuß des Deiches, beflutet, endlich der Deich selbst, und es
beginnt durch den Widerstand desselben eine furchtbare Brandung, ein
wahrhaft majestätisches Schauspiel. Mit zerstörender Gewalt schnaubt
Woge auf Woge an ihm hinauf. Kaum wird die erste zurückgewiesen von
seiner Schrägung, als schon die nächste mit erneuter Wut heranrollt.
Dazu steigt die Flut noch mit jedem Augenblicke. Hochauf bäumen sich
die wilden Wasser und schauen gierig über den Deich ins gesegnete Land,
weit hinein ihren stäubenden Schaum schleudernd, als ob sie der Anblick
ihres alten Eigentums mit doppelter Wut erfüllte. Dazu der heulende
Sturm, der des Himmels dunkle Regenwolken in rasender Eile vor sich
hinjagt; Scharen segelnder Möwen, die umsonst mit dem Winde kämpfen,
bis sie ermattet sich auf die geschützten Wiesen und Äcker flüchten, und
endlich hie und da ein Marschbewohner, der trotz Sturmgewalt und
Wogendrang sich mühsam längs des Deiches durch den spritzenden Schaum
arbeitet, um zu erspähen, ob ihm nicht die Fluten einen Balken oder-
einige Bretter oder sonst eine Beute zutreiben. Alles dies vereint, gibt
ein Bild von wilder Großartigkeit.
Doch der Marschbewohner blickt noch immer kalt und ruhig in den
Ausruhr. Hat nur der Deich hinreichende Höhe und Schrägung, so wird
er nicht vor einer Flut weichen, ob auch ihre Wogen noch so mächtige
Stücke herausreißen und noch so tiefe Höhlungen in seinen Leib wühlen.
3. Doch wehe ihm, wenn das Wasser so hoch steigt, daß es mit dem
Gipfel des Deiches gleich wird. Vom unablässigen Bespülen ist dann
bald die festgetretene Kappe erweicht, und das Schicksal der Menschen
hängt oft nur noch an einem Haar. Die geringste Lockerheit des Erd-
reichs, ein einziges Mauseloch oder ein Maulwurfsgang kann jetzt Ursache
des größten Unglücks werden. Durch die kleinste Rinne dringt sofort
das Wasser, spült sie schnell weiter, und im Nu reißt ein Stück der
Kappe fort.
Ist aber das geschehen, so ist auch ein Deichbruch unvermeidlich;
denn mit furchtbarer Gewalt dringt jetzt die hoch aufgestaute Flut durch
die entstandene Öffnung, die mit jeder Minute breiter und breiter wird.
Da endlich bricht auch das letzte noch feste Erdreich fort, und durch nichts
mehr gehemmt, schießt donnernd und brausend der rasende Strom durch
die weite Gasse dahin, tief den Grund aufwühlend, alles, was er auf
seinem Wege sindet, mit sich fortspüleud, Häuser im Nu zertrümmernd,
Bäume ausreißend, Menschen und Tiere in seinen Fluten begrabend und bald
die weite, ruhige Marschebene in eine wilde, graue Wasserfläche verwandelnd.
Sowie sich daher eine Kappstürzung zeigen will, wird in höchster
Hast das Mögliche aufgeboten, um sie zu verhindern. Sandsücke, Mist,
Stroh, Balken, Bretter, alles was nur irgend dienlich sein kann, wird zur
Verstärkung auf die bedrohte Stelle gebracht.
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Ebenso eilt man nach einem wirklichen Deichbruche, sowie nur die
Ebbe es zuläßt, die entstandene Lücke für die nächste Flut so gut wie
möglich zu verstopfen. Eilig und mit großer Strenge werden selbst die
umliegenden Ortschaften dazu aufgeboten, um schnell aus allem möglichen
Material eine hohe, mächtige Barrikade auszuwerfen. Man arbeitet mit
kaum glaublicher Anstrengung, und doch spült vielleicht schon wenige
Stunden darauf die Flut das ganze mühevolle Werk wieder fort, und
alles war umsonst. Hermann Allmers.
175. Trutz, blanke Haus!
1. Heut bin ich über Rungholt*) gefahren;
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schüttert' und stöhnte;
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, blanke Hans!
2. Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln in Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten;
der Seehund sonnt sich aus sandigen Platten.
Trutz, blanke Hans!
3. Im Ozean mitten schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht sechs Stunden den Atem nach innen
und treibt ihn sechs Stunden wieder von hinnen.
Trutz, blanke Hans!
4. Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken;
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, blanke Hans!
*) Rungholt, einst eine blühende Stadt auf den nordfriesischen Inseln, soll am
Weihnachtsabend 1300 von einer Sturmflut zerstört worden sein. Wie die Sage er-
zählt, vergaßen die Rungholter ihres Gottes und trotzten der Nordsee, dem „blanken
Hans", mit dem lästerlichem Wort: „Trotz nu, blanke Hans!"
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5. Rungholt ist reich und wird immer reicher;
kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, blanke Hans!
6. Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus aus den Deich:
„Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!"
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis' aus dem Schlamm der Krake*) die Krallen.
Trutz, blanke Hans!
7. Die Wasser ebben, die Vögel ruhen;
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, blanke Hans!
8. Und überall Frieden, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden.
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, blanke Hans!
9. Ein einziger Schrei — die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut' bin ich über Rungholt gefahren;
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, blanke Hans?
Detlev v. Lilien er v n.
176. Untergang der Insel Nordstrand.
1. Noch am 10. Oktober 1634 lag es da, das grüne, von Fett
und I ruchtbarkeit erfüllte JLiefland der großen Insel Nordstrand,
*) Kraken sind sagenhafte riesige Seetiere.
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inmitten der finstern, grollenden See, die Freude, die Kraft, der
Stolz und Mittelpunkt der Uthlande, nicht ahnend, was ihm bevor-
stand; nach hundert trüben Erfahrungen noch immer fest bauend
auf den Schutz seiner erst vor kurzem wieder errichteten Deiche.
Ringsum lag ein Kranz von Halligen und Hallighütten, die wie
seltsam gestaltete und gruppierte Felsen aus der Wasser- und Watten-
wüste hervorragten. Weiterhin, jenseit derselben, glänzte ein Schaum-
gürtel der sich brechenden Wellen an den äußeren Sandbänken und
Inseln. Im Westen und Süden zogen finstere Wolkenmassen am
Himmel herauf, obgleich der Wind noch ruhte. Es war die Toten-
stille, die oft dem Sturme vorhergeht. Im fernen Westen blitzte es,
und als es Abend wurde, die finstere, lange Nacht heranschlich, da
flüchtete ahnungsvoll der Schiffer, wie die Seemöwe, ans Ufer, die
vorsichtige Krähe aber aufs Festland.
2. Die Nacht verging; der Morgen des 11. Oktober kam, der
letzte, welchen das altberühmte Nordstrand erlebte. Blutrot stieg
die Sonne im Südost hinter Eiderstedt herauf, beschaute noch ein-
mal das schöne, fruchtbare Eiland mit seinem „goldenen Riug*)“
mit seinen grünen Wiesen und weidenden Viehherden, mit seinen
gesegneten Ackern, seinen Kirchen und Mühlen, seinen stillen Dörfern
und zerstreuten Bauernhöfen, seiner emsigen, tüchtigen, Gott und
sich selber vertrauenden Bevölkerung. Dann verbarg sie sich wieder
wie weinend hinter die dichten Wolken, die für den Tag ihr die
Herrschaft stahlen. Noch einmal riefen die Kirchenglocken die
gläubigen Christen zum Gottesdienst in die Kirchen; denn es war
eben Sonntag. Noch einmal scharten sich die Schlachtopfer betend
in den heimatlichen Gotteshäusern, stimmten noch einmal dem Herrn
ein Loblied an, während der Donner schon über ihre Häupter rollte
und der Regen sich in Strömen ergoß. Noch einmal sammelten sich
die Familien an ihrem freien Eigentumsherd und um den gefüllten
Tisch in Frieden, nicht ahnend, daß es das letztenmal sein würde.
3. Ein ungeheurer Sturmwind, aus Südwesten kommend, brach
los, dessen Ungestüm sich den Tag über immer mehr und mehr
steigerte, und gegen neun Uhr abends geschah das Entsetzliche,
daß im Verlaufe einer einzigen Stunde das Meer durch 44 Deich-
brüche ins Land stürzte. Schon um zehn Uhr war die Insel ver-
nichtet. Da waren mehr als 6200 Menschen und 50 000 Stück Vieh
dort ertrunken; da waren die Deiche der Insel an zahllosen Stellen
zerstört; da lagen 30 Mühlen, 1300 Häuser zertrümmert danieder;
da waren vernichtet die Heimat und das Glück von mehr als 8000
Menschen. Nur die Kirchtürme und Kirchen ragten, obgleich auch
*) Die Deiche.
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beschädigt, aus diesem wilden Chaos, aus diesem großen Kirchhofe
wie ungeheure Grabmäler hervor. Der kalte Nordwest hatte unter-
dessen in der Nacht über die Trauerszene geweht, jedoch der Sturm
sich allmählich gelegt. Nur 2633 Menschen hatten diese Schreckens-
nacht, hatten den Untergang ihrer Heimatinsel überlebt, blickten aber
jetzt trostlos auf die verödeten Land- und Häusertrümmer, auf die
zerrissenen Deiche und das frei ein- und ausströmende erbarmungs-
lose Meer, auf die im Wasser und Schlamm umherliegenden Menschen-
kind Tierleichen, auf die zerstörten und verdorbenen Geräte und
Vorräte und vor allem auf den nahen Winter mit seinem Frost und
Schnee, mit neuen Stürmen und Fluten und neuem Elend, und auf
ihr eigenes nacktes Dasein inmitten dieser Wasserwüste und dieser
wilden Elemente. H. Haas.
177. Der Halligmatrose.
1. Kapitän, ich bitt' Euch, laßt mich fort,
o lasset mich frei, sonst lauf ich vom Bord,
ich muß heim, muß heim nach der Hallig!
Schon sind vergangen drei ganze Jahr’,
daß ich stets zu Schiff, daß ich dort nicht war,
auf der Hallig, der lieben Hallig!
2. „Nein, Jasper, nein, das sag’ ich dir,
noch diese Reise machst du mit mir,
dann darfst du gehn nach der Hallig!
Doch sage mir, Jasper, was willst du dort?
Es ist ein so öder, armseliger Ort,
die kleine, die armselige Hallig!“
3. Ach, mein Kapitän, dort ist’s recht gut,
an keinem Orte wird so mir zumut’,
so wohl, als auf der Hallig!
Mein Weib hat geweint manch traurige Nacht,
hab’ lang’ nicht gesehn, wenn mein Kind mir gelacht,
und Haus und Hof auf der Hallig!
4. „So höre denn, Jasper, was ich dir sag’:
Es ist gekommen ein böser Tag,
ein böser Tag für die Hallig!
Eine Sturmflut war, wie nie vorher,
und das Meer, das wild aufwogende Meer,
hoch ging es über die Hallig!
KaPPeH u. Koch, Deutsche? Lesebuch für Mittelschulen. IV.
258
5. Doch sollst du nicht hin, vorbei ist die Not,
dein Weib ist tot, und dein Kind ist tot,
ertrunken beid' auf der Hallig!
Auch die Schafe und Lämmer sind fortgespült,
und dein Haus ist fort, deine Wurt*) zerwühlt,
was wolltest du tun auf der Hallig?“ —
6. Ach Gott, Kapitän, was ist geschehn?
Alles soll ich nicht wiedersehn,
was lieb mir war auf der Hallig?
Und Ihr fragt mich noch, was ich dort will tun?
Will sterben und im Grabe ruhn
auf der Hallig, der lieben Hallig!
Hermann Allmers.
178. Jrn Wattenmeer.
1. Es war Nachmittag geworden, und draußen ebbte es. Rickmer,
der Alte, reichte mir die ungeheuern Wasserstiefel. Wir waren ge-
rüstet zum Schlicklauf und traten den Wattengang an. Die Lerche
schwebte über der Hallig und schmetterte auch hier ihr Lied. Die
Mücken tanzten in der Sonne, aber mitten in ihrem lustigen Reigen
kam die Schwalbe angeschwirrt und machte ihrem Dasein ein Ende.
Unzählige Nester befanden sich am Rande des Eilands. Die Möwen
stoben auf, und der Kiebitz umschrie uns.
Auf dem grauen Watt wanderten wir, und der Schlamm quietschte
unter unseren Füßen. Das war kein Gehen mehr, sondern ein müh-
sames Nachschlappen der schweren Stiefel. Ei, wie behende dagegen
der graue Strandläufer auf dem Watt hin- und herlief! Man hätte
diesen leichtfüßigen Schlickläufer beneiden mögen. Wie geschickt der
Regenpfeifer über das Weichste hintrippelte, wie bedächtig der Austern-
fischer mit seinen roten Beinen auf dem Schlamme stolzierte!
Müßte man nur nicht die zahllosen Wasserlachen umgehen, hätte
man Flügel, wie jener Fischadler, der über die Tümpel hinstreicht,
mit scharfem Auge sie bis auf den Grund durchspähend! Wären nur
nicht die vielen Wattenströme! Die kleinen Rinnsale sind wie Bäche
und heißen Prielen und wollen übersprungen werden, die großen sind
Flüsse und heißen Seegossen und müssen umgangen werden.
2. Sind die Halligen grün in grün, so sind die Watten ein grau
in grau gespanntes Netz mit eingestreuten Silberfäden. Die Fäden aber
sind die Priele und Ströme.
*) Wurte sind künstliche Hügel, auf welchen die Wohnungen der Hallig-
bewohner liegen.
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Am äußersten Rande des Wattenfeldes erblickte ich eine lange
Reihe kleiner, tanzender, mit Schaum bedeckter Wasserkegel. So weit
reichte das Meer zur Stunde, und welches Spiel trieb es! Mein
Führer erklärte mir, es seien Sandbänke dort, auf denen die Wogen
auf Widerstand stoßen unb schäumend zerstieben, und das Kegelspiel
der Wellen sei die Brandung.
Wir stampften weiter. Schlamm und Schlick, wohin wir sahen!
Die Hälfte der Zeit sonnen sich diese Landflächen im süßen Sonnen-
lichte, aber die andere Hälfte wogt die ätzende Salzflut über sie hin.
Dennoch sind sie nicht tot, sondern voll Leben. In ihren Tümpeln
wimmelt es von Krabben und kleinem Getier, über sie hin fliegt und
flattert ein zahlloses Vogelheer in hundert Arten, welches hier reich-
liche Beute und Atzung findet. Eine rote Brandente, welche fleißig
in einer Wasserlache fischte, sah uns mit ihren großen Augen höchst
unwillig an und verließ mürrisch ihr Gewerbe. Sie mochte glauben,
daß wir Krabbenfischer seien und ihr ins Handwerk pfuschen wollten.
Leblos sind die Watten nicht. Und doch ist dieses Meerland ein
Denkmal der Vergänglichkeit und voll von deutlichen Fußspuren des
Todes. Diesen Spuren gingen wir nach.
3. Neben einem der größten Wattströme, der sogenannten Pell-
wormer Tiefe, ragte aus der Sandbank ein Gerippe hervor — das mäch-
tige Holzgerippe eines Ostindienfahrers, der vor Jahrzehnten hier ge-
scheitert war. Rickmer murmelte geheimnisvoll von Schätzen, die, von
Seetang und Muscheln umsponnen, noch ungehoben in der Tiefe liegen.
Dann erzählte er, auf den Wattstrom zeigend: „Vor nunmehr vierzig
Jahren legte sich hier im Strom ein Schiff vor Anker, um die Flut
abzuwarten. Als sie den Anker aufwanden, deuchte er ihnen von
ungewöhnlicher Schwere, und da er endlich emportauchte aus dem
Wasser, hing an der Spitze der Ankerhand eine große Kirchenglocke,
welche einmal leise klang und dann lautlos hinabsank in das ewige
Schweigen der Tiefe. War es eine der Totenglocken des alten Nord-
strand, welche am Jüngsten Tage dieser Insel zum letztenmal ge-
läutet hatte? Wir näherten uns einer Sandplatte, aus der wie Hünen-
gräber sechs hügelartige Erhöhungen emporragten. Was sind sie und
wie entstanden? Von der Flut abgenagte Warfe sind es, vor Jahr-
hunderten von Menschenhänden ausgeworfen, mit Häusern bebaut und
dann von der Flut verspült.
4. Auf der Stätte dieses uutergegangenen Jnseldorfes suchte ich.
Pfahlstümpfe bezeichneteu beit Ort, wo der Wasserbehälter gewesen
war. Die Zisterne selbst war versandet bis zum Rande. Daneben lagen
einzelne Mauertrümmer, die Grundsteine des Hauses, und zahlreiche
Scherben von zertrümmertem Hausgerät rings zerstreut. Im Sande
17*
wühlte ich und förderte eine altertümliche Tranlampe zutage. Ge-
leuchtet hatte sie in der letzten Nacht und war jäh erloschen >vie das
Lebenslicht des vom Verderben Überraschten. Schätze fanden wir nicht,
nur eine grauumsponnene Silbermünze, deren Umschrift ich entzifferte:
^riäerieus II rex Danorum. Die Münze war gangbar um 1600.
Rickmer, der Siebzigjährige, redete, und ich lauschte. „Als ich
noch ein Knabe war, bin ich oft mit meinem Großvater hinüberge-
fahren zur Kirchwarf des alten Jllgrof — bei Ostwind und niedriger
Ebbe lagen die Trümmer der alten Kirche trocken. Wir holten uns
dort die Mauersteine zum Bau unseres Hauses, das jetzt auch längst
vom Meere zerstört ist, rote, gewaltig große und gutgebrannte Steine
waren es und nicht zerbröckelt, trotzdem sie ihre acht Stieg' Jahre
im Wasser gelegen hatten." Ich hörte die Worte und wollte zur Jll-
grofer Kirchwarf. Aus den Gräbern der alten Friesen wandelten wir.
Ein halbzertrümmerter Leichenstein ragte aus dem Grunde. „Hier ruht
in Gott. . .!" lasen wir und weiter nichts. Ja, ihr unsterblich Teil
mag ruhen in Gott, aber ihre Gebeine haben keine Ruhe gefunden,
sondern sind aufgewühlt worden von der rastlosen Flut, nur ihre
Steine sind geblieben und haben sich vergraben im Schlicke. Auf der
Jllgrofer Kirchwarf stand ich sinnend und sah über das weite Watten-
seld. Da stand das Tote und Lebendige lebendig vor meiner Seele.
Was ich überschaute, war das alte, das untergegangene Nordstrand!
Wo jetzt das Meer wallet und der Kahn des Kielwassers Furche zieht,
zog einst der Pflüger seine Ackerfurchen und wogte das Weizenfeld.
5. Mein Traum flog zurück um zwei Jahrtausende in Cimbriens
Urzeit. Da war Land! Land! Land! Und von Röm über Sylt
nach Helgoland reichte Cimbriens westliche Küste. Aber in einer Sturm-
und Sintflutnacht brach das Wüten des Weltmeeres sich Weg zwischen
Britannien und Gallien und stürzte durch die Straße von Dover auf
das ahnungslose Flachland im Norden der Elbe. Verrückt roaren
Zimbriens Grenzen und seine Westgaue zerschlagen in kleine Insel-
trümmer. Man richtete Bollwerke, Dämme und Deiche aus wider den
dräuenden Feind. Aber das Meer ruhte nicht, sondern sandte Flut
auf Flut. Die wühlte und nagte, und ihr Tosen sagte: „Wartet nur,
ihr Dünen und ihr Deiche der Marschen, ihr sollt mein werden!" Und
sie wurden des Salzwassers Beute.
6. Der Alte trieb zur Rückkehr. Wir richteten unsere Schritte heim-
wärts zur Hallig. Als wir sie betraten, hörten wir von draußen ein
leises, dumpfes Rauschen. Die Flut kam, schon stieg das Wasser in
den Rinnsalen und Prielen der Hallig. Im Halligenpesel standen Bücher
auf dem Borte über der Tür. Begierig griff ich nach den Chronisten
Nordfrieslands. Immer das alte und ewig neue Lied von Frieslands
261
Fluten, von Sturm und Sterben, immer dieselbe Totenklage um ver-
sunkene Kirchen und verschwundene Dörfer! Was ich dort las und
heute mit eigenen Augen gesehen hatte, klang fast einförmig und doch
sehr grausig, klang wie der uralte Reimspruch dieses Landes: Nord-
see — Mordsee! Nordsee — Mordsee!
Johannes Dose.
179. Wie der deutsche Küstenbewohner die Nordsee
besiegte.
1. Uber der Landschaft und über der Nordsee flimmert heller
Sonnenschein. Die See gebt in langgezogenen weichen Wellen, man
hört sie in der Ferne rauschen. Ein warmer, weicher Südwest, wie
er an dieser Küste so häufig ist, legt sich sanft auf die Wellen,
springt mit leichtem Sprung über den niedrigen Deich, schlägt zier-
liche Bogen in die großen Weizenfelder der Marsch und steigt dann
leise, mühsam atmend, die Düne hinauf, deren Heide er kaum zu
rühren vermag.
Man sieht von den langgestreckten, hohen Dünenrücken in die
Marsch hinunter, in jenes Vorland, über welches einst die wilden
Meeres wellen rollten, gelben Dünensand ans Ufer warfen und zu
Bergen türmten. Das ist schon lange her . . .
2. Es kam eine andere Zeit. Der Meeresboden hob sich, oder die
Wasser des Meeres traten zurück, und die Menschen stiegen mit
ihren Schafen und Bindern von den Dünen hinunter auf die neue
Erde und weideten ihr Vieh . . . Aber es war ein unbehaglicher
und rauher Aufenthalt. Sie wohnten in armseligen Hütten, die mit
schweren, dicken Rasenstücken belegt waren, und die Springflut des
Herbstes jagte sie wieder die Dünen hinauf auf das alte Land zur
Mutter zurück, von der sie gekommen waren. Da fand nicht wenig
Vieh und gar mancher Hüter in dem grauen Salzwasser den bitteren,
harten Wellentod; ihre Körper wurden gegen die Düne geworfen*
und das donnernde Brausen der erzürnten Wasser überschrie das
Weinen der Menschen.
Und das fühlten sie, daß ihr Klagen und Weinen doch von
dem wilden Wasser übertönt wurde. Da gaben sie es auf, zu klagen
und zu weinen, und wurden ein hartes Geschlecht, ein Geschlecht
von wenig Worten, von tiefen, stillen Gedanken, von trotzigem Ge-
sicht, von aufbrausendem Zorn. Sie wurden wie das Meer, tief,
lauernd, aufbrausend, gewaltig, ein Geschlecht von Riesen an Leib
und Seele.
3. Jahrhunderte versanken; da gingen sie gegen ihren wilden, ge-
waltigen Feind zum Angriffe vor. Nichts Größeres ist auf der Welt
262
von Menschengeist und Menschenhand geschehen als dieser Sieg der
Menschen über das gewaltige Meer, dieser ungeheure Gedanke, auf
die ausgestreckten, gierigen Arme des unendlichen Meeres mächtige
Erdmassen zu werfen . . .
End wie haben sie gearbeitet! 'Wie haben die alten Grauköpfe
ihre Hände über die Augen gelegt, haben mit den scharfen Augen
über das Meer gesehen und haben auf Flut und Strömung geachtet!
Wie haben sie in den niedrigen Häusern an den Eichentischen ge-
sessen, während der Weststurm vorüberheulte und die Wellen von
ihren Werften fraßen, und haben den Kopf in die Hände gestützt
und haben gerechnet und gezeichnet und untersucht über Werft-
bauten und Böschungen, über Erd- und Grasarten! Und wie haben
die Jungen gearbeitet, gekarrt, getragen! Wie haben sie sich selbst
in die Sielen gelegt und die schwere, feuchte Erde zum Berg ge-
macht, zum langen, meilenweiten Berg, drei, vier und fünf Mann
hoch, je nach dem Feind, der da draußen lauerte, da weit draußen,
von wo das heisere Bellen des Seehunds zu den Arbeitern her-
überklang.
4. Und der Feind kam! Und sie standen alle auf dem Deiche,
dem Werke ihrer fleißigen Hände. Es hob sich die See, es wühlte
in ihrer Tiefe, wie wenn gewaltige Tiere auf ihrem Grunde sich
reckten und kehrten, und siehe ... da springt die erste Welle!
„Siehst du, Hans, den weißen Gischt? . . . Dort! Sie ist wenig-
stens fünf Buten lang. Der Sturm ist Südwest, und er meint es
gut! Sieh dort! zwei, drei Wellen! Vier!“
„Siehst du es, Martje? Es flattert wie Mähnen von weißen
Bossen! Der Wind ist kalt, Martje, so kalt wie vor fünf Jahren,
als ich auf dem Basen der Hütte saß die ganze, lange Nacht, und
dann zitterte es unter mir und riß wie ein gefangener Fuchs an
seiner Kette, und dann war’s los! Du bist noch jung, Martje, aber
ich sage dir, das ist ein merkwürdiges Ding, wenn man auf seinem
Hause reitet durch die wilden Wellen in schwarzer Nacht, und nur
Gott weiß, wohin die Beise geht.“
Da ist sie, die tolle Springflut, jetzt kommt sie in hüpfenden
Wellen, ein Siegeszug gegen die armseligen Wohnungen der Menschen.
Jetzt will sie einmal wieder mit Häusern und Menschenleibern
spielen, hinter ihr her jagt der wilde Südwest. Da ... da ist sie!
Hei, wie springen die weißen Bosse gegen den Erd wall! Wie von
der Luft verschlungen, verschwinden die flatternden Mähnen! Wie
erstaunt schweigen einen Augenblick Wind und Wasser. Ein Schrei
aus dem Munde der Menschen, der das Meer übertönt, es ist ein
Schrei des Sieges. Dann braust mit tosendem Lärm das Meer
263
wieder herbei, schadlos, schräge gleiten die langen Wellen die
schräge Böschung hinauf, die Menschen schütteln sich den Gischt
von den Kleidern. Sie lachen nicht, sie weinen auch nicht vor
Freude; sie sind in dem langen Kampfe ein hartes Geschlecht ge-
worden, sie haben etwas Übermenschliches bekommen, sie können
nicht mehr loben und danken, . . . das ist ihr Fehler, ihre Sünde
bis auf den heutigen Tag.
5. Nur Martje, die Junge, die Weiche — den Kopf vorgestreckt,
das flatternde Kopftuch in der Hand, . . . der Sturm spielte mit
ihrem nassen Haar, ... so steht sie auf dem Deich und sieht mit
großen, fragenden Augen auf das wilde Wasser zu ihren Füßen.
„Guten Abend, Martje!“
„O Hans, was nun?“
„Was hast du die Hände gefaltet, Martje?“
„O, weil doch der Deich hält!“
„So? Bloß darum? So komm!“
Und sie gehen zusammen den Deich hinunter, zwei stattliche,
hohe Gestalten: Ihre Nachkommen sitzen noch heute auf derselben
Werft, auf der Hans und Martje sich einst ihr Nest bauten.
Das sind gerade 500 Jahre her . . .
Inzwischen verwitterte der gelbe Sand der Düne und überzog
sich mit einem Kleide, mit einem billigen Kleide; denn der Sand ist
arm, . . . aber mit einem schönen Kleide; denn die Dünen sind eitel:
mit tiefdunklem Heidekraut, helle Ginster hineingewebt. Hier und
da wächst aus dem dürren Frdreiche des Abhanges eine kümmer-
liche Eiche oder eine bescheidene Weißbirke, mehr Gestrüpp als
Baum; aber oben auf dem Kücken haben sich Lärchen und Tannen
angepflanzt, von selbst, nicht durch Menschenhand. Anfangs wohl
kümmerliche, niedrige Bäumchen, aber im Laufe der Zeit, der Jahr-
hunderte, hat sich durch jährlichen Nadelfall und Baumsturz ein
wenig Waldesboden gebildet, und auf dem fruchtbaren Grabe der
Vorfahren waren die Nachkommen besser fortgekommen. Freilich
noch immer unansehnliche, schlechte Stämme, über welche der
Förster des Binnenlandes verächtlich hinwegsieht, aber Stämme, wie
der Landmann sie braucht, wenn er seine Koppeln einfriedigt und
Heckpfähle einrammt und die hochgelegten Garben auf dem Ernte-
wagen mit übergelegtem, niedergebundenem Balken festhalten will.
Gustav Frenssen.
264
180. Friesenqrusz.
Ich grüße dich, mein Friesenland,
wo der Nebel wallt, wo die Woge braust,
wo die Möwe schwebt und die Wildgans lärmt,
mein Friesenland, mein Heimatland!
Vom hohen Deiche schrankenlos
schweift hin der Blick über Land und Meer —
hier ödes, weites, schlammiges Watt,
dort reicher Fluren sonnig Grün;
hier Möwenschrei, dort Taubenflug,
hier das Fischerboot, dort das rasselnde Rad.
Und das Kirchlein dort uralt und ernst
und wetterbraun auf kahler Wurt,
und Kinderlaut und Sensenklang
um den reichen, stattlichen Bauernhof.
Ich grüße dich, mem Friesenvolk,
Volk alter Freiheit, alter Kraft,
das trotzig mit den Wogen rang
und selber sich für Weib und Kind
den treuen Heimatsboden schuf,
das dieser Deiche starke Wehr
auswerfend zu den Fluten spricht:
„Bis hierher sollt ihr, weiter nicht!"
Das mit dem stolzen Gruß sich grüßt:
„Eala frya Fresena",
das seiner Freiheit Heiligtum
lang gegen Pfaffenübermut
und Adelsmacht verteidigte.
Nicht Männer zogen nur zum Streit,
auch hohe Jungfrau'n, ernst und mild,
und sanken bleich und blutend hin,
gedenkend, als der Stahl sie traf,
des Friesenspruchs: „Lieber tot als Sklav'!"
Du prächtig Wort: „Lieber tot als Sklav'!"
o brause du wie Nordlandssturm
durch alle deutschen Herzen hin,
vom meerbespülten Friesenland
bis zu der Alpen Hochgebirg',
265
und von den Alpen bis ans Meer
erdröhne donnernd wieder her,
rings alles rüttelnd aus dem Schlaf,
du stolzes Wort: „Lieber tot als Sklav'!"
Ich grüße dich, mein Friesenland,
wo der Nebel wallt, wo die Woge braust;
ich grüße dich, mein Friesenvolk,
wo noch Manneskraft und Freiheit haust!
Hermann Allmers.
1. Ostholstein gehört zu den schönsten Teilen Deutschlands. Die
Eigenart des von der Seenplatte des baltischen Höhenzuges beherrsch-
ten Ostseeufers kommt hier zu ihrer vollkommensten Entfaltung.
In offner Landschaft find' ich mich, wo See an See
mit holdem Gruß blauäugig aus der Tiefe lacht
und, über sanften Hügeln schwebend, wipfelreich
der Buchenforst auf säulenhohen Stämmen wogt.
So schildert Emanuel von Geibel den allgemeinen Eindruck dieser
Gegend. Wie überall, wo es sich findet, bildet auch hier das Wasser
den Mittelpunkt der Landschaftsbilder. Holstein besitzt nicht weniger
als 86 Seen. Bei Plön befindet sich ein Hügel, von dem man an
20 solcher Wasserspiegel übersieht. Bei weitem der größte von ihnen
ist der fischreiche bei Plön. Er bietet zugleich ein Beispiel mannig-
faltiger, vielgestalteter Umgebungen, deren sich einige unserer Seen
erfreuen. Rudert oder segelt man über solch ein Gewässer, so wechseln
die Bilder unaufhörlich. Hier ist eine tiefe schattige Schlucht, die
ihre dunklen Schatten auf die klare Fläche des Wassers wirft. Dort
blickt ein kleines Fischerhäuschen freundlich aus grünem Gebüsch her-
vor. Hier stehen altehrwürdige Bäume und wiegen ihr laubgekröntes
Haupt im lauen Winde. Dort schwingen kräftige Schnitter die Sense
und mähen die goldene Saat. Hier heben sich kreischend Züge von
wilden Enten aufgescheucht empor. Dort schwebt der Reiher mit
regungslosen Flügeln über dem spiegelblanken Wasser. Hier sind
blühende Wiesen, die ihren Duft weithin entsenden, Weiden mit zahl-
reichen Viehherden. Dann wieder zieht eine grünumbuschte Insel an
uns vorüber, voll lauschiger Plätzchen, in tiefster Abgeschiedenheit.
An einer Stelle des Ufers blickt aus dichtem Park ein weißes Guts-
haus hervor, an einer anderen Stelle baut sich ein Dorf oder ein
Städtchen mit hellen, roten Dächern und ragendem Kirchturm auf.
Überall, so scheint es, herrscht Wohlstand, Ruhe, Friede und eine
unvergleichliche Pracht der Natur. V
266
2. Zu Seen dieser Art stehen in einem gewissen Gegensatz die-
jenigen, die ganz oder doch zum großen Teil von waldbedeckten Höhen
umschlossen sind. Zwar fehlen hier schroff abstürzende Felswände,
und auch die spitzen, hohen Tannenabhänge des Schwarzwaldes oder
selbst Thüringens kennt man hier nicht. Die Tanne ist überhaupt
nur selten, und alle Höhen, denen man begegnet, sind nur sanft ge-
schwungene, gestreckte Hügel. Aber an ihnen steigen senkrecht, glatt
und astlos die weißgrauen Stämme der Buchen empor, Säulen gleich,
und wölben über sie die gemeinsame Krone, auch „eine Art Wald
über dem Walde". Die Gipfellinie des Waldes folgt dem natürlichen
Wellengang des Hügels, und von dort her senkt sich in runden Wöl-
bungen das grüne Dach herab, bis es mit seinem schönsten Laube in
die Fluten taucht. Welch prächtige Waldhallen solch ein Abhang bildet,
wie üppig hier in feuchter Kühle Waldmeister, Orchideen und Farn-
kraut gedeihen, zuweilen dem Waldinnern einen Zug tropischer Fülle
leihend, das sieht man so recht an den Ufern des Dieksees, wo das
reizende Gremsmühlen, des Kellersees, wo Malente liegt und das
schöne Prinzenholz.
3. Nirgends aber ist diese Eigenart schleswig-holsteinscher See-
ufer vollkommener ausgebildet als am Uglei, jenem prachtvollen See,
„der wie ein Schild aus Edelstein im dunklen Kranze des Waldes ruht".
Hier schließen sich die hohen, grünen Mauern des Waldabhanges um
den geräumigen Spiegel des Wassers fest zusammen und geben mit
ihrer weichen Hülle dem Ganzen das Gepräge unnahbarer Weltabge-
schiedenheit. . . Ich weiß indessen nicht, wer diesem Prachtsee den Ruf
der Unheimlichkeit zugezogen hat, den er in keiner Weise verdient. Im
Herbststurm treibt er freilich auch wie andere Gewässer dunkle Wogen,
und seine Waldungen verfärben sich; im Winter friert er natürlich
zu, dann liegt er kahl und tot. Allein solange der Sommer währt,
ist er mit seinem leichten Wellenschläge und seinen prangenden Ufern
ein Bild des Lebens und der Fruchtbarkeit, der Kraft und der Fülle,
und im Frühling, wenn sich die Buchenhöhen in jenes unvergleichlich
frische, seidene Grün kleiden, das in unseren Landen das eigentliche
Zeichen des Frühlings ist, wenn Anemonen, Waldmeister und Mai-
blumen alle Hänge bedecken und auf der hellen Flut Wasserrosen sich
wiegen, dann gewährt er ein landschaftliches Gemälde von strahlender
Frische und Heiterkeit. Wenn aber um die Zeit der Pfingsten jene
weißen Rosen sich auftun und der Vollmond bricht durch die Buchen-
zweige, flimmerndes Licht und schwankende Schatten über alle Wege
am Ufer, milden, klaren Glanz über die Fluten breitend, littb du
lösest den Kahn, der unter den überhängenden Zweigen versteckt am
Uferrande ruht, und ruderst hinaus in die Mitte des Sees: Nicht aus
/
— 267 —
der ganzen Erde findest du ein Bild so tiefen Friedens, bezaubernd
schön, aber süß und anheimelnd, einem deutschen Märchen gleich. Wer
nicht zufällig das Grauen mitbringt, findet es hier nicht.
Es ist überhaupt unserer Landschaft fremd. Wohlig und wohn-
lich mutet sie den Fremden wie den Einheimischen an. Die geförderte
Kultur hat hier so wenig wie in anderen östlichen Gauen Schleswig-
Holsteins der Gegend Schönheit und Reiz geraubt. Vor allem des-
halb nicht, weil man die Grenzen der Felder hier nicht durch Holz-
pfähle, mit Latten oder Zinkdraht, sondern durch lebendige Hecken, die
auf einem kleinen Erdwall stehen, kenntlich macht. Von solchen
„Knicken" oder „Reddern" ist das ganze Land durchzogen. Sie über-
spannen wie ein weitmaschiges Netz die wellige Bodenfläche, tauchen
mit den Tälern hinab und steigen mit den Hügeln empor, beschatten
den Weg, verbergen bald und öffnen wieder sonnige Durchblicke.
4. Und nun erhöht sich noch um ein Bedeutendes der Reiz dieser
Landschaft da, wo sie das Meer berührt. Ich erinnere mich, auf dem
Elisabethturme gestanden zu haben, ganz Ostholstein mit seinen Wäldern
und Seen war vor mir ausgebreitet, aber immer wieder wandte ich
den Blick, unwiderstehlich angezogen, nach Norden, wo in der Ferne
waldumhüllt die Ostseebucht und über ihr der weite Horizont des
Meeres lag. Näher, prächtiger, breiter noch entfaltet sich dieser stim-
mungsvolle Hintergrund des Landschaftsbildes vom Hessenstein aus.
Es ist ja vor allem die Majestät des Anblicks, die das Meer so an-
ziehend macht. Ein Österreicher, ein Binnenländer, kam 1864 mit
den Truppen nach Holstein und wurde in einem Dorfe einquartiert,
das unweit der See zwischen Wald und Hügeln liegt. Ohne über die
Gegend näher orientiert zu sein, geht er bald darauf mit einem
Kameraden einen Feldweg, der aus die Höhe führt. Unversehens liegt
vor ihm das Meer. „Wa — was ist das?" stammelt er und fällt
fast zu Boden, entsetzt, erstaunt, gebändigt von der Nähe des Unge-
heuren. Aber es ist bei der Ostsee nicht die Majestät allein, die an-
zieht. Es ist vielmehr eine seltene Vereinigung von Zartheit und
Erhabenheit, die dies Meer auszeichnet, und diese Verbindung ist
so wunderbar. Blau wie der Himmel selber, nur noch einige Grade
kräftiger, gesättigter in der Färbung, leicht bewegt und dann von
einem zarten Schleier von Duft und Dunst umwoben, oder still und
klar wie Stahl, liegt dieses anmutigste der Meere vor dem Blicke des
stets aufs neue entzückten Beschauers da, etwas unbegreiflich und un-
sagbar Schönes. Wie soll man es beschreiben? Die Sprache der
Menschen reicht nicht aus, das zu schildern, was Gott in seiner All-
macht schuf. V
Johannes Biernatzki.
268
182. Der Viehreichtum des Marschhauern.
1. Es war am Morgen des 10. Mai. Die Sonne stand weiß-
strahlend am blauen, tiefen Himmel. Ihr Schein vermischte sich mit
der aufsteigenden Feuchtigkeit der Erde zu leichtem, lichtdurchglänztem
Nebel. In der Ferne an den Meerdeichen stand der Nebel als bläu-
lich weißer Duft. Der alte Dreier, den Handstock bei jedem Schritt
fest und vorsichtig auf die Erde stoßend, schlich am Hofe*) vorüber.
„Jörn“, sagte er, „einundzwanzigmal habe ich am 10. Mai das Vieh
auf die Weide gebracht.“ — Da wartete Jörn, bis der Alte in der
Ferne verschwunden war, dann rief er in die Diele, daß es schallte:
„Wir wollen ausjagen! Und die Frauensleute sollen helfen.“
2. Darauf wurden zuerst vierzig Ochsen, zwei- und dreijährige,
starke Tiere, einer nach dem anderen, an die Tür geführt und los-
gelassen. Sie nahmen die Hofstelle im Sturm und füllten sie, wie
Kinder den Schulplatz, mit Laufen und lautem Rufen. Aber mit
fünf Mann wurden sie ihrer Herr. Allzugewaltig schallte Jörn Uhls
Stimme, und allzulang und sicher reichte der Hieb seiner großen
Peitsche. Er stand oben auf der Höhe, vor dem großen Scheunen-
tor, und zeigte die Richtung. Als sie endlich aus der Hofstelle
heraus und auf den Deichweg gebracht waren, zogen die beiden
Tagelöhner mit ihnen ab. Man atmete auf.
3. Mit zehn Pferden, die darnach ausgelassen wurden, zog der
Großknecht und der kleinste der Jungen davon; zwei Fohlen trabten
zierlich hinterdrein. Aber die allerletzte des ganzen Zuges war die
alte Stute, die vor zwanzig Jahren als nachträgliches Erbstück der
Mutter vom Heeshof herübergekommen war; denn eine Stute war
der Heesetochter zugesprochen worden, dazu ihre Nachkommen bis
ins vierte Glied. Sie bekam auf dem Hofe das Gnadenbrot.
4. Darauf kamen die Kühe, acht an der Zahl, große, rotbraune
Marschkühe. Gleich hinter dem Hause auf der Urweide, auf der
niemals ein Pflugeisen geblinkt hatte, hatten sie ihre Nahrung, damit
sie den melkenden Frauen näher zur Hand wären. Die Frauen
führten sie. Als der Junge eine davon anfassen wollte und seine
Sache geschickt genug machte, fand er doch keine Gnade; der Strick
wurde ihm aus der Hand gerissen, und er bekam das Zeugnis, daß
er ein Taps wäre. So zogen die Frauen, Lena Tarn**) in stattlicher
Größe voran, die Wurt hinunter. Wenn die Sonne einen Weg durch
*) An dem Marschenhofe „die Uhl,“ deren Besitzer der junge Bauer Jörn
Uhl ist.
**) Die erste Magd für Küche und Kuhwirtschaft.
269
die Pappelzweige fand, war ihr Haar so voll Feuer wie das glänzende
Haar der Potbunten.
5. Aber da gab es eine Unterbrechung. Der große, dreijährige
Stier hatte sich losgemacht, da es ihm in dem leer werdenden Stalle
zu langweilig wurde. Er stand plötzlich in der Stalltür und kam
gemächlich auf die Frauen und die Kühe zu. Da war es gut, daß
Lena Tarn, die immer an alles dachte, den dreibeinigen Milchbock
von festem Holz in der Hand hatte, um ihn am Heck der Weide
niederzulegen. Sie stellte sich ihm mit funkelnden Augen entgegen
und sagte: „Steh, du Lump;“ denn sie war nicht seine Freundin.
Und sie schwang das hölzerne Dreibein. Aber der Rote kam ruhig
näher, nichts als Sicherheit, Kraft und Trotz. Da warf sie einen
raschen, zornsprühenden Blick auf die Mannschaften, die mit ihren
Peitschen oben am Scheunentor standen: „Was steht ihr da, ihr
Tapse?“ hob den Schemel und schmetterte ihn dem Roten vor den
Schädel. Das erschreckte ihn so, daß er sich abseits begab, wo er in
die Hände der Männer fiel. Lena Tarn aber hatte den ganzen Nach-
mittag eine auf- und absteigende Röte in den Wangen, weil der
Bauer sie mit Augen wie ein junger, übermütiger Mann angesehen
hatte. Das machte ihr heimlich Freude und Sorge.
6. Zuletzt kamen die Kälber, mehr als zwanzig. Sie benahmen
sich schlimmer als Schulkinder, und das will was sagen. Sechs, die
im Stall geboren waren und nicht wußten, was Wasser, Luft oder
Erde war, versuchten zuerst zu fliegen, indem sie sehr hohe Sprünge
machten, mit allen vieren hoch, und standen starr und steifbeinig
vor Erstaunen, daß sie wieder auf die Erde kamen. Sie konnten
sich von ihrem Erstaunen nicht erholen und waren nicht von der
Stelle zu bringen. Darnach entdeckten zwei von ihnen den Burg-
graben und sprangen mit mächtigen Sätzen hinein. Der Junge, der
sie am Strick hatte, bekam nicht genug Zeit, zu überlegen, ob er
gemeinschaftlich alles mit ihnen erleben, oder ob er seine Sache von
der ihren trennen sollte: er machte den letzten Sprung mit. Nun
stecken die drei bis an den Hals im dunklen Wasser, alle drei starr
vor Erstaunen, und rührten sich nicht.
7. Da wurde der Bauer böse. Er schalt „den Lümmel von
Jungen“, der von „Tuten und Blasen nichts wüßte“, stellte die
Peitsche an die Wand und kam in langen Schritten von seiner Höhe
herunter und mischte sich unter die Menschen und Tiere. Es war
auch Zeit, daß dem Hallo ein Ende gemacht wurde; denn die Mädchen
an der Stalltür schrien und lachten, und Lena Tarn stand mit spöt-
tischem Gesicht und zusammengekniffenen Augen am Hecktor. Also
faßte er auf halber Höhe den größten Übeltäter, der gerade seinen
270
Verwunderungsaugenblick hatte und dumm um sich glotzte, am Strick
und wollte mit ihm abgehen. Der aber bekam gerade in diesem
Augenblick einen Gedanken, einen Einfall oder so etwas und sauste
mit dem langbeinigen Jörn Uhl die schräge Hauswurt hinunter. Die
Mütze flog, die Erde bebte, die Küche kreischte: ein kühner Sprung,
Wasser spritzte hoch auf. Nun steckten da fünf im Wasser und
hatten alle fünf ihren Verwunderungsaugenblick. — Endlich kam
doch alles in Ordnung, „Weil wir zuletzt Hand anlegten,“ sagten
die Mädchen. Es wurde still auf dem Hofe.
Gustav Frenasen.
183. Am Strande.
I. Stille.
Wir stehen am Rande eines sandigen Hügels. Zu unseren Füßen
breitet sich in weitem Bogen der Strand aus, und dahinter leuchtet im
silbernen Glanze die See. Müde laufen ihre Wellen den Strand herauf,
und zögernd kehren sie zurück, und dieses lässige Spiel wiederholt sich
so regelmäßig wie das ruhige Atmen eines Schläfers, der einen schönen
tiefen Traum träumt. Die liebe Sonne hat die Vorhänge zugezogen.
Das sind feingewebte Schleier, die das Licht dämpfen, ohne es aus-
zulöschen, und beinahe noch das Blau des Himmels erkennen lassen.
Nur nach der Seite, wo Mutter Sonne ihr frischgemachtes Federbett
stehen hat, ist die Aussicht freier. Dieses Bett ist ein Gewitter, das
in der Ferne silbergerandet dasteht wie ein Gebirge. Über der Grenz-
linie des Wassers liegt langgestreckt eine schwarze Rauchwolke; und
dort schweben wie Schmetterlinge weiße und dunkle Segel über der See.
Vor uns liegt ein Landungssteg, der aus hölzernen Stämmen
zusammengefügt ist. An seiner Spitze steht ein Flaggenmast, dessen
Flagge müde gegen das Holz schlägt. Ihm zur Seite schaukeln
träumend ein paar Kühne im Wasser, Knaben waten zwischen den
Kähnen herum, und auf einer sandigen Insel liegen Enten und sonnen
sich. Und dort, nahe am Strande, wo sich das helle Gewölk im Wasser
spiegelt, liegt ein altersschwaches Fischerboot mit wunderlichem, plumpem
Wimpel und bringt Tiefe und Gegensatz in das zart angelegte Bild.
Links zieht sich der Strand als Landzunge ins Meer. Man
könnte von einem Vorgebirge reden, wenn man den Lehm, woraus
die Landzunge besteht, als Felsen ansehen wollte. Dort steht ein
greiser, grauer Turm, auf dessen stumpfer Spitze ein Storchnest sitzt,
und zwischen alten, wetterfesten Linden und einem Walle, der von
Strand zu Strand zieht, liegen ein paar Gebäude mit hohen, moos-
bewachsenen Dächern.
271
Ein Bild, ein wirkliches Bild! Dargestellt in fein empfundenen
und auserlesenen Farben, in schönem Ebenmaße der Flächen und
klassischer Linienführung sowohl der Konturen der Wolkenberge als
auch der Zeichnung von Strand, Meer und Schissen.
II. Sturm.
Von der See her rollt eine Woge nach der anderen mit gesträubtem
Haar heran, erhebt sich zornig und bricht, Schaum und Wasser weit
das Ufer hinauf werfend, in sich zusammen. Die Luft ist von unab-
lässigem, donnerndem Brausen erfüllt, und der Wind pfeift seine
wildesten Melodien. Zu sehen ist auf der See weiter nichts als Wogen-
reihen, die aus der dicken Luft auftauchen und am Ufer branden. Oben
im Bootsschuppen steht das Rettungsboot auf seinem Wagen zur Aus-
fahrt bereit. Der Führer ist ins Dorf gegangen, die Pferde zu holen.
Oben auf dem Damm stehen Fischerfrauen und sehen, in ihre Mäntel
gewickelt und sich gegen den Sturm stemmend, stumm und besorgt ins
Weite. Daß draußen vor der steinigen Platte ein Schiff sitzt, ist
gewiß, aber es ist ungewiß, was für ein Schiff es sei.
Da erklingt vom Damme herab Geschrei. Das Wetter ist un-
erwartet sichtig geworden. Die Wolken sind auseinandergerissen, und
die Sonne schaut mit schnellem Blick über das Wasser, so scharf und
neugierig, als liege ihr daran, vor ihrem Untergange noch zu er-
fahren, welches Unheil man da unten hinter ihrem Rücken angerichtet
habe. Dunst und Dampf treten auseinander, und da liegt auf der
steinigen Platte inmitten von weißem Schaum ein Schiff mit flattern-
dem Segel. Oder ist es eine Notflagge? In dem wechselnden Licht
von Sonnenschein und Schatten sieht es aus, als wenn das Schiff
sich bewege und um Hilfe rufe. Die Fischer halten die Hände über
die Augen und schauen unter ihren struppigen Augenbrauen hinaus
oder putzen die Gläser ihrer Fernrohre. Aber ehe sie noch darüber
einig, ob das Schiff ein Fischerboot oder ein Memeler Lastschiff, ver-
schwindet das Bild, und Wind und Meer singen, singen ohne Illu-
stration ihre alte Melodie weiter . . . Jetzt steigt die Flagge der
Station, das rote Kreuz auf weißem Grunde, am Signalmast empor ...
Im Nu ändert sich das Bild. Zahlreiche Fäuste fassen zu, ziehen
den Bootswagen aus dem Schuppen und befördern ihn mit einer
Schnelligkeit und Leichtigkeit hinab an den Strand, als wenn es
ein Jagdwagen wäre. Und die Zuschauer folgen so weit, als sie vor
dem Wasser einigermaßen sicher sind.
Wie hoch die Meereswellen sind und welche Kraft in ihnen ver-
borgen ist, das kann man nur wahrnehmen, wenn man sich auf ihnen
befindet, oder auch, wenn man unten am Strande dicht vor der Brau-
272
düng steht. Es hat einen fesselnden Reiz, zuzusehen, wie die Wage in
breitem Zuge heranrollt, und wie sie sich nahe am Ufer aufrichtet, wie
ein Roß, das zum Sprunge ansetzt. Aber der Sprung gelingt nicht.
Ihr Fuß wird vom Strande zurückgehalten, und sie stürzt donnernd
in sich zusammen, und was sie noch ans Land wirst, das sind Fluten,
aber keine Wogen mehr. Weh dem, der in diesen Streit von Wasser
und Land gerät! Was sind auch die besten Schwimmkünste gegen
diese Kräfte! Wie ein Hammer Schlag auf Schlag gibt, so folgt eine
Woge hinter der anderen her, und noch ehe der Strand unter der
Wasserflut aufatmet, steht die nächste Woge da und wiederholt ihren
Angriff.
Gegen solche Flut im Boot auszufahren, scheint eine Unmöglichkeit,
und doch unternimmt's der Mensch, und noch dazu in einem solchen
zerbrechlichen Dinge, wie es auch das beste Rettungsboot ist.
Fritz Anders.
184. Ein Gang durch die Reichshauptstadt.
1. Der deutschen Kaiserstadt gilt unser Besuch. Kaum hat das
keuchende Dampfroß die alte Festung Spandau verlassen, so wachsen in
der Ferne vor unsern erstaunten Augen allmählich große Häusermassen
aus der Erde hervor, die mit ihren freundlichen, blumengeschmückten
Balkönen den Blick gefangen nehmen. Immer größer wird das Schienen-
gewirr, immer heftiger das Rasseln beim Durchfahren der Weichen, immer
lauter und belebter der Bahnverkehr, und ehe wir's uns versehen, läuft
der Zug in die gewaltige Halle des Lehrter Bahnhofs ein. Hinaus
drängt die Menge der Reisenden. Wir steigen zu dem daneben liegenden,
gleichnamigen Bahnhof der Stadtbahn hinauf.
2. Die Stadtbahn bildet mit der erst neuerdings angelegten
elektrischen Hoch- und Untergrundbahn das wichtigste innere Verkehrs-
mittel Berlins. Auf stockwerkhohen, steinernen Bogen erbaut, die fast
alle als Lager- und Verkaufsräume oder als Gastwirtschaften verwandt
werden, zieht sie sich wie ein schlängelndes Baud von Charlottenburg im
Westen quer durch die Stadt bis Rummelsburg im Südosten. An beiden
Enden schließt sie sich an die Ringbahn, die in zwei gewaltigen Ringen
den Norden und den Süden der Millionenstadt mit dem Innern ver-
bindet. Die Hoch- und Untergrundbahn fährt bald unter, bald über der
Erde, mit rasender Schnelligkeit durch den Süden der Stadt. Daneben durch-
sausen zahllose elektrische Straßenbahnwagen die verkehrsreichen Straßen.
Sie bilden eine beständige Gefahr für die Fußgänger und sind daher in
einigen der belebtesten Straßen verboten. Zur Zeit liegen schon Pläne vor,
die den innern Verkehr unter den Straßen und Häusern hinführen wollen.
Doch treten wir unsre Fahrt aus der Stadtbahn an! Eine Fahrkarte für zehn
273
Pfennige ziehen wir aus dem Automaten und eilen die Treppe hinauf. Aber
o weh! Der Zug fährt gerade ab, und wir haben ihn verpaßt. Doch das
schadet nicht viel, in fünf Minuten kommt schon ein anderer herangebraust.
Da uns kein Schaffner zurechtweist, suchen wir uns selbst einen Platz.
Kaum haben wir Platz genommen, so faucht der Zug schon wieder aus
der Halle hinaus. Eine bunte Gesellschaft hat sich im Wagen zusammen-
gefunden: Fremde, welche die Stadt sehen wollen, Frauen, die mit Körben
und Taschen zur Zentralmarkthalle eilen, Handwerker mit ihrem Arbeits-
zeug, Arbeiter, alle bunt durcheinander. Freundlich gibt man uns ans
unsre Fragen Auskunft. In wenigen Minuten sind wir an unserm Ziel,
dem Bahnhof Alexanderplatz, angekommen.
3. In die Königsstraße hinabgestiegen, besinden wir uns plötzlich
in dem fürchterlichsten Getriebe der Großstadt. Eine ungeheure Menschen-
menge eilt an beiden Seiten der Straße geschäftig dahin. Kaum können
wir vor dem Gewühl der Straßenbahnwagen, Droschken, Automobile und
Lastwagen die Straße überschreiten; befinden wir uns doch in einer der
Hauptverkehrsadern Berlins, die sich vom Alexanderplatz über den Spittel-
markt durch die Leipziger Straße zum Potsdamer Platz zieht. Nach kurzer
Wanderung stehen wir an der Spree. Klein erscheint sie im Rahmen des
gewaltigen Stadtbildes, winzig uns, die wir die stolze Elbe überschritten
haben, und doch spielt sie eine große Rolle. Das sehen wir an den vielen
Lastkähnen, die ihren Rücken fast völlig bedecken. Es dürfte wohl kaum
einen deutschen Fluß von gleicher Größe geben, der sich an Bedeutung für
Handel und Verkehr mit der Spree messen könnte. Erlaubte uns die Zeit,
einmal eine Dampftour nach oberhalb zu machen, so würden ihre seeartigen
Erweiterungen und waldigen User uns auch Bilder von großem landschaft-
lichen Reize gewähren. Wir befinden uns hier in dem ältesten Teile der
Stadt, an der langen Brücke. Aber vom alten Berlin ist weder hier noch
anderswo viel zu sehen. Gerade in den alten Stadtteilen wachsen an
Stelle der alten Wohnhäuser immer mehr die himmelhohen Kaufhäuser
aus der Erde, die bis unters Dach nur Verkaufs- und Kontorräume ent-
halten. So kommt es, daß gerade die Mitte der Weltstadt an Bevölkerungs-
zahl immer mehr abnimmt.
4. Auch die „Lange Brücke" hat längst der Kurfürstenbrücke Platz
gemacht, die das Denkmal des Großen Kurfürsten trägt, ein Meister-
werk des großen Bildhauers Andreas Schlüter. Der große Hohenzoller
schaut hinüber nach dem Kaiserlichen Schlosse, das zu seiner Zeit noch
so einfach und bescheiden war, von seinem Sohne aber zu dem gewaltigen
Königspalaste ausgebaut wurde, der noch heute, nach 200 Jahren, das
Staunen der Fremden und das Entzücken der Kunstfreunde bildet. In
ehrfurchtsvoller Weise hat man jedoch die alten Teile des Schlosses er-
halten, so daß man heute die ganze Entwicklung desselben verfolgen kann.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 18
274
Ein Rundgang um das Riesengebäude führt uns zu dem Meisterwerke des
großen Künstlers Reinhold Begas, dem Nationaldenkmal Kaiser
Wilhelms I. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll an dem
herrlichen Denkmal: Ist es der schöne Säulengang mit den beiden Vier-
gespannen? Sind es die vier ungeheuren Löwen, die, über Kanonen und
Waffen liegend, Wache halten, oder, zum Sprunge gerüstet, drohend den
Feind zu erwarten scheinen? Sind es die beiden Reliefplatten des Sockels,
die uns den schaudererregenden Krieg und den lieblichen Frieden so deut-
lich vor die Augen stellen? Sind es die vier wundervollen weiblichen
Figuren, die in leichter Anmut auf einer Kugel dahinschweben? Ach nein,
das Herrlichste ist doch der alte Heldenkaiser, der auf seinem Lieblingsroß,
geführt von einem anmutigen Mädchen, seinem Schlosse zureitet. So lebt
er und wird er leben im Herzen seines dankbaren Volkes.
5. Von der Nordseite her kann man das Schloß betreten. Es kostet
nur fünfzig Pfennige, und wer wollte die nicht anwenden, um einmal
das Innere eines Kaiferschlofses zu sehen! Andere Fremde schließen
sich uns an, und bald ist ein ganzer Trupp beisammen: Einheimische und
Fremde, Vornehme und Geringe. Ein betreßter Diener erscheint mit
einem ganzen Berg großer Filzpantoffel aus der Schulter. Rasch schlüpfen
wir in ein Paar hinein mit unsern bestäubten und schmutzigen Stiefeln,
um den glänzenden, spiegelglatten Parkettfußboden nicht zu verderben und
auf ihm nicht auszugleiten. Fast unhörbar rutscht die ganze Gesellschaft
hinter dem Diener her, der in eintöniger Weise in jedem Zimmer seine
Erklärungen gibt. Wir bekommen aber beileibe nicht alle Zimmer zu
sehen, und das ist gut; denn das Schloß enthält deren über 700. Auch
die Wohnräume der kaiserlichen Familie sehen wir nicht, da ein Kaiser
doch auch Ruhe haben muß, um ungestört arbeiten zu können. Die
Besucher gehören eben in die „gute Stube". Was gibt's da aber alles
zu sehen und zu bewundern! Holzschnitzereien an und über den Türen,
seidene, mit Adlern geschmückte Tapeten, Wand- und Deckengemälde, kunst-
voll gearbeitete goldene und silberne Gefäße, ein silberglänzendes Gitter,
das aber nur aus Holz besteht, weil Friedrich der Große das Silber
einschmelzen ließ, um Münzen daraus zu schlagen. Durch eine lange
Zimmerflucht kommen wir zuletzt in den Weißen Saal. Der sieht aber
auch wahrhaft kaiserlich aus. Er ist an den Wänden überall mit weißem
Marmor ausgekleidet. Ringsherum stehen Marmorstandbilder der preußischen
Könige. An einer Seite wird gerade ein Thron aufgebaut. Vorläufig
sieht er gar nicht kaiserlich aus, sondern die Holzblöcke und Bretter, aus
denen das Gerüst gezimmert wird, machen einen ganz gewöhnlichen Ein-
druck. Wenn aber erst kostbare, weiche Teppiche darüber gebreitet sind
und obendrauf der Kaisersessel mit der Krone steht, dann sieht's schon
anders aus. Und betritt gar der Kaiser ihn, umgeben von Fürsten und
275
Ministern, um die Thronrede zur Eröffnung des Reichs- oder Landtags
zu verlesen, dann mag den im Halbkreise herumstehenden Abgeordneten
doch die Brust weit und das Herz voll werden von freudigem Stolze
über deutsche Kaisermacht und Herrlichkeit, und das Kaiserhoch mag in
diesem Raum dann noch stolzer und jubelnder klingen als anderswo.
6. Nachdem wir noch der weihevollen Kapelle des Schlosses einen
Besuch abgestattet haben, steigen wir wieder hinab in den Lustgarten
nördlich vom Schlosse. Die Ostseite dieses lieblichen, mit Anlagen reich-
geschmückten Platzes, in dessen Mitte sich das schöne Reiterstandbild
Friedrich Wilhelms III. erhebt, begrenzt der neue Dom, die größte und
stolzeste Kirche Berlins, die im Stil viel Ähnlichkeit mit der Peterskirche
in Rom hat. Auf der Nordseite des Lustgartens hat die Kunst ihr
Heiligtum. Fünf große Museen zeigen, was die Völker aller Zeiten in
der Kunst hervorgebracht haben. Aber schon sind die Gebäude viel zu
klein, um alles zu fassen, und großartige Pläne liegen vor, alle diese
Museen zu erweitern und zu einer einzigen Anlage umzuschaffen, die
ihresgleichen kaum haben wird. Ungeheure Schätze sind hier aufgespeichert,
viele Hunderte von Millionen beträgt ihr Wert, viele sind überhaupt kaum
zu bezahlen. Und doch liegt alles so einladend vor jedermanns Augen
ausgebreitet, und das Ansehen kostet keinen Pfennig. Wir können leider
nur flüchtig hindurcheilen und werden doch von dem vielen Schauen zu-
letzt ganz verwirrt. Ja, wer in Berlin wohnen und alle Wochen einmal
hingehen könnte!
7. Nur schweren Herzens reißen wir uns los und wandern west-
wärts nach der schönen Straße Unter den Linden, die sich in einer
Länge von 1 km und einer Breite von 60 ui zum Brandenburger Tor
zieht. Gleich zu Anfang wird unser Blick gefesselt durch das großartige
Denkmal des „Alten Fritz", den uns Berlins größter Bildhauer
Rauch dargestellt hat, wie er inmitten seiner Helden dahinreitet. Bei
diesem Denkmal pflegten sich in den letzten Jahren des alten Kaisers
täglich Hunderte, ja Tausende anzusammeln, um den greisen Helden mit
lautem Hurra zu begrüßen, wenn er aus dem bekannten Eckfenster seines
gegenüberliegenden kleineren Schlosses heraussah, um die vorüberziehende
Wache zu sehen. Jetzt ist's still in dem Schlosse; aber wir dürfen hinein
und die Räume betreten, die der Kaiser so lange bewohnt hat. Der Diener
zeigt uns die einfachen Rohrstühle und den kleinen Tisch, welche der
sparsame Kaiser benutzte, den Schreibtisch, auf dem noch das Buch auf-
geschlagen liegt, in dem der Greis wenige Tage vor seinem Tode arbeitete,
das schmucklose Schlafzimmer, in dem er nach rastloser Arbeit zur ewigen
Ruhe abberufen wurde.
8. Von all dem Sehen und Bewundern sind wir müde, hungrig und
durstig geworden, und da wir uns hier in dem Teile Berlins befinden,
18*
276
in dem wir mindestens alle hundert Schritt auf eine Sehenswürdigkeit
ersten Ranges stoßen, so treten wir selbstverständlich in das berühmte
Cafe Bauer, um unsern irdischen Menschen durch eine Tasse vortrefflichen
Kaffees aufzufrischen. Nicht weit davon werden die „Linden" von der
3 Irin langen schnurgeraden Friedrichsstraße geschnitten, in der ein unheim-
licher Verkehr herrscht, obgleich keine Straßenbahnen, sondern nur Omni-
busse hier fahren dürfen. Eine Menge Polizisten bewachen den Übergang
und lassen abwechselnd Wagen und Menschen hinüber. Nur langsam
kommen wir weiter, denn es gibt hier gar zu viel in den Schaufenstern zu
bewundern: Goldwaren, Perlen, Kunstgegenstände in höchster Vollendung
und zu ungeheuren Preisen. Eine Perlenhalskette für 40—50 000 Mark
sieht man ganz gern einmal, auch wenn man sie nicht bezahlen kann.
Den schonen schattigen Weg in der Mitte kann man aber auch ohne Geld
genießen und aus ihm entlang schlendern bis zum Brandenburger Tor.
Hoch auf dem gewaltigen Säulenbau mit den fünf Durchgängen steht die
Siegesgöttin mit dem Viergespann. Sie erinnert uns an die Schmach
Deutschlands unter Napoleon, der sie als Beute nach Frankreich brachte,
aber auch an die herrliche Zeit der Befreiungskriege und an den alten
Blücher, der sie zurückholte.
9. Unmittelbar hinter dem Tore nimmt uns der Tiergarten auf,
der schönste und größte Park Berlins, mit gewaltigen alten Eichen,
Buchen, Rüstern, Ahornen und Platanen, mit wohlgepflegtem Rasen und
Teppichbeeten, schattigen Spazier- und Reitwegen, geräumigen Kinderspiel-
plätzen und lauschigen Goldsischteichen. Wir biegen gleich rechts ab, gehen
einen schattigen Gang entlang zum Königsplatz und stoßen gerade aus
das Denkmal Bismarcks. Der alte Recke in Kürassieruniform, der Mit-
schöpfer des Deutschen Reiches, steht vor dem herrlichen Reichstags-
gebäude, in dem er so oft in hinreißenden Reden für das Wohl des
Vaterlandes eintrat. Vor ihm erhebt sich der schlanke Schaft der Sieges-
säule mit der granitnen Säulenrunde an ihrem Fuße und den schönen
Reliefdarstellungen am Sockel, die uns von den letzten drei großen Kriegen
erzählen. Mühsam klettern wir die steile Wendeltreppe im Innern hinan
und kommen keuchend oben an. Aber unsre Mühe wird reichlich belohnt
durch die weite Rundsicht über das Häusermeer der Kaiserstadt.
10. Unten empfängt uns die breite Siegesallee. Wer die branden-
burgischen Herrscher von der Schule her nicht alle kennt oder sie wieder
vergessen hat, hier kann er sie beim Spazierengehen wiederholen; denn
von Albrecht dem Bären an bis auf Wilhelm den Großen stehen sie alle,
säuberlich von ersten Künstlern aus bestem italienischem Marmor gehauen,
inmitten schöner gärtnerischer Anlagen, zu beiden Seiten der Straße in
schnurgerader Reihe da. Diese in Stein gehauene Geschichte Brandenburgs
bildet ein hochherziges Geschenk unseres Kaisers an seine Hauptstadt.
Lieblicher aber muten uns die von lauschigem Gebüsch umgebenen Denk-
mäler Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise au.
11. Denkmalmüde vermeiden wir den „Großen Stern" und wandern
durch den einsamsten Teil des Tiergartens nach Charlotten bürg. Doch
nicht die großartigen Straßen dieser Stadt der Millionäre locken uns;
wir streben vorwärts nach dem stillen Park des Schlosses. Und wenn
wir hier mit entblößtem Haupte im Mausoleum andächtig vor dem un-
vergleichlichen Marmorbilde der Königin Luise stehen, daun zieht ein gut
Stück preußischer Geschichte an unserm Geiste vorüber und spinnt sich
weiter und weiter und sührt uns zu Luisens großem Sohne Wilhelm, der
ihr zu Füßen ruht, der Preußens Geschichte mit der deutschen verschmolz,
auf den Schlachtfeldern Frankreichs das Kaiserreich schuf und Berlin zur
Kaiserstadt machte.
12. Wir haben nur einen kurzen Gang durch die Riesenstadt machen
können, die zur Zeit des Großen Kurfürsten keine 20 000, heute aber
über 2 000 000, mit den Vorstädten sogar über 3 000 000 Einwohner
zählt. Könnten wir länger verweilen, so würde noch vieles unser Staunen
erregen: Großer Reichtum und bittere Armut, Schwelgerei und fleißige
Arbeit, herrliche Kirchen, Schulen, Krankenhäuser — und Spelunken, in
denen Laster und Verbrechen Hausen, denen viele unerfahrene junge Leute,
namentlich vom Lande, zum Opfer fallen. Wir würden erkennen, daß das
wahre Glück ebenso leicht und vielleicht leichter daheim zu finden ist als
in dem Glanze der Weltstadt; denn das besteht in der Liebe zu Gott
und Menschen, in der Sorge für Weib und Kind, für Heim und Herd,
in der Freude an Gottes schöner Natur, die ja der Berliner auch so sehr
liebt, und in der Liebe zum herrlichen Vaterlande, das mit seinen Armen
uns alle umfängt. Hermann Koch.
f. Zwischen den Vorwerken Zonastal und Bajohrgallen war's, wo
ich zum erstenmal eine Trakehnerherde sah. Zch kam auf dem Land-
wege, nicht auf der großen Landstraße, von Gumbinnen und fuhr schon
geraume Zeit durch die herrlichen, alten, schattigen Alleen, die nach
allen Richtungen hin das riesige Gebiet von Trakehnen durchschneiden.
Rechts und links vom Wege lagen weitgestreckte, üppige Weiden; über
die völlig ebene Fläche schweifte das Auge bis dorthin, wo am Horizont
eine neue Allee die Sicht begrenzte. Rein lebendes Wesen auf der grünen,
im Sonnenlicht glänzenden Flur außer einigen hochbeinigen Störchen, die
durch den grünen Rlee wandelten.
2. plötzlich hob der Rutscher die peitsche und wies nach vorn:
Zonastaler Herde!" Noch eine kleine Viertelstunde, und wir be-
278
fanden uns dicht neben den herrlichen Tieren — zweijährigen jungen
Hengsten, die, gegen sOO Stücf in einem Rudel vereinigt, kaum 50 Echritt
vom Wege ruhig grasten. Während wir uns näherten, hob nur dann
und wann ein Tier neugierig den schöngeformten Ropf und äugte zu
unserem Wagen herüber. Drei berittene Hirten waren dabei, die wie
angegossen aus ihren Gäulen saßen und aufmerksam jedes Tier be-
obachteten, das etwa Miene machte, sich zu weit von der übrigen Herde
zu entfernen.
3. Nichts schöneres für einen Tierfreund, auch wenn er gar kein
besonderer Renner des edlen Pferdes ist, als solch eine Trakehnerherde
im freien! Reine Hecke, kein Zaun hemmt die Tiere in ihrer Be-
wegung. Ungezwungen tummeln sie sich umher, die einen eifrig weidend,
die anderen in lustigen Sprüngen miteinander spielend und tollend, wie
um ihre seinen Gelenke zu erproben. Froher Zugendübermut spricht
aus allen Bewegungen der schönen, ebenmäßigen Glieder. Die kräftigen
Rücken, die noch nie einen Sattel getragen, dehnen sich vor Cuft; die
seingeschwungenen Hälse strecken sich vor Behagen, und die klugen Röpfe
mit den glänzenden Augen schauen gar merkwürdig verständig um sich.
Dann ist ein Weilchen die ganze Herde ruhig, bis plötzlich eine Gruppe
stutzt, fünfzig, sechzig schritte in lustigen Sprüngen fortgaloppiert und
Bewegung in die Masse bringt, die ihr, wie freudig erregt über den
Einfall, nachstürmt. Jeden Augenblick ein anderes Bild, und jeden
Augenblick ein schöneres!
4s Die Gehöfte von Trakehnen sind freundlich und sauber; man
sieht ihnen an, daß sie zu einer Musterwirtschaft gehören. Rechts um-
fangreiche Parkanlagen, aus denen das „schloß", das stattliche Wohn-
haus des Landstallmeisters, hervorlugt, links das treffliche Gasthaus mit
dem großen, goldenen Elchgeweih vor der Tür. Die siebenzackige Elch-
schaufel, auf dem rechten Unterschenkel eingebrannt, ist das Merkmal
jedes Pferdes, das im größten preußischen Gestüt gezogen ist.
5. Zur Mittagszeit sah ich, wie eine Herde Mutterstuten samt ihren
Füllen bei leichtem Regenwetter eingetrieben wurde. Ein entzückender
Anblick, die stattlichen Etuten, mit den zierlichen Rleinen vermischt, sich
ihre Etälle suchen zu sehen, wie sie bald den rechten Etall sogleich finden,
bald sich, gleichsam schäkernd, erst durch die Hirten zurechtweisen lassen.
Mir fiel hier so recht das Verhältnis zwischen den Wärtern und den
ihrer Pflege anvertrauten Tieren auf, das gegenseitige Eichkennen, die
Eorgfalt, die der Hirt jedem einzelnen Pferde entgegenbringt. Freilich,
die Wärter sind von Rindesbeinen auf mit den Tieren verwachsen, und
wenn der Dstpreuße überhaupt ein geborener Pferdepfleger ist, so sind
es die Trakehner, die sich schon als kleine Buben in den Ställen und
zwischen den Herden herumtummeln, ganz besonders. Eolcher Bursch
279
kennt jedes einzelne Stück seiner perde aufs genauste. Er nennt -mit
Stolz dessen Abstammung, redet wie ein Buch über seine Eigenschaften,
spricht mit ihm wie mit einem guten Kameraden und sieht es schließlich,
glaube ich, nur mit tränenden Augen aus der Herde scheiden.
6. Besonders schön sind die herrlichen Füchse. Ich sah sie, als sie
zur Tränke getrieben wurden und konnte mich nicht satt schauen an den
kräftigen Tieren, aus deren glänzendem Haar die Sonne sich förmlich
spiegelte. Jedes einzelne Stück schien das andere an Leichtigkeit und
Frische der Bewegungen zu überbieten. Wie überall aus dem Gestüt
weiden die Mutterstuten den ganzen Sommer hindurch aus den aus-
gedehnten Weideplätzen, werden aber zur Fütterung und zur Nacht zur
Tränke eingetrieben. Dabei spielt sich jedesmal ein höchst ergötzlicher
Vorgang ab. Das Eintreiben kann bei den großen Werden nicht aus
eimnal erfolgen, sondern nur in kleinen Gruppen. Der Hirt ruft, wenn
die Stunde gekommen, die Tiere einzeln nach ihren Namen auf, die
Fohlen noch nach dem Namen der Mutter. Er holt sie sich, sobald sie
nicht sogleich willig folgen, mit seiner langen peitsche, die er mit un-
fehlbarer Sicherheit handhabt, mitten aus der Herde heraus. Häufig
entsteht dann ein recht niedlicher Wirrwarr, ein buntes Durcheinander
ein angstvolles Suchen der Stuten, die ihre Fohlen verloren haben, und
ein noch angstvolleres der lieben Kleinen nach den Müttern. Erst nach
einer geraumen Weile entwirrt sich der Knäuel, und die Wirten ziehen
mit ihren Gruppen ruhig heimwärts. Nicht immer freilich geht es
ganz glatt ab. Kurz ehe ich nach Trakehnen kam, war z. B. eine ganze
Herde durch einen plötzlichen, von Hagel begleiteten Gewittersturm derart
außer Rand und Band geraten, daß sie sich zum Schaudern ihrer Wirten
in wilder Jagd auf den Weg gemacht hatte und querfeldein einige
Meilen über Land gerast war. Erst nach stundenlanger Mühe gelanc
es, sie auf völlig fremdem Gebiet wieder aufzusinden und heimzuführen
7. Der kaiserliche Marstall wählt sich jährlich etwa 30 Reit- und
Wagenpferde aus. Die meisten der prächtigen Tiere, die vor den Gala-
wagen des Berliner Hofes gehen, stammen ja aus Trakehnen, und ich
sah gerade bei meinem letzten Besuche in dem Gestüt auch einen wunder-
vollen Rappen, der als Leibpferd für den Kaiser bestimmt war. Der
Rest des Jahrganges nebst den sonstigen ausgemusterten Pferden wird
dann zur Auktion gestellt.
Solch eine Auktion in Trakehnen ist ein Ereignis für die ganze
Provinz, in der ja, wie man sagt, jeder zehnte Mensch Pferdezüchter
oder Pferdehändler, jeder zweite aber ein leidenschaftlicher Pferdelieb-
haber ist. Von nah und fern finden sich an dem lange vorher bekannt
gemachten Tage des Mai die Kauf- und Schaulustigen ein, die benach-
barten Gutsbesitzer und die Offiziere der nächsten Garnisonen mit ihren
280
Damen. Dazu kommen die Händler aus den ostpreußischen Städten,
aus Berlin und vielfach aus dem Auslande, die pferdezüchtenden Bauern,
die Liebhaber aus Insterburg, Aönigsberg, Memel. Am meisten begehrt
sind die wertvollen, für Zuchtzwecke verwendbaren Mutterstuten, die meist
von ostpreußischen Züchtern gekauft werden. Aber auch für die übrigen
Pferde werden hohe preise erzielt; ein Pferd, welches das Elchgeweih
von Trakehnen als Brandzeichen trägt, ziert ja jeden Stall.
8. In den langen Mintermonaten stehen die Pferde im Stalle,
werden aber steißig bewegt, bis der Juni sie wieder auf die Meide führt.
Dann beginnt die goldene Zeit der Freiheit aufs neue, die das Trakehner
Pferd so überaus leistungsfähig und verhältnismäßig hart auch gegen
die Einflüsse der Mitterung macht. Daß es das ist, hat ihm neben
allen anderen guten Eigenschaften auch den hohen Ruf als Soldaten-
pferd erster Alafse erworben, der von ihm aus auf die ganze ostpreußische
11 d) ^ -rCf
1. Mit Tagesanbruch haben wir Lübben, die letzte Station, erreicht
und fahren nunmehr am Rande des hier beginnenden Spreewaldes hin,
der sich anscheinend endlos und nach Art einer mit Heuschobern und Erlen
bestandenen Wiese zur Linken unsers Weges dehnt. Ein vom Frühlicht
nmglühter Kirchturm wird sichtbar und spielt eine Weile Verstecken mit
uns; aber nun haben wir ihn wirklich und fahren durch einen hoch-
gewölbten Torweg in Lübbenau, die „Spreewaldhanptstadt", ein.
Nach kurzem Gange durch Stadt und Park erreichten wir den Hanpt-
spreearm, auf dem die für uns bestimmte Gondel bereits im Schatten
eines Bnchenganges lag. Drei Bänke mit Polster und Rücklehne ver-
sprachen möglichste Bequemlichkeit. Am Stern des Bootes, das lange
Ruder in der Hand, stand ein Fünfziger mit hohen Backenknochen und
eingedrückten Schläfen, dem für gewöhnlich die nächtliche Sicherheit
Lübbenaus, heut' aber der Ruder- und Stenermannsdienst in unserm
Spreeboot oblag.
2. Wir stiegen ein, und die Fahrt begann. Gleich die erste halbe
Meile zeigt uns deutlich den Netz- und Jnselcharakter des Spreewaldes.
Dieser Netz- und Jnselcharakter ist freilich überall vorhanden, aber er
verbirgt sich vielfach, und nur derjenige, der in einem Luftballon über
das vieldnrchschnittene Gelände hinwegflöge, würde die zu Maschen ge-
schlungenen Flnßfäden allerorten in ähnlicher Deutlichkeit wie zwischen
Lübbenau und Lehde zu feinen Fiißen sehen.
Die Wassergewächse, die von beiden Seiten her uns stromaufwärts
begleiten, bleiben dieselben; Snmpflilie und Pfeilkraut lösen sich unter-
281
einander ab, und nur hier und da gesellt sich, unter dem überhangenden
Rande geborgen, eine wuchernde Vergißmeinnichteinfassung hinzu.
3. Es ist Sonntag; die Arbeit ruht, und die große Fahrstraße zeigt
sich verhältnismäßig leer; nur selten treibt ein mit frischem Heu beladner
Kahn an uns vorüber, und Burschen handhaben das Ruder mit großem
Geschick. Sie sitzen weder auf der Ruderbank, noch schlagen sie taktmäßig
das Wasser; vielmehr stehen sie grade aufrecht am Hinterteile des Boots,
das sie nach Art der Gondoliere vorwärts bewegen. Dies Aufrechtstehen
und mit ihm zugleich ein beständiges Anspannen der Kräfte hat dem
ganzen Volksstamm eine Haltung und Straffheit gegeben, die man bei
der Mehrzahl unsrer sonstigen Dorfbewohner vermißt. Wenn es schon
ein reizender Anblick ist, diese schlanken und stattlichen Leute in ihren
Booten vorüberfahren zu sehen, so steigert sich dieser Reiz im Winter,
wo jeder Bootfahrer ein Schlittschuhläufer wird. Das ist daun die eigent-
liche Schaustellung ihrer Kraft und Geschicklichkeit. Dann find Fluß und
Inseln eine gemeinschaftliche Eisfläche, und ein Paar Bretter unter den
Füßen, die halb Schlitten, halb Schlittschuhe sind, dazu eine sieben Fuß
lange Eisstange in der Hand, schleudert sich jetzt der Spreewälder mit
mächtigen Stößen über die blinkende Fläche hin. Dann tragen sie auch
ihre Volkstracht: kurzen Leinwandrock und leinene Hose, beide mit dickem
Fries gefüttert, und Spreewaldstiefel, die fast bis an die Hüfte reichen.
4. Es ist Sonntag, sagte ich, und die Arbeit ruht. Aber an Wochen-
tagen ist die Straße, die wir jetzt still hinauffahren, von früh bis spät
belebt, und alles nur Denkbare, was sonst auf Knüppeldamm und Land-
straße seines Weges zieht, das bewegt sich dann auf dieser Wasserstraße
hinab und hinauf. Selbst die reichen Herden dieser Gegenden wirbeln
keinen Staub auf, sondern werden ins Boot getrieben und gelangen in
ihm von Stall zu Stall oder von Wiese zu Wiese. Der tägliche Ver-
kehr bewegt sich auf diesem endlosen Flußnetz und wird nur auf Augen-
blicke unterbrochen, wenn auf blumengeschmücktem Kahn, Musik vorauf,
die Braut zur Kirche führt, oder wenn still und einsam, von Leidtragenden
in zehn und zwanzig Kähnen gefolgt, ein schwarzverhüngtes Boot strom-
abwärts gleitet. >
5. Einzelne Häuser werden sichtbar; wir haben Lehde, das erste Spree-
walddorf, erreicht. Man kann nichts Lieblicheres sehen als dieses Lehde,
das aus ebensovielen Inseln besteht, als es Häuser hat. Die Spree bildet
die große Dorfstraße, in die schmälere Gassen von links und rechts her
einmünden. Wo sonst Heckenzäune verlaufen, um die Grenze eines Grund-
stücks zu bezeichnen, ziehen sich hier vielgestaltige Kanüle hin; die Höfe
selbst aber sind in ihrer Grundanlage meistens gleich. Dicht an der
Spreestraße steht das Wohnhaus, ziemlich nahe daran die Stallgebüude,
während klafterweis aufgeschichtetes Erlenholz als schätzender Kreis um
282
das Jnselchen herläuft. Obstbüume und Düngerhaufen, Blumenbeete und
Fischkasten teilen sich im übrigen in das Gebiet und geben eine Fülle der
reizendsten Bilder.
6. Das Wohnhaus ist jederzeit ein Blockhaus mit kleinen Fenstern
und einer tüchtigen Schilsdachkappe; das ist das Wesentliche. Seine Schön-
heit aber besteht in seiner reichen und malerischen Einfassung von Blatt
und Blüte: Kürbis rankt sich auf, und Geißblatt und Winde schlingen
sich mit allen Farben hindurch. Endlich zwischen Haus und Ufer breitet
sich ein Grasplatz aus, an den sich ein Vrückchen oder ein Holzsteg schließt,
und um ihn herum gruppieren sich die Kähne, kleiner und größer, immer
aber dienstbereit, sei es, um einen Heuschober in den Stall zu schaffen
187. Eine Kammwanderung im Riesengebirge.
1. In aller Herrgottsfrühe wanderten wir an einein schönen
Sommermorgen die Straße von Hirschberg nach Warmbrunn hinaus,
um der bisher ungeschauten Welt des Riesengebirges zuzustreben. Noch
verwehrte uns eine neidische Wolkenwand den Blick auf die ersehnten
Berge, und der trostlos graue Himmel ließ an Einförmigkeit nichts
zu wünschen übrig. Als wir aber nach dreistündigem Marsche unser
erstes Reiseziel, den Kochelfall, erreicht hatten, da erglänzte die herr-
liche Morgensonne, die je die Gipfel des ragenden Getanns vergoldet
und ihre funkelnden Strahlen in den in allen Farben schimmernden
Tropfenregen des Falles getaucht hatte. In keckem Sprunge rauscht
hier das frische Bergkind über einen zehn Meter hohen Felsen hinab
in ein tiefgrünes Wasserbecken.
2. Hierauf ging's nun durch den taufrischen Wald, an der heiter
plaudernden Kochel entlang, der freien Höhe des Gebirges entgegen.
Nachdeni wir den Bannwald durchschritten hatten, jene oberste Wald-
zone, die das ganze Gebirge umgürtet und den Tälern Schutz gegen
Lawinen und Erdrutsche gewährt, grüßte uns von grasiger Lehne die
an der Grenze des Knieholz gelegene Alte Schlesische Baude.
Den Übergang vom Fichtenhochwalde zum Knieholze bilden eigen-
artige Baumgestalten. Es sind alte, oft hundertjährige Fichten, die
hart über dem Boden ihre Äste entsenden, selten mehr als manns-
hoch sind und wie in trotziger Klage ihre kahlen, vom Sturme zer-
fetzten Wipfel gen Himmel strecken. Doch die allgütige Mutter Natur
entschädigte auch diese ihre Stiefkinder. Liebevoll schmückte sie die
kahlen Zweige mit lang wehenden Flechten, den „Rübezahlsbärten",
und umbettete ihren Fuß mit schwellenden Moospolstern. Das Knie-
holz verstand es besser, sich den rauhen Mächten des Gebirges zu
283
fügen. In meterlangen, oft armstarken Ästen am Boden hingeduckt,
spottet diese Bergkiefer dem wildesten Wüten des Sturmes, und das
dichte Gewirr ihrer kurz aufstrebenden Zweige trägt acht Monate im
Jahre die mächtige Last der Schneedecke, ohne Schaden zu nehmen.
Wahrlich, ein getreues Abbild des Menschenschlages, der diese Berge
bewohnt!
3. Ein fröhliches, müheloses Wandern begann nun auf der ebenen
Hochfläche, die mit einer graugrünen Grasnarbe bedeckt ist. Zur
Linken die lieblichen Fluren des Hirschberger Tales, zur Rechten das
Wäldermeer des böhmischen Berglandes und über dieser Herrlichkeit
der kristallene Himmelsdom, den kaum das kleinste Wölkchen trübte!
War doch der winzige weiße Nebelballen, der dort im Süden an der
mächtigen Kesselkoppe hing, fast nicht erkennbar. Doch was ist das?
Mit Wunderschnelle wächst die kleine Flocke; in wenigen Minuten
schwillt sie zu hundert-, zu tausendfacher Größe an. Und schon kommt
es über die Elbwiese dahergejagt, erst in einzelnen Schwaden, dann
in immer dichteren Massen, und im Handumdrehen verschwinden Him-
mel, Berg und Tal, verschwinden dem überraschten Blicke selbst die
wenige Schritte vorauswandelnden Reisegenossen: Rübezahl hat uns
den ersten Streich gespielt und uns ein Pröbchen seiner Wetterkünste
in Gestalt eines echten Gebirgsnebels zu kosten gegeben. Anfangs
ist's recht lustig, dann aber unangenehm, denn unsere Kleider werden
naß. Plötzlich türmt sich eine mächtige, gespenstische Masse vor uns
auf. Schon glauben wir an ein neues Zauberstückchen des neckischen
Alten vom Berge; doch fröhliches Stimmengewirr belehrt uns, daß
wir vor der Schneegrubenbaude stehen. — Wie traulich uns die
niedrige Stube anmutet! Die weißgedeckten Tische schmücken würzig
duftende Sträuße von Gebirgsblumen. Das wichtigste Stück des ge-
samten Baudeinventars ist aber der mächtige Kachelofen, der gemein-
same Freund des Baudenmannes und seiner Gäste. Während er zur
Sommerszeit dem Touristen gefällig die erstarrten Glieder wärmt
und seine Kleider und Schuhe trocknet, wird er in dem acht Monate
langen Winter, wenn gewaltige Schneemassen das Haus bis zum Dach-
first umhüllen, so recht zum eigentlichen Lebensspender für die Be-
wohner. In dieser Zeit des Lebendigbegrabenseins führen die Bauden-
leute ein trauriges Dasein. Oft dringt monatelang keine Kunde von
den Ereignissen der Außenwelt hierher.
4. Noch sind die Schneegruben vor der Baude am Nordabhange
des Kammes mit dicken, weißen Nebelmassen angefüllt, und cs wogt
und wallt und brodelt da unten wie in einem riesigen Hexenkessel.
Weiter hinaus aber überfliegen die Augen das weite, sonnbeglänzte
Hirschberger Tal mit seinen blühenden Ortschaften und lachenden Fluren,
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im Norden von den binnen Bergen der Bober-Katzbachkette, int Süden
vom steilen Walle des Riesenkammes wie von liebenden Armen um-
schlossen. Nun ist auch der letzte Nebelfetzen aus den Gruben ver-
schwunden und flattert um die Wipfel des Getanns, das sich tal-
abwärts hinzieht. Welch ein Gegensatz zwischen Fern- und Nahblick!
Über 200 Meter tief stürzen die dunklen Felsmassen dicht vor unseren
Füßen hinab. Besonders die zur Rechten gelegene Große Schneegrube
bietet mit ihren düsteren Felsentürmen und -erkern einen Anblick von
schauerlicher Erhabenheit. Der Grat, der beide Gruben trennt, er-
möglicht es dem geübten Kletterer, von obenher in den Grund hinab-
zusteigen, der von hier wie eine smaragdgrüne Wiese erscheint, in
Wirklichkeit aber mit zahllosen Steintrümmern übersät ist. In alter
Zeit sollen hier Gletscher gewesen sein. Die herabdrängenden Eis-
ströme rissen Stein um Stein am Rande los und trugen sie alle
hinab bis dahin, wo das Eis zerschmolz. Hier bilden sie noch heute
am Eingänge der Gruben mächtige Schuttwälle.
5. Auf der weiteren Wanderung gelangen wir auf den nahen
Gipfel des Hohen Rades. Es bietet eine herrliche, allseitige Aussicht.
Vom Norden her grüßt das ehrwürdige, graue Gemäuer der Kynast-
burg herüber, im Osten erhebt die Schneekoppe ihr stolzes Haupt, und
im Süden steigen wie düstere Mauern der Krokonosch und der Ziegen-
rücken auf. Zwischen uns aber und diesen mächtigen Wällen liegen
die lieblichen „Sieben Gründe", das Tal der jungen Elbe und ihrer
grünen Schwester, des Weißwassers. In diesen waldbedeckten Schluch-
ten hausten noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts Wolf und
Luchs, und der Steinadler horstete auf felsiger Klippe. Heute lagern
sich anl sanften Abhange des Hohen Rades kleine Baudengruppen,
ans beit Matten weidet stattliches Vieh, und der Herdenglocken ein-
förmiges Geläute tönt leise herauf, dazwischen lustiges Jodeln und
Peitschen der Hirtenbuben.
6. Mit raschen Schritten durchmaßen wir die kleine Senke, die
das Hohe Rad von seinem spitzen Nachbargiebel, der Großen Sturm-
haube, trennt. Nach anderthalbstündiger Wanderung lud uns die statt-
liche Peterbaude zur Rast. Doch wir eilten vorüber, und nach einer
weiteren halben Stunde war die Spindlerbaude erreicht, die unsere
müde Schar zu stärkender Nachtruhe aufnehmen sollte. Die Sonne
sandte eben ihren Scheidegruß, die Kämme und Gipfel mit warmem,
rötlichem Schimmer bekleidend, und aus den Tälern kroch die Däm-
merung herauf. Ein feuchter Hauch strich von den „Sieben Gründen"
herüber und mahnte uns, die trauliche Stube auszusuchen.
7. Am Morgen waren wir früh aus den Federn, und hurtig ging's
den kleinen Abhang der Sturmhaube hinan. Noch wob die Dämmerung
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ihre Schatten um die Knieholzbüsche, und die letzten Sterne blinzelten
müde vom schwarzblauen Himmel herab. Bald war der Gipfel er-
reicht. Da verstummte das Geplauder der Freunde, und in wortlosem
Bewundern genossen wir das unvergleichliche Schauspiel des Sonnen-
aufgangs. Ein fahler, gelber Schein klimmt am östlichen Horizonte
herauf, und die Himmelskuppel kleidet sich in lichteres Blau. Noch
verbirgt ein niederer, bläulich-weißer Wolkenwall das königliche Ge-
stirn. Bald säumt er sich goldglänzender; und plötzlich — ein Ausruf
des Entzückens — schießt ein Feuerblitz empor, danu ein glühendes
Strahlenbündel, und langsam steigt die blutigrote Scheibe herauf. Das
Blau des Himmels verwandelt sich in zartes Rosenrot, die sinkenden
Wolken gleichen einem Flammenmeere. Wie die alten Bergeshäupter
erglühen im Feuerkuß der siegenden Sonne! Zn unseren Füßen
dampfen die dunklen Täler, und tausend Tropfen diamantenen Taues
schimmern an Fels und Halm. — Und nun wandern wir der Sonne
entgegen. Zwei gute Stunden rüstigen Marsches, und der Fuß
der ersehnten Riesenkoppe war erreicht. Da lag er nun vor uns,
der „weltberufene Riesenberg", eine gewaltige, mit Millionen von
Felsblöcken besäte Pyramide, das stolze Haupt in weiße Wolken gehüllt.
Nach M. Rordorff.
188. Zu Dank bezahlt. (Gekürzt.)
1. Es war einmal ein Bauer, der wohnte im Amte Reichenberg,
und ein böser Nachbar hatte ihm all sein Hab und Gut abgerechtet.
Nachdem das Gericht sich seiner letzten Kuh bemächtigt hatte, war ihm
nichts geblieben als ein abgehärmtes Weib und ein halbes Dutzend Kinder.
Die Arme, so rüstig und gesund sie waren, reichten nicht hin, sich und
die Seinigen zu ernähren. Es schnitt ihm durchs Herz, wenn die Kinder
nach Brot schrien und er nichts hatte, um ihren quälenden Hunger zu
stillen. „Ach," sagte er manchmal zu seinem kummervollen Weibe, „wenn
wir doch nur hundert Taler hätten! Damit könnten wir unsern ver-
wüsteten Haushalt wieder einrichten. Du hast reiche Vettern auf der
andern Seite des Gebirges. Ich will doch einmal hin und ihnen unsere
Not klagen. Vielleicht erbarmt sich einer und leiht uns aus gutem Herzen
von seinem Überfluß auf Zinsen, soviel wir bedürfen." Mit schwacher
Hoffnung willigte das niedergedrückte Weib in diesen Vorschlag, und der
Bauer machte sich auf den Weg. Aber die reichen Vettern höhnten und
spotteten ihres armen Verwandten, nannten ihn einen Faulenzer und
Prasser und stießen ihn endlich gar zur Tür hinaus. Die Qualen der
Sorge im Herzen, machte er sich auf den Heimweg.
2. Als er wieder ins Gebirge kam, war er der Verzweiflung nahe.
Da kam ihm plötzlich der Gedanke, sich in seiner Not an den Geist des
ll
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Gebirges zu wenden. Er rief, so laut er konnte: „Rübezahl! Rübezahl!"
Plötzlich stand neben ihm eine furchtbar mächtige Gestalt, einem rußigen
Köhler gleich, mit einem fuchsroten Barte, der bis an den Gürtel reichte,
feurigen, stieren Augen und mit einer Schürstange bewaffnet, gleich einem
Weberbaum. In wildem Grimme hob der Niese diese in die Höhe, um
den frechen Spötter zu erschlagen. Aber der Bauer sprach ganz un-
erschrocken: „Mit Gunst, Herr Rübezahl. Verzeiht, wenn ich Euch nicht
recht tituliere! Hört mich armen Teufel nur an, dann tut, was Euch
gefällt." Diese unerschrockene Rede besänftigte ein wenig den Zorn des
Berggeistes. „Erdenwurm," murrte er, „was treibt dich, mich zu be-
unruhigen." Der Bauer erzählte ihm sein Elend und bat um hundert
Taler. „Komm," sprach der Geist, „folge mir!" und führte den Bauer
waldeinwärts in ein abgelegenes Tal zu einer schroff aufsteigenden Fels-
wand, deren Fuß ein dichter Busch bedeckte. Endlich gelangten sie an
den Eingang einer sinstern Höhle. Dem Bauer war nicht wohl dabei
zumute, wie er in die dunkle Höhle hineintappen mußte. Endlich sah er
in der Ferne ein blaues Flämmchen flackern. Das brannte in der Nähe
ganz hell und schwebte als Hängeleuchter in der Mitte einer weiten Halle.
Auf dem Boden derselben aber stand eine mächtig große kupferne Brau-
pfanne. Die war mit lauter harten Talern gefüllt bis zum Rand.
Veit sperrte Mund und Augen gewaltig aus und stand vor der Brat-
pfanne wie angewurzelt. „Nimm, was du bedarfst," sprach Rübezahl,
„es sei wenig oder viel! Nur stelle mir einen Schuldschein aus, wo du
der Schreiberei kundig bist." Veit zählte sich gewissenhaft hundert Taler zu.
Rübezahl schien auf das Zähluugsgeschüft gar nicht zu achten, sondern
suchte unterdes seine Schreibsachen hervor. Veit schrieb den Schuldschein
kurz und bündig. Rübezahl zog rasselnd ein Bund Schlüssel aus der
Tasche und schloß den Schein in einen eisernen Kasten. Dann reichte er
dem glücklichen Bauer die Hand und sprach: „Zieh hin, Freund, und
nütze dein Geld mit arbeitsamer Hand! Vergiß nicht, daß du mein
Schuldner bist und merke dir genau den Eingang in dieses Tal und diese
Felsenkluft. Sobald das dritte Jahr verflossen ist, zahlst du mir Kapital
und Zins zurück. Ich bin ein strenger Gläubiger! Hältst du die Frist
nicht ein, so fordere ich mein Geld mit Ungestüm." Der ehrliche Veit
versprach mit Hand und Mund, daß er auf den Tag gute Bezahlung
leisten werde. Dankerfüllten Herzens schied er von seinem Schuldherrn
in der Felsenhöhle.
3. Es war ihm so leicht ums Herz, als schwebe er dahin, und ehe
noch der Tag sich zu neigen begann, stand er vor seiner elenden Hütte.
Seine Kinder schrien nach Brot, sein abgehärmtes Weib saß in einem
Winkel und weinte. Veit bot der überraschten Frau heiter die Hand und
rief gutgelaunt: „Schür Feuer an, Mutter, und koch einen steifen Brei,
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daß der Löffel drin steht!" Dann warf er seinen Zwerchsack auf den
Tisch und packte aus: einen Laib Brot, Butter, Käse, Hirse und Grütze.
Das hatte er alles unterwegs eingekauft. Da machte das gute Weib große
Augen, und die Kinder standen jauchzend um den Tisch und klatschten
vor Freuden in die Hände. Von wem er das Geld bekommen hatte,
sagte der Bauer seiner Frau nicht.
4. In Rübezahls Gelde steckte ein rechter Segen. Veit säte, und die
Ernten stelen über alle Maßen reich aus. Schon galt er im Dorfe für
einen wohlhabenden Mann. Im dritten Sommer hatte er zu seiner Hufe
schon ein Herrengut gepachtet. Das brachte ihm reiche Zinsen. Kurz,
Veit war ein Mann, dem alles, was er tat, zu gutem Glück gedieh.
5. Der Zahlungstermin kam nun heran. Veit zählte die hundert
Taler samt Zinseu ab und legte das Geld zurecht. Am bestimmten Tage
stand er sehr früh auf, weckte sein Weib und seine Kinder und sprach
fröhlich: „Sputet euch, liebes Weib und liebe Kinder! Waschet und kämmt
euch sein säuberlich und ziehet eure Sonntagskleider an. Ich will dem
Gläubiger, der mir durch seinen Vorschuß wieder aufgeholfen hat, Schuld
und Zinsen bezahlen. Heute ist der Zahltag!" Das gefiel der Frau wohl.
Stattlich putzte sie sich und die Kinder heraus. Veit rüttelte den schweren
Geldsack zusammen, nahm ihn zu sich, und als alles in Bereitschaft war,
saß er aus mit Kind und Kegel. Schnaubend schäumten die Hengste ins
Gebiß und trabten mutig über das Blachfeld dem Riesengebirge zu.
6. Vor einem steilen Hohlwege im Gebirge ließ Veit den Wagen
halten, stieg ab und ließ sein Weib und die Kinder das gleiche tun.
Dann gebot er dem Knechte, den Berg hinanzufahren und oben bei den
drei Linden zu warten. Dann schlug er sich in der Geleitschaft seines
Weibes und seiner Kinder durch dichtverwachsenes Gebüsch waldeinwärts.
Prüfend spähte er hin und her, dahin, dorthin, nach rechts und nach links.
Plötzlich hielt er still. Mit einem ganz feierlichen Gesichte versanunelte
er seine Familie um sich her und sagte in ernstem Tone: „Liebes Weib,
du wähnst, wir ziehen zu deiner Freundschaft. Dahin steht mein Sinn
jetzt nicht. Knauser und Schurken sind deine reichen Vettern. Gefoppt
haben sie mich, verachtet, gehöhnt und mit Übermut von ihrer Schwelle
gestoßen! Wißt ihr, wer unser Schuldherr ist? Es ist der Herr vom
Berge, genannt Rübezahl." Wie die Frau das hörte, bebte sie vor Furcht,
und die Kinder zitterten wie Espenlaub. „Wartet hier," fuhr der Vater
fort, jetzt gehe ich in die Höhle, um mein Geschäft auszurichten."
7. Mit Leichtigkeit fand er alle Merkzeichen der Gegend wieder.
Die alte, halberstorbene Eiche, an deren Wurzel die Kluft sich öffnete
stand noch genau so, wie sie vor drei Jahren gestanden hatte. Allein
von einer Höhle war keine Spur vorhanden. Nach langem Harren rief
er laut: „Rübezahl! Rübezahl!" Da kreischte plötzlich der junge Bube
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laut auf und stotterte: „Ach Gott! Ach Gott! der schwarze Mann dort!
der schwarze Mann dort!" Aber niemand sonst konnte etwas sehen.
Rübezahl kam nicht, und alles Rufen war umsonst. Nach stundenlangem
Warten mußten sie endlich umkehren.
8. In tiefster Seele betrübt und schwermütig schritt er gesenkten
Hauptes auf der Landstraße langsam dahin. Da erhob sich ans einmal
vom Walde her ein sanftes Rauschen in den Bäumen; die ernsten Tannen
und Fichten, die schlanken Birken neigten ihre Wipfel, das leicht beweg-
liche Laub der Espen zitterte, näher und näher kam das Brausen. Der
Wind schüttelte die Äste der Eichen, trieb dürres Laub und Grashalmen
vor sich her und kräuselte ans dem Wege kleine Staubwolken in die Höhe.
An diesem artigen Schauspiel fanden die Kinder Gefallen. Sie belustigten
sich damit, nach den Blättern zu haschen. Unter dem dürren Laub wurde
auch ein Blatt auf dem Wege dahingeweht. Das erhaschte sich der kleinste
Bube, hielt es triumphierend in die Höhe und brachte es dem Vater.
„Das hast du brav gemacht," sagte dieser und faltete das Papier aus-
einander. Plötzlich stand er still und starrte das Papier wie geistes-
abwesend an. „Grundgütiger Gott," stammelte er, „das ist ja mein
Schuldbrief." So war es. Der Schuldbrief war von oben herein zer-
rissen, und unten stand geschrieben: Zu Dank bezahlt!
9. Da überkam es Veit ganz eigentümlich. Tiefe Rührung und
freudiges Entzücken kämpften in seinem Herzen einen harten Kampf.
Endlich gewann die Freude die Oberhand, und in hellen Jubel ausbrechend,
rief er: „Freuet euch allesamt! Er hat uns gesehen, der gütige Herr
des Gebirges! Er hat unsern Dank gehört. Unsichtbar hat er uns um-
schwebt! Er weiß, daß der Veit ein ehrlicher Mann ist. Quitt und ledig
bin ich meiner Zusage! Kommt, liebes Weib und liebe Kinder, wir wollen
uns freuen und fröhlich sein und frohen Herzens heimkehren."
August Musäus.
189. Rudelsburg.
1. An der Saale hellem Strande
stehen Burgen, stolz und kühn:
ihre Dächer sind zerfallen,
und der Wind streicht durch die Hallen;
Wolken ziehen drüber hin.
2. Zwar die Ritter sind verschwunden,
nimmer klingen Speer und Schild;
doch dem Wandersmann erscheinen
auf den altbemoosten Steinen
oft Gestalten zart und mild.
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8. Droben winken schöne Angen,
freundlich lacht manch roter Mund.
Wandrer schaut wohl in die Ferne,
schaut in holder Augen Sterne,
Herz ist heiter und gesund.
4. Und der Wandrer zieht von dannen;
denn die Trennungsstunde ruft;
und er singet Abschiedslieder,
„Lebewohl" tönt ihm hernieder,
Tücher wehen in der Luft.
Franz Kugler.
190. Der Rabe aus dem Scliloßhose zu Merseburg.
1. Vorzeiten lebte in Merseburg ein Bischof, Thilo von Trotha
mit Namen, der hatte einen alten, treuen Diener, Johannes. Und
der Diener hatte eine Tochter, Elsbeth, auf die hatte des Bischofs
Leibjäger Ulrich ein Auge geworfen und begehrte sie zum Weibe.
Johannes aber wollte darein nicht willigen; denn er kannte des
Ulrich rohes und böses Gemüt. Da schwur ihm der Jäger in seinem
Herzen bittre Bache. Nun ritt der Bischof einstmals aus, zu jagen.
Und als er wieder heimkehrte in sein Schloß und in sein Zimmer trat,
vermißte er alsbald einen goldnen Bing, den er besonders hoch und
wert hielt; denn er war ein Geschenk des Bischofs Gerhard von
Meißen. Und er ließ seine Diener vor sich kommen und forschte
von ihnen, wer den Bing genommen. Aber sie sprachen alle: „Wir
wissen nicht, wohin der Bing gekommen und haben keine Schuld
daran.“ Der Bischof aber traute ihren Worten nicht und hatte seit-
dem auf sie ein scharfes Auge und Ohr. Das war dem Ulrich
trefflich nach seinem Sinn, er lag dem Bischof von Tag zu Tag in
den Ohren mit Worten der Verleumdung wider Johannes, und da
der Bischof einst über seines Schlosses Hof ging, hörte er die Worte
rufen: „Hans, der Dieb! Hans, der Dieb!“ Nämlich der Bischof
hatte einen Baben in seinem Schloß, den hatte Ulrich die schlimmen
Worte gelehrt im Verborgnen. Der Bischof aber, da er solche
Worte hörte, ließ alsbald den alten, armen Johannes greifen und ins
Gefängnis werfen. Denn es dünkte ihm des Vogels Geschrei die
Stimme Wahrheit zu sein, und ob er wohl sonst ein gutes Herz
hatte, war er doch jäh in seinem Zorne und unbedacht.
2. Johannes beteuerte mit vielen heißen Worten und Tränen
seine Unschuld, Elsbeth ging selber hin in das Schloß, fiel dem
Bischof zu Füßen und flehte um ihres Vaters Freiheit und Leben.
Knppey u. Koch. Teutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 19
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Aber es half alles nichts; nach etlichen Tagen ward er gerichtet
mit dem Schwert. Und da man ihm wollte die Hände binden,
sprach er: „Und wenn ihr mich mit doppelten Stricken wolltet binden,
so würde ich doch meine Hände aufheben gen Himmel zum Zeichen
meiner Unschuld.“ Also starb er. Elsbeth aber ließ nicht ab, ihres
lieben Vaters jämmerliches Ende und unschuldigen Tod zu betrauern
und weinte und betete an seinem Grabe ohne Unterlaß. Und nach
Jahresfrist war sie tot. Ulrich aber, der Bösewicht, ward auf der
Jagd von einem Pfeil getroffen und starb auch. Nun geschah es,
daß nach einiger Zeit von einem Sturmwind die Spitze des Turmes
von dem Schlosse herabgeworfen wurde. Und da man herzukam,
den Schaden zu besehen, siehe, da fand sich unter den Trümmern
auch des Schloßraben Nest und in dem Neste des Bischofs Ring.
Denn die Raben, wie ihr wißt, stehlen gern, zumal was einen schönen
Glanz hat, wie goldnes und silbernes Gerät und, ob sie’s gleich nicht
brauchen können, nehmen sie;s doch mit sich fort in ihren Klauen
und tragen’s recht, wie ein Geizhalz, in ihr Nest und heben’s drin
auf. Also hatte der Rabe den Ring gestohlen. Denn der Bischof,
da er zur Jagd geritten, hatte das Fenster nicht verschlossen und
das Kästchen, darin das Kleinod lag, offen gelassen. Also ward auf
einmal des armen Johannes Unschuld offenbar. Der Bischof aber,
da ihm solches kund ward, erschrak sehr, legte sich und starb.
Und vor seinem Tode gab er Befehl, daß sein Wappen sollte herab-
genommen und ein andres eingesetzt werden, ein Rabe mit einem
Ring im Schnabel; auch daß fortan sollte ein lebendiger Rabe in
seines Schlosses Hof gehalten werden. Daher kommt denn das Bild
des Raben in dem Wappen und der lebendige Rabe in dem Bauer.
- Theodor Kriebitzsch.
191. Aus der Heimat der Spielwaren.
1. Der Thüringer Wald ist das größte Puppenheim der Welt, eine
Riesenspielschachtel, aus welcher der Weihnachtsmann alljährlich auf
hunderttausend lichtüberstrahlte Weihnachtstische die köstlichen,
schillernden Gaben stellt. Denn wenn der alte, weißbärtige Herr
wirklich ein festes Heim besitzt, dessen Zugang freilich auch dem
in allen Schluchten und auf allen Bergen Vertrauten immer ein
Geheimnis bleiben wird, so kann dies nur im Thüringer Walde sein.
Wenn die Waldberge ihre Hermelinmäntel umgelegt haben, die hohen
Tannen unter der Last des Schnees leise nach dem Frühling seufzen,
wenn alles so verwunschen still liegt und die kahlen Sterne flimmernd
am nächtlichen Winterhimmel stehen, dann schreitet Knecht Ruprecht,
der Weihnachtsmann, sachte von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort und
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sucht und sammelt ein, den rechten Glanz dem nahenden F este zu
bringen.
2. Die Hauptorte des Thüringer Waldes, wo Herstellung und
Handel aller Spielwaren zusammenfluten, sind das meiningische
Sonneberg mit dem benachbarten koburgischen Städtchen Neustadt
an der Heide und das gothaische Städtchen Waltershausen. Was
die Ortschaften im und am Walde an Hausindustrie schaffen, in
diesen drei Städten sammelt es sich an, wird zum Teil noch zusammen-
gesetzt, bemalt, verpackt und wandert dann im Dutzend und Gros,
wohlverwahrt in mächtigen, blechausgeschlagenen Kisten, über alle
Meere, zu den fernsten Erdteilen.
3. Alljährlich im Spätherbst treffen die Käufer aus aller Herren
Ländern in den thüringischen Fabrikstädten ein. Da werden die
neuen Muster in Augenschein genommen, ausgewählt, und dann der
Bedarf für das nächste Jahr bestellt, oft zu vieltausend Dutzenden.
Von den Besuchen dieser Fremden hängt gar manchmal das Wohl
und Wehe zahlloser armer Familien im Walde ab. Fielen die Be-
stellungen reich und glänzend aus, so gibt es Arbeit für das kom-
mende Jahr. Blieben die Käufer aus, so stellt sich dafür die Not
ein, die ja als Hausbewohnerin des Waldes von jeher nicht unbe-
kannt gewesen ist. Freilich auch in guten Jahren müssen alt und jung
heran, bis in die Nacht hinein tüchtig Arme und Finger rühren,
soll das Nötigste an Brot und Kleidung nicht fehlen.
4. Unter den Erzeugnissen der Spielwarenindustrie marschiert die
Puppe voran. Millionen von Puppen werden alljährlich im Thüringer
Walde geboren, von dem schlichtesten „Täufling“ mit grobgeschnitz-
tem Holzkopf bis zur kleinen Modedame, die laufen, sich setzen und
alle Glieder mit Anmut bewegen kann, die singt, mit Anmut Milch
trinkt, „Gute Nacht, Papa! Gute Nacht, Mama!“ schnarrt, und
dann gähnend die Augen zum Schlafe schließt. Aber selbst die ein-
fachste Puppe ist heutzutage ein kleines Kunstwerk, ein Wunder-
ding an Geschmack und Liebreiz gegen das, was noch vor einigen
Jahrzehnten der Kinderwelt dargeboten wurde. Vor allem aber ist
die Thüringer Puppe unendlich billig! So angenehm diese Eigen-
schaft auch für den Käufer sein mag, sie wird doch nur erkauft
durch niedrige Arbeitslöhne und durch den Umstand, daß die ganze
Familie bis zum Kleinsten dafür tätig sein muß. Mitwirkend für
die billige Herstellung ist auch die Arbeitsteilung, die jeder Hand
nur eine ganz bestimmte Tätigkeit zuweist.
Es gibt ganze Walddörfer, die nur Köpfe, Arme, Beine und
Gelenkteile schnitzeln und formen. Der Hirt an der Bergwand
inmitten der käu enden Herde, der Chausseegelderheber im einsamen
19*
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Waldbaus, der Alte, der sich auf den Steinhaufen der Haustür
behaglich sonnt: sie und noch viele andere helfen dabei mit. Die
Frauen nähen Lederbälge; die kleinsten Kinder wenden sie — eine
mühsame, kniffliche Arbeit! — bis in die äußersten Fingerspitzen
um — das Dutzend für zwei Pfennig, Größere Kinder füllen die
Bälge mit Sägespänen. Der Sohn taucht Kopf für Kopf, Bein für
Bein, Arm für Arm in eine fleischfarbene, dünnbreiige Tunke, Tag
auf Tag, Woche auf Woche, das ganze Jahr hindurch. Mechanisch
reiht er sie dann in niedrigen Holzkästen aneinander, die nun rings
um den auch im Sommer geheizten Kachelofen in Gestellen auf-
getürmt werden oder auch auf den Fensterbrettern längs der Haus-
front und des Gartenzauns im Sonnenschein als eigentümlicher
Schmuck prangen.
Sind die mit Fleischfarbe gesättigten Köpfe trocken, so tritt
der Künstler in seine Rechte. Gewöhnlich ist auch hier alles auf
geteilte Arbeit eingerichtet, um die Fertigstellung zu beschleunigen.
Da ist der eine auf kühn geschwungene Augenbrauen gedrillt; ein
anderer malt die Augen, ein dritter die Kirschlippen und roten
Wangengrübchen, ein vierter zaubert zwei Reihen weißschimmernder
Zähnchen zwischen die schwellenden Lippen. Da sitzen Frauen und
nähen Hemdehen und Wickelkissen, stricken Strümpfe in anen Formen
und Farben; wieder andere fertigen korb weise die niedlichen Gold-
käferschuhe an.
An jedem Sonnabend kommen dann im Winter und Sommer
Männer und Frauen mit den hochbeladenen Schiebkarren aus dem
Gebirge zur Stadt hinab, den Fleiß ihrer Hände abzuliefern, ab-
zurechnen und neue Aufträge entgegenzunehmen. Vom Morgen bis
in die späte Nacht hinein hat die ganze Familie emsig zum Erwerb
des Notwendigsten mitgeholfen, und wie schmal will uns der Wochen-
lohn trotzdem bedünken!
5. In den geräumigen Fabriksälen der Stadt greift nun neue Arbeit
ein, die Puppe immer mehr zu vervollständigen. Da werden die
einzelnen Glieder durch Kugelgelenke verbunden, die der Puppe
alle dem Menschenkörper abgelauschten Bewegungen möglich machen.
Inzwischen sind vollständige Perücken, dem Menschenhaare täuschend
ähnlich, hergestellt. Nun kommen die Puppenköpfe in den Saal,
wo an langen Tischen Mädchen sitzen, welche die Perücken den
Köpfen aufkleben, um dann mittels des Kammes und zehn spitzer,
geschickter Finger das Puppenhaupt kunstvoll zu frisieren, fast
jedes in einer anderen Mode. Arme, Beine und Kopf werden nun
am Balge befestigt; die Puppe wird angezogen oder muß sich
auch mit Hemd und Goldkäferschuhen begnügen. Dann wird sie
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noch mit buntseidenen Bändern kreuzweise verschnürt und in einen
saubern, in der Buchbinderei der Fabrik angefertigten Karton ein-
gesargt.
6. Bisher haben wir nur das Gebiet der Puppenindustrie durch-
streift. Welche Mannigfaltigkeit tritt uns nun erst entgegen, wenn
wir die Arbeitsstuben und -säle der andern Fabriken durchwandern,
die sich die Herstellung der tausenderlei bunten Spielsachen zur
Aufgabe gestellt haben! In breiten Buchstaben prangt dort an einem
vielfenstrigen, dreistöckigen Gebäude die Inschrift: „Puppenmöbel-
fabrik“. Es klingt so einfach! Wer aber hineintritt, wird erstaunt
sein, welche Fülle von zierlichen Kunstwerkehen uns hier im Pack-
raum, in den Mustersälen zur Augenweide und Herzensfreude er-
wartet. Da finden wir Einrichtungen für die Puppenstube vom
schlichtesten Bürgerheim bis zum Fürstenzimmer. Alle Holzarten
bis zum Ebenholz sind vertreten — wenn auch das letztere meist
nur in guter Nachahmung. Hohe, vergoldete Spiegel mit Marmor-
platte, die kostbarsten Möbel, fein gedrechselt, in allen Farben aus-
gelegt und in Wolle und Seide gepolstert, Waschtischchen mit be-
maltem Service und Messinghähnen für das Wasser, Himmelbetten,
Schreibtische mit den niedlichsten Schubfächern, mit Schreibmappe
und Tintenfaß: alles im kleinsten Maßstabe der Wirklichkeit nach-
geahmt.
7. Wem ginge das Herz nicht auf, wenn er in die Säle tritt, wo
all die unsere Erde bevölkernden Tiere entstehen! Löwen und
Lämmer halten da friedlich Zwiesprache, Elefanten und Kühe be-
grüßen sich ehrbar, Hund und Katze hocken einträchtiglich neben-
einander. Da werden die Holzgesfalten mit Fellen überzogen, Hörner
aufgesetzt, Beine eingerenkt, Glasaugen von wahrhaft täuschender
Lebendigkeit eingesetzt. Ist das Tier fertig, so kommt es auf ein
Gestell mit niedrigen Bädern. Die Ziegen erhalten Metallglöckchen
an buntem Bande; den kurzgeschorenen Pudeln überläßt man es, durch
Geschick und Gelehrigkeit sich bei den Kleinen beliebt zu machen.
8. Eine andere Fabrik hat sich auf die Herstellung ganzer Armeen
geworfen — wenn auch nur von Zinnsoldaten. Alle Waffengattungen
sind vertreten, Beiter und Fußgänger, die Artillerie mit ihren Ge-
schützen, Proviant- und Sanitätskolonnen. Der Matrose und der
Marinesoldat fehlen ebensowenig wie der schwarze, dürftig bekleidete
Neger unserer afrikanischen Schutztruppe, der allerdings im Vergleich
mit den anderen eine ärmliche Bolle spielt. Wir finden da „Buffalo-
Bill“ mit Indianern, Zelten und ungesattelten Präriepferden; mittel-
alterliche Bitter, Lagerleben und Biwak, Krieger und Helden aller
Völker und Erdteile sind hier vertreten.
294
9. Eine gewisse Bedeutung haben unter den Gegenständen, die
den Kleinen zur Lust und Augenweide dienen sollen, in den letzten
Jahren die Zusammensetzspiele gewonnen. Indem sie das Kind zum
Nachdenken anregen, fördern sie zugleich den Sinn für Form und
Farbe, und bilden darum eine Vorstufe für das zukünftige Lernen.
Nach buntfarbigen Vorlagen werden Bilder zusammengesetzt. Die
Herstellung dieser Sachen fällt der Abteilung für Buchbinderei in
den Fabriken anheim. Hier werden die sechs Seiten der Holzwürfel
beklebt, scharf abgeschnitten, geglättet und dann sauber mit den
Vorlagen in passende Schachteln gepackt, Hier entstehen auch die
Festungen, Theater und alles, was mit Papier und Leimtiegel ver-
knüpft ist.
10. Wie oft waren diese bunten Sächelchen, all der liebenswürdige
Tand, Zeugen bitterer Not, tiefen Harms! So manche Träne,
mancher Seufzer begleitete das Entstehen einer Puppe. Aber diese
will nichts davon erzählen, wenn sie als Liebling in den Armen des
kleinen Mütterchens ruht. Mit roten, vollen Bäckchen schaut sie
die Kleine an und lächelt, während der Tannenbaum im Schimmer
heller Kerzen festlich das behaglich durchwärmte Zimmer erleuchtet
und aus den dunkeln, harzduftenden Zweigen leise und doch ver-
nehmbar alte, selige Jugendträume her vorschweben, die das Herz so
tief bewegen, und die keiner wieder vergißt, wenn auch Alter und
Sorgen ihm das Haar bleichten; denn sie bedeuten die Erinnerung
an die reinsten und schönsten Tage eines Menschenlebens.
August T r i n i u 3.
192. Die heilige Elisabeth.
1. Der König von Ungarn hatte ein vierjähriges Töchterchen, Elisabeth.
Als der Landgraf von Hessen, Hermann I., ihn einst besuchte, sagte der
König: „Mir fehlt es an guter Unterweisung für meine kleine Elisabeth;
ich hätte gern, daß das Mädchen etwas lernte und in der Gottesfurcht
erzogen würde." Da antwortete der Landgraf: „Gebt sie mir nur mit;
daheim in meinem Land hab' ich viele gelehrte und fromme Männer, die
können eine Königstochter wohl unterrichten. Wenn Ihr es erlaubt, Herr
König, so mag sie mit meinem Sohne Ludwig zugleich Unterricht haben."
Dem König tat es zwar leid, sein Kind von sich zu lassen, da er aber
wußte, daß es zu Elisabeths Glück diente, gab er sie dem Landgrafen mit.
2. Elisabeth wuchs heran, schön, fromm und wohltätig; jedermann hatte
sie lieb, jedermann hatte seine Freude an ihr. Deshalb wurde sie auch
von ihrem Gespielen Ludwig, als er nach seines Vaters Tode Landgraf
wurde, zur Gemahlin erwählt, und beide waren die Wohltäter ihres Landes.
295
Allein die allzu große Güte Elisabeths wurde doch manchmal ihrem Ge-
mahl bedenklich. Sie schenkte alles weg, was sie nur hatte: sie versagte
sich selbst bisweilen das Notwendige, um es den Armen zu geben, und
oft waren es Betrüger, die sich für Arme ausgaben. Deshalb machte
ihr der Landgraf Vorstellungen. „Geben ist gut," sagte er, „aber man
muß doch auch wissen, wem man gibt, und ob man selbst so viel ent-
behren kann." Allein Elisabeth konnte nicht nein sagen, wenn jemand sie
bat, und deshalb geschah es immer wieder. Um nicht erkannt zu werden,
zog sie die Kleider einer Magd an; denn sie wollte immer lieber selbst
geben als es durch andere tun lassen. Einst hatte sie wieder die Schürze
voll Nahrungsmittel, um sie einer armen Familie zu bringen; da begegnete
ihr der Landgraf, und weil er ihre Absicht vermutete, so rief er ihr zu:
„Nun, Elisabeth, wohin?" Die Landgräfin wurde rot; denn obgleich ihr
Werk ein gutes war, so war es ihr doch leid, gegen den Willen ihres Ge-
mahls gehandelt zu haben. Als sie aber ihre Schürze vor dem Land-
grafen öffnete, siehe, da war diese voll Rosen.
3. Noch hatte die Ehe Ludwigs, den man den Tugendsamen hieß, mit
der heiligen Elisabeth nicht lange gedauert, da zog der Kaiser in das Ge-
lobte Land, um es von den Türken zu befreien und wieder christliche
Kirchen dort zu errichten. Da wollte Ludwig nicht zurückbleiben, und
Elisabeth, so groß auch der Schmerz war, den sie über die Trennung
fühlte, mochte ihn doch an einem so heiligen Zuge nicht hindern. Aber
schon unterwegs wurde Ludwig krank, und Elisabeth sah nur seine Leiche
wieder. Der neue Landgraf, sein Bruder, behandelte sie hart und vertrieb
sie sogar aus dem Schlosse Wartburg. Da verlor sie vollends alle Lust
an den Freuden der Welt. Sie tat nichts mehr als Hungrige speisen,
Kranke pflegen, Unglückliche trösten; deshalb verehrte das Volk sie schon
bei ihren Lebzeiten als eine Heilige. Als sie aber nach wenig Jahren starb,
weil sie sich zu sehr gegrämt und angestrengt hatte, da erklärte sie auch
der Papst für eine Heilige, und ihre Verwandten bauten über ihrem Grabe
die schöne Elisabeth-Kirche zu Marburg. Ludwig Bechstein.
193. Landgraf Ludwig baut eine Mauer.
Einmal führte der eiserne Landgraf den Kaiser Friedrich Kot-
bart, seinen Schwager, nach Naumburg aufs Schloß; da ward der
Kaiser von seiner Schwester freundlich empfangen und blieb eine
Zeitlang da bei ihnen. Eines Morgens lustwandelte der Kaiser, be-
sah die Gebäude und ihre Gelegenheit, kam hinaus auf den Berg,
der sich vor dem Schloß ausbreitete, und sprach: „Eure Burg be-
hagt mir wohl, nur daß sie nicht Mauern hier vor der Kemnate
hat; die sollte auch stark und fest sein!“ Der Landgraf erwiderte:
.ITm die Mauern sorg’ ich nicht, die kann ich schnell erschaffen,
296
sobald ich ihrer bedarf.“ Da sprach der Kaiser: „Wie bald kann
eine gute Mauer hierum gemacht werden?“ „Eher denn in drei
Tagen“, antwortete Ludwig. Der Kaiser lachte und sprach: „Das
wäre ja wunder; und wenn alle Steinmetzen des deutschen Reichs
hier beisammen wären, so möchte das kaum geschehen.“ — Es war
aber an dem, daß der Kaiser zu Tische ging; da bestellte der Land-
graf heimlich mit seinen Schreibern und Dienern, daß man von
Stund an Boten zu Roß aussandte zu allen Grafen und Herrn in
Thüringen und ihnen meldete, daß sie zur Nacht mit wenig Leuten
in der besten Rüstung und Schmuck auf die Burg kämen. Das ge-
schah. Frühmorgens, als der Tag anbrach, richtete Landgraf Lud-
wig das Volk also an, daß ein jeder auf den Graben um die Burg
trat, gewappnet und geschmückt in Gold, Silber, Samt, Seiden und
den Wappenröcken, als wenn man zu streiten auszieht; und jeder
Graf oder Edelmann hatte seinen Knecht vor ihm, der das Wappen
trug, und seinen Knecht hinter ihm, der den Helm trug; so daß
man deutlich jedes Wappen und Kleinod erkennen konnte. So
standen nun alle Dienstmannen rings um den Graben, hielten bloße
Schwerter und Äxte in Händen, und wo ein Mauerturm stehen sollte,
da stand ein Freiherr oder Graf mit dem Banner. Als Ludwig alles
dies stillsehweigends bestellt hatte, ging er zu seinem Schwager und
sagte, die Mauer, die er sich gestern berühmt hätte zu machen, stehe
bereit und fertig. Da sprach Friedrich: „Ihr täuscht mich,“ und
segnete sich, wenn er es etwa mit der schwarzen Kunst zuwege ge-
bracht haben möchte. , Und als er auswendig zu dem Graben trat
und so viel Schmuck und Pracht erblickte, sagte er: „Nun hab’ ich
köstlichere, edlere, teurere und bessere Mauern zeit meines Lebens
noch nicht gesehen; das will ich Gott und Euch bekennen, lieber
Schwäher; habt immer Dank, daß Ihr mir solche gezeigt habt.“
Brüder Grimm.
194. Der Hartgeschmiedete Landgraf.
Zu Ruhla im Thüringer Wald liegt eine uralte Schmiede, und
sprichwörtlich pflegte man von langen Zeiten her einen strengen, un-
biegsamen Mann zu bezeichnen: er ist in der Ruhl hart geschmiedet
worden.
Landgraf Ludwig zu Thüringen und Hessen war anfänglich ein
gar milder und weicher Herr, demütig gegen jedermann; da huben
seine Junker und Edelinge an stolz zu werden, verschmähten ihn und
seine Gebote; aber die Untertanen drückten und schätzten sie aller
Enden. Es trug sich nun einmal zu, daß der Landgraf jagen ritt am
297
dem Walde und ein Wild antraf; dem folgte er noch so lange, daß er
sich verirrte, und ward benächtiget. Da gewahrte er eines Feuers
durch die Bäume, richtete sich danach und kam in die Ruhl, zu einem
Hammer oder einer Waldschmiede. Der Fürst war mit schlechten
Kleidern angetan und hatte sein Jagdhorn umhängen. Der Schmied
fragte, wer er wäre? „Des Landgrafen Jäger." Da sprach der Schmied:
„Pfui des Landgrafen! Wer ihn nennet, sollte allemal das Maul
wischen, des barmherzigen Herrn!" Ludwig schwieg, und der Schmied
sagte zuletzt: „Herbergen will ich dich heut'; in dem Schuppen da
findest du Heu, magst dich mit deinem Pferde behelfen; aber um
deines Herrn willen will ich dich nicht beherbergen." Der Landgraf
ging beiseit, konnte aber nicht schlafen. Die ganze Nacht aber arbeitete
der Schmied, und wenn er so mit dem großen Hammer das Eisen
zusammenschlug, sprach er bei jedem Schlag: „Landgraf, werde hart,
Landgraf, werde hart, wie das Eisen!" und schalt ihn, und sprach
weiter: „Du böser, unseliger Herr! Was taugst du den armen Leuten
zu leben? Siehst du nicht, wie deine Räte das Volk plagen?" Und
erzählte also die liebe lange Nacht, was die Beamten für Untugend
mit den armen Untertanen übten. Klagten dann die Untertanen, so
wäre niemand, der ihnen Hilfe täte; denn der Herr nähme es nicht
an, die Ritterschaft spottete seiner hinterrücks und hielte ihn gar un-
wert. „Unser Fürst und seine Jäger treiben die Wölfe ins Garn und
die Amtleute die roten Füchse (die Goldmünzen) in ihre Beutel."
Mit solchen und anderen Worten redete der Schmied die ganze lange
Nacht zu dem Schmiedgesellen; und wenn die Hammerschläge kamen,
schalt er den Herrn und hieß ihn hart werden wie das Eisen. Das
trieb er bis zum Morgen; aber der Landgraf faßte alles zu Ohren
und Herzen und ward seit der Zeit scharf und ernsthaftig in seinem
Gemüt, begann die Widerspenstigen zu zwingen und zum Gehorsam
zu bringen.
Brüder Grimm.
195. Rast vor einem Schwarzwälder Bauernhause.
1. Wir wanderten im Schwarzwalde zu dreien durch den Morgen-
nebel deul Tag entgegen. Bald begegneten uns Mäher, die dem tau-
frischeil Wiesental zuschritten. Allmählich begann auch das Leben in
den Häusern. Eine Frau trat aus der Tür und füllte am nahen
Brunnen ihren Eimer. Freundlich erwiderte sie unseren Morgengruß.
Der jüngere meiner beiden jugendlichen Freunde blieb stehen, sah
bald mir fragend ins Auge und richtete dann wieder den Blick auf
dies freundliche Weib. Ich verstand seine Augensprache und fragte
298
die Bäuerin, ob sie uns wohl ein Glas Milch ablassen wolle. Dienst-
fertig schritt sie dem Stalle zu und brachte bald im reinlichen Gefäße
die köstliche Milch, die sie eben erst dem Euter entnommen hatte.
Wir nahmen sie als Frühstück gern entgegen und ließen uns auch
das kräftige Schwarzbrot der gastfreien Frau schmecken. Nun schlüpf-
ten auch einige fast nackte Kindlein aus dem Hause und betrachteten
halb schüchtern, halb neugierig die fremden Wanderer. Als wir aber
eine Unterhaltung mit ihnen anknüpfen wollten, da huschten sie scheu
wieder in das Haus wie junge Füchslein in die sichere Höhle. Dann
aber schauten sie im Gefühle voller Sicherheit durch die kleinen Fenster
und lachten und schäkerten mit uns ohne Unterlaß.
2. Welche Heimstätte könnte aber auch den Bewohnern das Gefühl
des Geborgenseins in höherem Grade geben als solch ein Schwarz-
wälder Bauernhaus! Alles, was der Landmann an Wohnung, Stal-
lung und sonstigen Wirtschaftsräumen bedarf, wird von einem ein-
zigen mächtigen Dache überschattet. Lang und breit, hoch und weit
dehnt es sich über einen bedeutenden Flächenraum aus und reicht mit-
unter an manchen Stellen bis herab zum Erdboden. Oft muß der
Wanderer dem Hause ganz nahe kommen, wenn er die vielen, aber
kleinen Fenster der Wohnräume erblicken will, die von dem weit über-
hängenden Dache halb verdeckt werden. Von den Fenstern laufen
holzgeschnitzte Galerien her, über die man in die verschiedenen Räume
des Hauses gelangt. Neben den Stuben befinden sich die Stallungen.
3. Über allen diesen Gelassen breitet sich ein außerordentlich um-
fangreicher Speicher oder Boden aus, auf dem — und das erscheint
deni Fremdling gar seltsam — Pferde und Wagen verkehren. Wie
aber kommen diese auf den Speicher? Der Schwarzwälder baut sein
Haus gerne so, daß die eine Schmalseite einer Bodenerhebung zuge-
kehrt ist, welche der Höhe eines Speichers annähernd gleichkommt.
Diese Höhe verbindet er nun durch eine Brücke mit dem Speicher,
auf den er dadurch mit Pferd und Wagen gelangen kann. Ist eine
natürliche Erhöhung nicht vorhanden, so muß die erhöhte Zufahrt
künstlich hergestellt werden, indem ein Damm aufgeworfen wird. Wäh-
rend nun die Mutter mit ihren Kindern in den holzgetäfelten, niedrigen
Stuben sich bewegt und wirtschaftet, führt der Vater über den Köpfen
der Seinigen die Pferde am Zaum und bringt die Ernte auf dem
wohlbeladenen Wagen ein. Diese Brücke am Hause dient außerdem
als Dach bei Hantierungen, die im Freien vorgenommen werden.
Unter ihr sägt und spaltet der Schwarzwälder sein Holz, welches rings
um das Haus an trockenen Stellen aufgesetzt wird. Da steht wohl
auch eine Schnitzbank, auf der gar manches Haus- und Ackergeräte
von kundiger Hand verfertigt oder wenigstens wieder ausgebessert wird.
299
4. In der Nähe des Hauses fehlt selten eine kleine Kapelle oder
ein Kruzifix.
Gewiß aber steht „der beste Mann im Ort" gleich beim Hause
und verläßt nicht seinen Posten. Wer kennt den besten Mann im Ort?
Ja, der gemütliche, immer freundlich plaudernde Brunnen ist es, der
hier Mensch und Tier stets neu erfrischt, an dessen Trog die Kleinen
stundenlang spielen, wo im Vorbeigehen alt und jung ein kurzes Zwie-
gespräch hält, an dem das Pferd selten vorbeikommt, ohne einen kräf-
tigen Zug zu tun, zu dem der Spitz, der treue Wächter des Heim-
wesens, hinaufsteigt, zu dem sich das Rotschwänzchen vom gastlichen
Dache herabschwingt, um zu trinken. Die Wüsche, die dort an den
äußeren Gängen des Hauses aufgehängt ist, wurde hier gewaschen,
und die Küchenkräuter, die in dem Hansgärtchen gedeihen, werden vom
„besten Mann" am Hause getränkt. Außer ihm bilden gewöhnlich noch
einige stattliche Tannen die vertrauten Nachbarn am Hause.
So umschließt die Schwarzwälder Heimstätte eine kleine Welt, in
der die Familie allein haust.
Georg Lang.
190. Der Rheinfall.
1. Je mehr wir uns Schaffhauseu nähern, desto reicher und belebter
wird die Gegend. Jetzt halten wir in Schaffhausen, jetzt in Neuhauseu,
dem Ziele unserer Fahrt. Wir steigen aus mit dem heimlichen Bangen,
ob der vielgepriesene Fall auch halten werde, was sein Ruf verspricht,
und das donnerähnliche Brausen, das aus der Tiefe zu uns heraufschallt,
stimmt uns nur noch erwartungsvoller. Wir treten durch das Bahnhofs-
gebäude, der Fall liegt vor uns.
2. Unter den Bogen der Brücke hervor stürzt das Wasser, in seiner
Mitte einen grün umbuschten Felsen umschließend, tobend und zischend
in gewaltigem Schwall in die Tiefe. Auf dem Felsen rechts davon thront
Schloß Laufen in seiner ganzen gebietenden Schönheit, tief nuten auf
einem in den See hineinragenden Jnselchen liegt das Schlößchen Wörth,
an dem waldigen Ufer jenseits des Flusses erkennt man die Galerien und
Pavillons, von denen man unmittelbar in das brandende Wasser sieht.
3. Durch die schattigen Anlagen steigen wir hinter dem Schweizerhos*)
hinab. Immer mächtiger wird das Brausen, immer großartiger der Blick
auf den tosenden Gischt; jetzt sind wir unten angelangt und schreiten
über die kleine Brücke zum Schlößchen Wörth hinüber, dessen Veranda
dem Fall gerade gegenüber liegt. Wir stehen in Bewunderung vor dem
prachtvollen Bilde. In zwei gewaltigen Armen stürzt das Wasser dies-
*) Ein großes Hotel.
300
seits und jenseits des von einem Pavillon überragten Felsens herab; dieser
aber besteht nicht aus einer Masse, wie es von oben den Anschein hatte,
sondern aus zwei Teilen, zwischen denen ein dritter Strom sich hindurch-
zwängt und seinen schimmernden Wasserstaub hoch emporsendet.
4. Wer mag den Pavillon auf dem Felsen errichtet haben? fragen wir
uns. Ist es denn möglich, daß ein Mensch durch den brandenden Wasser-
kessel zu dem Felsen gelange? Da entfährt uns ein Ruf der Überraschung.
Ein kleines Boot kämpft mit den Wellen gerade vor dem Falle. Jetzt
hebt eine Welle es hoch empor, jetzt schießt es tief zwischen zwei Wellen
hinein, jetzt legt es sich nach der einen, jetzt nach der andern Seite um,
jeden Augenblick schlägt eine Welle darüber hin, so daß die Insassen, die
fest in ihre Mäntel gewickelt sitzen, ganz von ihnen übersprüht werden.
Mit aller Kraft stemmen sich die Schiffer mit den Rudern gegen die
reißende Strömung; jetzt ist das Boot im ärgsten Wirbel, ein paar Augen-
blicke noch tanzt es auf den Spitzen der Wellen, dann hat es sich in das
verhältnismäßig ruhige Wasser im Schutze des Felsens durchgekämpft.
5. Das Boot legt an dem schmalen Felsenstege darunter an, die Ge-
sellschaft steigt aus und steigt den Felsen hinauf, bald hier, bald dort siehst
du die farbigen Schirme und Hellen Hüte zwischen dem Gebüsch hervor-
blicken. Eine Weile stehen sie oben, es muß ein großartiger Blick sein,
der sich ihnen hier nach allen Seiten durch den Wasserstaub hindurch
darbietet, dann sammeln sie sich zur Rückfahrt. Von der Strömung fort-
gerissen, schießt das Boot pfeilschnell durch die Wellen, in wenigen Minuten
landet es unterhalb des Schlößchens Wörth.
So gefährlich die Fahrt aussieht, so bietet sie doch, vorausgesetzt,
daß sie von kundiger Hand ausgeführt wird, keinerlei Gefahr. Unauf-
hörlich gehen die Boote hin und her, ohne daß man von einem Unfall
hörte, freilich ruhig sitzen muß man.
6. Als Kaiser Alexander II. von Rußland einst diese Fahrt wagte
sprang er in seiner nervös unruhigen Weise auf, als das Boot mitten
im Wirbel war. Da rief ihm der Schisser mit klassischer Kürze die
Warnung zu: „Duck dich, Herr Kaiser, sonst dersaufst!" und da der Kaiser
einsah, daß es unter solchen Umständen auch für den Beherrscher aller
Reußen das Geratenste war, sich zu ducken, so nahm er schnell und folgsam
seinen Sitz wieder ein.
7. Lauge können wir uns nicht von dem Anblick des Falles trennen.
Ein Plakat neben uns besagt, daß der Fall jeden Abend von ^lO —10 Uhr
elektrisch beleuchtet wird, schade, daß wir nicht so lange bleiben können.
Auch der Regenbogen, den die Sonne hünfig über die Wassermassen spannt,
zeigt sich heute nicht, dafür aber lassen wir uns zu den Galerien hinüber-
rudern und genießen von dort den unmittelbaren Blick in die wie kochende
Milch schäumenden Wasser. Es ist, als stände man mitten darin und
301
Würde im nächsten Augenblick mit dem Schwall mitgerissen werden. Der
Wasserstaub aber weht uns so kühl und feucht an, daß wir uns freuen,
wieder in den Hellen Sonnenschein hinauszutreten, der uns früher lästig
dünkte. Helene Stökl.
197. Dreimal in Straßburg.
i.
1. Mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem Stab in der Hand
rückten wir unter der heißen Sonne des 4. Juli 1870 in Straßburg
ein. Über alle Dächer und Schanzen hinweg hatte der erhabene
Münsterturm längst auf uns herabgeschaut, und wir sprachen nur
von ihm. Als wir aber durch das Festungstor geschritten waren,
da hatten meine Begleiter nur Auge und Ohr für die fremdartigen
Gestalten der französischen Soldaten, die ebensowohl durch die Uni-
form, als auch durch die Haltung und Bewegung sich so wesentlich
vom deutschen Militär unterschieden. Einzeln und in Gruppen be-
gegneten sie uns, meist die Hände in den weiten roten Hosen und
das kurze Pfeifchen im Munde. Nun rückte eine Kolonne Infanterie
heran, aber auch die Bewegungen der Masse waren anders als bei
uns. Insbesondere konnten sich meine jungen Freunde gar nicht
darein finden, daß gar mancher Soldat im Gliede sich mit seinem
Nachbar laut und zwanglos unterhielt.
2. So waren wir zum Münster gekommen. Hier aber übte die
herrliche Westfassade dieses Riesenwerkes ihren Zauber auch auf
meine jungen Freunde aus. Im ersten Augenblick wirkte nur die
ungeheure Masse und die schwindelnde Höhe. Dann gewahrten wii
mit steigendem Wohlgefallen, wie treffliche Gliederung, wohltuende
Maßverteilung und anmutiger Schmuck von kundiger Bildhauerhand
diese ungeheure Wand durchgeistigen und ihr Leben einhauchen.
Vier Strebepfeiler, kräftig aus der Wandfläche hervortretend, sondern
diese in drei Teile, von denen sich wieder drei Stockwerke erkennen
lassen. Das unterste derselben zeigt stolze Eingangspforten von
mächtiger Größe. Uber dem Mittelportal befindet sich das berühmte
Rundfenster, dessen Durchmesser ungefähr so groß ist wie die Höhe
eines mehrstöckigen bürgerlichen Wohnhauses, nämlich 13,5 m. Trotz
des erstaunlichen Umfanges erhält dieses Radfenster ein wahrhaft
zierliches Aussehen durch das reizende Maßwerk, von welchem es
übersponnen wird.
3. Der obere Abschluß der Fassade zeigt deutlich, daß der Bau-
plan zwei Türme vorgesehen hatte. Nur der nördliche ist zur Aus-
führung gekommen. Die höchste Spitze läuft in eine Kreuzblume
302
aus. Sie schaut aus einer Höhe von 142 m auf uns herab. Meinen
jugendlichen Genossen erschien es als eine gute Vorübung für Alpen-
märsche, das Münster zu ersteigen. Indes hatten sie sich die Auf-
gabe doch zu leicht vorgestellt, denn mehr als einmal blieben wir
tief Atem holend stehen, bis wir die 330 Stufen zur Plattform über-
wunden hatten. Hier aber eröffnete sich eine so umfassende Aus-
sicht, daß wir zuerst wie geblendet standen. Bald gewöhnte sich
indessen das Auge an die Fülle des Lichts und flog über die Ebene
den fernen Bergen zu, um dann wieder zurückzukehren und die
nähere Umgebung zu erforschen. Landkartenartig breitete sich das
Straßennetz zu unsern Füßen aus, und die Befestigungswerke um-
schlossen das Stadtbild gleich einem breiten Rahmen. Nun den
Blick aus „der Straßen quetschender Enge“ und dem Gewirr von
Wällen, Basteien und Gräben hinüber zur lebendigen Flut des Rheins
mit seinen grünen Inseln und Ufern! Zwar versteckt er sich mehr-
fach vor unsern Augen, aber es gelingt ihm doch nicht, sich ganz
zu verbergen. — Hier erst entwindet er sich den sumpfigen Niede-
rungen, die ihn stromaufwärts öfter einschließen. Deutlich erkennen
wir die Allee, welche die Straße nach Kehl bis an den Rhein be-
gleitet. Weit von Osten her schauen in behaglicher Ruhe die blauen
Berge des Schwarzwaldes herüber und grüßen im fernen Westen
ihre Vettern, die Vogesen. Wieviel goldenes Getreide sproßt auf
der ausgedehnten Fläche zwischen diesen beiden Gebirgen! Welche
Menge trefflichen Obstes reift in diesen Gauen! Wie heimisch ist
seit uralter Zeit in diesen weinfrohen Gegenden die Rebe geworden!
Hier Elsaß, dort Baden, beide die Hälften einer und derselben geseg-
neten Landschaft, beide begrenzt durch den Rhein, aber nicht getrennt
durch ihn, denn Ströme trennen nicht, sondern verbinden die Lande.
Nach einem Rundgang durch die Stadt suchten wir den Bahnhof
auf und eilten der fernen Schweiz zu.
II.
1. Wenige Wochen später lastete schwere Sorge auf den Gemütern,
bis die Jubelrufe: Weißenburg, Wörth, Mars la Tour und Gravelotte
erschallten. Als aber endlich auch die Kunde kam, Straßburg sei
genommen, da riefen wir: „Auf nach Straßburg!“ O wie anders
fanden wir nun die Stadt! Kein Baum stand mehr in ihrer Nähe.
Die Verteidiger der Festung hatten die herrlichen Alleen nieder-
legen lassen. Wild durcheinander mit zerbrochenen und zersplitterten
Asten lagen die oft riesigen Baumleichen, ein Bild des nieder-
geworfenen Feindes. Wüst und verödet waren die Gärten. Sich
selbst überlassen, waren die meisten Gewächse zugrunde gegangen,
303
während wenig andere im allgemeinen Ruin prächtig gediehen.
Überall wucherte das Unkraut in einer Üppigkeit, wie ich es sonst
nie gesehen. Nun kam die Stadt. Da waren die Rothosen ver-
schwunden, und vaterländische Pickelhauben erglänzten überall.
Vom schlanken Münsterturme aber grüßte weithin die deutsche Fahne.
Mit welchen Gefühlen erwiderten wir den Gruß! Wohl fanden wir
bald allenthalben Spuren der schrecklichen Geschosse; welche Ver-
heerung hatten sie aber erst auf der Zitadelle angerichtet! Sie war
im buchstäblichen Sinne des Wortes mit den Eisentrümmern ge-
borstener Granaten übersät. Einige kahle Mauern standen noch,
hinter ihren Wällen lag ein Chaos von zerfetzten und wild durch-
einander gewürfelten Gegenständen, wie sich dies die lebhafteste
Einbildungskraft nicht vorzustellen vermag. Dort mischten sich bei-
spielsweise die hundertfach zerrissenen Überreste eines Prunksessels
mit zerfetzten Tornistern, Kleiderüberresten, Spiegel- und Glassplittern,
Topf Scherben, Büchern, amtlichen Listen und Privatbriefen, allem
erdenklichen Küchengeschirr und Hausrat zu einem unentwirrbaren
Gemengsel, das bei der Beschießung durch die Tag und Nacht nieder-
prasselnden Granatsplitter durchstöbert und aufgewühlt worden war.
2. Wir eilten zur Stadt zurück. Hinter den Mauern, welche die
111 umschließen, hatten sich viele Bewohner, deren Häuser bedroht
waren, mit Brettern notdürftig einen Unterschlupf geschaffen. Noch
schliefen und kochten sie zum Teil hier; offenbar deswegen, weil ihr
Heimwesen zerstört war und sie ein anderes noch nicht gefunden
hatten. Vom Boden hinweggefegt war die ganze Steinstraße; sie
war gleichsam zu weniger als nichts geworden, denn vielfach hatten
die eingestürzten Kellerräume die Trümmer der Häuser mit in die
Tiefe genommen. Viele der früheren Bewohner standen ratlos und
traurig vor dem Schutt. Zahllos lagen in den Gräben umher die
Trümmer französischer Geschütze, die durch die wohlgerichteten
deutschen Geschosse zerstört worden waren. Überall ließ sich an
der furchtbaren Wirkung die Überlegenheit der deutschen Ge-
schütze wahrnehmen.
III.
Viele Jahre des Friedens sind seitdem verflossen, und nun be-
gleitet mich zum dritten Besuch! Wir kommen im Zentralbahnhof
an, der an sich schon unsere Bewunderung fordert. Er ist ein
deutsches Werk und ward nicht mehr an der alten Stelle aufgeführt,
sondern weiter nach Westen verlegt, so daß er eine Fläche über-
deckt, die früher zur Befestigung gehörte. Mit freudigem Erstaunen
sehen wir, wie weit die innern Umfassungsmauern hinausgerückt sind.
304
Die alte Zwangsjacke aus französischer Zeit hat einem behaglichen
Kleide weichen müssen, das wohl eine Stadt von doppeltem Umfang
bergen könnte. Bei unserm Gange durch die Stadt begegnen wir
manch stattlichem Gebäude, das erst die neueste Zeit geschaffen hat,
An der Markthalle vorüber eilen wir zur Stätte einstiger Verwüstung,
zur Steinstraße. Wo ist das Bild der Zerstörung hingekommen?
Mit Ameisenfleiß beseitigte man die Spuren des Krieges und stellte
ungleich schönere Bauten an die Stelle der untergegangenen. Wo
aber sind die trotzigen Basteien, Wälle und Gräben? Auch sie sind
verschwunden, und auf der geebneten Fläche entstehen Straßen und
Paläste. Schon stehen wir vor der Kaiserpfalz. Reicher Schmuck
an dem umfangreichen Gebäude von der Hand tüchtiger Künstler
deutet in feinsinniger Weise all die Beziehungen an, welche das
Elsaß mit der Geschichte, mit den Bestrebungen der Kunst, der
Wissenschaften, des Handels und Gewerbefleißes, sowie mit dem
Landbau verknüpfen. Da schauen herab die wohlbekannten Köpfe
des Großen Kurfürsten und des alten Fritz, welche die Grundmauern
schufen zum stolzen Bau unsers neuen Kaiserreichs. Dort schimmert
auch der kaiserliche Aar. Wir überschreiten die 111 und stehen
staunend still vor den Gebäuden der Universität, die wie ein eigener
Stadtteil dem Beschauer entgegentreten und durch Ebenmaß und
treffliche Gliederung ungemein angenehm berühren. Nachdem 1794
von Paris aus die deutsche Universität aufgehoben worden war,
durfte sie im neuen Deutschen Reiche wieder glanzvoll erstehen.
Der Blick vom Münsterturm zeigt uns, daß zwar die Quartiere
der Altstadt noch die gleichen sind; doch schuf die bedeutende Er-
weiterung der Umfassungsmauern den erfreulichsten Raum für breite,
luftige Straßen, für sonniggrüne Plätze und Anlagen, für Pracht-
bauten, wie sie das alte Straßburg nie besessen; und das Volkslied
hat heute bei weitem mehr Berechtigung als früher: „O Straßburg,
o Straßburg, du wunderschöne Stadt.“ Nach Georg Lang.
198. O Stratzburg.
1. O Straßburg, o Straßburg,
du wunderschöne Stadt,
darinnen liegt begraben
so mannicher Soldat.
2. So mancher, so schöner,
auch tapferer Soldat,
der Vater und lieb Mutter
böslich verlassen Hat.
305
3. Verlassen, verlassen,
es kann nicht anders sein!
Zu Straßburg, ja zu Straßbnrg
Soldaten müssen sein.
4. Der Vater, die Mutter,
die gingen vors Hauptmanns Haus:
„Ach Hauptmann, lieber Herr Hauptmann,
gebt mir mein'n Sohn heraus!"
5. „Euern Sohn kann ich nicht geben
für noch so vieles Geld:
euer Sohn und der muß sterben
im weiten, breiten Feld."
Volkslied.
199. Ter Schweizer.
1. Zu Straßburg auf der Schanz,
da ging mein Trauern an;
das Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen,
ins Vaterland mußt' ich hinüberschwimmen,
das ging nicht an.
2. Eine Stund' in der Nacht
sie haben mich gebracht;
sie führten mich vor des Hauptmanns Haus,
ach Gott, sie fischten mich im Strome auf,
mit mir ist's aus.
3. Frühmorgens um zehn Uhr
stellt man mich vor das Regiment;
ich soll da bitten um Pardon,
und ich bekomm doch meinen Lohn,
das weiß ich schon.
4. Ihr Brüder allzumal,
heut' seht ihr mich zum letztenmal;
der Hirtenbub' ist doch nur schuld daran,
das Alphorn hat mir solches angetan,
das klag' ich an.
5. Ihr Brüder alle drei,
was ich euch bitt': erschießt mich gleich!
Verschont mein junges Leben nicht,
schießt zu, daß das Blut 'rausspritzt,
das bitt' ich euch.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 20
J
306
6. O Himmelskönig, Herr!
Nimm du meine arme Seele dahin,
nimm sie zu dir in den Himmel ein,
laß sie ewig bei dir sein
und vergiß nicht mein!
Volkslied.
200. Das Riesenspielzeug.
1. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt,
die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand;
sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer;
du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.
2. Einst kam das Riesensräulein aus jener Burg hervor,
erging sich sonder Wartung und spielend vor dem Tor
und stieg hinab den Abhang bis in das Tal hinein,
neugierig zu erkunden, wie's unten möchte sein.
3. Mit wen'gen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald,
erreichte gegen Haslach das Land der Menschen bald,
und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld
erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt.
4. Wie jetzt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut,
bemerkt sie einen Bauer, der seinen Acker baut.
Es kriecht das kleine Wesen einher so sonderbar;
es glitzert in der Sonne der Pflug so blank und klar.
5. „Ei, artig Spielding!" ruft sie, „das nehm' ich mit nach Haus."
Sie knieet nieder, spreitet behend' ihr Tüchlein aus
und feget mit den Händen, was, da sich alles regt,
zuhause in das Tüchlein, das sie zusammenschlägt.
6. Und eilt mit freud'gen Sprüngen — man weiß, wie Kinder sind — •
zur Burg hinan und suchet den Vater auf geschwind:
„Ei, Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderschön!
So Allerliebstes sah ich noch nie auf unsern Höhn."
7. Der Alte saß am Tische und trank den kühlen Wein;
er schaut sie an behaglich, er fragt das Töchterlein:
„Was Zappeliges bringst du in deinem Tuch herbei?
Du hüpfest ja vor Freuden. Laß sehen, was es sei!"
8. Sie spreitet aus das Tüchlein und fängt behutsam an,
den Bauer aufzustellen, den Pflug und das Gespann.
Wie alles auf dem Tische so zierlich aufgebaut,
so klatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut.
307
9. Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht:
„Was hast du angerichtet? Das ist kein Spielzeug nicht!
Wo du es hergenommen, da trag es wieder hin;
der Bauer ist kein Spielzeug, was kommt dir in den Sinn!
10. Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot;
denn wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brot.
Es sprießt der Stamm der Riesen aus Bauernmark hervor;
der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!"
11. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt,
die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand;
sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer,
und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.
Adelbert v. Chamisso.
201. Rätsel.
1. Wie heißt das Ding, das wen’ge schätzen?
Doch ziert’s des größten Kaisers Hand;
es ist gemacht, um zu verletzen;
am nächsten ist’s dem Schwert verwandt.
2. Kein Blut vergießt’s und macht doch tausend Wunden,
niemand beraubtes und macht doch reich;
es hat den Erdkreis überwunden,
es macht das Leben sanft und gleich.
3. Die größten Reiche hat’s gegründet,
die ältsten Städte hat’s erbaut;
doch niemals hat es Krieg entzündet,
und Heil dem Volk, das ihm vertraut!
Friedrich v. Schiller.
202. Rheinsage.
1. Am Rhein, am grünen Rheine,
da ist so mild die Nacht;
die Rebenhügel liegen
in goldner Mondenpracht.
2. Und an den Hügeln wandelt
ein hoher Schatten her,
mit Schwert und Purpurmantel,
die Krone vom Golde schwer.
20*
308
3. Das ist Herr Karl, der Kaiser,
der mit gewaltiger Hand
vor vielen hundert Jahren
geherrscht im deutschen Land.
4. Er ist heraufgestiegen
zu Aachen aus der Gruft
und segnet seine Reben
und atmet Traubenduft.
5. Bei Rüdesheim, da funkelt
der Mond ins Wasser hinein
und baut eine goldne Brücke
wohl über den grünen Rhein.
6. Der Kaiser geht hinüber
und schreitet langsam fort
und segnet längs dem Strome
die Reben an jedem Ort.
7. Dann kehrt er heim nach Aachen
und schläft in seiner Gruft,
bis ihn im neuen Jahre
erweckt der Trauben Duft.
8. Wir aber füllen die Römer
und trinken im goldenen Saft
uns deutsches Heldenfeuer
und deutsche Heldenkraft.
Emanuel v. Geibek.
203. Weinlese am Rfteiii.
1. Eine frohe Zeit ist im Herbst die Zeit der Lese. Dann ent-
faltet sich in den Weinorten Rheinlands ein lustiges Leben und Treiben.
Wenn auch unser heutiges Geschlecht mit manchen schönen alten Sitten
gebrochen hat, so ist doch die frohe Stimmung dieser Zeit geblieben.
Sie kommt besonders dann zur Geltung, wenn die Weinstöcke einen
guten Behang haben, und wenn neben einem guten Ertrag — der
Winzer redet von einem halben oder drei viertel Herbst — auch eine
gute Qualität zu erwarten ist. Mit solcher Ernte ist der Winzer wohl
zufrieden; kennt er doch all' die Feinde, die diese hätten vernichten
können, die Tücken der Witterung, die Plagen der Insekten und die
309
Pilzkrankheiten. Helle Freude lacht aus seinem Auge, wenn er sieht,
wie unter der Kraft der kochenden Sonne in den Beeren der Trauben
der Saft anfängt in Wein überzugehen. Er merkt's an dem Durch-
sichtigwerden der Beeren. Die Gemeindeväter bestimmen jetzt die
Schließung der Weinberge. Selbst der Besitzer darf sie nicht mehr be-
treten. Während des ganzen Tages geben die Hüter der Weinberge
scharf acht.
2. Endlich sind die Trauben völlig reif. Der Beginn der Lese
wird öffentlich bekannt gemacht. Böllerschüsse künden den bedeutungs-
vollen Tag an, und Glockenklang läutet ihn feierlich ein. So ist es
wenigstens noch in vielen Rheinorten. Mit Jubel im Herzen steigt
das Winzervölkchen hinauf in die Weinberge. Die Sonne hat die
Herbstnebel zerstreut, und herrlich blickt's sich hinab in das liebliche
Rheintal. Dort unten liegt das Heimatörtchen, so traut gebettet am
blinkenden Ufer des Stromes und umgeben von den Gruppen der
Obstbäume, dort das Kirchlein mit dem alten, moosigen Schiefer-
dache! Selbst das eigene Wohnhäuschen ist zu sehen. Bald sind schon
die ersten Tragkörbe voll Trauben gepflückt. Die starken Burschen
tragen sie hinab. Dort unten hält auf dem Wege ein Ochsengespann.
Große Bottiche stehen auf dem Wagen, die die süße Last aufnehmen
sollen. Wie flink springen die Burschen die vielen Stufen des Berg-
pfades hinab! Voll Lust schwenken sie die Mützen, nach oben und
nach unten grüßend. Dort oben aber, bei der Lese, sind bald die Mäd-
chen in fröhlicher Stimmung. Das Tal erklingt von frohen Weisen,
bis ein Scherzwort alle zum Lachen bringt und den Gesang verstummen
macht.
3. Auch in dem Kelterraum der Winzerhäuser herrscht geschäftiges
Leben. Die ankommenden Bottiche werden in die Presse geleert. Schon
fließt der Traubensaft, der süße Most, heraus. Wie herrlich er schmeckt!
Das gibt ein Weinchen! so schmunzelt der Alte, der von vielen guten
Weinjahren, doch auch von schlechten zu erzählen weiß. Nach etwa
acht Tagen fängt der Most an zu gären. Er verliert seinen süßen
Geschmack und nimmt einen bitteren an. Zugleich wird seine Farbe
milchig trübe. Der erfahrene Winzer weiß schon am Federweißen,
wie der Most jetzt heißt, herauszuschmecken, wie der spätere Wein
wird. Mit der fortschreitenden Gärung entsteht aus dem Federweißen
der junge Wein. Erst nachdem dieser geklärt ist und genug gelagert
hat, kommt er in den Handel. Im Frühjahr beginnen die Wein-
händler, die Wirte, die Kasinos ihre Weineinkäufe zu machen, und in
manchen Weinorten, wie in Bingen, Mainz, Rüdesheim, Kloster Eber-
bach, Kreuznach, Trier, Traben-Trarbach, Bernkastel und Koblenz,
finden dann öffentliche Weinversteigerungen statt. Dann klingen die
310
Taler in des Winzers Tasche, fast noch Heller als vorher das Jauchzen
in seiner Brust.
Heinrich Kerp.
204. Das Niederwalddenkmal.
1. Unsern jugendlichen Gefährten brannte der Boden unter den Füßen:
denn sie wußten, daß uns kaum eine halbe Stunde Wegs vom Ziel ihrer
Sehnsucht, dem Niederwalddenkmal, trennte. Während wir über die Stirn
des Berggipfels im Schatten der Eichen und Buchen hinwanderten, konnten
unsere Blicke gar oft durch Lichtungen in zügelloser Freude umherschweifen,
tausendmal rascher als die leichtbeschwingte Möwe dort unten über den
eilenden Wellen. Bald glitt unser Auge über die Gipfel der Waldberge,
die schon der nahende Herbst zu vergolden begann, bald haftete es auf
einem Dörfchen, einem Kirchlein, oder erfreute sich an den Spuren mensch-
lichen Fleißes, die überall zutage traten, bis wieder unsere Aufmerksamkeit
gefangen ward von einem der zahlreichen Fahrzeuge, mit denen unsere
Sehnsucht dem Meere zueilte.
2. Plötzlich aber grüßte uns das hehre Weib Germania von der Höhe
des Niederwalddenkmals herab und nahm unser freudiges Interesse und
Empfinden so sehr in Anspruch, daß die ganze herrliche Welt um uns
versank und nur der mächtige Markstein deutscher Geschichte unser Auge
fesselte und unser Herz bewegte. Keinem von uns wollte ein Wort über
die Lippen. Sprachlos und ehrfurchtsvoll sahen wir hinauf zu dem Sinn-
bild deutscher Einheit, zu der ebenso kraftvollen als anmutreichen Gestalt,
die in der Rechten hoch emporhaltend die Kaiserkrone wiegt und wägt.
Dort nach Südwesten schaut sie, woher die meisten Kriegswetter über
unser Vaterland zogen. Drangen nicht schon die Römer aus jenen
Gegenden über den Rhein bis ins Herz Germaniens? Sie fanden ihren
Hermann, wie die Gallier unserer Tage ihren Wilhelm fanden.
3. Und nun schaut euch die ehrfurchtgebietende Gestalt des Kaisers an,
umgeben von der erlauchten Versammlung jener Männer, die in hervor-
ragender Weise im Rat und durch die Tat mitwirkten als Bauleute bei
der Aufrichtung unsers „Deutschen Reiches".
Wie sinnig schmückt diese ausgedehnte Reliefdarstellung die Vorder-
seite des Baues, der die mehr denn 10 m hohe Gestalt der Ger-
mania trügt.
Nun suchten wir unter den vielen Charakterköpfen der großen Relief-
darstellung einzelne Persönlichkeiten heraus, die unser besonderes Interesse
erregten.
„Da ist Bismarck," rief Elfriede. „Und jenes bartlose, tiefgefurchte
Angesicht stellt Moltke dar!" meinte Robert. Dort aber blickt sonnigmild
„unser Fritz" herab, von dem gesungen wird:
311
„Wie er bezwang die Heere,
der jugendstarke Mann,
so ohne Schild und Wehre
die Herzen er gewann."
„Und jenes anmutige Antlitz, das dem Jüngling näher als dem
Manne steht, wen stellt es dar?" fragte ich. „Nun, ihr kennt ihn; das
ist König Ludwig II. von Bayern, der hochherzige Fürst, der 1870 ohne
Verzug sein tapferes Heer den norddeutschen Kriegern zugesellte; der allen
guten Deutschen aus der Seele sprach, als er König Wilhelm bat, die
Kaiserkrone auf sein ehrwürdiges Haupt zu setzen."
4. Nun noch einen Blick auf die beiden ergreifenden Seitenreliefs
„Auszug zum Kampf" und „Heimkehr der Sieger". Dort der Abschied
vielleicht auf Nimmerwiederkehr, hier der freudigste Willkomm, der auf
dieser Erde denkbar ist. Eltern, Kinder und Geschwister recken die Arme
entgegen den Helden, die tausendmal dem Eisen des Feindes die Brust
entgegenwarfen und nun wohlbehalten endlich wieder in den Schoß der
Familie zurückkehren.
Eben streifte die scheidende Abendsonne zum letztenmal die Stirne
der hoheitsvollen Germania, da riefen auch wir den Scheidegruß ihr zu
und wanderten dann erhobenen Herzens dem nahen Rüdesheim zu.
Nach Georg Lang.
205. Der Ringer Mäuseturm.
Bei Bingen ragt mitten aus dem Rhein ein hoher Turm, von
dem nachstehende Sage umgeht. Im Jahre 974 war große Teurung
in Deutschland, daß die Menschen aus Not Katzen und Hunde aßen
und doch viele Leute Hungers starben. Da war ein Bischof zu
Mainz, der hieß Hatto der Andere, ein Geizhals, dachte nur daran,
seinen Schatz zu mehren und sah zu, wie die armen Leute auf der
Gasse niederfielen und bei Haufen zu den Brotbänken liefen und
das Brot nahmen mit Gewalt. Aber kein Erbarmen kam in den
Bischof, sondern er sprach: „Lasset alle Arme und Dürftige sammeln
in einer Scheune vor der Stadt; ich will sie speisen.“ Und wie sie
in die Scheune gegangen waren, schloß er die Tür zu, steckte die
Scheune mit Feuer an und verbrannte sie samt den armen Leuten,
jung und alt, Mann und Weib. Als nun die Menschen unter den
Flammen wimmerten und jammerten, rief Bischof Hatto: „Hört, hört,
wie die Mäuse pfeifen!“ Allein Gott der Herr plagte ihn bald, daß
die Mäuse Tag und Nacht über ihn liefen und an ihm fraßen, und
er vermochte sich mit aller Gewalt nicht wider sie zu behalten und
zu bewahren. Da wußte er endlich keinen andern Rat, als daß er
einen Turm bei Bingen mitten in den Rhein bauen ließ, der noch
heutigestags zu sehen ist, und meinte, sich darin zu fristen. Aber
die Mäuse schwammen durch den Strom heran, erklommen den Turm
und fraßen den Bischof lebendig auf. Brüder Grimm
206. Lorelei.
1. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
2. Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
3. Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar;
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
4. Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
5. Den Schiffer m kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
6. Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn,
und das hat mit ihrem Singen
die Lorelei getan.
Heinrich Heine.
207. Burq Rheinstein.
1. Die tobenden Wasser des Bingerlochs lagen hinter uns, und wir
durchfurchten wieder ruhigere Fluten. Nun tonnten wir wieder die Blicke
auf unsre reizende Umgebung richten. Zu beiden Seiten drängten sich
Steilwände an den Strom, links mit niederem Laubwald, rechts mit Reben
bedeckt. Beiden Ufern aber sind eine Land- und eine Eisenbahnstraße ab-
gerungen worden, und während die ersteren von Wanderern und Wagen be-
lebt werden, jagen über die letzteren die Bahnzüge in nimmermüder Hast dahin.
313
2. Prächtig entfaltet sich wieder das Getriebe auf dem Strom selber.
Die heileren schwimmenden Paläste, Schnelldampfer genannt, führten
wieder Hunderte und aber Hunderte froher Menschen stromauf und ab,
die sich in buntem Gewimmel auf dem Verdeck bewegten. Andere Lust-
reisende hatten ähnlich wie wir bescheidenere Fahrzeuge gewählt, um
mit mehr Behaglichkeit die Schönheiten dieser Wunderwelt zu genießen.
Tücherschwenken und Töne der Freude überall! Ob es wohl noch eine
zweite Wasserstraße in der Welt gibt, auf der sich so viele frohe Menschen
jahraus, jahrein hin- und herbewegen und bummeln wie hier?
3. Dort winkt unser nächstes Ziel, Schloß Rheinstein. Aus der waldes-
dunkeln Bergwand erhebt sich fast senkrecht ein grauer Fels, bekrönt von
den Zinnen einer Burg, die wundervoll wie ein Märchenschloß zu uns
herabgrüßt. Wir sprangen ans Ufer und klommen zu dem herrlichen
Rittersitz hinauf, zwischen Felsgestein emporsteigend, das mitunter von
mächtigen eisernen Ketten umspannt wird, um es vor dem Einsturz zu
bewahren. Malerische Pforten öffnen sich, schmale Zugänge belehren uns,
daß dieses Felsenhaupt sehr wohl verteidigt werden konnte. Erker, Fenster
und Luken beleben die trotzigen Mauern, und ihre glitzernden Scheiben
verkünden, daß wir uns nicht dem Schauplatz gefallener Größe, sondern den
behaglichen Räumen eines wohl eingerichteten menschlichen Wohnsitzes nahen.
4. Nun betreten wir den lichten Schloßhof, die luftigen Söller, die gleich
Schwalbennestern sich an die Burgwand schmiegen, und unser Blick fliegt
plötzlich in die Weite, weit über den mächtigen Strom nach Aßmanns-
hausen hinüber und zu den jenseitigen Berglehnen, die den gefeierten
Rotwein zeitigen. Unter uns sehen wir die Gipfel des Laubgehölzes,
aus dem sich der Rheinstein, unsere stolze Aussichtswarte, fast senkrecht
erhebt. Dicht an die Burg schmiegt sich ein gotisches Kapellchen in
leuchtendem Farbenton, reich geschmückt mit Fialen und Kreuzblumen.
Wir betraten die geweihten Räume und hörten, daß hier in stiller Gruft
seit 1863 Prinz Friedrich von Preußen ruht, der dieses Felfenfchloß so
reizvoll wiederherstellen und ausbauen ließ. Nun folgte noch ein Besuch
der überaus behaglich eingerichteten inneren Räume, insbesondere der
interessanten Waffensammlung. Heitere Anmut trat uns hier überall
gastlich grüßend entgegen und bildete einen scharfen Gegensatz zu den
Geröll- und Schutthaufen jener verödeten Schlösser, die in ihrer melancho-
lischen Einsamkeit schon seit Jahrhunderten nur Nachtvögel und Raben
beherbergen. Nach Georg Lang.
208. Cifelwanderung.
1. Der Herbst ist gekommen. Drunten im sonnigen Moseltal blühen
noch die Rosen in den Gärten, gelb, rot und weiß. In den kristall-
314
klaren Fluß nicken die obstbeladenen Bäume, die Traube schwillt, des
köstlichen Weines voll. Nußbäume und Kastanien sprengen die grüne
Hülle ihrer Frucht und lassen den braunen, glänzenden Kern zur Erde
fallen. Wie ein silbernes Band schlängelt sich die Mosel, weich und
schmiegsam, zwischen den rebenbekränzten Ufern, sanft fluten ihre
Wellen, und die goldene Sonne und der lachende Himmel gucken hinein
in den klaren Spiegel.
2. Dort an dem einsamen Wirtshaus führt der Weg seitab, wo der
Eifelbewohner, heimwärtskehrend, die Mosel verläßt, um aufwärts
in seine Berge zu steigen. Steil geht's empor, der Pfad wird steinig
und mühsam; große Furchen hat das Wasser in die Abhänge gerissen.
Der Himmel wird finster, die stechende Sonne verkriecht sich, die Berge
fangen an, graue Nebelkappen überzuziehen.
3. Oben auf der Hochfläche der Eifel wehen schon Herbstwinde. Sie
kommen von Norden und schnauben daher, eilfertig und gehässig; sie
färben das magere Gras gelb und zausen die knorrigen Föhren und
zitternden Birken. Hier oben riechen die Nächte jetzt schon nach Win-
ter. Die Schlehe hängt blau und herb an den dornigen Büschen, und
dicker Nebel hockt in den Mulden. Unwirtlich wird's, unfreundlich;
bald wird kalter Reif die Gräser und Moose versilbern. Die Eifel
mit ihren baumlosen Höhen, ihren rotblühenden Heiden und dunklen
Maaren, bereitet sich allgemach, ihren gestrengen Herrn, den Winter,
zu empfangen.
4. Da, wo der Wald zu Ende geht und nur struppiges Knieholz
fortkommt, liegt ein Häuschen an den Felsen geschmiegt, ein arm-
seliges Nest mit tiefhüngendem Moosdach, darauf Hauswurz und Fett-
henne gedeihen; sogar ein Tannenbäumchen hat sich naseweis und
keck dort angesiedelt. Das Türchen ist niedrig, das Fensterchen mtt
Papier verklebt, aber ans dem grünen Rasenfleck vor der Schwelle
weidet eine genügsame Ziege, mit einem Strick angebunden. Ein paar
sturmgewohnte Sonnenblumen nicken protzig und gönnerhaft mit dicken
Köpfen.
5. In der einsamen Hütte, der armseligsten weit und breit, wohnt
eine ehrsame Witfrau. Als junge, glückliche Braut ist sie vor fünf
Jahren hier eingezogen an der Seite ihres Peter, des tüchtigsten Holz-
fällers weit und breit. Nun hat man ihn hinausgetragen, starr und
kalt, und auf dem kleinen Bergfriedhof begraben. Das war ein böses
Jahr; früher Schnee fiel im dortigen Herbst, die Kartoffeln miß-
rieten, der Hungertyphus wütete in der armen Eifel. Im Häuschen
der Witwe sind Angst ums tägliche Brot, Kummer um den Ver-
storbenen, Kälte und Entbehrung zu Gaste. Die bleiche Frau sitzt
am Spinnrad und läßt ihre Tränen rinnen, und das Töchterchen hockt
315
daneben, lacht und spielt mit den bunten Steinen und begreift nichts
von dem Kummer der Mutter.
6. Noch weit hinauf führt uns der Pfad über die kahlen Abhänge.
Hoch oben zwischen den Eifelbergen liegt ein See, dunkel, tief, kreis-
rund, unheimlich wie ein Kraterschlund. Einst tobten unterirdische
Gewalten da unten, Feuer und Lavamassen wurden emporgeschleudert;
jetzt füllt eine glatte Flut das Becken wie Tränen eine Schale. Es
geht hinunter in bodenlose Tiefe.
Keine Bäume, keine Blumen. Nackte, vulkanische Höhen, gleich
riesigen Maulwurfshügeln, stehen im Kranz, zu nichts gut als zu
armseliger Viehweide. Mageres Sandgras weht, blasses Heidekorn
duckt sich unter Brombeergestrüpp. Kein Vogel singt, kein Schmetter-
ling gaukelt. Einsam ist's, zum Sterben öde.
Das ist das Weinselder Maar, das Totenmaar, wie es die Leute
heißen. Es hat keinen Abfluß, keinen Zufluß anders als die Tränen,
die der Himmel drein weint. Es liegt und träumt und ist todes-
traurig wie alles ringsumher.
Klara Viebig.
209. Mein Vaterland.
ch Von des Rheines Strand, wo die Rebe blüht,
bis zur Weichsel, die gen Norden zieht,
von der Alpe Rand, wo der Aar noch streift,
bis zur Rüste, wo die Rlöwe schweift,
liegt ein schönes Land, 's ist mein Heimatland,
's ist mein liebes deutsches Vaterland.
2. A)o die Siche kühn auf gen Himmel strebt
und die Treue tief im Herzen lebt;
wo der Buche Grün um uns Tempel baut
und die Lieb' aus jeder Hütte schaut:
ach, dies schöne Land, 's ist mein Heimatland,
's ist mein liebes deutsches Vaterland.
3. Auf, du deutsches Land! wahre deutschen Blut,
deutsche Treu' und deutscher Liebe Glut;
wehre welschem Tand, Trug und Heuchelschein;
laß sie fern von deinen Hütten sein;
fern von dir, o Land, du mein Heimatland,
du mein liebes deutsches Vaterland!
Karl Theodor Schneider.
316
210. Der Alpenjäger.
1. Willst du nicht das Lämmlein hüten
Lämmlein ist so fromm und sanft,
nährt sich von des Grases Blüten,
spielend an des Baches Ranft.
„Mutter, Mutter, laß mich gehen,
jagen nach des Berges Höhen!"
2. Willst du nicht die Herde locken
mit des Hornes munterm Klang?
Lieblich tönt der Schall der Glocken
in des Waldes Lustgesang.
„Mutter, Mutter, laß mich gehen,
schweifen auf den wilden Höhen!"
5. Auf der Felsen nackte Rippen
klettert sie mit leichtem Schwung,
durch den Riß gespalt’ner Klippen
trägt sie der gewagte Sprung;
aber hinter ihr vermögen
folgt er mit dem Todesbogen.
6. Jetzo auf den schroffen Zinken
hängt sie, auf dem höchsten Grat,
wo die Felsen jäh versinken
und verschwunden ist der Pfad,
unter sich die steile Höhe,
hinter sich des Feindes Nähe.
7. Mit des Jammers stummen Blicken
fleht sie zu dem harten Mann,
fleht umsonst; denn loszudrücken,
legt er schon den Bogen an;
plötzlich aus der Felsenspalte
tritt der Geist, der Bergesalte.
8. Und mit seinen Götterhänden
schützt er das gequälte Tier.
„Mußt du Tod und Jammer senden,"
ruft er, „bis herauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde;
was verfolgst du meine Herde?"
Friedrich v. Schiller.
211. 1)68 Luriden Berglied.
1. Ich bin vom Berg der Hirtenknab’,
seh’ auf die Schlösser all’ herab;
die Sonne strahlt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir;
ich bin der Kn ab’ vom Berge.
3. Willst du nicht der Blümlein warten,
die im Beete freundlich stehn?
Draußen ladet dich kein Garten,
wild ist's auf den wilden Höh’n!
„Laß die Blümlein, laß sie blühen!
Mutter, Mutter, laß mich ziehen!"
4. Und der Knabe ging zu jagen.
Und es treibt und reißt ihn fort,
rastlos fort mit blindem Wagen,
an des Berges finstern Ort;
vor ihm her mit Windesschnelle
stieht die zitternde ^Gazelle.
2. Hier ist des Stromes Mutterhaus,
ich trink’ ihn frisch vom Stein heraus;
er braust vorn Fels in wildem Lauf,
ich fang’ ihn mit den Armen auf;
ich bin der Knab’ vom Berge. .
3. Der Berg, der ist mein Eigentum,
da ziehn die Stürme ringsherum,
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und heulen sie von Nord und Süd,
so überschallt sie doch mein Lied:
Ich bin der Kn ab' vom Berge.
4. Sind Blitz und Donner unter mir,
so steh’ ich hoch im Blauen hier;
ich kenne sie und rufe zu:
Laßt meines Vaters Haus in Ruh’!
Ich bin der Knab’ vom Berge.
5. Und wenn die Sturmglock’ einst erschallt,
manch Feuer auf den Bergen wallt,
dann steig’ ich nieder, tret’ ins Glied
und schwing’ mein Schwert und sing’ mein Lied:
Ich bin der Knab’ vom Berge.
Ludwig Uhland.
212. Frühling im Bergwald.
Frühling im Bergwald! Er kennt die Blumen nicht, die der
Lenz über die Wiesen des Tales streut, die lauen, linden Lüfte nicht,
welche spielend durch die blühenden Hecken streichen, und nicht
das liebliche Gezwitscher der heimgekehrten Schwalben, die unter
gastlichem Dach ihre Nester bauen. Frühling im Bergwald — das
ist ein Brausen und Sausen, Toben und Donnern, Sturm und Tod.
Über dem Bergwald liegt der Winter wie ein grauenhafter Riese,
und der Frühling, der ihn scheuchen will, muß kommen wie ein ge-
waltiger Held, muß töten und zerstören, bevor er bauen kann und
neues Leben wecken aus eisigem Schlaf. Hoch in den steilen
Felsen krachen ohne Unterlaß die stürzenden Lawinen, über die
Halden fährt der stürmende Föhn mit dumpfem Sausen, mit seinem
heißen Atem schnaubt er über den schwindenden Schnee, im Walde
packt er die alten mächtigen Fichten und rüttelt sie, daß sie erbeben
in ihrem Mark. Und was sie nur tragen an faulem und morschem
Gezweig, das bricht er ab von ihnen und führt es dahin in jagendem
Wirbel. Ein Rieseln und Gurgeln immer und überall, auf jedem
Hange bildet sich ein springendes Bächlein, über alle Felsen
plätschern die Wässer, zu denen der Schnee zerschmolzen, alle
Wurzeln umspülen sie und sammeln sich in jedem Gerinn, in jeder
Schlucht und wachsen an zum tobenden, schäumenden Gießbach, der
den Bergwald säubert von allem Unrat und Moder, jeden kranken,
schwachen Baum zerschmettert und nur bestehen läßt, was stark ist
und gesund. Die Felsenklötze, die der Frost des Winters von den
Steinwänden abgesprengt, sie kommen ins Wandern, wenn der Schnee
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zerrinnt, sie stürzen und sausen nieder durch den Bergwald in dröh-
nenden Sprüngen, mit Krachen und Schmettern, und wo sie im
Sturz die Erde treffen, da pflügen sie und wühlen sie den Grund,
damit der überwinterte Same, den der Lenzwind ausweht, im Boden
die frische Narbe fände.
Ludwig Ganghofer.
213. Auf der Alm.
1. Wenn der Frühsommer kommt und die Hochmatten ergrünen,
so öffnen sich unten im Tal die Tore und Ställe der Gehöfte; mit
klingenden Schellen, hüpfend und blökend, ziehen die Rinder, auch
Ziegen und Schafe, selbst Schweine den sonnigen Höhen zu, und das
Jodeln der Sennerin und das Jauchzen der Halterbuben klingt von
den Felsen wieder. Die Leutchen freuen sich aus die Höhe. Mag die
Sennhütte noch so ärmlich sein, noch so mühevolle Arbeiten fordern,
sie bietet ein freies Leben. Mehl und Salz, ein paar Töpfe und
einen dicken Lodenkittel nehmen die Senner mit hinauf, damit wissen
sie nach ihrem Geschmacke ein Wohlleben zu führen. Ihr ganzes
Bestreben haben sie darauf zu richten, daß sie dem Dienstherrn unten
möglichst viel Käse und Butter gewinnen. Die Herde und der Stall
und der Klee und das fette Blättergras, das sind die Hauptsachen;
nach etwas anderem hat die Sennerin, hat der Almbub' nicht zu
fragen.
2. Die Almhütte ist aus rohen Balken gezimmert, welche auf
einem Steinlager ruhen. Die vier Bretterwände deckt das sehr flache
Dach, dessen lange Schindeln nicht festgenagelt sind, sondern nur durch
querüber gelegte, mit großen Steinen beschwerte Latten vor dem Davon-
fliegen bei Wind und Wetter geschützt werden. Das Dach steht rings-
um weit vor, so daß es eine Art von Schuppen bildet, unter welchem
Heu, Holz und Gerätschaften vor Regen verwahrt werden. Die Türe
steht angelweit offen; nur ein niederes Gatter mit einem Schnapper
ist lose angelehnt, damit das Vieh nicht hereinkann. Vor Räubern
und Dieben fürchtet sich der Almer nicht; denn so hoch oben gibt es
keine Schätze mehr zu stehlen. Nur wenn er sich weiter entfernt, ver-
sperrt er seine Wohnung mit einem einfachen Holzschloß.
3. Die Sennerin schafft mit Kübeln und Kesseln, bereitet das
Stallfutter, besorgt das Melken; der Almbub' ist Hüter der Herde,
treibt sie ans Weiden, abgemähte Wiesen und Heidegelände und führt
sie abends wieder in den Stall. Beide essen die gekochte Milch und
den Sterz*) aus einem Topf am Herde; dann zünden sie, wenn es
*) Volksgericht aus Mehl und Schmalz, in der Pfanne gebraten.
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finster geworden ist, den Kienspan an. Sie bessert die schadhaften
Stellen seiner Lodenkleider aus, die halten müssen bis zum Heim-
fahren; er nimmt dafür ihre auf dem rauhen Alpenboden wund ge-
wordenen Schuhe zwischen die Knie, zieht nach beiden Seiten den
bepechten Draht aus und schmaucht eine Pfeife dabei, erzählt Wilderer-
geschichten oder brummt ein Liedchen. Ewig jung sind die alten Lied-
chen, die er brummt und sie singt. Die Leute mögen denken oder
sagen, was sie immer wollen, sie brauchen keine mageren Worte da-
für; sie haben für alles ihre Lieder und Liedchen. Draußen zieht die
kalte Abendluft von den bleichen Gletschern herüber durch die Mond-
nacht, oder es liegt ein Nebel über den nächtlichen Firnen, oder es
hebt sich in den Schluchten und Rissen der Hochschroffen ein brausen-
der Gewittersturm und läßt seine Blitze lohen und schmettern über
der einsamen Hütte; — sie schieben den Holzriegel vor die Tür und
beten ein Vaterunser; das ist ja genug. Dann sagt sie zu ihm:
„Buberl, steig hinauf in dein Heu!" Er lehnt eine Holzleiter an die
Wand und klettert durch eine Öffnung hinauf zum Dachboden, zieht
seine Schuhe und seine Jacke aus und legt sich ins duftende Heu.
Sie tut desgleichen und sucht ihr Lager aus, und draußen im Stalle
schellt oder brüllt eines oder das andere in der Herde.
4. Die Sennhütten stehen häufig nahe beisammen, so daß sie fast
Dörfer bilden; dann herrscht unter den Sennen großer Gemeinsinn.
In jedem Senndorfe ist eine Person gewählt, die darauf zu sehen hat,
daß die Parteien sich nicht gegenseitig an Weideplätzen, Heu und
Stren benachteiligen. Meist ist das eine ältliche Magd oder ein Mann,
der noch die Obliegenheit hat, die Bewohner der Hütten zu den Ge-
betsstunden aufzurufen. Da tritt er des Abends, wenn in den ent-
fernten Tälern die Glocken klingen, auf einen freien, erhöhten Platz
und singt durch einen Milchtrichter, damit es einen lauten Ton gibt,
ein frommes Lied. Darauf kommen sie, besonders an den Samstagen,
alle zusammen und verrichten gemeinschaftlich ihre Andacht.
5. Gegen Abend ziehen die Sennerinnen aus und rufen den Kuh-
reigen: „Wo bist denn, mei Gamslo, mei Hirschlo? He do, he do!
Kriagst an Klee, kriagst a woachi Streu, kriagst a Federl Heu!" Auf
solchen Ruf kommen sie von allen Seiten mit ihren Glocken und
Schellen herangezogen, ernst und behäbig, besonders die Glocken-
trägerinnen, die sich auf diesen ihren Beruf nicht wenig einbilden.
Beim Herannahen eines Gewitters werden die Herden oft scheu, und
alle Kraft und Umsicht muß aufgeboten werden, um die in Sturm
und Hagel wild umherfahrenden Rinder vor dem Abstürzen zu be-
wahren und sie in den Gewahrsam des Stalles zu bringen. Bös ist
es auch, wenn Schneewetter eintritt; dann leidet das Vieh sehr unter
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Hunger, Nässe und Kälte oder verirrt sich an gefährliche Stellen, so
daß die Leute Wache halten müssen. Ist es aber schon spät im Herbste,
so besinnen sich die Sennen nicht lange, sondern rüsten sich zum
Aufbruch.
6 Der Tag, an welchem Menschen und Tiere bekränzt von der
Alm in das Tal zurückkehren, ist ein wahres Fest. Die Krippen in
den Ställen werden gefüllt mit dem fettesten Klee, und der Tisch wird
mit den auserlesensten Fleisch- und Mehlspeisen für die Heimkehrenden
gedeckt. Der Winter geht hin unter schönen Erinnerungen und Hoff-
nungen, und im Frühjahr, zur Zeit, wenn die Tannen blühen, ziehen
Sennerin, Kuh und Hirtenbub' neu vergnügt wieder hinauf auf die
schöne grüne Alm.
Peter Rosegger.
214. Die Alpenherden im Hochqewitter.
So vertraut die Sennen mit ihrem Vieh sind und so gern eine jede
Ktlh dem Namen folgt, mit dem sie gerufen wird, so gibt es doch auch
fast in jedem Sommer Zeiten, in denen alle Ordnung in der Herde reißt
und der Senne sie fast nicht mehr zu halten weiß. Wir meinen die
Stunden der nächtlichen Hochgewitter, die den Alpenbewohnern wahre
Not- und Schreckensstunden sind. Noch liegt die Herde in der Nähe der
Hütte, und die Hirten ruhen, von des Tages Last und Hitze ermüdet,
im ersten Schlafe. Da leuchtet's fern am Horizonte, und das nahe Schnee-
feld steht minutenlang wie von glühender Lava übergössen. Schwärzer
hangen die schweren, breitgeballten Wolken über den Gipfeln, und von
Westen her beginnt eine tolle Jagd gelblichen Gewölkes mit leicht zuckenden
Strahlen. In der fernen Tiefe ruht das schwarze Land in Totenstille.
Die Kühe wachen auf und werden unruhig; warme Windstöße fegen
zwischen den Felsenköpfeu her und rauschen sachte in den Alpenrosen-
büschen und niedrigen Bergföhren. Die Wasser der Gletscher werden
lebendig; in der Ferne beginnt es dumpf zu rollen; die oberen Lüste
kämpfen; es zuckt immer lebhafter und feuriger über den höchsten Alpeu-
gipfeln. Die Kühe stehen aus und sammeln sich; die dumpfbrüllende
Heerkuh, die schönste und stärkste unter allen, welche die große Schelle
trägt, gibt das Zeichen zum Aufbruche, und bald ist die Herde dicht um
die Hütte geschart. Noch liegt über der Hochfläche drückende Schwüle;
einzelne schwere Tropfen fallen schräg auf das Hüttendach, unter dem
noch die Sennen ruhig fortschnarchen. Da flammt aus der nächsten
lichten Wolke eine feurige Schlange, der schwefelgelbe Blitz, in den Felsen
her — wie Gift beißt's in den Augen — ein heller Knall schmettert nach,
die Wolken flammen ringsum auf, die Donnerschläge überstürzen sich, der
Himmel dröhnt, die Hütte wankt, die Firnen beben, in hellem Striche
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rauscht der dichte Hagel auf die Weide nieder. Hoch auf brüllen die
getroffenen Tiere, mit aufgeworfenen Schwänzen und dicht geschloffenen
Augen rennen sie zitternd nach der Richtung des Sturmwindes aus-
einander. Jetzt springen die halbnackten Sennen, die Milcheimer über die
Köpfe gestürzt, unter die zerstäubende Schar, johlend, fluchend, lockend
und die heilige Mutter anrufend. Aber das tolle Vieh hört und sieht
nichts mehr. In schauerlichen Tönen, halb stöhnend, halb brüllend, rennt
es blind mit vorgestrecktem Kopfe geradeaus. Das ist eine Stunde des
Schreckens und des Unheils. Die Sennen wissen sich nicht zu helfen:
bald schwarze Nacht, bald blendendes Feuer; der Hagel klappert auf dem
Eimer und zwickt die nackten Arme und Beine mit scharfen Hieben,
während alle Elemente in greulichem Aufruhr sind. Endlich ist ein Teil
der Herde gesammelt; die Winde haben die gefährlichen Wolken über die
Wetterscheide hiuausgetrieben; dem Hagel folgt ein 'dichter Regen, die
Kühe stehen bis an die Knie in Kot; Hagelsteine und Wasser um die
Hütte her, und von Fels zu Fels hallen die vereinzelten Schläge des
ferneren Donners nach — aber eine oder zwei der schönsten Kühe liegen
zuckend und halb zerschmettert im Abgrunde. Kommt das Hochgewitter
nicht so unvermutet, so beeifern sich die Sennen, das Vieh sorgfältig zu
sammeln. Es bietet einen eigenen Anblick, wenn es sich, wie sie es neuneu,
„erstellt". Mit starren Augen und hängendem Kopfe stehen die heftig
zitternden Tiere im Haufen. Überall gehen die Hirten umher, reden
freundlich zu, loben und schmeicheln, und da mag es noch so heftig blitzen
und krachen, der Hagel kann noch so stark auf die Herde hereinwettern —
keine Kuh weicht mehr vom Fleck. Es ist, als ob diese armen, gutmütigen
Tiere sich sicher vor allem Unglück wüßten, wenn sie nur des Sennen
Stimme hören. Friedrich v. Tschudi.
215. Die Staublawinen.
1. Zu den großartigsten malerischen Erscheinungen der Alpenlandschaft
gehören die Lawinen, diese ungeheueren, donnernden Schneestrüme, durch
welche die Alpen sich stellenweise unermeßlicher Schneegebiete entledigen,
und deren Majestät ebenso groß ist wie die Furchtbarkeit ihrer Gewalt.
Man unterscheidet Grund- und Staublawinen. Jene entstehen, wenn die
Sonnenwärme oder der Föhn im Frühlinge bis in den Vorsommer hinein
große Schneefelder auflöst, unterfrißt, mit Wasferrinnen durchzieht und
ihre Unterlage so erweicht, daß bei geringer Veranlassung ganze Strecken
gleichzeitig ins Rutschen kommen. Sie kehren periodisch wieder, haben
ihre bestimmten Züge und Gänge, ihre Kessel, in denen sie aufgehoben
werden, ihre Lagerfelder, wo die bewegten Massen zur Ruhe kommen.
Gefährlicher, gewaltiger und unregelmäßiger sind die Staublawinen. Sie
treten nur im Winter und ersten Vorfrühling auf und entstehen, wenn
Kn PP e y u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 21
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auf eine feste, harte Schneedecke große Lasten neuen, körnigen, losen Schnees
fallen. Dieser hat, wenn die Abhänge etwas steil sind, keinen Halt aus
jener: das Einstürzen eines kleinen Schneegesimses in der Höhe, der Tritt
einer Gemse, eines Hasen, ja das Schneebällchen, das von einem Strauch
fällt und fortrollt, oder irgendeine Lufterschütterung bringt dies ganze
neue obere Schneefeld in Gang; es rutscht erst langsam in einem Stücke
fort, reißt dann die tieferen Massen mit, wallt über, stiebt auf, teilt sich.
Das Dröhnen der Massen durch die klare Luft und der entstehende Windzug
führt von allen Seitenhalden neue, kleinere Stürze herbei. Mit rasender
Eile, immer furchtbarerer Wucht und dröhnendem Gepolter stürzt der
Hauptstrom der Tiefe zu, hat schon die Holzregivn als breite, hochgetürmte
Sturmflut erreicht, reißt Steine, Büsche mit sich und bricht krachend in
den Wald. Du siehst nichts als donnernde und sprühende Nebel; unend-
liche Schneestaubwolken verhüllen den Gang des Stromes, dessen ganze
Bahn raucht; aber die Bäume krachen, das Felsgestell bebt, die Zinnen
hallen im Donner des Sturmes lange, bange Minuten nach — noch ein
Schlag und zitterndes, knirschendes, dumpfes, unaussprechliches Gepolter —
dann ist es stille. Ein schneidender Luftzug hat den stolzen Gang der
Lawine begleitet. Du schaust ihr nach; geradeaus, über zwei Stunden
lang, Hunderte von Schritten breit, liegt ihr frisches Kanalbett durch
Alpenweiden, Wälder, Wiesen bis an den Bach tief unten im Tal; noch
rollen einzelne Ballen und rutschen kleine Stürze nach, noch schwankt der
durchbrochene Hochwald im Winde der Berheererin. Vom Tale aus ge-
sehen, ist der Sturz malerischer; doch entdeckt man selten die Anfänge.
Der sich ausbreitende, mit Riesenkräften wachsende, wasserfallgleich über
die Felswände stürzende, hochaufrauchende Strom, wie er sich oft
teilt und wieder vereinigt, die Seitenarme aufnimmt, ein wallendes,
flutendes, glänzendes Meer im pfeilschnellen Schusse mit allen weit-
reichenden Seitenwirkungen, gewährt ein unaussprechlich großartiges Bild«
Wenige Minuten — und die Tochter der Hochalp liegt nach einem schauer-
lichen Tanze friedlich und bewegungslos in der Talwanne. Vier- bis
fünftausend Fuß hat sie in siegreichem Donnergange zurückgelegt und ihren
Leib majestätisch in die fliegenden, weißen Gewänder gehüllt, um bald im
Schoße des Talbettes mit gelösten Gliedern zu ruhen.
2. Der Bewohner der Ebene macht sich selten einen richtigen Begriff
von den wunderbaren Sturmbewegungeu, von denen eine solche Staublawine
begleitet ist. Der Luftzug strömt stoß- oder schußweise rechts und links et-
liche hundert Schritte weit neben dem Lawinenzuge, schießt aber in seiner
ganzen Breite unten über die liegenbleibende Schneemasse hinaus, prallt oft
an der gegenüberliegenden Bergwand an oder verliert sich in der Weite
des Tales, wo er noch auf eine halbe Stunde weit die Fenster und Türen
der Wohnungen erschüttert und die Kamine von den Dächern hebt. In
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den Wäldern reißt dieser Sturm auf beiden Seiten des Schneestromes
oft 1000 bis 2000 der stärksten, ältesten Bäume nieder, hebt Menschen
und Tiere aus und schleudert sie in die Tiefe, zerbricht im Tale noch
weit vom Lagerplatze der Lawine die gewaltigsten Nuß- und Apfelbäume
und Ahorne, legt schwere Frachtwagen auf die Seite und reißt ganze
Ställe zusammen. Doch ist diese Luftstreichung ziemlich enge abgegrenzt,
und außerhalb ihrer scharf gezogenen Linie schwankt kein Blatt. Wunder-
bare Schicksale zeichnen solche Lawinen in das einförmige Leben der Berg-
bewohner. Bald verhüllen sie ganze Weiler in nächtlicher Stunde, und
die Leute sind in haushohen Schneemassen begraben und erstickt, ehe sie
recht erwachen. Manchmal reißen sie die Häuschen wie Kartenblätter
wirbelnd in die Höhe, und die Bergbewohner werden mit heiler Haut
abseits in den Schnee geschleudert. Heuschuppen sind 500 Schritt weit
durch die Luft über Bäche getragen und unversehrt mit dem ganzen Heustock
auf der anderen Talseite abgesetzt worden. Von Verschüttungen und wunder-
baren Rettungen der Menschen finden sich in allen höheren Tälern ältere
und jüngere Überlieferungen. Doch der Mensch setzt den Naturgewalten
unablässig seinen zähen Widerstand entgegen; er baut seine Hütte keck
und trotzig an die Donnerbahneu der furchtbaren Schneeströme, und wenn
diese sie wie Ameisenhäufchen wegfegen, setzt er in wunderlichem Eigen-
sinn die neuen wieder an die Stelle der alten. Friedrich v. Tschudi.
216. Ei ne Fahrt aus dem Königsee.
1. Wir besteigen in München den Dampfvvagen. Er trägt uns
erst nach Süden, dann nach Osten. An Städten und Dörfern vorbei
braust der Zug, zuletzt auch durch rauschende, grüne Wälder, hinter
denen blaue Bergspitzen aufsteigen. Wir sitzen nicht allein im
Wagen. Mit uns fahren einige Bauern mit scharlachroten Westen,
an denen Silbermünzen blitzen an Stelle der Knöpfe. Der eine
raucht aus einer kurzen Tabakspfeife. Der andre zieht von Zeit zu
Zeit ein fingerlanges Glasfiäschchen aus der rechten Westentasche,
nimmt den hölzernen Stöpsel ab und klopft aus dem Fläschchen ein
Häufchen Schnupftabak auf den Rücken seiner Hand. Der dritte
sieht wohlgefällig auf seine Füße. Er scheint sich ein Paar neue
Schuhe gekauft zu haben. Sie sind mit doppelten Sohlen ausgerüstet,
in denen Eisennägel sitzen von der stärksten Sorte, damit der Fuß
nicht schwankt, wenn der Weg über das lockere Geröll des Ge-
birges führt. —
Bis an die Landesgrenze führt uns der Zug immer nach Osten
dann geht es wieder nach Süden zum Städtchen Berchtesgaden.
Hier steigen wir aus und begeben uns auf den Weg zum Königsee,
den wir in etwa 11/2 Stunden erreichen.
21 *
324
2. Wir besteigen einen der vielen Kalme, die am Seeufer sieb
auf den Wellen schaukeln. Ein kräftiger Bursche in grauer Joppe,
kurzen Hosen und Spitzhut auf dem Kopfe rudert uns hinaus auf
die blitzende Fläche. Wir blicken ins Wasser. Es erscheint hell-
grün. Wir sehen jedes Steinchen auf dem Grunde. Aber je weiter
wir fahren, desto dunkler wird das Wasser. Es nimmt eine bläulich
grüne Farbe an. Wir merken, daß wir über unergründliche Tiefen
hingleiten. Hier und da springt ein Fisch aus dem Wasser, und
silberne Kreise bezeichnen die Stelle, wo er wieder verschwindet.
Es ist eine der Lachsforellen, die in großer Menge im See leben
und um ihres schmackhaften, rötlichen Fleisches willen gefangen werden.
3. Wir blicken aber auch um uns! Welch herrliches Bild! Ge-
waltige Felsenwände steigen steil empor an den Ufern des Sees.
Von ihnen stürzen rauschende Bäche hinab in den See. Unser
Schiffer zieht das Kuder ein. Er ergreift ein Gewehr, das neben
ihm auf dem Boden liegt, und schießt es ab. Die Felsenwände
geben den Knall hundertfach wieder. Wie lang anhaltender Donner
drängt das Echo an unser Ohr. Weiter geht die Fahrt: über uns
der blaue Himmel, unter uns die grünblaue Flut, um uns die himmel-
anstrebenden grauweißen Felsen. Nach einiger Zeit nähern wir uns
dem Südende des Sees. Wir verlassen den Kahn. Vor uns breitet
sich ein weites Trümmerfeld aus. Gewaltige Steinblöcke, die einst
auch in luftiger Höhe thronten, sind herniedergestürzt und zerschellt.
Wir fürchten uns nicht vor der beschwerlichen Wanderung über
dieses Gestein. Munter klettern wir über die gewaltigen Blöcke
und stehen schon nach zehn Minuten vor einem zweiten See, der
ebenfalls umschlossen ist von himmelhohen Felsen, von denen Wasser-
fälle mit einförmigem Rauschen ihre Gewässer niedersenden. Über
die Felswände hinaus aber, die das Seebecken einfassen, sehen wir
einen gewaltigen Gipfel ragen. Er spaltet sich in zwei Hörner, die
durch eine schmale Wand (Grat) verbunden sind. Ein versteinerter
König ist’s mit seinem Weibe. So meldet die Sage. Watzmann ist
sein Name. Ü
4. Vor uralter Zeit herrschte er über das Alpenland. Sein Schloß
stand in der Nähe des Königsees und blickte freundlich mit seinen
hohen Türmen hinaus in das Land. Er war aber grausam und hart
gegen alle seine Untertanen und quälte Menschen und Tiere. Einst
überritt er auf einer Jagd ein altes Mütterlein, welches mit seinem
Enkelkinde vor einer kleinen Hütte ruhte, so daß das Kind und
seine Wärterin einen entsetzlichen Tod fanden. Als auf das Weh-
geschrei der Sterbenden die Eltern entsetzt aus der Hütte eilten
und laut jammerten, hetzte er auf sie seine wilden Hunde und ließ
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sie zerreißen. Da hob das Mütterlein noch einmal seine blutende
Hand gen Himmel und flehte um Strafe für den Wüterich. Und
Gott erhörte sie. Der König und seine Gemahlin, die kalt zugesehen
hatten, wurden in riesige Felsen verwandelt zum warnenden Beispiel
für herzlose und grausame Menschen.
5. Früher standen Obersee und Königsee in Verbindung. Erst
durch die herabstürzenden Blöcke ist der breite Damm entstanden,
der jetzt die beiden Seen trennt. Freilich hat es Jahrhunderte ge-
dauert, ehe dieser Damm so breit und fest wurde, wie er jetzt ist.
Allerdings macht der Königsee nicht immer das freundliche Ge-
sicht, das er uns zeigte. Während eines Gewitters schaut er anders
aus. Der Sturm braust hin über den See und peitscht das Wasser
zu Schaum.. Furchtbar hallt der Donner wider von den steilen
Wänden und Felsen. Wehe dann denen, die im kleinen Kahne sich
auf dem See befinden. Die Wellen stürzen den Nachen um und
begraben die Insassen in der Flut. Gewiß! Es liegt manch Menschen-
kind tief drunten im See begraben, das froh und wohlgemut vom
Ufer abstieß! Julius Tischendorf.
217. Die Martmswand.
1. Willkommen, Tiroler Herzen, die ihr so bieder schlagt!
Willkommen, Tiroler Gletscher, die ihr den Himmel tragt!
Ihr Wohnungen der Treue, ihr Täler voller Duft,
willkommen, Quellen und Triften, Freiheit und Bergesluft! —
2. Wer ist der kecke Schütze im grünen Jagdgewand,
den Gemsbart auf dem Hüllein, die Armbrust in der Hand,
des Aug' so flammend glühet wie hoher Königsblick,
des Herz so still sich freuet au kühnem Jägerglück?
3. Das ist der Max von Habsburg auf lust'ger Gemsenjagd;
seht ihn auf Felsen schweben, wo's kaum die Gemse wagt!
Der schwingt sich auf und klettert in pfeilbeschwingtem Lauf,
hei, wie das geht so lustig durch Kluft und Wand hinauf!
4. Jetzt über Steuigerölle, setzt über tiefe Gruft,
setzt kriechend hart am Boden, jetzt fliegend durch die Luft!
Und jetzt? — Halt ein, nicht weiter! Jetzt ist er festgebannt,
Kluft vor ihm, Kluft zur Seite und oben jähe Wand!
5. Der Aar, der sich zur Sonne schwingt, hält hier die erste Rast;
des Fittichs Kraft ist gebrochen, und Schwindel hat ihn erfaßt;
wollt' einer von hier zum Tale hinab ein Stieglein baun,
müßt', traun, ganz Tirol und Steier die Steine dazu behaun.
— 326
6- Wohl hatt' die Amm' einst Maxen erzählt von der Martinswand,
daß schon beim leisen Gedanken das Aug' in Nebeln schwand;
setzt kann er sehn, ob dem Bilde sie treue Farben geborgt;
daß er's nicht weiter plaudre, dafür ist schon gesorgt.
7. Da steht der Kaisersprosse, Fels ist sein Throngezelt,
sein Szepter Moosgeflechte, an das er schwindelnd sich hält:
auch ist eine Aussicht droben, so schön und weit zu sehn,
daß ihm vor lauter Schauen die Sinne fast vergehn.
8. Tief unten ein grüner Teppich, das schöne Tal des Inn;
wie Fäden durchs Gewebe ziehn Straß' und Strom dahin.
Die Bergkolosse liegen rings eingeschrumpft zuhauf'
und schaun wie Friedhofhügel zu Maxen mahnend auf.
9. Jetzt stößt er, Hilfe rufend, mit Macht hinein ins Horn,
daß es in Lüften gellet, als dröhnte Gewitterzorn;
ein Teufelchen, das kichert im nahen Felsenspalt:
„Es dringt ja nicht zu Tale des Hilferufs Gewalt."
10. Ins Horn nun stößt er wieder, daß es fast platzend bricht;
hoho, nicht so gelärmet! Da hilft das Schreien nicht!
Denn liebte ihn sein Volk nicht, was er auch bieten mag,
Herr Max, er bliebe sitzen bis an den Jüngsten Tag!
11. Was nicht das Ohr vernommen, das hat das Aug' erkannt;
die unten sahn ihn schweben auf pfadlos steiler Wand;
Gebet und Glocken rufen für ihn zum Himmelsdom,
von Kirche zu Kirche wallfährt der bange Menschenstrom.
12. Jetzt an dem Fuß des Felsens erscheint ein bunter Chor,
ein Priester inmitten, weisend das Sakrament empor.
Max sieht nicht das bunte Wimmeln auf ferner Talesflnr,
er sieht das blitzende Glänzen der Goldmonstranze nur.
13. „Fahr wohl nun, Welt und Leben! Schwer fällt der Abschied mir;
o unerforschlich Wesen, du winkst, ich folge dir!
Ich schien ein Baum voll Blüten — dein Blitz hat ihn erschlagen —
ach gerne hätt' er früher noch süße Frucht getragen!
14. Ich schien ein Bauherr, türmend den Dom zu deinem Ruhm —
nicht durft' er ganz vollenden der Liebe Heiligtum —
ein Priester, plötzlich stürzend tot an des Altars Stufen,
er hätte gern erst Segen noch übers Volk gerufen!
15. So mag dies Herz denn brechen, von Lieb' und Segen voll;
so modre nun, mein Busen, der tatenschwanger schwoll!
Verwelke, Hand, denn nimmer krönt deine Müh' Gedeihn!
Nur Gottes bester Engel kann hier mein Retter sein!"
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16. Er spricht's und hebt zum Himmel nun Angesicht und Arm,
und in die Knie sinkt er und betet still und warm;
da klopft's auf seine Schultern, er fährt erschreckt empor;
„Komm heim, du bist gerettet!" so ruft es an sein Ohr.
17. Und einen Bergmann sieht er froh lächelnd vor sich stehn,
der faßt ihn fest beim Arme und winkt ihm fürderzugehu;
mit Leitern, Stahl und Seilen wird kühn ein Pfad gebahnt;
wo Maxens Fußtritt strauchelt, stützt ihn des Retters Hand.
18. Der lädt ihn auf den Rücken, wo Klüfte schwindelnd drohn;
wohl sind der Treue Schulter des Fürsten schönster Thron.
Rasch geht's zu Tal, wo jauchzend Tirol empfängt die zwei;
kein Spötter kann belächeln die seltne Reiterei.
19. Wohl kündet uns die Sage aus grauer Ahnenzeit
von einem Himmelsboten, der schützend ihn befreit;
Ja, wohl ein Engel war es, ein Schutzgeist, stark und kühn,
des treuen Volkes Liebe, so nennt zu Deutsch man ihn.
20. Ein Kveuz auf hohem Felsen blickt nieder in das Land
und zeigt den Ort, wo bebend einst Habsburgs Sprosse stand;
noch lebt die edle Kunde und jubelt himmelwärts
aus manches Sängers Munde durch aller Tiroler Herz.
Anastasius Grün.
218. Frau Hütt.
In uralten Zeiten lebte im Tirolerland eine mächtige Riesen-
königin, Frau Hütt genannt, und wohnte auf den Gebirgen über
Innsbruck, die jetzt grau und kahl sind, aber damals voll Wälder,
reicher Äcker und grüner Wiesen waren. Auf eine Zeit kam ihr kleiner
Sohn heim, weinte und jammerte, Schlamm bedeckte ihm Gesicht und
Hände, dazu sah sein Kleid schwarz aus, wie ein Köhlerkittel. Er
hatte sich eine Tanne zum Steckenpferd abknicken wollen, weil der
Bannt aber am Rande eines Morastes stand, so war das Erdreich
unter ihm gewichen und er bis zum Haupt in den Moder gesunken;
doch hatte er sich noch glücklich herausgeholfen. Frau Hütt tröstere
ihn, versprach ihm ein neues schönes Nöcklein und rief einen Diener,
der sollte weiche Brosamen nehmen und ihm damit Gesicht und Hände
reinigen. Kaum aber hatte dieser angefangen, mit der heiligen Gottes-
gabe also sündlich umzugehen, so zog ein schweres, schwarzes Ge-
witter daher, das den Himmel ganz zudeckte, und ein entsetzlicher
Donner schlug ein. Als es sich wieder aufgehellt hatte, waren die
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reichen Kornäcker, grünen Wiesen und Wälder und die Wohnung der
Frau Hätt oerschwunden, und überall war nur eine Wüste mit zer-
streuten Steinen, wo kein Grashalm mehr wachsen konnte; in der
Mitte aber stand Frau Hütt, die Riesenkönigin, versteinert, und wird
so stehen bis zum Jüngsten Tag.
In vielen Gegenden Tirols, besonders in der Nähe von Inns-
bruck, wird bösen und mutwilligen Kindern die Sage zur Warnung
erzählt, wenn sie sich mit Brot werfen oder sonst Übermut damit
treiben. „Spart eure Brosamen," heißt es, „für die Armen, damit
es euch nicht ergehe, wie der Frau Hütt."
Brüder Grimm.
219. Die Fahrt von Marseille nach Nizza längs der
französischen Riviera.
1. Auf der Fahrt von Marseille nach dem gepriesenen Nizza er-
reichen wir zuerst das in verborgener Einsamkeit liegende Toulon. Die
Stadt ist ein Hauptwaffenplatz Frankreichs, und ihr vorzüglicher Hafen
dient als Kriegshafen. Wie ausgehöhlt aus dem Felsengestade liegt
der prächtige Hafen mit seinen fampfbereiten Kriegsschiffen vor uns.
Halbkreisförmig umgibt ihn die dichte Hüusermasse der Stadt. Hinter
dieser aber winken zahllose Villen und niedliche Winzerhäuschen von den
mit Gärten und Weinbergen geschmückten Gehängen hernieder. In dem
schon recht milden Klima gedeihen Orangen und andere Südfrüchte,
die Trauben sind von seltener Süßigkeit, und in den Gärten recken sich
auch schon zahlreiche Palmen zum heiteren Himmel empor, während
Kaktusarten mit ihren hellroten Blüten Fels und Gemäuer begleiten.
2. Die Weiterfahrt geht durch eine entzückend schöne Berglandschaft,
in deren Tiefen dunkle Pinienwälder stehen, während zum Meere
zackig geformte Felsengebirge aufragen. Doch diese weichen dem Auge,
und das Meer mit seinem weit schimmernden Spiegel taucht rechts
vor uns auf. In seinem Anblicke geht die Fahrt weiter. Die präch-
tigen Küstenbilder zu unserer Linken streiten mit ihm um unsere
Gunst. Die Felsvorsprünge durchfahren wir in Tunnels, und auf
die Schluchten der Küste schauen wir tief hinab. Stolz recken sich die
Ölbäume in die Höhe, mit den ebenfalls schon hier erscheinenden Kork-
eichen an Größe wetteifernd. Zwischen ihren buschigen Kronen hindurch
schauen wir hinab auf das blaue Meer, auf dem zahlreiche Schisse
mit stolz geschwellten Segeln dahinfahren. Dann aber lockt wieder
die Nähe das Auge. An malerisch gelegenen Küstenorten fliegen wir
vorüber, und an dem Berghange folgt Villa auf Villa, die Nähe einer
Stadt verkündend, der Gartenstadt Cannes.
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Cannes ist ein vielbesuchter Luftkurort und namentlich im Winter
von zahlreichen Engländern bewohnt. Wie halb vergraben liegen in
den üppigen Gärten die schmucken Villen und großartigen Logier-
hänser. Von den mit Orangen, Wein, Rosen, Jasmin oder Gemüsen
bepflanzten, zum Teil künstlichen Bergterrassen schaut man hinab auf
die düstere Insel St. Marguerite.
3. Das schöne Cannes vertauschen wir bald mit Nizza, der Nosen-
stadt der französischen Riviera. Nizza la Bella nennen sie die Ita-
liener, die früher, ehe das Gebiet an Frankreich kam, hier heimat-
berechtigt waren. Auch in nördlichen Gegenden ist man gewöhnt,
Nizza als den Inbegriff des Schönen zu fassen, und will inan eine
Stadt als eine besonders schöne bezeichnen, so belegt man sie mit jenem
klangvollen Namen. So ist Honnef a. Rh. das rheinische Nizza und
Molde die norwegische Rosenstadt. Einen schönen Überblick über die
Rivierastadt bietet der Schloßberg. Wie ein riesiges Ohr liegt das
wunderbare Bild Nizzas vor uns, von einer doppelten Umwallung
von Bergen umgeben, die die kalten Winde abhalten und wie ein
Windschirm die warmen Südwinde sammeln. Die Stadt selbst zerfällt
in die ausgedehnte Neustadt mit ihren schönen Alleen, prächtigen
Gärten und Landhäusern und in den kleinen Bezirk der engen und
schmutzigen Altstadt. Während in jener der ganze Luxus der reichen
Welt an uns vorüberrauscht, öffnet sich uns in dieser ein Blick in die
Armut des niederen Volkes. Besonders der Fisch- und der Blumen-
markt führen uns die arme Bevölkerung vor Augen, aber auch ein
Stück interessanten Volkslebens.
4. Von Nizza führt der berühmte Weg über die Corniche, den
alle, die ihn wandern, immer wieder von neuem Preisen, in halber
Höhe der felsigen Ufer an dem Meere vorbei. Die Pracht der Pflanzen-
welt wetteifert mit der des Felsengebäudes der Landschaft und mit
dem großartigen Anblicke des Meeres. Fast ebenso schön ist der Weg
unten am Saume des Meeres vorbei, wo das Ohr dem Wogenschlage
lauscht, während der Blick zu den gigantischen Felsgebilden und zu
den Gärten und Villen hinauflugt. Endlich liegt das Ziel unserer
Wanderung vor uns, Monte Carlo, das auf vorspringenden Felsen,
gekrönt von den trotzigen Mauern des alten Schlosses, weit in das
Wogenbett des Meeres hinausragt. X
Heinrich Kerp.
220. Die Tauben auf dem Markusplatz in Venedig.
1. Warst du schon einmal in Venedig? Wenn du es warst, dann wirst
du dich sicher mit Vergnügen an die Taubenscharen des Markusplatzes
erinnern. Kaum bist du, vom Führer vorsorglich mit einem erbsengefüllten
330
Papiersäckchen versehen, zwischen die Bogen des Verwaltungsgebäudes ge-
treten, so rauscht es von allen Seiten um dich. In ganzen Wolken
kommen die weißen und schwarzen Tauben, um sich an deinen Erbsen
gütlich zu tun. Furchtlos setzen sie sich dir auf die Schultern, die Arme,
den Kopf und erwarten, daß du ihnen die Körner hinstreust; oft warten
sie auch nicht, sondern picken die Erbsen ohne Scheu aus deiner Hand
oder auch aus dem offenen Papiersäckchen heraus, und so mächtig ist ihr
flatternder Ansturm, daß du ordentlich fest auf deinen Füßen stehen mußt,
um ihm standzuhalten. Ist dein Vorrat erschöpft, dann hebt sich der
ganze Schwarm schwirrend wieder davon.
2. Selten wird ein Fremder den Markusplatz betreten, ohne den Tauben
den von ihnen erwarteten Tribut zu zollen. Mit scharfem Blick erkennen
diese sofort, ob der Ankömmling etwas für sie hat oder nicht. Im letzteren
Falle bleiben sie ruhig auf ihren Dächern und Balkönen, sobald sie aber
die verheißungsvolle Düte sehen oder wahrnehmen, daß der Fremde eine
Bewegung macht, als wolle er in die Tasche greifen, so flattern sie eilig
herbei. Für den Unbeteiligten ist es ein fesselnder Anblick, ein ernstes
Männerantlitz oder auch das von Freude und Aufregung gerötete Ge-
sichtchen eines Mädchens unter den hellen und dunklen Taubenflügeln
hervorblicken zu sehen.
3. Zu bestimmter Zeit versammeln sich die Tauben unter dem Uhrturm
des Markusplatzes, wo sie auf Kosten der Stadt gefüttert werden. Über
die Entstehung dieses Brauches erzählt man folgendes: Vor dreihundert
Jahren hatten die verschiedenen Psarrgemeinden von Venedig dem Dogen
bei gewissen Gelegenheiten Geschenke an Früchten, Backwerk und dergleichen
darzubringen; das alljährliche Geschenk einer Gemeinde bestand in einem
Paar Wildtauben. Nun entkam einmal bei dieser Gelegenheit das Tanben-
paar aus der Hand des Dogen und flüchtete sich unter die goldenen
Kuppeln der nahen Markuskirche. Das Volk gestattete nicht, die Ent-
flohenen wieder einzusangen, welche der Heilige in seinen Schutz genommen.
Der Doge wollte nicht hinter dieser Großmut zurückbleiben und verfügte,
daß das befreite Taubenpaar und seine Nachkommenschaft auf Staatskosten
ernährt werden sollten. So gedieh und wuchs von Jahrhundert zu Jahr-
hundert die Taubenfamilie zu einem wimmelnden Völkchen. Täglich wurde
ihnen ein Sack Korn hingestreut, niemals legte ein Venetianer Hand an
diese Tauben, selbst bei Belagerung und Hungersnot wurden sie verschont,
da sie zu verzehren als eine Gottlosigkeit angesehen ward.
Helene Stiikl.
331
221. Eine Besteigung des Vesuvs.
Neapel, den 6. März 1787.
1. Obgleich ungern, doch ans treuer Geselligkeit begleitete Tischbein mich
heute auf den Vesuv. Der Weg durch die äußersten Vorstädte und Gürten
sollte schon auf etwas Plutonisches hindeuten. Denn da es lange nicht
geregnet, waren von dickem aschgrauen Staube die von Natur immer-
grünen Blätter überdeckt, alle Dächer, und was nur irgend eine Fläche
bot, gleichfalls übergraut, so daß nur der herrliche blaue Himmel und
die hereinscheinende Sonne ein Zeugnis gaben, daß man unter Lebendigen
wandle.
2. Am Fuße des steilen Hanges empfingen uns zwei Führer, die uns
den Berg hinaufschleppten. Sie schleppten, sage ich; denn ein solcher
Führer umgürtet sich mit einem ledernen Niemen, in welchen der Reisende
greift und, hinaufwärts gezogen, sich an einem Stabe desto leichter empor-
hilft. So erlangten wir die Fläche, über welcher sich der Kegelberg erhebt.
Ein Blick westwärts über die Gegend nahm, wie ein heilsames Bad, alle
Schmerzen der Anstrengung und alle Müdigkeit hinweg, und wir umkreisten
nunmehr den immer qualmenden, Stein und Asche auswerfenden Kegelberg.
Solange der Raum gestattete, in gehöriger Entfernung zu bleiben, war es
ein großes, geisterhebendes Schauspiel. Erst ein gewaltsamer Donner, der
aus dem tiefsten Schlunde hervortönte, sodann Steine, größere und kleinere,
zu Tausenden in die Luft geschleudert, von Aschenwolken eingehüllt. Der
größte Teil fiel in den Schlund zurück. Die andern nach der Seite zu
getriebenen Brocken, auf die Außenseite des Kegels niederfallend, machten
ein wunderbares Geräusch. Erst plumpten die schwereren und hüpften mit
dumpfem Getön an die Kegelseite hinab; die geringeren klapperten hinter-
drein, und zuletzt rieselte die Asche nieder. Dieses alles geschah in regel-
mäßigen Pausen, die wir durch ein ruhiges Zählen sehr wohl abmessen
konnten.
3. Schon fielen mehrere Steine uni uns her und machten den Umgang
unerfreulich. Wie aber eine gegenwärtige Gefahr etwas Reizendes hat und
den Widerspruchsgeist im Menschen auffordert, ihr zu trotzen, so bedachte
ich, daß es möglich sein müsse, in der Zwischenzeit von zwei Ausbrüchen
den Kegelberg hinauf an den Schlund zu gelangen und auch in diesem
Zeitraum den Rückweg zu gewinnen. Ich ratschlagte hierüber mit den
Führern unter einem überhängenden Felsen, wo wir, in Sicherheit gelagert,
uns an den mitgebrachten Vorräten erquickten. Der jüngere getraute sich,
das Wagestück mit mir zu bestehen. Unsere Hutköpfe fütterten wir mit
leinenen und seidenen Tüchern; wir stellten uns bereit, die Stäbe in der
Hand, ich seinen Gürtel fassend.
4. Noch klapperten die kleinen Steine um uns herum, noch rieselte die
332
Asche, als der rüstige Jüngling mich schon über das glühende Gerölle
hinaufriß. Hier standen wir an dem ungeheuren Rachen, dessen Rauch
eine leise Luft von uns ablenkte, aber zugleich das Innere des Schlundes
verhüllte, der ringsum aus tausend Ritzen dampfte. Durch einen Zwischen-
raum des Qualmes erblickte man hie und da geborstene Felsenwände. Der
Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich; aber eben deswegen, weil
man nichts sah, verweilte man, um etwas herauszusehen. Das ruhige
Zählen war versäumt; wir standen auf einem scharfen Rande vor dem
ungeheuren Abgrund. Auf einmal erscholl der Donner, die furchtbare
Ladung flog an uns vorüber. Wir duckten uns unwillkürlich, als wenn
uns das vor den niederstürzenden Massen gerettet hätte. Die kleineren
Steine klapperten schon, und wir, ohne zu bedenken, daß wir abermals
eine Pause vor uns hatten, froh, die Gefahr überstanden zu haben, kamen
mit der noch rieselnden Asche am Fuße des Kegels an, Hüte und Schultern
genugsam eingeäschert. Wolfgang v. Goethe.
i
222. Konstantinopel.
1. Konstantinopel bietet, vom Meere aus gesehen, einen pracht-
vollen Anblick. Gleich im Vordergründe auf der Landzunge, die bis
an die Straße von Koustantinopel reicht, erhebt sich das Serail, der
Palast des Sultans, mit seinen reich verzierten Gebäuden und schattigen
Gärten. Dahinter erblickt uian gewaltige Häusermassen, aus denen
Gotteshäuser mit prächtigen Kuppeln und schlanken Türmen empor-
ragen. Von der vergoldeten Spitze eines jeden Turmes herab glänzt
und funkelt ein Halbmond im Sonnenlichte, das Zeichen der moham-
medanischen Religion. Das gange Ufer des Bosporus ist, soweit das
Auge reicht, mit Landhäusern und Palästen bedeckt, zwischen denen
Orangenbäume und Pinien mit ihren kahlen Stämmen und buschigen
Kronen hervorschauen. Das Meer ist von herrlich blaugrüner Fär-
bung und belebt von großen und kleinen Fahrzeugen. Dampfer mit
rußigen Kaminen, Segelboote mit weißen, schwellenden Segeln kom-
men und gehen, zwischen ihnen schießen zahllose Kaiks, d. s. kleine,
schmale Boote, pfeilschnell dahin. Besonders belebt ist das Goldene
Horn, der Hafen von Konstantinopel.
2. Zu den sehenswerten Bauwerken gehört außer dem schon er-
wähnteil Serail die Sophienmoschee, die berühmteste und älteste aller
Moscheen Konstantinopels, die von den Türken als der erhabenste und
größte Bau der Welt bezeichnet wird. Die Sophienmoschee ist von
den: oströmischcn Kaiser Justinian erbaut worden und war lange Jahr-
hunderte hindurch eine Stätte christlichen Gottesdienstes. Wohl wurde
der Prachtbau mehrfach durch Brand und Erdbeben zerstört, aber
333
immer richtete man ihn unter Benutzung des alten Materials in
seiner ganzen Herrlichkeit wieder auf. ■ Noch heute kann man in
dieser Moschee Säulen sehen, die einstmals die Tempel heidnischer
Götter zierten. Seit der Eroberung Konstantinopels schallt kein christ-
licher Lobgesang mehr durch die weiten Räume. Mohammed II., der
Eroberer Konstantinopels, sprengte am Tage der Eroberung mit
seinen! Streitrosse auf den Altar der Kirche, zerschlug dort mit eigener
Hand das Kreuz, das Zeichen des Christentums, und rief: „Es ist
nur ein Gott, und Mohammed ist sein Prophet." An jenem Tage
verschwand auch das Kreuz, das die Kuppel des Gebäudes schmückte.
An seine Stelle trat ein riesenhafter Halbmond. — Die Sophien-
moschee hat, wie alle übrigen Moscheen, auch eine Anzahl Minarets
oder Türme. Diese Türme gleichen hohen und schlanken Säulen und
tragen keine Glocken. Die Stelle der Glocken vertritt der Ausrufer,
der Muezzin. Er ruft vom Minaret herab die Gläubigen fünfmal
des Tages zum Gebet.
3. Um das großartige Geschäftsleben in Konstantinopel kennen
zu lernen, brauchen wir nur einen „Basar" aufzusuchen. Ein jeder
dieser Basare ist eine Stadt im kleinen und besitzt zahlreiche Gassen
und Durchgänge, wo sich Laden an Laden reiht. In einem solchen
Basare schauen wir tausenderlei. Hier werden Perlen, Edelsteine und
köstliche Schmucksachen, wie Ringe, Ketten, Armspangen und Broschen,
feilgehalten. Hier kann man feine, weiße Seidentücher, kostbare Tep-
piche und prachtvoll gestickte Schals kaufen. Hier sind reizende, gold-
gestickte Pantoffeln zu haben. Hier bietet man auch Rosenöl, Beutelchen
mit Moschus und aus wohlriechendem Holze oder aus Bernstein ge-
fertigte Rosenkränze aus. Auch Waffen sind in Hülle und Fülle zu
haben. Da gibt es Dolche, deren Griff und Scheide mit blinkenden
Edelsteinen besetzt sind, Schwerter aus feinstem Stahl, Gewehre mit
kunstvoll verzierten Läufen. Die Verkäufer sind meist ehrwürdige
Türken mit langen Bärten. Sie hocken ernst mit untergeschlagenen
Beinen in ihren Läden und erwarten Käufer.
4. Konstantinopel hat ein eigenartiges Straßenleben. Es weicht
in gar vielen Stücken von den unsrigen ab. Wandern wir durch
eine belebte Straße, so sehen wir überall Ungewohntes. Da sitzt in
einem Straßenwinkel mit untergeschlagenen Beinen eine Schar von
Buben. Sie lesen mit lauter Stimme im Koran, in der Bibel der
Mohammedaner. In der Mitte sitzt als Lehrer ein alter Türke mit
langem, grauem Barte. Er raucht seine Pfeife, hört aufmerksam zu
und läßt zuweilen sein Pfeifenrohr auf den Köpfen und Rücken derer
tanzen, die falsch lesen. Gleich daneben ist eine Barbierstube. Sie
ist nach der Straße zu offen, so daß man sehen kann, wie da rasiert
334
und frisiert wird. An der nächsten Straßenecke sehen wir einen
Schreiber sitzen. In der Hand hat er eine große Papierrolle, und
im Gürtel eine große, metallene Federbüchse. Er wartet auf Leute,
die zu Briefen, Bittschriften oder auch wohl zur Anfertigung von Ge-
bici)ten seine Hilfe in Anspruch nehmen. Weiter begegnen wir über-
all Ausrufern. Die einen bieten Kuchen, die anderen Nüsse oder
Feigen oder Eis oder Käse oder Datteln zum Kaufe an, und jeder ist
bemüht, so laut zu rufen, daß er den Ruf aller übrigen überschreit.
Im Straßenleben Konstantinopels spielen weiter auch die Ham als
oder Lastträger eine große Rolle. Da die Straßen Konstanti-
nopels meist eng und krumm uud — weil selten gepflastert — zur
Regenzeit meist mit großen, stinkenden Kotlachen angefüllt und außer-
dem ziemlich steil sind, so kanp man zum Transport von Waren Last-
wageu nur wenig gebrauchen? Das Fortbewegen der Waren geschieht
daher meist durch Menschen, durch die Hamals. Diese Hamals be-
fördern die Lasten ausschließlich auf dem Rücken. Den Oberleib nach
vorn geneigt, tragen sie Kisten von bedeutender Größe. Oft ragt die
Last weit über den Kopf hervor. Dann ist es für den Hamal unmög-
lich, nach vorn zu sehen, geschweige denn auszuweichen. Er ruft dann
nur unter seiner Last hervor das warnende varda! und jedermann, der
nicht unsanft mit Kisten und Kasten in Berührung kommen will, beeilt
sich, beiseite zu springen. — Auch türkische Mönche, Derwische genannt,
erscheinen im Straßengewühl. Ihre langen Kaftans flattern ohne
Gürtel frei um die Hüfte und haben entweder eine hellbraune oder
weiße oder grüne Farbe. Auf dem Kopfe hat jeder Derwisch einen
Hut voll weißem Filz. Dieser Hut ist ungefähr 30 Zentimeter hoch
und hat die Gestalt eines abgestumpften Kegels. — Und nun die tür-
kischen Frauen! Diese sind meist so in Gewänder vermummt,
daß man nur die dunklen Augen und die gebogene Nase zu erkennen
vermag. Gewöhnlich gehen sie zu zweien, fast immer von einer
schwarzen Sklavin begleitet, langsam dahin. Nur die Frauen aus
den niedrigsten Volksklassen gehen allein. —
Endlich wollen wir noch einen Blick auf die gelblich grauen
Straßenhunde werfen, die zu Dutzenden in den Straßen herrenlos
umherlaufen und sich besonders in der Nähe der Fleischbänke und
Herbergen aufhalten. Gierig durchwühlen diese Tiere die Abfallhaufen,
oder liegen, sich sonnend, mitten auf der Straße. Fußgänger, Reiter
und Lasttiere weichen ihnen sorgfältig aus. Nachts stören diese Bestien
nicht selten die Ruhe durch ihr Geheul und Gebell.
Julius Tischendorf.
— 335
223. Das Paradies von Spanien.
1. Das Paradies Spaniens finden wir im Süd westen der Halb-
insel, in der Landschaft Andalusien, die das Becken des Guadalquivir,
die Sierra Nevada und deren südlichen Abfall zum Mittelmeer um-
faßt. Andalusien ist die gesegnetste und bevölkertste Provinz. Der
Dichter nennt es das Land des Weins und der Gesänge.
Im Süden erhebt die Sierra Nevada ihr schneegekröntes Haupt
und schaut wie eine Königin im Silbermantel hin über die rauschenden
Wälder, grünen Saaten und grasreichen Wiesen, die Berg, Tal und
Flußufer zieren. Die Ortschaften sind meist umrauscht von Oleander-
und Olivenwäldchen, von Pfirsich- und Feigenhainen oder von Granat-
bäumen, die zur Blütezeit in herrlichem Scharlachschmucke prangen.
Die Ortschaften sind auch reich an prächtigen Gärten, in denen
Myrten, Jasmin und Rosen in üppiger Fülle blühen und Wohlgerüche
zu dem kristallenen, blauen Himmelsgewölbe emporsenden
2. Auf den Feldern der Ebene wogt goldner Weizen. Hier trägt
der Acker dreißigfältig, ohne daß die Bewohner besondern Fleiß auf
den Feldbau verwenden. An den Abhängen der Berge gedeiht köst-
licher, auf der ganzen Erde berühmter Wein. Zählt man doch allein
in der Umgebung der Stadt Malaga gegen 7000 Weinberge. Weiter
gedeihen hier Maulbeerbäume, Oliven und Feigen, Orangen und
Zitronen, Mandeln und Johannisbrot in Hülle und Fülle. Selbst
Datteln und Zuckerrohr finden sich in der Umgegend von Malaga.
3. Zu den schöngelegenen, volkreichen Ortschaften mit bedeut-
samen Bauwerken gehört in erster Linie die Stadt Granada. Granada
wird von den spanischen Dichtern ein Tautropfen im Rosenkranz
genannt; denn wohl keine Stadt Europas besitzt in ihrer Umgebung
eine solche Fülle herrlicher Rosen. Hier in Granada sind im Früh-
ling und Sommer alle Höfe, alle Balköne, alle Terrassen von duftenden
Rosen erfüllt und alle Hecken und Mauern von Rosen umsponnen.
Granada gehört erst seit der Zeit Ferdinands und Isabellas, die dem
Kolumbus die Fahrt nach Amerika ermöglichten, zu Spanien. Früher
war es die Hauptstadt des Reiches, das die Araber auf ihrem Sieges-
zuge zur Verbreitung des Islams im Südteile der Halbinsel gegründet
hatten. Hier in Granada wohnten damals 400 000 Menschen (jetzt
75 000!). Hier stand der prachtvolle Palast der Maurenkönige, die
Alhambra, mit ihren hohen Säulenhallen, ihren herrlichen Sälen
und wundervollen Höfen, umgeben von weiten schattigen Gärten,
in denen klare Springbrunnen ihr Wasser in marmorne Becken fallen
ließen und abends beim Scheine des Mondes Gesang und Saitenspiel
ertönte. Der Palast liegt jetzt in Trümmern; aber diese Trümmer
336
sind auch heute noch umgeben von dunkeln Laubgängen und duftenden
Rosenhecken, aus denen Nachtigallen ihre Lieder ertönen lassen.
4. Eine andre Stadt des spanischen Paradieses ist Sevilla.
Sevilla macht einen überaus freundlichen Eindruck. Die Straßen
sind zwar eng, aber reinlich und besitzen Häuser mit blendend
weißem Anstrich und platten Dächern. Fast jedes Haus hat seinen
viereckigen Hof raum, der mit duftenden Blumen, mit Springbrunnen
und Säulengängen geziert ist. Hoch über die Stadt hinweg ragt der
höchste Turm Spaniens, der Turm der Kirche Unsrer lieben Frauen.
Das Innere dieser Kirche ist mit köstlichen Gemälden geschmückt,
die von dem berühmten Murillo herrühren. — Ähnliche Vorzüge
haben auch die Städte Cordova, Malaga und Cadiz. Auch sie sind
umrauscht von Maulbeerbäumen, Orangen, Zitronen, Feigen und
Palmen, auch sie haben Bauwerke, welche an die Maurenzeit erinnern.
Cadiz und Malaga bieten als Seestädte außerdem noch ein belebtes
Hafenbild. Auf dem blauen Meere kreuzen Hunderte von Booten,
Schaluppen und Fischernachen zwischen den gewaltigen Dampfern
umher, die aus fernen Landen gekommen sind oder dorthin gehen
wollen und zurzeit im Hafen vor Anker liegen. Große Massen von
Kastanien, Johannisbrot, Kork, Olivenöl, Wein und Wolle werden
verladen und gehen hinaus in alle Welt. Malaga allein versendet
jährlich mehr denn 20 000 Faß Wein. Auf den Kais, von denen
aus man eine herrliche Aussicht auf das weite Meer hat, lust-
wandeln von fünf Uhr an, wenn die Hitze im Abnehmen ist,
zahlreiche Spaziergänger, die Männer mit duftenden Zigaretten,
die Frauen mit dem Fächer in der Hand. Dazwischen drängen sich
spanische Matrosen mit roten Zipfelmützen, Seeleute aus Italien oder
England oder Afrika, Landleute mit hohen, spitzen Hüten auf dem
Kopfe, mit Jacken von Schaffell, schwarzen Gamaschen und gelb-
ledernen Schuhen. Überall ertönt der Ruf der Wasser Verkäufer.^
5. Wenn man in eins der fruchtbarsten Täler Andalusiens ge-
langt, begegnet man gar bald den sonnverbrannten Hirten, die, mit
Schleuder und Lanze bewaffnet, auf herrlichen Rossen über die
grünen Abhänge und Fluren dahinsausen und prachtvolle, feurige
Pferde oder auch halbwilde Stiere hüten. In der Stadt staunt man
über die Schönheit der meisten Männer und Frauen und über die
malerische Kleidung, in der sie sich auf den Straßen zeigen. Be-
sonders an Festtagen bietet sich ein farbenreiches Bild. Die Männer
tragen dann eine knapp anliegende Jacke. Sie sieht gewöhnlich
schwarz aus und ist auf dem niedrigen Kragen und den Ärmeln
mit Stickerei verziert. Statt der Knöpfe sind auf beiden Seiten
Schnüre und Heftel angebracht, die aber nur als Zierat dienen;
337
denn die Jacke bleibt immer offen, damit das feine Hemd sichtbar
wird. Die Ärmel der Jacke sind beinahe bis an den Ellenbogen
hinauf mit silbernen Knöpfen dicht besetzt. Die Hose reicht nur
bis ans Knie. Sie ist ebenfalls aus schwarzem Tuch gefertigt und
an den Seiten reich mit silbernen Knöpfen geschmückt. Sie wird
durch eine um die Hüften gewundene, rote Schärpe festgehalten.
Auf dem Kopfe trägt man einen kleinen Hut mit niedrigem Deckel
und aufgekremptem Rande. Abends sitzen gewöhnlich Männer und
Frauen im hellen Mondscheine vor den Türen der Häuser und
erzählen sich Wundergeschichten, Sagen und Märchen aus alter Zeit,
oder sie hören zu, wie einer die Laute schlägt und dazu ein Lied
singt, vielleicht von den Taten der Maurenkönige, die einst in der
Alhambra hausten, oder vom Frühling und seiner Rosenpracht.
Julius Tischendorf.
224. Der Zigeunerbube im Norden.
1. Fern im Süd das schöne Spanien,
Spanien ist mein Heimatland,
wo die schattigen Kastanien
rauschen an des Ebro Strand,
wo die Mandeln rötlich blühen,
wo die heiße Tranbe winkt,
und die Rosen schöner glühen,
und das Mondlicht goldner blinkt.
2. Und nun wandr' ich mit derLaute
traurig hier von Haus zu Haus,
doch kein helles Auge schaute
freundlich noch nach mir heraus.
Spärlich reicht man mir die Gaben,
mürrisch heißet man mich gehn;
ach, den armen braunen Knaben
will kein einziger verstehn.
3. Dieser Nebel drückt mich nieder,
der die Sonne mir entfernt,
und die alten lust'gen Lieder
hab' ich alle fast verlernt.
Immer in die Melodien
schleicht der eine Klang sich ein:
In die Heimat möcht' ich ziehen,
in das Land voll Sonnenschein!
4. Als beim letzten Erntefeste
man den großen Reigen hielt,
hab' ich jüngst das allerbeste
meiner Lieder aufgespielt.
Doch wie sich die Paare schwangen
in der Abendsonne Gold,
sind ans meine dunkeln Wangen
heiße Tränen hingerollt.
5. Ach, ich dachte bei dem Tanze
an des Vaterlandes Lust,
wo im dufl'gen Mondenglanze
freier atmet jede Brust,
wo sich bei der Zither Tönen,
jeder Fuß beflügelt schwingt,
und der Knabe mit der Schönen
glühend den Fandango schlingt.
6. Nein, desHerzens sehnend Schlagen,
länger halt ich's nicht zurück;
will ja jeder Lust entsagen,
laßt mir nur der Heimat Glück!
Fort zum Süden! fort nach Spanien!
in das Land voll Sonnenschein!
Unterm Schatten der Kastanien
muß ich einst begraben sein.
Emtinuel v. Geibel.
22
Knppey u. Koch. Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV.
338
225. Eine Ferienfalirt nach Frankreichs Hauptstadt.
I. Im D-Zuge nach Paris.
1. Letzter Schultag vor den großen Ferien! Kaum daß um
zehn Uhr der Hammer der Glocke auf dem nahen Kirchturm zum
ersten Schlage ausholt, da ertönt auch schon das von allen Schülern
mit brennender Sehnsucht erwartete Zeichen der Schulglocke, das
ihnen den Beginn einer vierwöchigen Freiheit verkündet. In leb-
hafter Unterhaltung entströmen die freudig erregten Scharen den
Pforten des Schulhauses, und beflügelten Schrittes wird der Weg
zum Elternhause zurückgelegt. Keinen hält’s heut' lange zu Hause,
einerlei, ob das schnelle Dampfroß ihn auf einige Wochen der Vater-
stadt entführt, oder ob die engere Heimat der Schauplatz froher
Fahrten und Streifzüge in ungebundener Ferienfreude ist. Wie die
Schüler, so hat auch uns der Wander- und Reisezauber wieder mit
zwingender Allgewalt ergriffen. Doch nicht See oder Gebirge locken
uns diesmal in die Ferne; in Frankreichs Hauptstadt wollen wir
unser Ferienheim aufschlagen; denn Paris und seine Bewohner
möchten wir in mehrwöchigem Aufenthalt an den Ufern der Seine
kennen lernen.
2. Um das ferne und doch so mächtig lockende Ziel unserer
Reise möglichst schnell und bequem zu erreichen, benutzen wir die
günstigste Fahrgelegenheit und besteigen den D-Zug, der auf seiner
blitzschnellen Fahrt von Berlin nach Köln um fünf Uhr nachmittags
Alt-Hildesheim verläßt. Obgleich der Zug schon stark besetzt ist,
sind wir so glücklich, noch in den Besitz eines bequemen Eckplatzes
zu gelangen. So können wir während der Fahrt nach Belieben den
Blick über die von der Nachmittagssonne bestrahlte Landschaft
schweifen lassen; und da wir uns in Gesellschaft freundlicher und
gesprächiger Mitreisenden befinden, ist selbst bei stundenlanger
Fahrt die Langeweile gebannt. Sind wir des Sitzens müde, so be-
geben wir uns zur Abwechselung in den an der Seite der Wagen
sich hinziehenden Gang, in dem wir den Zug von einem Ende bis
zum andern durchwandern können. Im Speisewagen, der gar zu
einladend winkt, machen wir Halt. Ja, das ist eine prächtige Ein-
richtung, geschätzt und gepriesen von allen, die aus Beruf oder zum
Vergnügen in stunden- oder gar tagelanger Fahrt Provinzen und
Länder durchreisen. Im Speisesaal eines Gasthauses könnte man
nicht besser aufgehoben sein. Auf bequemem Stuhle mit weichem
Ledersitz lassen wir uns an einem der kleinen Tischchen nieder,
die an der Wagenwand befestigt sind. Durch die großen Fenster-
scheiben können wir nach beiden Seiten ungehindert Ausschau halten.
339
Ein Druck auf den Knopf einer elektrischen Klingel ruft den Kellner
herbei, der uns schnell eine Tasse Kaffee besorgt. So gleichmäßig
und sicher gleitet trotz sausender Geschwindigkeit der Zug über die
Schienen, daß nicht ein Tröpfchen unseres Getränks verschüttet wird
und das Bier im Glase unseres Nachbars sich kaum bewegt. Die
auf den Tischen liegenden Verzeichnisse belehren uns, daß alles, was
Küche und Keller eines Hotels bieten, auch hier im Zuge zu haben
ist: warme und kalte Speisen und Getränke aller Art. Dazu
sind die Preise nicht einmal sehr hoch. Da wir es so bequem
haben können, speisen wir natürlich in diesem „fliegenden Restaurant“
auch zu Abend, um für die lange Nachtfahrt, die uns noch bevor-
steht, wohl vorbereitet zu sein.
3. In heiterer Unterhaltung mit Reisegefährten und im Be-
trachten freundlicher Landschaftsbilder Hannovers, Westfalens und
Rheinlands sind die ersten Stunden unserer Eisenbahnfahrt so schnell
vergangen, als wären’s Minuten gewesen. Eben verrät uns ein
dumpfes Dröhnen, daß der Zug über eine Brücke saust; bei einem
flüchtigen Blick aus dem Fenster grüßen uns die grünen Fluten des
Rheinstroms. Ein langer Pfiff der Lokomotive, ein Fauchen und
Zischen, und wir befinden uns in der Riesenhalle des Kölner Bahn-
hofs. Da wir bei der Abfahrt aus der Heimat einen „durchgehenden“
Wagen gewählt haben, so sind wir des Umsteigens überhoben. Nach
kaum halbstündigem Aufenthalt geht gegen elf Uhr die Fahrt weiter.
Wie dunkle Schatten grüßen uns bei der Ausfahrt aus der mächtigen
Halle die riesenhaften Türme des Domes. Schon nach wenigen
Minuten haben wir die alte Rheinstadt hinter uns. So gut es geht,
versuchen wir, während der nächsten Nachtstunden ein wenig zu
schlummern. Ohne es zu bemerken, haben wir den vaterländischen
Boden verlassen, und schon sind wir ein gutes Stück durch das
industriereiche Belgien gefahren, als unser Zug beim Morgengrauen
auf der belgisch-französischen Grenzstation Maubeuges hält. Das an
der deutsch - belgischen Grenze eingetretene belgische Zugpersonal
wird jetzt durch echte Franzosen abgelöst. Hier empfangen wir in
unserm Abteil auch den Besuch eines französischen Zollbeamten,
der uns pflichtschuldigst fragt, ob wir nicht verzollbare Dinge wie
Zigarren, Vorräte an Lebensrnitteln oder Getränken usw. bei uns
führen. Scharf spähenden Auges prüft der kleine, dunkelhaarige
Mann in Uniform und Käppi den Inhalt unseres Reisekoffers, den
wir auf seine freundliche Bitte bereitwilligst geöffnet haben.
Daß er durch einen prüfenden Griff in die Tiefe des Koffers
die musterhafte Ordnung unsers Gepäcks ein wenig in ihr Gegen-
teil verkehrt, dürfen wir ihm nicht übelnehmen. Da Zollpflichtiges
22*
340
nicht vorgefunden wird, bringen wir in aller Ruhe den Inhalt des
Handkoffers wieder in die frühere Ordnung, während der diensteifrige
Beamte die Gepäckbesichtigung in unserm Abteil fortsetzt. Recht
unangenehme Erfahrungen muß ein Franzose machen, der im Begriff
ist, aus Deutschland in sein Vaterland zurückzukehren. Er hat ver-
sucht, einen kleinen Vorrat von Tabak und Zigaretten zu verheim-
lichen; doch dem scharfen Auge des Zöllners entgehen diese ver-
botenen Dinge nicht. Nach kurzem Durchsuchen fördert er aus dem
Gepäck seines Landsmannes zwei Päckchen von geringem Umfange
zutage. Mit höflichen, aber bestimmten Worten wird unser Mit-
reisender aufgefordert, dem Beamten in den Zollsaal zu folgen. Als
er nach einer Viertelstunde zurückkehrt, erfahren Frau und Töchterchen,
die ihn auf seiner Reise begleiten, daß Vater an Zoll und Strafe die
Kleinigkeit von 60 Fr. hat zahlen müssen. Nachdem der lebhafte
Mann seinem Arger in einigen kräftigen Ausdrücken Luft gemacht
hat, sitzt er lange Zeit schweigend da. Erst als er eine Probe des
„kostbaren“ Krautes anzündet und blaue Ringe in die Luft bläst,
kehrt auch seine frühere Redseligkeit wieder. Gern gibt er uns nun
auch Auskunft auf allerlei Fragen, die sein Land und Volk betreffen.
4. Mittlerweile ist es heller Tag geworden; wir geben dem letzten
Rest von Müdigkeit den Abschied und fangen an, die Landschaft
zu beiden Seiten der Bahnlinie zu betrachten. Manch volkreiche
Stadt, zahllose freundliche Dörfer, zwischen denen sich, wie bei uns,
goldige Kornfelder und üppig grüne Wiesen ausbreiten, fliegen an
uns vorüber. Blanke, wohlgenährte Kühe folgen mit neugierigen
Blicken dem vorbeisausenden Zuge, und kräftige, edel gebaute Pferde
galoppieren dort über die grasreiche Weide, einen kurzen Wettlauf
mit dem schnaubenden Dampfroß versuchend. Große Flächen des
fruchtbaren Bodens sind mit wogenden Weizenfeldern bedeckt; baut
doch Frankreich an Weizen eine dreimal größere Menge als Deutsch-
land, dagegen fünfmal weniger Roggen. Auch an Zuckerrüben ist
das nördliche und mittlere Frankreich reich; und wenn wir auch auf
unserer Fahrt nördlich von Paris noch keine Südfrüchte, Reben-
gelände und an die Seidenzucht gemahnende Maulbeerbäume erblicken,
so gewinnen wir doch schon jetzt den Eindruck, daß wir in einem
von der Natur gesegneten, wohlhabenden und gut bevölkerten Lande
reisen.
5. Höher ist indessen die Sonne gestiegen, und schon sprechen
die ersten Anzeichen für die Nähe der Hauptstadt. Jene von innen
sanft ansteigenden, mit grünem Rasen bedeckten Erdwälle, die nach
der Außenseite als senkrechte, mit vielen Schießscharten versehene
Mauern sichtbar werden, sind ein Teil der Befestigungsanlagen, die
341
die Hauptstadt als ein gewaltiger Gürtel umspannen. Dieser große
Ring zahlreicher Forts soll Paris zu einer uneinnehmbaren Stadt
machen; doch mußten die Franzosen im Jahre 1871 zu ihrem Schmerz
und Schrecken erfahren, daß selbst die stärksten Befestigungen und die
furchtbarsten Festungsgeschütze den Einmarsch der tapferen deutschen
Truppen nicht zu hindern vermochten. In Gedanken mit der Ein-
nahme der französischen Hauptstadt durch unsere siegreichen Heere
beschäftigt, sausen wir mit unverminderter Geschwindigkeit durch
die Vorstadt St. Denis. Kaum 10 Minuten später hält unser Zug
mitten im Häusermeer von Paris, auf dem Nordbahnhofe. Nur
15 Stunden sind nötig gewesen, um die gewaltige Strecke, die uns
jetzt von der Heimat trennt, zurückzulegen.
II. Ein Sonntag nach mittag im Boulogner Wäldchen.
1. Der erste Tag unsers Aufenthalts in Paris ist ein heißer Juli-
sonntag. Eine ungewöhnliche, wahrhaft afrikanische Gluthitze brütet
seit einigen Tagen über der Stadt. Alle Welt verlangt nach Kühlung
und Schatten. An solchem Tage ist man nirgends besser aufgehoben
als im Bois de Boulogne, im Boulogner Wäldchen, das sich in einer
Ausdehnung von mehreren Kilometern unmittelbar an den westlichen
Stadtteil anschließt. Dorthin lenken auch wir unsere Schritte, nach-
dem die sengende Hitze der Mittagsstunden ein wenig nachgelassen
hat. Da wir unser Quartier im Westen aufgeschlagen haben, brauchen
wir nur wenige Straßen zu durchschreiten; doch schon diese kurze
Wanderung bietet des Neuen und Fesselnden in Hülle und Fülle,
wenn auch nicht alles unser Wohlgefallen erregt und unsern Beifall
findet. So will es uns nicht gefallen, daß auf einzelnen Neubauten
die Arbeiter genau so fleißig beschäftigt sind wie an Wochentagen,
und daß auch in vielen Werkstätten und Geschäften die Arbeit am
Sonntage nicht ruht. In Frankreich gibt es eben noch kein Gesetz,
das die Wohltat der allgemeinen Sonntagsruhe vorschreibt. — Die
Straße, der wir folgen, mündet nebst vielen anderen strahlenartig
auf einen Platz von gewaltigem Umfang, in dessen Mitte sich der
„Große Triumphbogen“ erhebt. Das ist ein Bauwerk von gewaltiger
Stärke und Kirchturmhöhe, mit torartigem gewölbten Durchgang
und einer Plattform als Abschluß. In Stein gehauene Darstellungen
an den Wandflächen verherrlichen Siegeszüge der französischen
Truppen unter Napoleon. Vom Triumphbogen bringt uns eine
Straße von ungewöhnlicher Breite, an den Seiten begleitet von
eben so breiten Promenaden, in gerader Linie nach dem Bois.
Von dorther zogen am 1. März 1871 die ausgewählten deutschen
342
Regimenter mit klingendem Spiel und entfalteten Siegesbannern in
des überwundenen Feindes Hauptstadt ein.
So breit Fahrdamm und Fußwege aber auch sind, heute ver-
mögen sie den ungeheuren Verkehrsstrom, der sich aus der sonn-
durchglühten Stadt bewegt, kaum zu fassen. Was der Tiergarten
für Berlin, das ist das Boulogner Wäldchen für Paris. Seinen Namen
führt dieser Lieblingsaufenthalt der Pariser mit Recht. Es ist in
der Tat mehr ein natürlicher Wald als ein künstlich angelegter
Park. In einzelnen Teilen sind Gebüsch und Baumwuchs so dicht,
daß sie allerlei lichtscheuem Gesindel willkommenen Unterschlupf
gewähren. Wir tun gut, diese Teile nach Sonnenuntergang nicht zu
betreten; denn schon mancher, der hier nichts ahnend lustwandelte,
hat ohne Geld und Uhr den Heimweg angetreten.
2. Im Bois angekommen, zerstreuen Fußgänger und Fahrzeuge
sich auf die zahlreichen Straßen und Wege, die den Wald in den
verschiedensten Richtungen durchkreuzen. Wir folgen zunächst einer
den ganzen Wald durchschneidenden Hauptstraße und nehmen für
ein Viertelstündchen auf einer von Bäumen beschatteten Bank Platz,
um den Verkehr an uns vorüberfluten zu lassen. Was Paris an
eleganten Fahrzeugen aufzuweisen hat, können wir hier in Muße
mustern: vornehme mit den edelsten Rassepferden bespannte Landauer
und Luxuswagen andrer Art in verschiedenster Form und Größe,
dazu Hunderte von prunkvoll ausgestatteten Automobilen, die mit
wahnsinniger Geschwindigkeit dahinrasen. Zwischen diese vor-
nehmsten Gefährte mischen sich Droschken gewöhnlicher Art und
Radfahrer in unendlicher Zahl. Am Nachmittag zwischen 5 und
7 Uhr erreicht der Wagenverkehr seinen Höhepunkt; denn um diese
Zeit eine Fahrt im Bois zu machen, ist für den Pariser, der sich’s
leisten kann, etwas Selbstverständliches.
Bei der Fortsetzung unsers Spazierganges lernen wir bald im
reizvollen Wechsel die ganze Schönheit des beliebten Ausflugsortes
kennen. Ausgedehnte Rasenplätze und kleine Seen, belebt von allerlei
Wassergeflügel und vielen Kähnen, unterbrechen den schattigen
Wald. Kleine Boote vermitteln den Verkehr mit den in der Mitte
des einen Sees liegenden Inseln. An einer andern Stelle erregt ein
weithin vernehmbares Plätschern und Rauschen unsere Aufmerksam-
keit. Wir folgen der Richtung, aus der es kommt, und stehen bald
am Fuße eines künstlich angehäuften Felsens mit tosenden Wasser-
fällen und kühlen Grotten.
Aber nicht nur Fahr- und Fußwege sind von Ausflüglern belebt,
nein, der ganze Wald wimmelt von Menschen; denn weder Warnungs-
tafeln, noch Stacheldraht, noch Schutzleute verbieten, vom Wege ab-
348
zuweichen. Kleine und größere Gruppen, ja ganze Tischgesellschaften
lagern im kühlen Schatten auf grünem Rasen, und, mit Mundvorräten
reichlich versehen, denken sie nicht daran, allzufrüh in die dumpfen
Gemächer der Häuser zurückzukehren. Manche Familien sind schon
am frühen Morgen mit Kind und Kegel hinausgezogen, um den
Aufenthalt im Grünen voll auszukosten. Die ellenlangen Stangen
von Weißbrot und die Hälse der Weinflaschen, die aus dem sonstigen
Inhalt der mitgeführten Körbe hervorlugen, lassen vermuten, daß an
diesem Tage die Mahlzeiten im Freien eingenommen werden. Den
Luxus, in den teuern Waldwirtschaften da draußen zu speisen, können
sich nur die Wohlhabenden gestatten.
3. Ermüdet vom Wandern und Schauen, müssen wir allmählich
an den Heimweg denken. Der einzuschlagende Weg macht uns
keine Sorge; wir brauchen nur mit dem Menschenstrome zu schwimmen,
um einen der wenigen, aber breiten Ausgänge nach der Stadt zu
erreichen. Was sich im Laufe des ganzen Tages zu längerem oder
kürzerem Verweilen im Boulogner Wäldchen angesammelt hat, das
kehrt gegen Abend innerhalb weniger Stunden in das Häusergewirr
der Stadt zurück; und erst jetzt bekommen wir die rechte Vor-
stellung von der ungeheuren Menge von Besuchern, die unser Aus-
flugsort beherbergte. Zwischen den endlosen Wagenreihen hindurch
den Fahrdamm zu überschreiten, wäre lebensgefährlich. Geschoben
und gedrängt kommen wir auch auf den Promenaden nur langsam
vorwärts. Erst allmählich zerstreut und lichtet sich das Menschen-
gewühl. Ein großer Teil der Heimkehrenden benutzt für wenige
Sous die Untergrundbahn und gelangt so auf unterirdischem Wege
in die weit entfernten Wohnungen. Viele von ihnen sind Bewohner
der östlichen und nördlichen Vororte, in welchen Armut, Schmutz
und Elend eine Heimstätte haben. Auf ärmlichem Lager im dumpfen
Kellergeschoß oder im engen Dachstübchen mögen sie träumen von
Blätterrauschen und Rasenduft und vom nächsten Aufenthalt im
schönen Bois.
III. Auf der Höhe des Eiffelturms.
1. Wen sollte es nicht reizen, das wunderbare Bild einer Riesen-
stadt wie Paris, in dem drei Millionen Menschen beisammen wohnen,
einmal aus der Vogelschau zu betrachten! Eine Aussichtswarte, wie
wir sie uns gar nicht besser wünschen können, bietet der in aller
Welt bekannte Eiffelturm, der am nördlichen Ende des Marsfeldes,
ganz nahe der Seine, zu 300 m Höhe aufragt. Er ist der babylonische
Turm der Neuzeit, ein Wunderwerk der Eisenbaukunst und das höchste
Bauwerk, das menschliche Hände je geschaffen. Er wird es bleiben
344
solange bis die unternehmungslustigen Amerikaner die Pariser eines
Tages durch einen allerhöchsten „Wolkenkratzer“ übertrumpfen. —
1 796 Treppenstufen steigt man nicht gern hinauf; wir benutzen des-
halb den Aufzug und vertrauen uns einem der beiden Fahrstühle
an, die abwechselnd auf- und niederfahren und jedesmal ebensoviel
Personen befördern können wie ein Eisenbahnwagen. Wer Lust hat,
kann unterwegs die Fahrt zweimal unterbrechen, ein paar „Züge“
überschlagen und inzwischen ein Theater besuchen, ein Konzert an-
hören oder in mehreren Verkaufsläden zu hübschen Preisen allerlei
hübsche Andenken an Paris und dazu die unvermeidlichen Ansichts-
postkarten kaufen, mit denen er von hier aus die Lieben daheim
erfreut. Mit solchen Einkäufen brauchen wir uns aber nicht zu be-
eilen; denn die können wir auch noch besorgen, wenn wir auf der
Plattform unter der Spitze, die als Leuchtturm eingerichtet ist, Halt
machen. Auch hier bieten Verkäuferinnen in kleinen, neben dem
Aufzug liegenden Läden ihre Ware feil. Trotz der stattlichen An-
zahl von Besuchern, die unsere „Fahrstuhlgesellschaft“ oben schon
vorfindet, gibt es doch nicht das mindeste Gedränge; alle haben
auf der drei Meter breiten, von einer sicheren Brustwehr um-
schlossenen Galerie Kaum genug, um die Ausschau bequem zu genießen.
2. Und nun schauen auch wir überrascht und staunend hinab
auf das wunderbare Rundbild zu unsern Füßen: auf das fast grenzen-
lose Meer von Häusern, die Kuppeln und Türme, auf das Gewirr
belebter Straßen und auf schweigsame Kirchhöfe, auf grüne Gärten,
Anlagen und freie mit Denkmälern geschmückte Plätze, und weit
hinaus ins französische Land. Wie Spielzeug nehmen sich da unten
die Fracht- und Vergnügungsdampfer aus, die die schmutzigen Fluten
der Seine durchfurchen, und klein wie Ameisen erscheinen uns die
auf dem Marsfelde sich tummelnden Menschen. Auf einzelnen Punkten
aber, die in dem Kiesenbilde besonders hervortreten, und die wir als
berühmte Sehenswürdigkeiten bei späteren Besuchen genauer kennen
lernen, lassen wir den Blick länger ruhen.
3. Recht deutlich erkennen wir auf unserer luftigen Warte, daß
die französische Hauptstadt sich durchaus nicht über eine gleich-
mäßige ebene Fläche erstreckt. Nördlich der Seine, welche die Stadt
in einem großen Bogen von Ost nach West durchschneidet, erhebt
sich sogar ein 129 m hoher Berg, der Montmartre. So steil ist
sein Abfall nach Süden, daß die Pariser es für nötig gehalten haben,
ihn durch eine Drahtseilbahn bequem zugänglich zu machen. Ein
gewaltiges Bauwerk mit mächtiger Kuppel krönt den Gipfel des
Berges, es ist die Herz-Jesu-Kirche (église du Sacré-Coeur). Nicht
weniger als 28 Millionen Franks wurden an freiwilligen Beiträgen auf-
345
gebracht, um den stattlichen Bau aufzuführen. Heute ist der Berg,
auf dem diese Kirche als ein zweites Wahrzeichen von Paris thront,
ganz bebaut. Von den vielen Windmühlen, deren Flügel hier früher
lustig im Winde kreisten, sind nur noch zwei übrig geblieben. Sie
mögen schon herabgeschaut haben von ihrer stolzen Höhe, als im
Jahre 1814 die Heere der Verbündeten in den letzten Kämpfen am
Montmartre der Herrlichkeit Napoleons ein Ende machten.
Unter den vielen Türmen, die über die Häusermasse emporragen,
fallen uns zwei auf, die wie abgebrochen erscheinen; es sind die
viereckigen, oben abgeplatteten Türme der berühmten Kirche Notre-
Dame. Nebst einer Anzahl anderer Bauwerke erhebt sie sich auf
einer von zwei Armen der Seine gebildeten Insel, im ältesten Stadt-
teile von Paris, der cité. Der Ursprung dieses herrlichen Domes,
der in seiner heutigen Gestalt das bedeutendste gotische Baudenkmal
Frankreichs ist, führt uns um anderthalb Jahrtausende in der Ge-
schichte zurück. Was hat diese Kirche im Laufe der Zeit nicht
alles mit erlebt! Sie kann erzählen von der glanzvollen Entwicklung
der Hauptstadt, aber auch von den schlimmen Zeiten schrecklicher
Verirrung. Tausende von unschuldigen Opfern sah sie während der
großen Revolution unter dem Fallbeil des Henkers bluten, und welche
Entweihung mußte sie sich gefallen lassen, als das verblendete Volk
in jener aufgeregten Zeit an der heiligen Stätte ein Weib auf den
Hochaltar erhob, um es als „Göttin der Vernunft“ durch Gesänge
und Tänze zu ehren! Wenige Jahre später erlebte sie das glänzende
Schauspiel der Krönung Napoleons und seiner Salbung durch den
Papst. — An diesen großen Kaiser der Franzosen erinnert uns auch
der in geringer Entfernung ostwärts von unserm Aussichtspunkte
sichtbare Invaliden-Dom mit seiner sonnbestrahlten vergoldeten
Kuppel, deren Glanz fast die Augen blendet. In tiefer, offener
Gruft mitten unter der erhabenen Domkuppel ruhen in einem kost-
baren Sarge von dunkelrotem Marmor die Gebeine Napoleons. Diese
Grabstätte ist ein rechter Wallfahrtsort für die Franzosen geworden.
In tiefer Rührung lesen sie die Worte aus seinem Testament, die in
Goldbuchstaben über der Eingangspforte prangen: „Ich will, daß
meine Asche an den Ufern der Seine ruhe, inmitten des französischen
Volkes, das ich so sehr geliebt habe." In scheuer Andacht und
ehrfurchtsvollem Schweigen schauen sie über die Brüstung hinunter
in die Gruft. Vergessen sind die furchtbaren Opfer an Gut und
Blut, die der nimmersatte Eroberer seinem Lande auferlegte; vor
ihren Augen wird allein das Bild des ruhmreichen Feldherrn lebendig,
der die für ihren Führer begeisterten französischen Heere Jahrzehnte
hindurch von Sieg zu Sieg führte. —
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4. Unabsehbar scheint die Häusermasse mit den geschwärzten
Dächern und den rauchenden Schornsteinen vor unsern Blicken sich
auszubreiten. Wie grüne Inseln und Bänder tauchen darin die park-
artigen Gärten und die schattigen Alleen auf, an welchen Paris so
reich ist. Leise klingt das Bauschen der Bäume vom Wäldchen herüber,
das wir jetzt in seiner ganzen Ausdehnung übersehen. Wer von dort
kommt, den großen Triumphbogen durchschreitet und in südöstlicher
Bichtung weiterwandert, der betritt ein rechtes Paradies von Garten-
anlagen : die Elysäischen Felder und die Gärten der
Tuilerien. Liebliche Düfte erfüllen die Luft, und das Auge
erfreut sich an der Farbenpracht der herrlichsten Blumen und
kunstvoll angelegter Teppichbeete. Seltene Blattpflanzen schmücken
den grünen Basen, dichte Baumkronen spenden willkommenen
Schatten, und durch das Grün schimmert das leuchtende Weiß mar-
morner Standbilder. Um das Biesenbecken eines Springbrunnens
treiben Hunderte von Kindern ihre munteren Spiele, während die
Erwachsenen unter den Bäumen lustwandeln. Am Abend aber, wenn
zwischen all dem Grün und der Blumenpracht ungezählte Lichter
aufflammen und den Anlagen einen märchenhaften Beiz verleihen,
dann locken die munteren Weisen der Militär-oder Zigeunerkapellen
und die lustigen Aufführungen der Sommertheater neue Scharen
herbei. — Schön wie diese Anlagen sind auch die benachbarten
Straßen, an welchen sich eine Menge wundervoller Bauwerke erheben,
unter denen der Louvre, früher ein königliches Schloß, sich durch
Größe und Schönheit auszeichnet. Jetzt ist der prachtvolle Biesen-
bau in ein Museum umgewandelt, das an Fülle und Mannigfaltigkeit
der wertvollsten Kunstschätze kaum seinesgleichen in der Welt hat.
Noch manches andere große und bedeutende Bauwerk in dem ge-
waltigen Stadtbilde fesselt den Blick des Beschauers. Nach Hunderten
zählen die Kirchen, Museen, Theater, Schlösser und Paläste, auf
welche die Pariser mit Becht stolz sind. Dieser Fülle von Pracht-
bauten, der großen Zahl herrlicher Denkmäler und der Schönheit
seiner Straßen, Plätze und öffentlichen Gärten verdankt Paris den
unbestrittenen Buhm, die schönste Stadt der Welt zu sein.
Heinrich Kappey.
226. Größe und Verkehr Londons.
\. London hat einen Umfang von nahezu 60 km, umfaßt aho
einen Raum, auf dem die Hauptstadt des Deutschen Reiches fünfmal
Platz hätte. Mehr als 6 Millionen Menschen haben hier ihren Auf-
enthalt, also mehr, als im Königreich wachsen wohnen. Ungefähr
347
^000 Strafen durchziehen die gewaltige Stadt. Brücken und
5 Tunnels vermitteln den Verkehr zwischen den durch die Themse ge-
trennten Stadtteilen.
2. Mächtig und unbeschreiblich ist das Gewühl der Menschen auf
den Strafen, besonders im innern und wichtigsten Teile Londons, in
der Lity. Hier haben die Kaufleute ihre Marenlager und Schreibstuben,
aber nicht ihre Mohnungen. Zu Tausenden kommen sie am Morgen
aus den verschiedenen Omnibus-, Strafenbahn- und Eisenbahnlinien, um
abends wieder nach ihren Mohnungen in den Vorstädten zurückzukehren.
Auf den Hauptstrafen und an den Brücken der Tity ist es zu jeder Zeit so
lebhaft wie auf einer Messe oder einem Jahrmärkte. Nicht selten sind
fremde, die zum erstenmale ausgehen wollten, an der Tür stehen ge-
blieben; sie glaubten, es müsse etwas Besondres vorgefallen sein, und
wollten warten, bis sich das Getümmel verliefe; es war natürlich ver-
geblich. Der Lärm und das Getöse von London ist betäubend, und
das Gedränge der Menschen, Magen und Pferde geradezu gefährlich.
Das Gedränge wird von Zahr zu Jahr stärker und gefährlicher. Darum
hat man darauf Bedacht nehmen müssen, den Verkehr durch andre
Mittel zu bewirken und so die Strafen freier zu halten. Hoch über
die Strafen hinweg führt man mitten durch die Stadt Eisenbahnen,
die in der Höhe der Schornsteine an den Däusern entlang gehen. Auf
hohen steilem ruhen die Schienen, und Lokomotiven mit langen per-
sonen- und Güterzügen sausen über den Köpfen der Menschen neben
den Dächern hin. Andre Eisenbahnen, die sogenannten Untergrund-
bahnen, gehen unter der Erde hin und besitzen zahlreiche Stationen, zu
denen man auf Treppen hinuntersteigt. Diese Bahn geht in Tunnels
von 9 m Breite und 5 m Höhe unter den Strafen und Kellern der
Häuser entlang. Selbst die Post kann nicht alle ihre Briefe mit Magen
und Pferden durch die Strafen fahren. Darum hat sie weite eiserne
Röhren unter den Strafen entlang legen lassen, in denen kleine Magen
mit Briefen durch Luftdruck hin- und Hergetrieben werden. Diese Art
der Post Heist Rohrpost.
3. So lebhaft es an Mochentagen in London zugeht, so ruhig ist
es an Sonn- und Feiertagen; denn die Sonntagsfeier ist äuferst streng.
An Sonntagen können Briefe weder aufgegeben, noch befördert werden,
an Sonntagen verkehren weniger Züge auf den Eisenbahnen als an
den Mochentagen, an Sonntagen ist sogar ein grofer Teil der Mirts-
häuser geschlossen. Julius Tischendors.
227. Hausbau in Südwestasrika.
1. Monatelang hatte uns das Wellblechhaus zur Unterkunft genügen
müssen. Nur notdürftig hatte es uns Schutz vor Regen, Staub und
348
Ungeziefer geboten, und wir sehnten uns alle nach einem festeren und
behaglicheren Heime.
Den Platz hierzu hatten wir uns schon längst ausgesucht: Auf einem
felsigen Gelände, vor meines Mannes altem Hause, mit der Front nach
dem bewaldeten Flußufer zu gelegen, sollte der Bau errichtet werden.
Gemeinschaftlich arbeiteten wir einen Plan aus und steckten nach
diesem mit Hilfe einiger Kaffern das Fundament ab. Nachdem wir uns
so über die Größe des Grundstücks klar geworden, das wir zu erwerben
gedachten, schickten wir den Plan nach dem Bezirksamte zu Omaruru
und baten um Genehmigung des Kaufvertrages. Diese ließ nicht lange
auf sich warten, und bald waren wir afrikanische Grundbesitzer.
Nun galt es zuerst, sich die nötigen Leute zu sichern, die mit Hand
anlegen konnten. Bald fanden wir sie. Die eine Gruppe mußte Ziegel-
steine streichen. Die Formen dazu machte uns der Unteroffizier Scholz,
ein gelernter Tischler, lehmhaltigen Boden gab's überall. Mein Mann
zeigte den Leuten, wie die Arbeit zu machen sei. Einer von ihnen mußte
die lehmige Erde aushacken, der andere Wasser holen, der dritte ver-
mischte Lehm und Wasser und knetete beides mit den Füßen gut durch.
Wieder einer füllte die Masse in die Formen, und die übrigen trugen
die vollen Formen weiter weg, um sie vorsichtig eine hinter der andern
aufzubauen. Sehr sorgfältig ward das die Form stützende Brett weg-
gezogen, und die Steine lagen paarweise in Reih und Glied an der
Erde. Sonne und Luft mußten sie trocknen. Dann wurden sie um-
gedreht, und wenn sie auch auf der Rückseite trocken waren, hochgestellt.
Gebrannt wurden sie nicht. Für tausend Steine bekamen die Leute
zwölf Mark.
Jeden Sonnabend hatte ich die Aufgabe, die in der Woche ge-
strichenen Ziegelsteine zu zählen und danach abzulohnen. Ich mußte
sehr aufpassen, um nicht die Steine von der vorhergehenden Woche noch-
mals mitzuzählen. Jedes abgezählte Tausend ward zu einem Haufen
aufgeschichtet und mit Wellblech zugedeckt, um es gegen das Naßregnen
zu schützen.
2. Die andere Gruppe der Leute unter dem Kommando vom Unter-
kapitän Josua schaffte passende Felsblöcke herbei für das Fundament.
Sie wurden von weither aus dem Gebirge mit der Karre geholt. Un-
gefähr zwanzig Fuhren brauchten wir. Es war ganz unglaublich schwer,
das Fundament kunstgerecht aufzuführen. Die Leute hatten keine Vor-
stellung von einer geraden Linie, da sie nur die kreisrunden ihrer Pontoks
kennen, und ich mußte mehrere Wochen lang mit Wasserwage und Winkel-
maß dabei stehen, bis wir gerade Linien heraus hatten. An einer Ecke
des Fundaments mauerten wir eine versiegelte Flasche mit der Haus-
urkunde ein.
349
Als das Fundament vollendet war, wurde das Ganze noch mit
einer starken Zementschicht bestrichen, um auf diese Weise das künftige
Wohnhaus vor den lästigen Termiten zu bewahren.
Während des Fundamentbaues war mein Mann noch einmal mit
zwei Wagen in Karibik gewesen, um einzukaufen, was noch alles für
den Hausbau gebraucht wurde: viele Fässer Zement, Balken und Well-
blech fürs Dach, verschiedene Farben, Terpentin, Öl, Nägel, Fenster-
rahmen, Fenster, Glas, Türen und Schlösser. Teilweise hatten wir die
Sachen aus Deutschland kommen lassen, teilweise in Swakopmund und
Karibik bestellt.
Als alles beieinander war, wurden die Mauern ausgeführt. Mein
Mann verpflichtete etwa 20—30 Weiber jeden Alters, die die Backsteine
nach dem Neubau tragen mußten. Jeden Morgen vor Beginn der Arbeit
versammelten sie sich vor unserer Tür. Dann trat mein Mann heraus
und gab einer jeden ein Pappkürtchen mit seinem Siegel. Am Abend
mußten sie es wieder abgeben, und nur die wurden abgelohnt, die im
Besitze eines solchen Kärtchens waren. Es war nämlich vorgekommen,
daß sich etliche einfach des Abends zum Ablohnen einstellten, ohne den
Tag gearbeitet zu haben. Beim Wiederanfang der Arbeit nach der
Mittagspause wurden die Weiber abermals gezählt, ob sich auch keine
gedrückt hatte. Jede trug fünf Backsteine auf dem Kopfe, und im Gänse-
marsch bewegte sich der Zug nach dem neuen Hause und wieder zurück
an die Stelle, wo die aufgeschichteten Steine lagen. An der Spitze
marschierte die Oberaufseherin, die alte Lehne, nur mit einem alten Sack
bekleidet, in den oben für die Halsöffnung ein Loch geschnitten war.
Die anderen sahen ähnlich aus. Sie bewegten sich vollständig im Takt
und sangen stundenlang dasselbe eintönige Lied in der Namasprache:
„Eh, wir tragen Steine für Herrn Eckenbrecher, eh, Steine tragen ist
schwer, eh, wir haben aber nun genug zu essen", und dann fing es
wieder von vorn an.
Der Unterkapitän Josua und sein Schwiegersohn Manuel Timbo
führten die Mauern auf, und die Ecken mauerte mein Mann. Als
Bindemittel diente verdünnter Lehm, den einige Weiber in Eimern
herbeischleppen mußten. Und ich ging ab und zu mit Wasserwage und
Lotblei, reichte mit Steine an und beaufsichtigte den ganzen Betrieb.
Beim Mauern der Fenster stießen wir auf unerwartet große Schwierig-
keiten. Die Wand, die darüber war, konnten wir der Termiten wegen
nicht durch Balken stützen und mußten deshalb Bogen mauern. Was
haben wir uns da geplagt! Ich zeichnete einen Halbkreis auf zusammen-
genagelte Kistendeckel, der von meinem Manne ausgesägt wurde. Darauf
legten wir dann die Backsteine, die wir mit Stemmeisen und Meißel
zurichteten, bis sie einen Halbkreis bilden konnten. Nachdem wir alles
350
an der Erde hübsch probiert hatten, versuchten wir es am Hause, und
es gelang vortrefflich. Nach und nach bekamen wir ordentlich Übung.
Erst mauerten wir alle Fensterbögen, und dann gingen wir an die
schwierigen Türwölbungen. Sie glückten über Erwarten gut, fielen
nicht zusammen und sahen beinahe symmetrisch und schmuck aus.
3. Das Haus bestand aus vier großen Zimmern, der Küche, Speise-
kammer und dem geräumigen Vorratsraum. Um es recht hübsch kühl
zu haben, bauten wir die Mauern sehr hoch. Dann legten wir dünne
Querbalken als Decke und darauf in einigen Zimmern Ried; in anderen
wieder nagelten wir Kattun von Balken zu Balken und bekamen dadurch
eine sehr gute Zimmerdecke. Darüber wurden die Mauern noch einen
Meter böher aufgeführt. Dann erst legten wir die dicken Balken, die
das Wellblech tragen sollten. Auf diese Weise erhielten wir zwischen
dem Wellblech und der Zimmerdecke eine Isolierschicht von Luft, die
wesentlich dazu beitrug, das Wohnen angenehm und kühl zu machen.
Hat man die Wellblechplatten unmittelbar über dem Kopf, so strömen
sie eine unsagbare Hitze aus.
Wir hatten Wellblechplatten verschiedener Größen, die wir auf das
Dach legten. Untereinander und auf die Balken wurden sie festgeschraubt.
Unter jeder Schraube saß ein Blechplättchen, das verhindern sollte, daß
die Feuchtigkeit in die Schraubenwindung drang und Rost verursachte.
Das ganze Dach war nach der Rückseite des Hauses zu um ein
halbes Meter abgeschrägt, so daß der Regen bequem herunterlaufen
konnte. Die nach hinten liegenden Platten standen um ein beträchtliches
über die Mauern hinweg und ersetzten die Dachrinne. Auf diese Weise
konnte der Regen hinuntertropfen, ohne mit der Wand in Berührung
zu kommen. Am Rande des Daches wurde nochmals eine kleine Mauer
auf drei Seiten gezogen, und an die vierte, wo sich das Dach senkte,
legten wir große Felssteine, damit der Wind nicht die Platten abrisse.
Nun mußte aber auch die Dichtigkeit des Daches geprüft werden.
An Stricken schafften wir etliche Eimer Wasser hinauf. Ich ging hin-
unter in die Zimmer und paßte auf, ob sich durch das oben ausgegossene
Wasser Feuchtigkeit an der Decke zeigte. In dem einen Zimmer war
es der Fall; nach langem Suchen entdeckten wir den Riß im Wellblech
und schraubten noch eine Platte darüber.
Inwendig im Hause waren bald die Türen und Fenster eingesetzt,
die Wände verputzt und gestrichen. Nun kam der Fußboden an die
Reihe. In einigen Zimmern entschlossen wir uns der Billigkeit wegen
zu dem im Lande allgemein üblichen Lehmfußboden. In Eimern wurde
von den Weibern der Lehmbrei hereingetragen. Er mußte vierzehn Tage
lang unbetreten und unangerührt trocknen. Dann mußte er festgestampft
oder festgetrampelt werden. Wieder mußten die Weiber heran. Mein
351
Mann setzte sich in die Mitte des Zimmers und spielte ihnen auf der
Ziehharmonika einen flotten Tanz. Sofort fingen sie an, in ihren Tanz-
bewegungen im Kreise herum auf und ab zu trampeln, und je wilder
die Musik war, desto wilder wurde auch das Getrampel. An zwei Vor-
mittagen wurden diese Übungen fortgesetzt, und dann hatten wir einen
tadellos festen Fußboden. Nachdem der Lehm ganz trocken war, wurde
tüchtig ungebleichtes Leinöl darüber gegossen, das einzog und trocknete;
dann war der Fußboden fertig.
4. Auf die Veranda verwendeten wir besondere Sorgfalt, denn sie
sollte doch sozusagen als Wohnzimmer dienen.
Sie ward sehr geräumig und hoch erbaut und erhielt einen aus
Felssteinen gepflasterten Fußboden. Inwendig malte mein Mann sie
hellblau aus und verzierte sie mit allerlei Blumenornamenten.
Wir verbrachten in ihr den größten Teil des Tages, dort nahmen
wir alle Mahlzeiten ein und saßen oft beim Lampenschein bis zum frühen
Morgen. Um das Haus äußerlich ein wenig zu verschönern, bauten
wir das Verandadach in Giebelform, und mein Mann bemalte es. Auf
die eine Ecke der Längsseite kam ein Pegasus, die geistige Kraft, auf
die andere ein Zentaur, die physische Stärke. Mit beiden ausgerüstet,
gedachten wir den Kampf mit dem unwirtlichen Lande aufzunehmen.
In der Küche hatten wir einen bescheidenen kleinen Kochherd, der
mit Holz geheizt wurde und brav seine Pflicht tat. Manch schwere
Stunde habe ich an ihm verbracht. Aber mit der Zeit lernt man sogar
kochen.
Mit dem Backen stand ich sehr bald nicht mehr auf dem Kriegsfuße;
es machte mir Spaß, und mein Mann hatte, um mich zu erfreuen, im
Hofe einen allerliebsten Backofen gemauert. Er war natürlich höchst
einfach, aber das Brot geriet. Der Herd wurde voll Holz gepackt und
dieses dann angesteckt. War es zu Asche verglüht, dann kratzte sie einer
der Diener heraus, wischte mit einem eigens zu dem Zwecke gehaltenen
nassen Scheuerlappen den Ofen gut aus und schob die Brotpfannen, mit
dem Teig gefüllt, hinein. Eine Tür gab es nicht. Vor die Öffnung
stellten wir eine Wellblechplatte, und vor diese dicke Steine, damit sie
nicht umfallen konnte. Auf den kleinen Schornstein kam ein alter Topf-
deckel, mit einem Backstein beschwert, um die Hitze darin zu halten.
Im Hause war es sehr gemütlich. Alles neu und behaglich, eigen-
händig und mit Sorgfalt un i Liebe eingerichtet. Das Eßzimmer war
unser besonderer Stolz. In der einen Ecke hatte mein Mann einen
Kamin gebaut, der richtigen Zug hatte. An kalten Abenden saßen wir
in bequemen Stühlen davor, sahen in die knisternde Glut und dachten
der fernen, deutschen Heimat.
Margarete von Eckenbrecher.
352
228. Der Tod des Herzogs Friedrich Wilhelm zu
Mecklenburg.
Es war am 22. September des Jahres 1897. Die Übungsflotte
war aufgelöst, und die alte Mannschaft sollte zur Entlassung kommen.
Fröhlich und wohlgemut bestiegen auch die Leute das Torpedoboot
„8. 26", um in die Heimat zu fahren. Lustig flatterte der Heimat-
wimpel im Winde, den der Kommandant Herzog Friedrich Wilhelm
zu Mecklenburg hatte aufziehen lassen; auch sein Herz war froh bewegt.
Ein ganzes Jahr hatte er im Dienste der Torpedoflotte zugebracht, und
er wußte, wie unlieb gerade dieser Dienst seiner teuren Mutter war.
Erst beim letzten Besuche hatte sie ihn aufs dringendste gebeten, kein
Kommando auf einem Torpedoboote wieder anzunehmen. Im Gefühl
seiner Soldatenpflicht hatte der mutige Sohn geantwortet: „Ein Offizier
muß den Dienst nehmen, wie er kommt." Nun war die Zeit da,
wo er diesen gefährlichen Posten verlassen sollte; seine Beförderung zum
Kapitänleutnant stand bevor, und damit war das Kommando eines
größeres! Schiffes verbunden.
Als die Torpedoflotte aus dem Jadebusen auslief, war die See
recht bewegt; aber die kleinen Schiffe hatten schon stürmischere Fahrten
gemacht, darum ging es vertrauensvoll in die offene See hinein. Doch
der Sturm wurde immer ärger. Da befahl der Herzog seinen Leuten,
Schwimmwesten anzulegen, damit sie auf alles gefaßt seien. Es war die
höchste Zeit; denn nun lief das Schiff durch die Helgoländer Bucht in
die Elbe hinein, um die Einfahrt in den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu
gewinnen.
Hier ist aber das Fahrwasser für kleine, flachgehende Fahrzeuge
gar gefährlich, wenn der Wind gegen die Strömung der Elbe wütet.
Und gewaltig brauste der Sturm vom Meere her in die Elbe hinein.
Haushoch stiegen die Wellen und nahmen das leichte Schiff wie einen
Spielball mit in die Höhe, um es im nächsten Augenblicke wieder in
die Tiefe zu schleudern. Die ganze See schien bis in ihre Grundwasser
in Aufruhr zu sein. Doch der tapfere Kommandant stand unerschrocken
auf Deck an seinem Platze, den Blick unverwandt auf das Fahrwasser
gerichtet, mit den Händen sich krampfhaft festhaltend, wenn Wellen und
Wogenschwall über ihn hinweggingen. Das kleine Fahrzeug erbebte
unter dem Anprall der Wogen.
Da kam plötzlich eine gewaltige Sturzsee von hinten und warf
das Schiff auf die Seite. Die auf Deck befindliche Mannschaft wurde
in die See gespült, der Kommandant dagegen in den Mannschaftsraum
geschleudert. Von der Wucht und dem Anprall des Falles blieb er
eine kurze Zeit besinnungslos liegen. Unaufhaltsam drang das Wasser
353
in den Raum und erweckte den Herzog zum Bewußtsein. „Wo bin
ich?" rief er. Aus einer fernen Ecke ward ihm Antwort; denn mehrere
seiner Leute befanden sich in dem dunkeln Raume.
In diesem Augenblicke legte sich das Schiff noch mehr herum, so
daß es kieloben auf dem Wasser schwamm. Jetzt war der mutige Kom-
mandant verloren. Ruhig und gefaßt rief er seinen Leuten zu: „Es
ist alles verloren, Jungens, jetzt wollen wir noch beten: Vater, nimm
unsre Seelen zu dir und gib uns einen schnellen und gelinden Tod!"
Wohl befanden sich in dem Mannschaftsraume steine, runde Luken,
durch die zur Not ein Mann hindurchkriechen konnte; aber wie sollte
sich der todgeweihte Herzog seines schweren Ölanzuges uud seiner großen
Seestiefel entledigen, da der Raum schon zum größten Teil mit Wasser
angefüllt war! Dennoch versuchte er, sich von seinen Fesseln zu befreien,
aber völlig erschöpft mußte er bald das Vergebliche seines Ringens
einsehen.
Da rief er dem Heizer Leckebusch zu, der nur mit Hemd und
Hose bekleidet war: „Ich habe keine Hoffnung auf Rettung; aber sehen
Sie doch zu, daß Sie sich retten!" Während nun der Heizer sich mit
Mühe seiner leichten Kleidung entledigte und sich mit großer Anstrengung
ganz nackt durch die enge Luke zwängte, hörte er seinen treuen Kom-
mandanten laut das Vaterunser beten. Leckebusch wurde aus den tosenden
Wellen aufgefischt. Als er Kunde brachte von dem Heldentode des
tapfern Herzogs, blieb kein Auge tränenleer; denn bei seinen Kameraden
und Untergebenen war er gleich verehrt und beliebt gewesen.
Wohl eine Stunde noch schwamm das Torpedoboot kieloben auf
den Wassern, dann sank es mit sieben Mann der Besatzung und feinern
Kommandanten in das tiefe Grab. Unter mühevollen Taucherarbeiten
wurden acht Tage später die Toten geborgen, und am 3. Oktober wurde
die Leiche des Herzogs in der Blutskapelle des Schweriner Domes
beigesetzt.
Lesebuch von Plümer, Haupt, Bach mann.
Kappet, u. Koch. Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV.
23
V. Aus der Geschichte.
229. Herakles.
1. Der riemeische Löwe.
Die erste Arbeit, welche der König Eurystheus dem Herakles auferlegte,
bestand darin, den nemeischen Löwen zu erschlagen. Nemea war ein
waldiges Tal zwischen hohen Bergen im Lande des Eurystheus. Dort
trieb ein fürchterlicher Löwe sein Wesen, von dem es hieß, er sei der
Sohn eines feuerspeienden Riesen und einer ungeheuren Schlange, während
andere sagten, er sei vom Mond auf die Erde gefallen. Angst und Ent-
setzen vor dem Ungeheuer erfüllte weithin die Gegend; kein Eisen konnte
sein hartes, zottiges Fell durchdringen.
Herakles zog mit Bogen und Pfeilen gegen den Löwen aus, in der
Rechten eine Keule aus dem Stamme des wilden Olbaumes, den er im
Walde aus dem Boden gerissen hatte; die behauene knotige Wurzel machte
den Knopf der Keule aus. Als er in den Wald kam, suchte er den ganzen
Tag lang nach dem Löwen, ohne seine Spur zu entdecken. Endlich gegen
Abend sah er ihn auf einem Bergpfade daherkommen, um vom Raube in
seinen Felsspalt zurückzukehren. Kopf und Mähne troffen ihm von dem
Blute der zerrissenen Tiere, mit der Zunge leckte er sich das Kinn, mit
dem Schweife schlug er sich die Seiten. Wie Donner durchhallte sein
Gebrüll das Gebirge. Herakles versteckte sich hinter einen Baum, spannte
flugs seinen Bogen und schoß dem Untier, als es nahe genug gekommen
war, einen wohlgezielten Pfeil mitten in die Flanken zwischen Rippen
und Hüfte. Aber der Pfeil prallte von dem Fell ab wie von einem
harten Stein und siel kraftlos auf den Boden. Der Löwe stutzte, hob
den Kopf empor und ließ seine Augen forschend nach allen Seiten rollen.
Schon wieder spürte er einen Pfeil, der ihn diesmal vorn an die Brust
traf, gleichfalls ohne in die Haut zu dringen. Da entdeckte er plötzlich
den Jäger an dem Stamme des Baumes, zog seinen langen Schweif
zwischen die Hinterbeine, sträubte die Mähne, krümmte den Rücken wie
355
einen Reif und jprang mit einem gewaltigen Satz auf Herakles los.
Der hatte den Bogen, welcher ihm hier nichts nützen konnte, rasch beiseite
geworfen, und als der Löwe mit den fürchterlichen Krallen ihn gerade
packen wollte, versetzte er ihm mit dem harten Knopf seiner Keule einen
solchen Schlag an die Stirn, daß das Untier zurücktaumelte, die Augen
verdrehte und unsicher auf den Beinen hin- und herschwankte. Jetzt warf
Herakles auch die Keule aus der Hand, sprang dem Löwen entgegen, trat
ihm mit den Füßen aus die Hinterbeine, umschlang seinen Hals mit den
Armen und drückte so lange, bis das Tier erstickt war. Umsonst suchte
er dann dem toten Löwen das Fell abzustreifen; kein Stein und kein
Eisen war dazu scharf genug. Da lud er sich die ganze Last auf die
Schultern und ging damit seines Weges nach Mykenä. Als der feige
Eurystheus den Helden mit dem gräßlichen Ungeheuer daherkommen sah,
bekam er vor der göttlichen Stärke des Herakles eine solche Angst, daß
er sich in ein ehernes Faß unter die Erde verkroch. Er ließ dem Helden
durch einen Herold sagen, daß er forthin nicht wieder vor sein Angesicht
komme, sondern seine Siegesbeute nur vor den Toren der Stadt ab-
geben sollte.
2. Die Hydra.
Bald darauf hatte der König Eurystheus eine zweite Arbeit ersonnen,
um den gefürchteten Dienstmann zu beschäftigen. Er befahl dem Herakles,
die lernäische Hydra zu erlegen. Das war eine unmäßig große Schlange
mit neun Köpfen, von denen acht sterblich, der in der Mitte stehende
aber unsterblich war. Sie hielt sich in dem Sumpfe von Lerna, nicht
weit von Argos, auf und überfiel von da aus die Herden und verheerte
das Land.
Um dieses Ungeheuer zu bekämpfen, nahm Herakles seinen tapferen
Neffen Jolaos als Waffengefährten mit. Der lenkte an seiner Seite die
Rosse des Wagens, auf dem sie bis in die Nähe der Höhle fuhren, in
welcher die Schlange ihr Lager hatte. Dort sprang Herakles mit seinem
Bogen vom Wagen herab, wickelte Werg mit Pech und Schwefel um die
Pfeile, zündete sie an und schoß damit in die Höhle hinein, um die Hydra
aus ihrem Schlupfwinkel aufzuscheuchen. Wütend fuhr sie hervor, und
es war grauenvoll anzusehen, wie sie den ungeheuren Leib daherwälzte
und drohend aus den neun emporgestreckten Hälsen zischende Zungen
fletschte. Mit vorgehaltenem Schild und funkelndem Schwert sprang
Herakles aus sie ein, und während sie mit dem Schweif ihm einen Fuß
umringelte, schlug er ihr mit raschen Hieben Kopf auf Kops herunter.
Aber er richtete damit nichts aus; für jeden abgehauenen Kopf wuchsen
der Schlange alsbald zwei neue aus dem blutenden Rumpfe hervor.
Gleichzeitig kam der Hydra ein Riesenkrebs aus dem Sumpfe zu
23*
356
Hilfe, der kneipte mit seinen Scheren den Herakles von hinten in das
Bein, das die Schlange umwunden hatte. Doch diesen schasste sich der
Held durch einen kräftigen Tritt mit dem andern Fuße, der den Panzer
des hinterlistigen Schleichers in tausend Stücke brach, ohne Mühe vom
Leibe. Dann rief er znm Beistand gegen die Schlange den Jolaos herbei:
der zündete einen Teil des umliegenden Waldes an, und so oft der Hydra
ein Kopf abgeschlagen war, fuhr er sofort mit einem Feuerbrande über
die frische Wunde, daß das Blut zischte und aus den versengten Hälsen
keine neuen Häupter aufschießen konnten. So gelang es denn Herakles
endlich, alle Kopfe der Schlange abzuhauen, zuletzt auch das unsterbliche
Haupt. Dieses warf er in eine Grube und wälzte einen schweren Fels-
block darüber. Hierauf schlitzte er der Hydra den Leib auf und tauchte
die Spitzen seiner Pfeile in die giftige Galle. Wem hinfort diese gift-
getränkten Pfeile in die Haut fuhren, der mußte sterben.
3. Die goldenen Äpfel der Hesperiden.
Als Herakles nur noch zwei Arbeiten zu verrichten hatte, dachte
Eurystheus Tag und Nacht darüber nach, was wohl recht schwer und
gefährlich wäre, und trug ihm als elfte Arbeit auf, aus dem Garten
der Hesperiden drei Äpfel zu holen. Wo aber der Garten der
Hesperiden war, das wußte kein Sterblicher. Als Zeus und Hera Hoch-
zeit hielten, ließ die Erde zum Geschenk einen Apfelbaum aufgehen, auf
dem wuchsen lauter goldene Äpfel, Hera setzte den Baum auf eine Insel
Okeanos, zu der kein Mensch hinkam, und aus dem Baum wurde mit
der Zeit ein Garten, wo alle Bäume goldene Äpfel trugen. Der Garten
wurde von den drei singenden Hesperiden gepflegt, welche Nymphen waren,
und ein Drache bewachte ihn.
Herakles war niemals verzagt und war nichts so schwer, daß er
nicht getrosten Mut hatte, er würde es vollbringen. Nun hatte er schon
oft gefragt, wo die Hesperiden wohnten, da kam er einmal an einen Fluß,
und die Nymphen des Flusses saßen am Ufer und fragten ihn, wohin er
ginge. Er sagte: „Der König Eurystheus hat mir aufgetragen, drei Äpfel
aus dem Garten der Hesperiden zu holen, mir ist aber nicht bekannt,
wo der Garten gelegen." Sagte eine von den Nymphen: „Wir wissen
es auch nicht, aber der alte Meergott Nereus kann es dir sagen, der
weiß von allem, was auf Erden und im Himmel ist." Und sie unter-
wiesen ihn, wo er Nereus finden würde, und wie er ihn zu seinem Willen
zwingen könnte. Nereus wohnte im Meer, aber um die Mittagszeit stieg
er ans Land und legte sich in einer Grotte am Ufer schlafen. Als er
nun eingeschlafen war, kam Herakles und ergriff seine beiden Arme.
Nereus erwachte und sah, daß er gefangen war, da verwandelte er sich
357
in einen Wolf, dann in einen Löwen unb gar in einen Drachen und
wollte Herakles Furcht machen, daß er ihn losließe. Aber die Nymphen
hatten Herakles von diesen Künsten erzählt, und er ließ den Meergott
nicht los, sondern drückte ihn immer fester. Da mußte sich Nereus er-
geben und fragte ihn, was er begehre. Und als er es gehört, beschrieb
er Herakles genau, wo die Hesperiden wohnten. Es war ein weiter Weg;
aber Herakles verlor nicht den Mut und machte sich auf nach der Insel
der Hesperiden.
Auf dem Wege kam er auch nach Libyen, da herrschte der König
Antäos, der zwang jeden Fremden, der durch sein Land zog, mit ihm zu
ringen, und hatte alle überwunden und umgebracht. Denn er war ein
Sohn der Erde, und seine Mutter gab ihm immer neue Kraft, wenn er
sie berührte. Herakles rang mit Antäos und warf ihn dreimal zur Erde,
aber der König sprang jedesmal wieder auf und war noch stärker als
zuvor. Da merkte Herakles, wodurch er neue Kraft bekam, und er hob
ihn in die Höhe, daß er die Erde gar nicht berührte, und drückte ihn an
sich, bis er starb.
Herakles wanderte durch viele Länder und kam gar zu dem
Himmelsträger Atlas. Der wohnte am äußersten Rande der Erde und
hatte von den Göttern ein mühseliges Amt erhalten; denn er mußte mit
Kopf und Händen das Himmelsgewölbe stützen; und hätte er einmal seines
Amtes nicht gewaltet, so wäre der Himmel eingestürzt und hätte die Erde
in Trümmer geschlagen. Herakles erzählte dem Atlas, auf welche Fahrt
er ausgeschickt war. Da dachte Atlas, er könnte sich einmal frei ergehen,
und bot Herakles an, er wolle die Äpfel holen, unterdessen sollte Herakles
den Himmel tragen. Herakles nahm es an und stellte sich unter das
Himmelsgewölbe. Atlas machte sich auf den Weg, und weil er ein Oheim
der Nymphen war, schenkten sie ihm drei Äpfel, die nahm er und kehrte
zu Herakles zurück. Nun hatte ihm aber die Freiheit besser gefallen als
sein Amt, darum sagte er zu Herakles: „Ich habe lange genug den Himmel
getragen, jetzt sollst du es tun." Herakles dachte: „Weigere ich mich, so
wird es mir nichts helfen." Er tat also, als wenn er willig wäre, und
sagte: „Laß mich nur erst mein Löwenfell auf den Kopf zusammenlegen,
damit mich der Himmel nicht drücke." Da legte Atlas die Äpfel auf die
Erde und nahm die Last wieder auf sich, er meinte, es wäre nur auf
kurze Zeit. Aber Herakles hob die goldenen Äpfel auf und ging davon.
Und weil Atlas sich hatte überlisten lassen, mußte er in Ewigkeit den
Himmel tragen. Herakles aber kam nach Mykena und wies die goldenen
Äpfel vor. Sie glänzten so hell, man konnte sie gar nicht ansehen, wenn
die Sonne darauf schien. Herakles gab sie der Göttin Athene, und die
brachte sie nach dem Garten der Hesperiden zurück, denn Hera hätte ge-
zürnt, wenn sie sie behalten hätte. C. Witt.
358
\ 230. Phaeton.
1. Helios war der Sonnengott, er fuhr auf feinem leuchtenden
Wagen zwischen Himmel und Erde. Die vier Sonnenrosse waren von
milchweißer Farbe, und am Abend badeten sie sich in dem großen Strome
Okeanos, der rings um die Erde floß. Helios hatte unter den sterb-
lichen Frauen eine sehr lieb. und sie hatten einen Sohn, mit Namen
Phaeton. Als Phaeton noch klein war, zeigte ihm die Mutter, wo sein
Vater am Himmel fuhr, uud er warf ihm Küsse zu. Nun war er aber
zum Jüngling erwachsen und war von edlem Mute und ausnehmender
Schönheit. Da beneideten ihn viele und wollten ihn kränken und sagten,
er sei nicht des Sonnengottes Sohn. Darum wollte er beweisen, daß
Helios gewißlich sein Vater sei.
2. Er machte sich auf den Weg nach dem Strome Okeanos, und als
Helios mit den Nossen herniederkam, sah er seinen Sohn und freute sich
und küßte ihn vielmals. Und er fragte, weshalb er die weite Reise zu
ihm getan habe. Sagte Phaeton, er wolle ihn etwas bitten, und es sei
sein höchster Wunsch. Helios dachte nichts Arges und sagte es zu, und
weil Phaeton es wollte, gelobte er mit einem Götterschwur, daß er ihm
jeden Wunsch, den er täte, erfüllen würde. Die Götter schwuren beim
Flusse Styx, der in der Unterwelt war. Wer solchen Schwur brach,
verfiel in eine schwere Strafe. Neun Jahre lag er wie im Tode, und
noch andere neun Jahre durfte er nicht in der Götter Gemeinschaft sein.
3. Wie Phaeton nun seines Vaters Schwur hatte, war er in großer
Freude und bat, er möchte ihn folgenden Tages die Sonne regieren lassen.
Helios entsetzte sich über den kühnen Wunsch und sagte, kein Sterblicher
könne die wilden Sonnenrosse lenken, und er solle davon abstehen. Aber
Phaeton hatte leichten Mut und rechte Freude an der Gefahr und war
nichts so schwer, daß er sich nicht zutraute, es zu vollbringen. Und er
meinte, wenn er einmal die Sonne regiert habe und erzählen könne, was
er von dort gesehen habe,/ so müßten alle erkennen, daß er des Sonnen-
gottes Sohn sei. Also ließ er nicht von seinem Wunsche ab, und weil
Helios beim Styx geschworen hatte, mußte er es gewähren, obgleich er
dachte, daß es sein Tod sein würde.
4. Am Morgen wurden die wilden Rosse angeschirrt und Phaeton
bestieg den hellen Wagen, und es war ihm noch nie so stolz und freudig
zumute gewesen. Die Rosse flogen mit ihm die Bahn hinan. Phaeton
konnte die Bäume und Häuser und Flüsse auf der Erde sehen, und solange
er noch der Erde nahe war, hatte er seine Lust daran. Als er aber viel
höher war, als die Adler fliegen, fing ihm an zu schwindeln, und die
Rosse merkten, daß nicht Helios mit Götterkraft die Zügel hielt, und sie
gehorchten nicht, wie Phaeton lenkte, sondern flogen herauf und herunter.
359
Bald kam der Wagen dem Himmel zu nahe und bald der Erde, und es
verdorrten die Blumen, und die Quellen vertrockneten, und es war so
heiß, daß die Berge anfingen zu schmelzen. Einmal war er über Afrika,
da wurden alle Menschen im Lande von der Sonnenglut schwarz gebrannt,
und die schwarze Farbe blieb bei Kind und Kindeskind, und die Menschen
werden Mohren genannt. Die Göttin Güa war Königin über die Erde,
und wie die Bäume und Blumen und Quellen von der heißen Sonne
jämmerlich umkamen, bat sie Zeus, daß er die Erde nicht möge verderben
lassen. Da nahm Zeus einen Blitz und schleuderte ihn nach Phaeton,
der fiel vom Sonnenwagen herab und war tot. Helios hatte es gesehen,
und sein Herz war in großer Trauer, aber er flog hin und ergriff die
Zügel der Sonnenrosse und lenkte den Wagen wieder in die rechte Bahn.
Viele Tage war der Himmel mit dunklen Wolken bedeckt, und Helios ließ
sich von den Menschen nicht sehen. \/ C. Witt.
K
231. Dädalus und Ikarus.
1. Auf der Insel Kreta lebte ein König, der hieß Minos. Seine
Gewalt war groß, und er hatte viele Schiffe und bewaffnete Knechte.
Ein kunstfertiger Mann, namens Dädalus, hatte dem Könige ein
wunderbares Haus mit vielen, vielen Gemächern gebaut. Wer hin-
einging, konnte sich nicht mehr herausfinden. Im Hause wohnte ein
Ungeheuer, und alle Jahre wurden Gefangene hineingebracht, die
irrten umher, bis das Ungeheuer kam und sie auffraß. Das wunder-
bare Haus wurde das Labyrinth genannt.
2. Der König wünschte, daß Dädalus noch andere künstliche
Sachen zurichtete, und wollte ihn nicht aus dem Lande lassen. Er
stellte am Meere bewaffnete Knechte auf, daß Dädalus zu keinem
Schiffe gelangen könnte. Da dachte Dädalus: „Hat meine Kunst
dem Könige gedient, so soll sie mir nun selber dienen!“ Und er
ging in seine Werkstatt und bildete aus Wachs und Vogelfedern
zwei große Flügel für sich und zwei kleinere Flügel für seinen
jungen Sohn, der Ikarus hieß. Wenn es dunkel war, übten sie sich,
mit den wächsernen Flügeln zu tun, wie die Vögel tun. Sie hatten
die Flügel an die Arme gebunden und schlugen damit in die Luft
und flogen in die Höhe.
3. Als sie nun so das Fliegen gelernt hatten, machten sie sich
eines Morgens auf die Flucht und wollten nach der Insel Sizilien
fliehen, die aber wohl hundert Meilen von Kreta entfernt ist. Am
Meere standen die Wächter, die der König bestellt hatte, aber sie
konnten die beiden nicht fangen. Bald flogen diese über dem weiten
Meer, der Vater voran, er kannte den Weg. Ikaros war zuerst äugst-
360
lieh, aber als sie eine Strecke Wegs zurückgelegt hatten, wurde er
dreist und hatte große Lust am Fliegen. Am Mittag schien die Sonne
sehr heiß, und Dädalus warnte seinen jungen Sohn, daß er sich vor
der Sonne hüten und ihr nicht zu nahe fliegen sollte. Aber Ikarus
dachte: „Die Sonne sieht so freundlich und wird mir nichts Böses
tun.“ Und er flog höher und höher. Dädalus flog voran und sah
es nicht. Da kamen die heißen Sonnenstrahlen, und die Flügel des
Knaben fingen an zu schmelzen. Als Ikarus fühlte, daß die Flügel-
schläge matter wurden, rief er nach seinem Vater, und Dädalus
wandte sich um und wollte ihm zu Hilfe kommen. Aber es war zu
spät, der Knabe konnte sich nicht mehr in der Luft halten und fiel
vor des Vaters Augen ins Meer. Von dem hohen Falle starb er,
und mit seinem Leichnam spielten die Wellen. Da hatte Dädalus
von seiner großen Kunst keinen Gewinn und mußte traurig allein
weiterfliegen. C. Witt.
232. Zweikampf des Hektor und Ajax.
1. Einst nahte dem kämpfenden Hektor sein Bruder Helenus, der
kundige Seher, und forderte ihn auf, einen einzelnen Krieger aus
dem Heere der Achäer herauszurufen, um mit ihm allein einen ent-
scheidenden Zweikampf zu kämpfen. Denn ihm hätten, sagte er, die
Götter es eingegeben, daß heute dem Hektor das Todeslos noch
nicht verhängt sei. Sogleich rannte der Held laut rufend hervor,
gebot Stillstand und trat in die Mitte. Da ruhten sie alle, begierig,
seine Kede zu hören. Er sprach darauf mit starker Stimme: „Hört
mich, ihr Achäer! Sind doch unter euch der streitbaren Helden so
viele; wohlan, ich überlass’ es euch selbst, sendet den Tapfersten
heraus, mit mir zu kämpfen. Erlegt er mich, so mag er mir die
kostbare Küstung rauben; aber den Leichnam entsend’ er nach Ilios,
daß die troischen Männer und Frauen meine Gebeine verbrennen
und die Asche dann sammeln. Gewähren mir aber die Götter Ruhm,
daß ich jenen treffe, so häng’ ich seine Rüstung als stolze Beute
zum Andenken im Tempel des Phöbus Apollo auf; ihr aber möget
dem Toten dort bei den Schiffen ein würdiges Denkmal errichten,
daß der Enkel noch einst, wenn er, zum Hellesponte segelnd, bei
dem hohen Gestade vorüberschifft, sage: ,Das ist das hochragende
Grabmal des tapferen Helden, den Hektor im entscheidenden Kampfe
erschlug/“
2. Also sprach er, und im Lager der Griechen ward’s still. Jeder
bedachte sich und wartete auf des anderen Erbieten: denn mit Hektor
zu kämpfen, war ein gefahrvolles Wagstück. Da sprang, nicht im
Gefühl seiner Stärke, sondern vom rasch aufwallenden Ehrgefühl
361
überwältigt, Menelaus auf und sagte zu den übrigen Fürsten: „Ha,
ihr drohenden Prahler daheim und Weiber im Schlachtfeld, wie
steht es nun um euren Mut? Wahrlich, das wär’ uns doch unaus-
löschliche Schande, wenn keiner von allen Achäern es wagte, sich
mit Hektor zu messen! Aber mögt ihr auch alle feig und furcht-
sam sitzen, ich — nein, ich ertrage den Schimpf nicht, ich selbst
werde mich rüsten. Wer weiß es? Der Ausgang der Kämpfe ruht
ja dort oben in der Hand der unsterblichen Götter.“
Er griff nach der Lanze und wollte fort, aber die anderen
Könige der Achäer und selbst sein Bruder Agamemnon hielten ihn
mit Gewalt zurück. Sie stellten ihm Hektors überwiegende Stärke
vor, brachten eine andere Auskunft in Vorschlag und bewogen ihn
endlich, ruhig zu bleiben. Der alte Nestor nahm darauf das Wort
und sagte: „Weh mir, wie großes Verderben trifft heute das achäische
Volk! Weinen würden die Alten, weinen würde der graue Peleus
und alle die anderen tapferen Krieger meiner Jugendzeit, wenn sie
hörten, wie das ganze Volk so schimpflich vor Hektors Stimme ver-
stummt, und daß keiner unter so vielen ist, der ihm zu antworten
wagt. Ha, großer Vater Zeus, wenn ich noch so wäre wie damals,
da ich den Helden Ereuthalion niederwarf, da wahrlich sollte Hektor
bald seinen Mann gefunden haben! Aber euch sind ja der Mut und
das Mark aus den Gebeinen verschwunden.“
3. Beschämt von des Greises verdientem Vorwurf, standen jetzt
neun Männer auf und erboten sich, den Kampf mit Hektor zu be-
stehn. Agamemnon selbst war unter ihnen, die beiden Ajax auch,
die übrigen waren Diomedes, Ulysses, Idomeneus und sein Wagen-
lenker Meriones, Eurypylus und Limas. „Wohlan, ihr Freunde,“
sagte Nestor jetzt, „da ihr alle den Kampf bestehen wollt, so tretet
heran und loset alle der Reihe nach; Zeus mag selbst entscheiden,
wem er den Ruhm des Sieges am meisten gönnt.“ Damit war jeder
zufrieden. Jeder wählte sich ein Los (etwa eine mit einem Zeichen
versehene Scherbe, oder etwas dem Ähnliches) und warf es in Nestors
Helm. Der Alte schüttelte die Lose, bis eins herausflog, welches
der ältere Ajax sogleich für das seinige erkannte. Alle Achäer
freuten sich; auch Ajax selbst war stolz, daß ihm gleichsam das
Schicksal selbst geboten hatte, den rühmlichen Kampf mit Hektor
zu bestehen. „Nun, das Los hat mich getroffen, ich hoffe ja Sieg
vom Zeus,“ rief er aus, „denn nicht unkundig des Krieges bin ich
in Salamis aufgewachsen, und wahrlich, ich fürchte mich nicht vor
jenem. Fleht ihr indessen für mich zum Zeus, daß er mir Ehre
verleihe.“
4. Sie taten es alle in der Stille, und Ajax stürmte nun mächtig
362
vor, dem wartenden Hektor entgegen. Und wahrlich, er war nicht
ungleich dem Gegner, denn ein kraftvoller Wuchs, nervige Arme
und mächtige Schultern und Schenkel kündeten schon beim ersten
Anblicke den furchtbaren Krieger an. Seine Rüstung war undurch-
dringlich, und ihr allein verdankte er auch diesmal seine Rettung
vom sicheren Verderben. Sieben übereinandergelegte Stierhäute
und noch ein eiserner Überzug — das war sein Schild; Helm und
Panzer mögen dem angemessen gewesen sein. Nach der Sitte jener
Krieger begann der Zweikampf nicht schweigend und gleich auf der
Stelle, sondern die Kämpfer rühmten sich selbst erst gegeneinander,
höhnten sich auch wohl und schimpften im ärgsten Falle. So un-
edel ging es nun in diesem Gefechte zwar nicht zu, allein ganz ohne
Vorrede blieb es doch auch nicht.
5. „Sieh da, Hektor," rief Ajax ihm zu, „nun erkennst du doch
wohl, daß sich im Achäervolke auch noch Männer erheben, die
deinen Aufruf nicht scheuen, auch wenn Achilles ruht? Ja, wir
anderen sind auch noch Mannes genug, dir mutig zu begegnen, und
ich bin nur einer von vielen! Wohlan, beginne den Zweikampf!" —-
„Denkst du mich durch Trotz zu versuchen, Sohn Telamons?“ er-
widerte Hektor. „Irre dich nicht, ich habe die Schlachten der
Männer gelernt, weiß den Speer zu schwingen, daß er trifft, und
den Schild zu wenden, daß mich kein Wurf verletzt. Zu Fuß und
auf flüchtigem Wagen hol’ ich den Feind ein, und meine Taten
zeugen für meine Worte. Aber jetzt gib acht, tapferer Held, ich
will nicht mit lauernder List dich überfallen, sondern offen dich treffen."
6. In diesem Augenblicke schleuderte er die gewaltige Lanze mit
aller Kraft auf ihn, und sie durchdrang das Erz des Schildes und
sechs der ledernen Schichten; dann erst ermattete sie. Rasch warf
nun Ajax die seinige auf Hektors Brust, aber Hektors Schild war
nicht stark genug, der Spitze zu widerstehen. Doch durch eine ge-
schickte Wendung des Leibes verhinderte er, daß sie in das Fleisch
drang. Beide zogen nun die Lanzen mit Macht aus ihren Schilden
und rannten damit einander auf den Leib, jeder entbrannt, den
Gegner zu durchbohren. Wiederum traf Hektors richtig gezielter
Stoß jenen auf die starke, eherne Buckel des vorgehaltenen Schildes,
daß die Spitze sich krumm bog; aber sie drang doch nicht ein. Auch
des Ajax Stoß glitt ab von der Fläche des Schildes und fuhr dem
Gegner, seitwärts streifend, in den Hals, daß das Blut ihm den
Panzer befleckte. Da wandte sich Hektor schnell und suchte einen
Feldstein. Den warf er aus vollen Kräften dem Ajax nach dem
Kopfe, und er hätte ihn zerschmettert, hätte sich Ajax nicht schnell
hinter dem schützenden Schilde geborgen. Jetzt packte Ajax einen
363
noch weit größeren Feldstein und warf ihn auf Hektor, zerbrach
ihm den entgegengehaltenen Schild und verletzte ihn am Knie.
Aber Hektor wäre gewiß noch einmal mit aller Wut über ihn her-
gefallen, hätten nicht die Griechen jetzt selbst dem Streit ein Ende
gemacht. Denn sie sandten einen Herold, der trennte die beiden
Kämpfer und sprach zu ihnen: „Nun nicht mehr, ihr Helden; genug
ist’s des feindlichen Kampfes. Ihr seid beide tapfere Streiter und
beide vom Zeus geliebt, das haben wir alle gesehen. Aber die Nacht
bricht herein, und es ist gut, auch der Nacht zu gehorchen.“
7. Ajax starrte noch immer auf Hektors Bewegungen hin und rief
dem Herolde zur Antwort: „Gut, mein Freund, ermahne nur jenen
zum Stillstand; er hat das Gefecht begonnen; will er ruhen, so lass'
auch ich mir's gefallen.“ Da sprach Hektor mit ruhigem Tone:
„Ajax, du hast dich männlich bewiesen im Streite, und ein Gott hat
dir Stärke und Besonnenheit verliehen, laß uns jetzt ausruhen vom
Kampfe und künftig einmal ihn erneuern, bis uns ein Gott durch
den Tod voneinander trennt. Siehe, die Nacht ist vor der Tür, geh
du zu den Schiffen und freue dich des Mahls mit den Deinen; ich
kehre fröhlich zu des Briamus Stadt zurück, wo die beängstigten
Frauen an heiliger Stätte die Götter für mein Leben anflehen. Doch
zuvor laß uns einander noch mit preiswürdigen Gaben beschenken,
damit man künftig noch unter Achäern und Troern sage: Seht, sie
kämpften erst lange den Kampf der Zwietracht und schieden dann
versöhnt in Freundschaft.“
8. Er reichte ihm sein künstlich gearbeitetes Schwert mit der
Scheide und dem zierlichen Gehänge, und Ajax schenkte ihm da-
gegen seinen purpurnen Leibgurt. So schieden sie; und jedes Heer
empfing seinen Helden mit Freudengeschrei und führte ihn triumphierend
zu den Seinen zurück. Wie trefflich schmeckte jetzt das Mahl nach
einem so heißen Tage! Agamemnon bewirtete die Fürsten wie ge-
wöhnlich in seinem Zelte und reichte heute dem Ajax vorzugsweise
das größte Stück, welches man aus dem Bücken eines fünfjährigen
fetten Stieres schnitt. Auch Hektor erfreute sich daheim des Mahles
und unterhielt den alten Vater mit Erzählungen von den Drangsalen
des eben verflossenen Tages. Karl Friedrich Becker.
233. Das Hölzerne Pferd.
1. Oft schon Hatten die Griechen Versucht, die feindliche Stadt zu
erstürmen. Aber alle Tapferkeit scheiterte an den gewaltigen Mauern,
die von Göttern erbaut waren. Unmutig wandten sich die Helden an
ihren Priestern Kalchas, der ahnend in die Zukunft schauen konnte,
364
und fragten ihn um Rat. Kalchas antwortete: „Mit den Waffen
allein werdet ihr Troja niemals erobern. Höret, was für ein Vor-
zeichen ich heute geschaut habe! Ein Habicht stürzte auf eine Taube
herab; diese aber rettete sich vor ihrem Verfolger in eine enge Fels-
spalte, wohin der große Vogel nicht gelangen konnte. Da versteckte
sich der Habicht in ein nahes Gebüsch. Das Täubchen lugte hervor,
und als es den Feind nicht mehr sah, kam es in seiner törichten Un-
schuld ans seinem Schlupfwinkel geflattert. Aber blitzschnell schoß der
Habicht auf das arme Täubchen und mordete es erbarmungslos. Wohl-
an, ahmt dem Raubvogel nach und greifet zur List, da ihr mit Gewalt
die trojanische Taube nicht erjagen könnt."
2. Lange sannen die Fürsten über den Rat des Kalchas nach,
doch keiner fand eine taugliche List. Da erhob sich endlich der kluge,
erfindungsreiche Odysseus; mit strahlenden Augen und freudig ge-
röteten Wangen rief er: „Ich weiß ein Mittel, ihr Freunde! Lasset
uns ein turmhohes hölzernes Pferd bauen, das inwendig hohl sei und
so geräumig, daß etliche der Tapfersten von uns darin Raum haben.
Diese sollen sich im Bauche des Pferdes verstecken, während die anderen
das Lager abbrechen und mit den Schiffen und aller Habe absegeln.
Nicht weit von hier ist eine waldige Insel; hinter der sollen sich die Schiffe
vor Anker legen. Sehen die Trojaner ihre Feinde abziehen, so werden
sie aus der Stadt herauskommen und das hölzerne Roß erblicken. Nun
muß ein beherzter und schlauer Grieche in der Nähe des Pferdes
zurückbleiben und sich von den Trojanern erwischen lassen. Diese wer-
den, neugierig wie sie sind, ihn um die Bedeutung des seltsamen Un-
getüms fragen, und dann soll er ihnen vorlügen, wir hätten ihn aus
irgendeiner böslichen Absicht zurückgelassen, und die Trojaner mit
listigen Vorstellungen dazu verleiten, das Roß in ihre Stadt zu fahren.
In der Nacht aber, wenn alle sorglos schlafen, sollen die darin ver-
steckten Helden heraussteigen, die Stadttore öffnen und durch ein
Feuerzeichen denen, die bei der Insel warten, dies kundtun. Das
Weitere versteht sich von selber."
3. Alle riefen dem klugen Odysseus ihren Beifall zu und rieten,
man solle sogleich ans Werk gehen. Unter den Griechen war ein
überaus kunstreicher Mann, mit Namen Epens; dem trugen sie auf,
das hölzerne Pferd zu zimmern. Von den waldigen Höhen des nahen
Gebirges wurden die höchsten Tannenstämme herbeigeschleppt; alle
waren voll Eifer, das Werk zu fördern: die einen zersägten die Balken,
andere schälten die Rinde ab und glätteten die Stämme, andere höhl-
ten sie aus, noch andere zerschnitten sie zu Brettern. Drei Tage nur
vergingen, da hatte Epeus ein Werk vollbracht, wie es kunstvoller die
Welt noch nicht gesehen hatte. Wäre das hölzerne Tier nicht von so
— 365
riesiger Größe gewesen und hätte ihm nicht Leben und Bewegung
gefehlt, so hätte man es für ein wirkliches Pferd halten müssen.
Staunend umstanden die Griechen das Kunstwerk, und mancher sprach
zu seinem Nebenmann: „Sollte man nicht meinen, es müsse jeden
Augenblick anfangen zu wiehern? Wahrlich, ein erstaunlich geschickter
Meister ist unser Epeus. Athene selber muß ihm geholfen haben."
Erfreut vernahm der Künstler das Lob seiner Genossen.
4. Wie nun das Riesenpferd vollendet war, stiegen etwa ein
Dutzend der kühnsten Helden, unter ihnen Odysseus und Diomedes,
in den hohlen Bauch des Tieres und verschlossen von innen die Öffnung,
die so kunstvoll angebracht war, daß man sie von außen durchaus
nicht entdecken konnte. Die übrigen Griechen brachen die Zelte ab,
eilten auf die Schiffe und segelten ohne Verzug vom Gestade, als ob
sie nach ihrer Heimat zurückkehren wollten. In Wahrheit aber fuhren
sie nur bis an die Insel, von der Odysseus gesagt hatte, und warteten
hier, bis das verabredete Feuerzeichen erscheinen würde. So stand
das sonderbare Kunstwerk ganz allein auf der weiten Ebene; nur
ein einziger Jüngling, Sinon genannt, der ebenso schlau wie mutig
war, blieb dabei zurück.
5. Vor Tagesanbruch waren die Griechen abgesegelt. Als nun
die helle Sonne über die Gefilde schien und die Trojaner von ihren
Zinnen nach dem feindlichen Lager herüberguckten, o, wie erstaunten
sie da! Kein feindliches Zelt, kein Griechenschiff war mehr zu sehen.
Sie rieben sich die Augen und fragten einer den anderen, ob es denn
Wirklichkeit sei und keine Täuschung. Die Überraschung war zu groß,
als daß man sie sogleich hätte fassen können. Nach zehnjährigen Ängsten
und Gefahren sollten sie friedlich und unbehelligt ihre Stadt bewohnen
und ihre Felder bebauen können? Allmählich ging das dumpfe Fragen
und Staunen in hellen Jubel über, und bald war kein Halten mehr:
die Tore wurden geöffnet, und jauchzend strömte jung und alt hinaus
nach der Stelle, wo noch am Abend zuvor die Feldzeichen der uner-
bittlichen Feinde drohend herübergewinkt hatten.
6. Da erschallten plötzlich neue Rufe der Verwunderung. Man
hatte das sonderbare hölzerne Pferd entdeckt, und nun umstanden sie
es und stritten hin und her und zerbrachen sich die Köpfe darüber,
was es damit für eine Bewandtnis habe. Aber ein trojanischer Priester,
namens Laokoon, drängte sich durch die dichte Menge und rief: „Un-
glückliche, seid ihr von Sinnen? Ahnt ihr denn keinen Verrat? Und
glaubt ihr wirklich, die Griechen seien nun ein für allemal abgesegelt,
nachdem sie so lange ausgeharrt haben? Was dies unheimliche Bau-
werk auch zu bedeuten habe, trauet ihm nicht!" Bei diesen Worten
entriß er einem Manne, der neben ihm stand, den Speer und stieß
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damit gegen den Leib des Pferdes. Da gab es einen dumpfen Wider-
hall, >vie aus einem Kellergewölbe; doch die Trojaner ahnten nichts
Schlimmes, denn ihr Sinn war verblendet.
7. Indem erhob sich ein neues Geschrei in der Nähe. Die herum-
streifenden Jünglinge hatten in einem nahen Gesträuch einen unbe-
waffneten Griechen entdeckt und schleppten ihn nun gefangen herbei.
Es war der listige Sinon. Mit ängstlicher Miene und gerungenen
Händen, heuchlerische Tränen vergießend, stand er da, ein rechtes Bild
des Jammers, so daß die gutmütigen Trojaner Mitleid mit ihm
empfanden und ihn fragten, was er in ihrem Lande noch zu suchen
habe. Ja, sie trösteten ihn: er solle sich nicht fürchten, es werde ihm
niemand ein Leid antun. Sinon trocknete seine Tränen, seufzte laut
auf und sprach mit weinerlicher Stimme: „Ach, ihr guten Leute, ich
kann nicht lügen; Sinon hat noch nie eine Unwahrheit gesagt! Ver-
nehmet also: ich bin ein Grieche. Gewiß habt ihr schon von dem
listigen König Odysseus gehört. Dieser Bösewicht hatte einen Haß auf
mich geworfen und trachtete schon lange danach, mich zu verderben.
Endlich verabredete er zu diesem Zwecke mit dem lügnerischen Priester
Kalchas einen niederträchtigen Plan. Meine Landsleute hatten bereits
dieses hölzerne Pferd fertig und wollten eben absegeln, denn sie waren
des fruchtlosen blutigen Streites gründlich satt; da trat der Wahrsager
mitten unter sie und verkündete mit erhobener Stimme, es sei der
Wille der Götter, daß vor der Abfahrt von hier ein Grieche ge-
opfert werde, so wie einst in Aulis Iphigenie habe sterben müssen.
Vor diesen Worten erschraken alle; denn jeder fürchtete, er könne das
Opfer sein. Niemand wagte es, den Seher nach dem Namen des
Todgeweihten zu fragen, bis endlich Odysseus auf ihn zulief und ihn
beschwor, nicht länger mit der Wahrheit zurückzuhalten; und wenn
er selbst das Opfer sein sollte, so werde er sich nicht weigern, für das
allgemeine Wohl sein Leben zu lassen. So sprach der Heuchler.
Kalchas aber tat, als wolle es ihm gar nicht über die Zunge; endlich
nannte er meinen Namen. Nun waren die anderen alle froh, daß
sie mit heiler Haut davonkamen, sprangen auf mich zu, banden mich
mit Stricken und übergaben mich dem heimtückischen Priester. Zum
Glück war es schon spät am Abend, deshalb verschob er das Opfer
auf den nächsten Morgen. In der Nacht aber gelang es mir, meine
Bande zu lösen und aus dem Zelte des Kalchas zu schlüpfen. Ich
lief, so weit mich meine Beine trugen, und versteckte mich dort in
jenem Gebüsch. Am Morgen kamen sie zu Hunderten aus dem Lager,
um mich zu suchen. Auch an meinem Schlupfwinkel gingen sie vorbei,
aber ein Gott war mir gnädig; sie fanden mich nicht. Endlich wurden
sie des Herumlaufens müde, und ich hörte nicht weit von mir den
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verwünschten Kalchas sagen: ,Laßt gut sein, ihr Freunde! Sinon ist
ja des Todes gewiß, wenn er allein hier im Lande zurückbleibt. Ohne
Zweifel werden die Trojaner ihn unter Qualen ermorden. So ist
das Opfer so gut wie dargebracht! Auf zu den Schiffen !‘ — Und wirk-
lich hatte sich ein giinstiger Segelwind erhoben. Nach kurzer Weile
stießen sie vom Lande, und ich konnte ruhiger atmen. Mir ahnte es,
daß ihr edelmütiger mit mir verfahren würdet als meine nichts-
würdigen Landsleute. Tut mit mir, was ihr wollt; der arme Sinon
wird lieber von euren Händen sterben, als zu seinen lieblosen Genossen
zurückkehren."
8. Der ehrwürdige König Priamus war inzwischen herbeigekommen
und hatte die Worte des Heuchlers mit angehört. Nun trat er zu
ihm, redete ihm freundlich Mut ein und versprach ihm Schonung und
obendrein reichen Lohn und eine Heimstätte in Troja, wenn er ihnen
getreulich sage, was es mit dem seltsamen hölzernen Pferde für eine
Bewandtnis habe. Da sprach Sinon: „Mit Freuden, edler König,
erfülle ich deinen Wunsch. Wisse, die Göttin Athene, bisher die mächtige
Schutzherrin der Griechen, hatte auf einmal ihre Gunst von uns ge-
wandt. Da verkündete Kalchas, der Zorn der Göttin könne nur dann
besänftigt werden, wenn man ein riesiges Pferd, dessengleichen die
Welt noch nicht gesehen, baue als ein Weihgeschenk für ihren Tempel
in Troja. Die Griechen taten wirklich so. Weil aber Kalchas hinzu-
fügte, daß dieses Pferd für eure Stadt ein Talisman gegen alle feind-
lichen Angriffe sein werde, und weil die Griechen euch ein solches Glück
mißgönnten, so machten sie das Pferd so hoch, daß ihr es nicht durch
die Stadttore bringen könntet. Ja, sie hofften sogar, ihr würdet euch
gegen das Heiligtum aus Unkenntnis freventlich vergehen und dadurch
den Zorn der Göttin auf euch laden."
9. Die Worte des Lügners fanden bei Priamus und allen Trojanern
freudigen Glauben. Nur der Priester Laokoon erhob nochmals seine
warnende Stimme. Siehe, da geschah ein grausiges Wunder. Über
das Meer her kamen zwei riesige Schlangen ans das Ufer gekrochen.
Entsetzt flohen die Trojaner vor den scheußlichen Ungetümen. Laokoon
aber samt seinen beiden jungen Söhnen schien die Schlangen gar nicht
wahrzunehmen und blieb ruhig an dem Altar, wo er eben ein Opfer
anzünden wollte, stehen. Da kamen die Schlangen blitzschnell auf ihn
zugeschossen, umringelten ihn und seine Kinder mit ihren Leibern und
zerfleischten mit den gifttriefenden Zähnen die Glieder der Unglück-
lichen. Alle drei fanden so einen schrecklichen Tod. Die Schlangen
aber schlüpften unter den Altar und verschwanden dort.
10. Die Trojaner hatten von fern mit Schaudern dem entsetzlichen
Schauspiel zugesehen. Was Wunder, daß sie in dem Tode des Priesters
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eine Strafe für seinen Unglauben erblickten? Nun beeiferten sich erst
recht alle, das göttliche Roß in ihre Stadt zu bringen. Die einen
liefen zurück und rissen die Mauerstücke über den Toren ein, die
anderen wanden Stricke um die Beine des Holztieres, die auf Rädern
standen, und zogen unter dem Jubelgeschrei der törichten Menge das
vermeintliche Heiligtum nach der Stadt zu. Jauchzend fuhren sie es
auf deu Platz, wo der Königspalast des Priamus stand. Dann wurden
fröhliche Gelage gefeiert, man tanzte, sang und schmauste und leerte
gar manchen Weinkrug. Erst als die Nacht hereinbrach, verstummte
allmählich der Lärm und die Freude, und alle versanken, vom Tanz
oder Wein ermattet, in tiefen Schlaf.
11. Es war um Mitternacht. Da lief Sinon mit einer brennen-
den Fackel auf die höchste Zinne der Burg und schwenkte den Brand
hoch in der Luft: dies war das Zeichen, das er den hinter der Insel
lauernden Griechen gab. Dann sprang er dahin, wo das hölzerne
Pferd stand, und pochte dreimal an den hohlen Bauch. Leise, leise
stieg ein Held nach dem anderen heraus. Sie öffneten zuerst die Tore,
dann aber zogen sie die Schwerter und hieben schonungslos die auf
den Straßen schlummernden Trojaner nieder. Zugleich schleuderten
sie Feuerbrände in die Häuser. An allen Enden schon loderten die
Flammen empor, als die Bewohner der unglücklichen Stadt allmählich
zum Bewußtsein kamen. Nun erhob sich allenthalben ein herzzerreißen-
des Wehgeschrei und eine gräßliche Verwirrung. Unterdes waren die
Schiffe gelandet, und in gestrecktem Lauf stürmten die Scharen der
Griechen durch die offenen Tore. Wie blutgierige Wölfe auf die wehr-
losen Schafe, so stürzten sie sich auf die schlaftrunkenen Bürger. Nie-
mand wurde verschont; auf allen Gassen, in allen Häusern ertönten
die stöhnenden Laute der Sterbenden; das Blut floß in Strömen.
Wohl griffen die Männer und Jünglinge der Trojaner zu Veilen,
Spießen, Feuerbränden, und was sie sonst in der Bedrängnis er-
wischten, und wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung. Aber der
Übermacht der wohlgerüsteten Feinde erlagen sie zuletzt doch alle. An
seinem Hausaltar sank der ehrwürdige König Priamus tot danieder,
das Schwert eines Griechen machte dem Leben des unglückseligen
Greises ein Ende. Hektars zartes Söhnlein erfaßte ein entmenschter
Krieger beim Fuße und schleuderte es von der höchsten Zinne des
Hauses auf die Straße hinab, daß das liebliche Haupt zerschellte. Die
edelsten Frauen wurden als Sklavinnen hinweggeschleppt, unter ihnen
auch die hochbetagte Königin Hekuba, die Töchter des Königs und
die verzweifelnde Gattin des herrlichen Hektor, die bejammernswerte
Andromache.
12. Die Männer erlagen sämtlich der Wut der Feinde. Nur
369
einem Helden gelang es, ans dem Blntbade zn entrinnen. Das war
Äneas. Dieser nahm als ein liebevoller Sohn seinen greisen Vater
Anchises ans den Rücken, nnd sein jnnges Söhnchen Askanius an die
Hand nnd eilte mit ihnen, nnter dem Schntz seiner göttlichen Mittler
Aphrodite, über die Haufen der Ermordeten ans der Stadt. So rettete
er sich und die beiden Menschen, die ihm am teuersten waren, aus
dem allgemeinen Untergang. Nach langem Umherirren in fremden
Ländern gewann er sich endlich eine neue Heimat in dem fernen
Italien.
13. Ein rauchender Trümmerhaufen voll verstümmelter Leichen
lag nun da, wo noch am Tage zuvor die reiche, blühende Stadt eines
tapferen und lebenskräftigen Volkes gestanden hatte. Tausende von
wackeren Männern und unschuldigen Kindern, von ehrwürdigen Greisen
und tugendhaften Frauen waren in der Schreckensnacht umgekommen;
als Sklavinnen führte man die vornehmsten Weiber und die schönsten
Jungfrauen auf die Schiffe. Hier erfüllte Stöhnen und Schluchzen
die Luft; über der Stadt weilte Totenstille. Aber die Griechen über-
ließen sich jauchzend der Siegesfreude, und Menelaus erhielt seine
Helena wieder.
Gotthold Klee.
234. Odysseus bei den Phäaken.
1. Am nächsten Morgen führte König Alkinoos seinen Gast auf den
Marktplatz, und beide setzten sich dort nebeneinander aus zwei schön
behauene Steine. Ein Herold des Königs berief die Phäaken zur Ver-
sammlung, und rasch füllte sich der weite Platz mit einer zahlreichen Volks-
menge. Alle schauten neugierig auf den fremden stattlichen Mann an des
Königs Seite. Dann erhob sich Alkinoos und erzählte, wie der edle
Fremdling als Schntzflehender in sein Haus gekommen sei und begehre,
nach seiner Heimat geleitet zu werden. Daher sollten zweiundfünfzig
rüstige Jünglinge ein gut segelndes Schiff ausrüsten und ins Meer ziehen.
Vor der Abfahrt werde er diese alle mit Speise und Trank laben. Die
Fürsten lud er ein, ihn schon jetzt in seinen Palast zu begleiten, wo er
dem Gaste zu Ehren ein Festmahl veranstalten wolle.
Sogleich nach beendeter Versammlung begaben sich die auserlesenen
Jünglinge nach dem Hafen und machten dort das beste Schiff, das sie
fanden, segelfertig. Dann kamen sie znm Mahle in den Palast des Königs.
Dort herrschte in allen Hallen und Höfen ein bewegtes Treiben. Zwölf
Schafe, acht Schweine und zwei fette Rinder ließ Alkinoos schlachten;
damit konnte wohl die Eßlust der vielen Gäste gestillt werden.
2. Als nun alle an den reichlichen und köstlichen Speisen sich ergnickt
hatten, da begann der blinde Sänger Demodokos, den der König hatte
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 24
370
herbeiholen lassen, zur Ergötzung aller von dem Trojanischen Kriege zu
singen und die Taten der berühmten griechischen Helden in begeistertem
Liede zu preisen. Oft wurde von ihm der Name des Odysseus genannt,
und keiner ahnte, daß der vielbewnnderte Mann so nahe sei. Doch merkte
der König, daß der Fremdling bei dem Gesänge das Antlitz in den purpurnen
Falten seines Mantels verhüllte, um seine Tränen zu verbergen, und daß
er manchmal tiefbewegt aufseufzte; er sprach daher zu seinen Gästen: „Ich
meine, das Mahl und der Gesang hat uns jetzt sattsam erfreut. Auf!
laßt uns hinausgehn und Kampsspiele anstellen, damit sich unser Gast auch
daran ergötze und, wenn er heimgekehrt ist, seinen Freunden die Tüchtig-
keit der phäakischen Jünglinge rühme."
3. Sogleich erhoben sich alle und folgten dem Könige wieder nach
dem Marktplatze. Die Fürsten nahmen der Reihe nach ihre steinernen
Sitze ein; um sie her stellte sich das Volk. Alsbald traten Jünglinge in
Menge als Wettkämpfer in den Kreis. Zuerst stritten drei Söhne des
Königs im Lauf, dann kamen die Ringkämpfer, ihnen folgten die Springer,
hierauf wetteiferten die Scheibenwerfer und zuletzt die Faustkämpfer mit-
einander. Auch den Odysseus forderte nun einer der Königssöhne zum
Wettkampf auf. Der Held aber erwiderte: „Verlange nicht solches von
mir, mein Sinn ist nicht auf Kämpfe gerichtet; genug habe ich geduldet
und gelitten, und mein einziger Gedanke ist jetzt die Rückkehr in die
Heimat."
Da rief einer der Jünglinge spottend: „Wahrhaftig, Fremdling, du
siehst auch gar nicht aus wie ein Mann, der aufs Kämpfen sich versteht.
Dn magst wohl ein Kaufmann sein oder Aufseher aus einem Handelsschiff;
ein Kämpfer aber und Held bist du nicht."
„Du sprichst nicht sein, junger Mensch," erwiderte Odysseus mit
finsterm Blick, „war ich doch der Tüchtigsten einer im Wettkampfe, als noch
Jugendkraft meine Glieder durchströmte. Jetzt freilich haben Schlachten
und Stürme mich mürbe gemacht. Doch da du mich mit kränkendem Worte
herausgefordert hast, so will ich es auch so noch versuchen."
llnd er ergriff die schwerste der daliegenden Wurfscheiben und schleuderte
sie, zum Staunen aller, mit solcher Gewalt durch die Luft, daß sie weit hinter
den Zielen der andern niederfiel. „Nun," rief Odysseus aus, „schleudert mir
doch dahin nach, ihr Jünglinge! Oder will es etwa jemand noch mit mir
aufnehmen im Ringen oder im Faustkampf, im Speerwurf oder im Bogen-
schießen: wohlan, er trete heran, ich stehe bereit!"
Aber alle standen stumm; denn keiner getraute sich mehr, mit dem
Helden sich zu messen. Der König Alkinoos aber sprach freundlich zu Odysseus:
„Fremdling, wir glauben dir schon; denn nicht eitlen Sinnes rühmtest du
du dich, sondern nur von gerechtem Unwillen gezwungen, sprachst du von
deiner Stärke und Geschicklichkeit und hast sie vor uns bewiesen. Wenn
371 —
du nun daheim bei deiner Gattin und deinen Kindern sitzest, so gedenke
auch unser in Freundlichkeit. Wir Phäaken suchen nicht Lob im Faust-
kampf oder im Ringen; aber im Wettlauf ragen wir hervor, und auf die
Schiffahrt verstehen wir uns vor allem. Auch lieben wir fröhlichen Schmaus
und Saitenspiel und Tanz, schöne Kleider und warme Bäder. Wohlan
denn, ihr jugendlichen Tänzer, zeigt eure Kunst vor dem werten Gaste! Hole
auch einer dem Demodokos die helltönende Leier aus meinem Hause herbei!"
4. Nun folgten beim Klange der Musik zierliche und kunstreiche
Tänze der Phäakenjünglinge, und der Sänger in der Mitte des Kreises
sang dazu seine heitersten Lieder. Odysseus hörte und sah mit freudiger
Bewunderung zu. „Wahrhaftig," sagte er zu dem Könige Alkinoos, „ich
bin ganz erstaunt; ihr Phäaken habt die besten Tänzer auf dem ganzen
Erdboden." Dieses Lob gesiel dem Könige außerordentlich. „Der Fremd-
ling ist doch ein überaus verständiger Mann," sagte er zu den andern
Phäakenfürsten, „wir alle wollen ihm reiche Geschenke machen, damit er
fröhlichen Herzens mit uns zur Abendmahlzeit gehe."
Alle riefen dem Könige Beifall zu und schickten sogleich Herolde ab,
die Geschenke herbeizuholen. Der kecke Jüngling aber, welcher vorhin den
Odysseus verspottet hatte, überreichte ihm als Pfand der Versöhnung sein
Schwert, an welchem das Heft von Silber war und die Scheide von
glänzendem Elfenbein. „Heil dir, edler Fremdling," sprach er mit ge-
senktem Blicke, „ist mir ein kränkendes Wort gegen dich entfahren, so mögen
es rasch die Winde verwehen! Dir aber mögen die Götter frohe Rückkehr
in die liebe Heimat gewähren, nachdem du so lange in der Fremde Trübsal
erduldet hast." Odysseus dankte dem Jünglinge freundlich und hängte sich
das schmucke Schwert um die Schulter.
Am Abend kehrte Alkinoos mit Odysseus und den Phäakenfürsten in
seinen Palast zurück. Der König bat seine Gemahlin, ein warmes Bad
für den Gast bereiten zu lassen und suchte die köstlichsten Geschenke aus,
die er selbst für ihn bestimmt hatte. Es waren, wie die Gaben, welche
die übrigen Fürsten hatten bringen lassen, goldne Becher und Schalen,
schön gewirkte Mäntel und wollene Leibröcke; die Königin selbst packte
alles in eine schmucke Lade, die Odysseus mit einem künstlichen Knoten
verschloß.
5. Nachdem sich dann der Held durch das Bad erquickt und gesalbt
hatte, ging er wieder nach dem Saale. Da stand an der Tür die hold-
selige Nausikaa, welche er seit seinem Eintritte in die Stadt nicht wieder
gesehen hatte. Die Sitte verbot ihr, unter die jubelnde Schar der Männer
zu treten; doch wollte sie dem lieben Gaste noch ein herzliches Lebewohl
sagen. „Heil dir, edler Fremdling," sprach sie, „gedenke in deiner Heimat
auch manchmal meiner, die zuerst dich hier freundlich empfangen hat!"
Gerührt antwortete Odysseus: „Ja, liebliches Königskind, wenn Zeus es
24*
372
fügt, daß ich nach Hause zurückgelange, so werde ich dort täglich deiner
gedenken und dir, wie einer Göttin, Dank sagen; denn dn bist es, die mir
das Leben gerettet hat.
6. Er trat dann in den Saal, wo schon wieder ein gebratnes Schwein
zerlegt und Wein gemischt wurde. Geschäftig eilten die Diener umher,
um das Fleisch aus die Tische zu verteilen, und aus dem großen Misch-
kruge die Becher zu füllen. Der Herold führte den blinden Sänger an
der Hand nach seinem Sessel an dem Pfeiler inmitten des Saales. Odysseus
schnitt von dem Rücken des Schweins, der ihm als Ehrenteil vorgelegt war,
ein köstliches Stück ab, reichte es dem Herold dar und sprach: „Gib das dem
Demodokos; ich möchte ihm gern etwas Liebes erweisen. Alle Menschen
ehren ja die Sänger, denen die Götter hold sind und die Gabe der süßen
Lieder verliehen haben."
7. Als sich dann alle an dem leckern Mahl erquickt hatten, wandte sich
Odysseus von neuem an den Sänger nnd sprach: „Ich preise dich hoch vor
allen Sterblichen, Demodokos, daß dich Apollo so herrlichen Gesang gelehrt
hat. Was du von den Taten und Leiden der Griechen vor Troja gesungen,
ist so wahr und so genau, als wärst du selbst dabei gewesen. Fahre jetzt
fort und singe die Geschichte von dem hölzernen Rosse, durch welches Odysseus
der Stadt Troja den Untergang bereitete."
Sofort ließ der Sänger sein Lied erschallen, und alle Gäste horchten
voll Bewunderung. Odysseus aber wurde wieder tief bewegt, und der neben
ihm sitzende Alkinoos sah, wie ihm Wimpern und Wangen von Tränen
feucht wurden. „Laß jetzt des Gesanges genug sein," sprach er, „denn er
gereicht dem lieben Gaste, dem ja doch unser Fest gilt, nicht zur Freude."
Und jetzt fragte er den Helden, den er so gastfreundlich aufgenommen und
so köstlich bewirtet hatte, wie er denn heiße, und welchem Lande er
angehöre; „denn siehe nur, edler Fremdling," setzte er freundlich hinzu,
„das müssen wir ja wissen, wenn dich unser Schiff nach deiner Heimat
bringen soll."
8. Odysseus nannte nun seinen Namen und sein Vaterland und erzählte
alles, was er erlebt seit dem Falle Trojas bis zu dem Tage, da er an
der Insel der Phüaken landete. Mit welcher Spannung jedes Ohr an
seinem Munde hing, mit welchem Staunen alle Hörer die Erzählung
seiner wunderbaren Schicksale vernahmen, das läßt sich gar nicht sagen.
Als er geendet, sprach Alkinoos: „Heil dir, teuerster Gast, der die Schwelle
meines Königshauses betreten hat! Deine langen Irrfahrten sind nun zu
Ende, und ohne weitere Gefahr wirst du bald in deine Heimat zurück-
gelangen. Das beste Schiff ist ja für dich ausgerüstet, und unsre Phäaken
verstehn sich auf die Seefahrt. Doch wir wollen dich, bevor du von uns
gehst, noch durch weitere Geschenke ehren. Jeder der zwölf Fürsten wird
den schönen Gewändern und Goldgeräten, die bereits in der schimmernden
373
Lade verwahrt sind, noch einen großen Dreifuß und ein Becken hinzu-
fügen." Alle stimmten dieser Rede zu. Erst spät in der Nacht gingen
die Gäste auseinander.
Am folgenden Morgen brachten die Fürsten selbst die Geschenke ins
Schiff, und Alkinoos stellte alles sorgfältig unter die Ruderbänke. Hierauf
wurde in dem Königspalast dem Zeus noch ein Stier geopfert und ein
Festschmaus gehalten, der bis zum Abend währte.
9. Als das Abschiedsmahl verzehrt war und die Sonne sich zum
Untergänge neigte, sprach Odysseus dem Könige und der Königin und
allen übrigen Fürsten der Phüaken Dank und gute Wünsche aus und eilte
dann nach dem Schiffe, das zur Abfahrt bereit lag. Drei Dienerinnen
der Königin trugen ihm dahin Wein und Speise und weiche Gewänder
nach. Die Schiffer brachten alles an Bord und breiteten wollene Decken
auf dem Verdeck aus zum Lager für den Helden. Dann stieg Odysseus
ein und legte sich schweigend nieder, die Jünglinge aber setzten sich auf
die Ruderbänke und stießen vom Ufer ab. Raschern Laufs, als ein Falke
durch die Luft fliegt, eilte das Schiff über die purpurnen Wogen durch
die Nacht hin, während Odysseus in tiefem Schlafe alle Leiden vergaß,
die er je im Kriegsgetümmel und auf den ungetreuen Meereswellen er-
duldet hatte. I. C. Andrä.
235. Solon und Krösus.
Zu der Zeit, als Tyrus das neue persische Reich begründete, regierte
in Lydien der König Krösus. Eeine Herrschaft erstreckte sich über ganz
Borderasien. Sr war unermeßlich reich und hielt sich deshalb auch für
den glücklichsten Mann von der Welt. Einst kam zu ihm 5olon, ein
Weiser aus Griechenland. Diesem ließ er alle seine Reichtümer und
schätze zeigen und sprach dann mit innigem Zelbstgefallen: „Wohlan,
Eolon, du bist so weit in der Welt herumgereist, hast so viele Menschen
gesehen; nun sage mir doch auch, wen hältst du wohl für den Glück-
lichsten?" — „Tellus, einen Bürger von Athen I" war die Antwort. —
Krösus wunderte sich, daß er einen gemeinen Bürger ihm, dem großen
Könige, vorzöge, und fragte unwillig: „Und warum hältst du den für
den Glücklichsten?" — „Dieser Tellus", antwortete er, „lebte zu Athen,
als die Stabt blühte und glücklich war. Er hatte schone und gute
Kinder, erlebte auch Kindeskinder, und alle blieben ihm am Leben.
Er selbst war brav und in der ganzen Gegend geehrt. Bei genügendem
Auskommen lebte er glücklich und zufrieden und starb hochbejahrt in
einem siegreichen Treffen den Tod für das Vaterland. 5eine Mitbürger
ehrten sein Andenken durch eine Lhrensäule, die sie ihm setzten." —
„Aber wen", fragte Krösus, „hältst du nach diesem für den Glück-
374
lichstcn?" — „Zwei griechische Jünglinge", antwortete Solon, „Rleobis
und Biton. Sie waren Brüder. Beide trugen einst in unseren öffent-
lichen Rampfspielen den j)reis davon. Beide hatten eine innige Liebe
zu ihrer alten Mutter. Lines Tages wollte diese zu einer Festseier
nach dem Tempel fahren; aber ihre Zugochsen kamen nicht zur rechten
Stunde vom Felde. Da spannte sich das Brüderpaar selbst vor den
Magen und zog die alte Mutter zum Tempel. Und als dort das ver-
sammelte Volk bewundernd umherstand, die Männer die Rraft der
Jünglinge erhoben, die Frauen aber die Mutter wegen des Besitzes
solcher Rinder glücklich priesen, wurde die Mutter tief gerührt. Freudig
trat sie mit ihren Söhnen in den Tempel, warf sich dort vor dem
Bilde der Göttin nieder und stehle, sie möchte ihren Rindern geben, was
für sie das beste wäre. Darauf sanken die betenden Zünglinge, von
Ermüdung überwältigt, in tiefen Schlaf und erwachten nicht wieder. Die
Griechen aber setzten ihnen Thrensäulen zum Denkmale ihrer schönen
Tat und ihres schönen Todes".
„M Fremdling!" rief Rröfus unwillig, „achtest du denn mein Glück
so gering, daß du mich nicht einmal mit gemeinen Bürgern in Vergleich
stellst?" Solon antwortete: „O Rröfus! oft ist ein armer Mann weit
glücklicher als ein reicher. Und dann bedenke ich immer, daß das
menschliche Leben wohl siebzig Jahre währt, in einer so langen Zeit
aber vieles sich ändern kann. Du bist jetzt sehr reich und Rönig vieler
Menschen; den Glücklichsten aber kann ich dich nicht eher nennen, als
bis ich höre, daß du dein Leben glücklich vollendet hast. Bei allen
Dingen muß man, o Rönig, auf den Ausgang sehen. Denn manchen,
den die Gottheit erst mit Wohltaten überhäufte, hat sie nachher von
Grund aus vernichtet!"
Rröfus hielt den weisen Solon für sehr unweise, weil er das gegen-
wärtige Glück nicht achte und sogar raten wolle, immer erst das Ende
der Dinge abzuwarten. Er ließ ihn nicht wieder vor sich kommen.
Doch gar bald schon mußte er die Wahrheit der Worte Solons auf
eine traurige Weife an sich selbst erfahren. Tr verlor einen Sohn, der
auf der Zagd umgebracht wurde, und hatte nur noch einen, der leider
taub und stumm war. Noch größeres Unglück aber stand ihm bevor,
als er zum Rampfe gegen den mächtigen Tyrus rüstete.
Tbeodor Bernhard U?etter.
234. Der Heldenkampf der Griechen bei Thermopylä.
1. Die Hellenen hielten auf dem Isthmus Rat, wie und an welchen
Orten sie den Krieg führen sollten. Dabei siegte die Meinung, den
Paß von Thermopylä zu verteidigen; die Flotte aber sollte nach Arte--
375
misiuin fahren. Thermopylä nun ist der Eingang vom malischen Lande
nach Hellas. Gegen Abend liegt ein unzugänglicher, hoher und steiler
Berg, der sich bis zum Öta erstreckt; gegen Morgen reicht Meer und
Sumpf heran. An diesem Passe sind warme Quellen, von den Leuten
des Landes die Kochtöpfe genannt, und dabei ist ein Altar des Herkules
errichtet. Auch eine Mauer hat der Paß, in der vor alters Tore waren.
Diese Mauer aber, die einst die Phozier zum Schutz gegen die Thessalier
gebaut hatten, war schon lange eingefallen. Die Hellenen beschlossen,
sie wieder aufzurichten; denn der ganze Ort schien ihnen wohl gelegen,
da hier die Barbaren weder von ihrer Menge noch von ihrer Reiterei
Gebrauch machen konnten.
2. Xerxes, der König der Perser, zog mit seiner Landmacht durch
Thessalien und lagerte nach drei Tagen nicht weit von Thernwpylä.
Hier erwarteten ihn die Hellenen, die nur einige tausend Mann zähl-
ten. Unter ihnen waren 300 Schwergerüstete aus Sparta, alles Männer
von gereiftem Alter, welche Kinder hatten; sowie 700 Mann aus
Thespiä und 400 aus Theben. Der Oberste des gesamten Heer-
haufens war der Lazedämonier Leonidas, aus dem Stamme des
Herkules.
3. Nun schickte Mrxes einen Reiter aus, um zu erspähen, wie
stark die Hellenen wären ltitb was sie vorhätten; denn er hatte schon
in Thessalien gehört, daß hier ein kleines Heer unter Führung der
Lazedämonier und des Leonidas versammelt wäre. Als der Reiter an
das Lager herankam, bemerkte er die, welche außerhalb vor der Mauer
lagerten. Es hatten aber zu der Zeit gerade die Lazedämonier die
Wache, und er sah, wie einige der Männer Leibesübungen machten,
andere ihr Haar kämmten. Als er das erblickte, verwunderte er sich
und merkte sich ihre Zahl. Nachdem er alles genau beobachtet, ritt
er ungestört zurück; denn niemand verfolgte ihn, vielmehr achtete man
seiner gar nicht. Zurückgekehrt, erklärte er dem Xerxes, was er ge-
sehen.
4. Als Xerxes solches hörte, kam ihm ihr Tun lächerlich vor;
denn er verstand nicht, daß sie sich bereiteten zu sterben, aber ihr Leben
teuer zu verkaufen. Er ließ nun vier Tage vorübergehen; denn er
meinte noch immer, sie würden abziehen. Als sie sich aber nicht
zurückzogen und ihm deutlich wurde, daß sie frech und unklug genug
wären zu bleiben, ergrimmte er und schickte am fünften Tage die
Meder gegen sie mit dem Befehle, sie lebendig zu fangen und vor sein
Angesicht zu bringen. Die Meder stürmten gegen die Hellenen an,
und eine Menge fiel; andere rückten nach, allein sie konnten die
Griechen nicht zum Weichen bringen. Da wurde jedermann und am
meisten dem Könige klar, daß er zwar viele Menschen habe, aber
376
wenig Männer. — Da die Meder stark gelitten hatten, zogen sie sich
zurück: und cm ihrer Statt griff die Abteilung der Perser an, welche
der König die „Unsterblichen" nannte. Sie, meinte er, würden bald
mit den Hellenen fertig werden. Als sie aber mit ihnen handgemein
wurden, richteten sie nicht mehr aus als das medische Heer, weil sie
in einem engen Passe stritten, kürzere Speere als die Hellenen hatten
und dazu t»ou ihrer Menge keinen Gebrauch machen konnten. Die
Lazedämonier aber fochten ruhmeswert und zeigten, daß sie zu kämpfen
verstanden, besonders darin: sie flohen bisweilen allesamt und lockten
die Feinde nach, die mit Getümmel und Schreien ihnen folgten, dann
wandten sie sich plötzlich um und erlegten so eine Menge Perser. Als
nun die Perser weder durch Angriff in Rotten noch durch allgemeinen
Sturmlauf den Paß erstürmen konnten, zogen sie sich zurück. — Wäh-
rend des Angriffs soll der König, der zusah, dreimal von seinem
Sitze aufgesprungen sein aus Besorgnis um sein Heer. Also kämpften
sie an jenem Tage, und auch am folgenden hatten die Barbaren nicht
mehr Glück. Sie griffen in der Hoffnung an, daß die Hellenen bei
ihrer kleinen Anzahl alle verwundet oder erschöpft sein müßten; aber
diese, in Gliedern nach Völkerschaften geordnet, fochten abwechselnd
der Reihe nach. Da es nun die Perser nicht anders fanden als am
Tage vorher, so zogen sie sich zurück.
5. Als nun der König nicht mehr wußte, was zu tun, trat
Ephialtes, ein Malier, vor ihn und verriet ihm in der Hoffnung auf
eine große Belohnung den Fußpfad, der über das Gebirge nach Ther-
mopylä führt, zum Verderben der dort aufgestellten Hellenen. Dem
Lerxes gefiel, was Ephialtes auszurichten versprach, und freudig schickte
er um die Zeit, da man die Leuchten anzündet, einen Heeresteil ab.
Als das Morgenrot aufging, waren sie auf der Höhe des Berges.
Hier standen eintausend schwergerüstete Phozier, um ihr eigenes Land
zu schützen und den Fußpfad zu überwachen. Da der Berg voller
Eiche:: stand, so waren die Perser unbemerkt hinaufgekommen. Es
war aber stilles Wetter, und die Phozier hörten das Rascheln des
Laubes unter den Füßen der Ankommenden, sprangen auf und legten
die Rüstung an. Da waren aber auch die Barbaren schon da, und als
sie die Männer sahen, die sich rüsteten, erstaunten sie; denn sie hatten
gehofft, sie würden nichts von Feinden antreffen, und nun stießen sie
auf einen Heerhaufen. In Besorgnis, daß es Lazedämonier wären,
fragte der Anführer den Ephialtes, was das für Landsleute seien,
und als er es erfahren hatte, stellte er die Perser zum Kampfe auf.
Die Phozier aber, von einem dichten Pfeilregen getroffen, entflöhe::
auf den Gipfel des Berges, und in der Meinung, es sei auf sie ab-
gesehen, rüsteten sie sich zum Todeskampfe. Allein die Perser küm-
377
inerten sich gar nicht mehr um sie, sondern stiegen eiligst den Berg
hinab.
6. Den Hellenen aber in Thermopylä hatte zuerst ein Seher ans
den Opfern vorhergesagt, daß sie am Morgen den Tod finden würden;
sodann kamen noch während der Nacht Überläufer und berichteten,
daß die Perser sie umgingen. Dasselbe meldeten die Späher, die bei
Tagesanbruch von den Höhen herabkamen. Da hielten die Hellenen
Rat, und die Meinungen waren geteilt. Die einen wollten nicht zu-
geben, daß man vom Platze ginge; die anderen waren dafür. So
teilten, sie sich denn: die einen zogen ab und zerstreuten sich in ihre
Städte; die anderen schickten sich an, mit Leonidas am Orte zu bleiben.
Es wird erzählt, daß Leonidas selber jene entlassen habe, um sie zu
erhalten; ihm und den Spartiaten aber, sagte er, zieme es nicht, den
Platz zu verlassen, in den sie zur Verteidigung eingerückt. Die ent-
lassenen Bundesgenossen zogen also ab. Einzig die von Thespiä und
Theben blieben bei den Lazedämoniern; die von Theben blieben wider
ihren Willen uud ungern, indem Leouidas sie als Geiseln festhielt, die
Thespier aber mit freudigem Herzen; sie sagten, sie wollten Leonidas
uud seine Schar nicht verlassen, sondern mit ihnen bleiben und sterben.
7. Terxes aber opferte der aufgehenden Sonne und wartete noch
bis zu der Zeit, wo der Markt voll wird; dann rückte er an. So
hatte es Ephialtes angegeben; denn der Weg den Berg hinunter war
schneller zu machen und zudem kürzer als der um den Berg und
hinauf. Die Hellenen unter Leonidas gingen diesmal viel weiter vor,
bis an die breitere Stelle des Passes, da sie in den Tod zogen. Wäh-
rend der vorigen Tage waren sie nur in dem Engpässe znm Kampfe
hervorgekommen; jetzt aber trafen sie mit den Feinden außerhalb
desselben zusammen. Da fiel eine Menge der Feinde; denn hinter
deren Gliedern standen die Hanptleute mit Geißeln und hieben und
trieben jeden einzelnen. Viele nun stürzten ins Meer und ertranken;
aber noch viel mehr wurden von anderen zertreten. Es wurde nach
keinem gefragt, der zugrunde ging. Die Hellenen aber, die wußten,
daß ihnen der Tod von seiten derer, die den Berg umgingen, gewiß
sei, setzten ihre ganze Kraft gegen die Barbaren ein, und keiner ge-
dachte sich zu schonen. Als der Mehrzahl die Lanzen gebrochen waren,
da hieben sie mit Schwertern auf die Perser ein. Bei diesem Getümmel
siel Leonidas, nachdem er sich als Held bewährt, und mit ihm nam-
hafte Spartiaten. Von den Persern aber fiel eine große Zahl, darunter
zwei Söhne des Darius, Brüder des Mrxes. Um den Leichnam des
Leonidas aber entstand ein gewaltiges Gewühl der Perser und Lazedä-
monier, bis die Hellenen ihn durch ihre Tapferkeit errangen, indem sie
die Feinde viermal in die Flucht jagten.
378
8. So ging es, bis Ephialtes und sein Heerhaufe anlangten. Als
die Hellenen diese ankommen sahen, änderten sie die Kampfesweise. Sie
wichen in die Enge des Weges hinter die Mauern zurück und besetzten
allesanit, mit Ausnahme der von Theben, die Anhöhe, wo jetzt zu
Leonidas' Andenken ein steinerner Löwe steht. Hier wehrten sie sich
mit den Schwertern, die sie noch hatten, und mit der Faust und den
Zähnen, bis die Barbaren, nachdem sie die Mauern durchbrochen, sie
sowohl von vorn als von hinten her umzingelten und unter ihren Ge-
schosseil begruben. So fochten die Lazedämonier und Thespier!
9. Begraben wurden die Kämpfer an der Stelle, wo sie fielen,
und für sie und diejenigen, welche gefallen waren, ehe Leonidas die
anderen Aufgebote entließ, ist ein Stein mit folgender Inschrift er-
richtet:
Mit Myriaden, an Zahl dreihundert, führten den Kampf hier
einst viertausend Mann peloponnesisches Volk.
Den tapferen Spartiaten im besonderen ist folgende Inschrift ge-
widmet :
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkünde dorten, du habest
uns hier liegen gesehn, seinen Gesetzen getreu.
Nach Willmanu.
237. Aus dem Leben Alexanders des Großen.
1. Das Pferd Bucephalus (Stierköpf).
Ein Thessalier, Philonikus, brachte einst ein Pferd zu dem Könige
Philippus von Mazedonien und bot es ihm für die große Summe von
dreizehn Talenten an. Man begab sich aufs freie Feld, um es zu
probieren, fand es aber wild und ganz unbrauchbar, weil es niemand
aufsitzen ließ und sich gegen jeden bäumte, der ihm nahekam. Schon
befahl Philippus, darüber unmutig, das scheue und unbrauchbare Pferd
wieder wegzuführen, als der junge Alexander sagte: „Um welch treff-
liches Pferd bringt man sich da, bloß weil man es aus Mangel an
Mut und Geschicklichkeit nicht zu behandeln weiß." Als er so zu
wiederholten Malen sein Bedauern über den Verlust des Pferdes laut
werden ließ, fragte ihn Philippus, ob er, der älteren Männern Vor-
würfe mache, besser mit einem Pferde umzugehen wüßte als sie. „Mit
diesem wenigstens," versetzte Alexander, „getraue ich mir besser um-
gehen zu können als ein anderer." Philippus erwiderte: „Wenn du
es aber nicht kannst, welcher Strafe willst du dich für keine vorlaute
Keckheit unterwerfen?" — „Beim Zeus, ich will den Preis des Pferdes
bezahlen." Darüber entstand ein großes Gelächter, und nachdem sie
wegen der Summe einig geworden waren, ging Alexander auf das
379
Pferd zu, faßte es beim Zügel und kehrte es gegen die Sonne, ver-
mutlich, weil er bemerkt hatte, daß es vor dem neben ihm nieder-
fallenden, hin- und herschwankenden Schatten scheute. So lief er eine
Weile neben dem Pferde her und streichelte es, solange er es noch
vor Zorn und Ungestüm schnauben sah; dann aber ließ er sachte
seinen Mantel fallen, schwang sich rasch und behende hinauf und setzte
sich im Sattel fest. Anfangs faßte er den Zügel ganz kurz und hielt
das Pferd, ohne es zu schlagen und zu spornen, zurück; wie er aber
merkte, daß es sein wildes Wesen ablegte und nur begierig war zu
laufen, sprengte er mit verhängtem Zügel davon und trieb es jetzt mit
Zuruf und mit den Fersen zum Laufen an. Philippus und seine Be-
gleiter waren zuerst in großer Angst und stumm; aber als er um-
lenfte und voll stolzer Freude zurückkehrte, erhoben alle ein Freuden-
geschrei, uub sein Vater fing vor Freuden an zu weinen, küßte ihn
beim Absteigen und sagte: „Mein Sohn, suche dir ein anderes Reich,
das deiner würdig ist; Mazedonien ist für dich zu klein!" So hat
Alexander das Pferd, auf welchem er Asien eroberte, sich selbst erobert,
während kein anderer es bändigen konnte. Es ließ sich nie von einem
anderen Menschen als von Alexander besteigen, und als es etwa im
dreißigsten Jahre infolge der Strapazen und des Alters am Hydaspes
in Indien gestorben war, gründete er dort zum Andenken an das treue
Tier die Stadt Bucephala.
2. Die Schlacht am Granikus.
Als Alexander von seinen Kundschaftern Nachricht erhielt, daß
die Perser auf denl anderen Ufer des Granikus in Schlachtordnung
ständen, ließ er auch sein Heer schlagfertig anrücken. Sein Feldherr,
der alte Parmenio, trat zu ihm und riet ihm, am Ufer des Flusses
zu lagern; der Feind werde nicht wagen, in ihrer Nähe zu über-
nachten, sondern sich zurückziehen, und so werde das mazedonische Heer
ohne Schwierigkeit den Übergang ausführen, ehe der Feind seine Auf-
stellung vollendet habe; jetzt aber sei der Übergang gefährlich, weil
der Fluß an manchen Stellen tief, die Ufer steil seien und der Feind
über sie herfallen könne; ein Unfall zu Anfang des Krieges aber wäre
sehr nachteilig. Alexander antwortete: „Wohl sehe ich das ein, lieber
Parmenio; aber ich würde mich schämen, nachdem ich ohne Mühe den
Hellespout überschritten habe, wenn jetzt dieser Bach uns abhalten
sollte, sofort überzusetzen. Auch wäre es mit dein Ruhme der Ma-
zedonier und mit meiner Verachtung der Gefahr nicht vereinbar, und
die Perser würden frischen Mut fassen, als könnten sie sich mit den
Mazedoniern messen." Er ordnete daher sein Heer zuni Übergange,
der zugleich eiu Kampf sein sollte. Eine Zeitlang standen beide Heere
380
in banger Erwartung der nächsten Ereignisse ruhig da, und tiefe Stille
herrschte auf beiden Seiten. Endlich warf sich Alexander unter Trom-
petenschmettern und Schlachtruf in die Wellen mit seinen schwer-
bewaffneten Reitern, voran aber zogen die leichten Reiter unter So-
krates und Amyntas. Die mit Vorteil von oben herab streitenden
persischeil Reiter schleuderten teils ihre Geschosse von den höheren
Stellen des Ufers auf sie zu, teils rückten sie ihnen an den niebrigeren
Stellen ins Wasser entgegen; so wurden die ersten Mazedonier durch
die Übermacht der mit Vorteil Kümpfellden zurückgetrieben, und es
wurden trotz der tapfersten Gegenwehr alle niedergehauen, die sich
nicht auf den nachrückenden Alexander zurückzogen. Dieser, ausge-
zeichnet durch seinen Schild sowohl als durch deu Haarbusch des
Helmes, neben welchem zu beiden Seiten eine ungemein große Feder
von blendender Weiße schwankte, so daß er das Ziel feindlicher Schüsse
und Stoße war, griff jetzt die dichteste Masse der Reiter an; ein
furchtbarer Kampf entspann sich um ihn her, und inzwischen kam ohne
Schwierigkeit eine Abteilung der übrigen Mazedonier um die andere
durch den Fluß. Es war eine Reiterschlacht, sah aber vielmehr aus
wie ein Kampf des Fußvolks; denn Roß gegen Roß und Mann gegen
Mann kämpften hier die Mazedonier, um die Perser vom Ufer zu
vertreiben, dort die Perser, um die Mazedonier nicht ans Land zu
lassen und in den Fluß zurückzuwerfen. Alexanders Speer zerbrach;
der Korinthier Demaratus von seiner Leibschar gab ihm den seinigen.
Mit diesem sprengte er gegen den Spithridates, den Schwiegersohn des
Darius, vor und warf ihn durch einen Stoß ins Gesicht vom Pferde;
der Perser Rösaces rannte auf ihn los und hieb ihm mit seinem
krummen Säbel nach dem Kopfe, schlug ihm aber nur ein Stück vom
Helm ab; dafür durchbohrte ihm Alexander die Brust mit der Lanze.
Spithridates hatte von hinten das Schwert gegen Alexander auf-
gehoben, aber Klitus kam ihm zuvor und trennte dem Perser mit
einenl Hiebe den Arm samt dem Säbel vom Leibe. Die Mazedonier
hatten neben der größeren Kraft und Übung den Vorteil der Stoß-
lanzen gegen die Wurflanzen der Perser, und so wurden die letzteren
auf dem Punkte, wo Alexander selbst kämpfte, zuerst zurückgetrieben,
und da dies der Mittelpunkt war, wichen bald auch die Reiter auf
den Flügeln, und die Flucht wurde allgemein. Ungefähr tausend per-
sische Reiter fielen; verfolgt aber wurden sie nicht stark, weil Alexander
sich gegen die Söldner wandte und sie zugleich mit der Phalanx und
den Reitern von allen Seiten angriff. Er selbst drang mit solchem
Ungestüm unter sie ein, daß ihm sein Pferd, aber nicht der Bucephalus,
getütet ward. So in die Mitte genommen, wurden sie in kurzer Zeit
niedergehauen; kein Mann entkam als die, die sich unter den Leichen
381
verbargen; gefangen wurden zweitausend. Die Mazedonier verloren
fünfundzwanzig Mann von den Edelscharen, deren metallene Stand-
bilder, von Lysippus gefertigt, zu Dium aufgestellt wurden, und neun-
zig andere Krieger, deren Hinterbliebene Alexander großmütig be-
schenkte. Nach Athen sandte er dreihundert vollständige persische
Rüstungen als ein Weihgeschenk für die Pallas Athene, mit der In-
schrift: „Alexander, des Philippus Sohn, und die Griechen mit Aus-
nahme der Lazedämonier von den Barbaren in Asien." Seiner Mutter
Olympias schickte er eine Menge goldener Becher, Purpurkleider und
andere solche von den Persern erbeutete Kostbarkeiten.
3. Alexander und sein Arzt Philippus.
In der Stadt Tarsus erkrankte Alexander gefährlich, entweder
infolge der ausgestandenen Mühseligkeiten oder weil er, noch ganz
erhitzt, sich in den: jene Stadt durchfließenden Kydnus gebadet hatte,
welcher, im Taurusgebirge entspringend, einen sehr reinen Grund und
sehr kaltes, helles Wasser hat. Der König wurde von Krämpfen, ge-
waltiger Hitze und anhaltender Schlaflosigkeit befallen. Keiner der
Ärzte getraute sich, die Heilung zu übernehmen; überzeugt, daß jedes
Heilmittel erfolglos bleiben würde, fürchteten sie im Falle eines schlim-
men Ausgangs die Vorwürfe und Beschuldigungen der Mazedonier.
Endlich entschloß sich der Akarnanier Philippus, teils im Vertrauen
auf seine Freundschaft, teils weil er sich's zur Schande rechnete, wenn
er nicht mit seinem Könige die Gefahr teilen und selbst mit Hintan-
setzung seines Lebens das Äußerste versuchen wollte, für ihn ein
Arzneimittel zu bereiten, und beredete ihn, es ohne Bedenken zu nehmen,
wenn ihm daran gelegen sei, zur Fortsetzung des Krieges bald wieder
zu Kräften zu kommen. Inzwischen schickte Parmenio dem Könige aus
dem Lager einen Brief und warnte ihn, dem Philippus zu trauen,
weil er von Darius durch große Schätze und das Versprechen einer
Vernlühlung mit dessen Tochter bestochen sei, den Alexander aus dem
Wege zu räumen. Alexander legte den Brief, nachdem er ihn gelesen
hatte, unter sein Hauptpolster, ohne ihn einem seiner Freunde zu
zeigen. Als Philippus eintrat und die Arznei in einem Becher brachte,
gab ihm Alexander den Brief zu lesen, nahm aber den Becher aus
seinen Händen und trank ihn aus, während jener las. Dann sahen
beide einander an; Alexander gab durch eine heitere, zuversichtliche
Miene deni Philippus sein volles Vertrauen und seine Huld zu er-
kennen; dieser aber entsetzte sich über die gegen ihn erhobene Beschuldi-
gung, rief, die Hände gen Himmel gestreckt, die Götter zu Zeugen
seiner Unschuld an, legte sich über das Lager des Königs und beschwor
ihn, getrost zu sein und sich ganz auf ihn zu verlassen. Die Arznei
382
wirkte anfänglich mit großer Heftigkeit aus den Körper, so daß der
Kranke Bewußtsein und Sprache verlor und nur noch sehr schwache
Zeichen des Lebens von sich gab. Bald aber zeigten sich wohltätige
Wirkungen; der König wurde wieder hergestellt und erschien, sobald es
ihm seine Kräfte erlaubten, wieder unter den Mazedoniern, welche nicht
eher von ihrer Mutlosigkeit sich erholten, als bis sie den Alexander
selbst gesehen hatten.
Nach Gustav Pfizer.
238. Die Sage yon der Gründung Roms.
1. Nach seines Vaters Tode wurde Numitor König von Latium;
seinem Bruder Amulius aber fielen reiche Güter und Schätze zu.
Amulius aber war mit seinem Erbteil nicht zufrieden; er begehrte,
obwohl er der jüngere war, den obersten Platz im Lande: den
Königsthron. Und mit seinem Gelde gewann er sich die Herzen
vieler tapferer Männer, überwand mit deren Hilfe seinen Bruder
und raubte ihm die Herrschergewalt, schonte jedoch seines Lebens
und überließ ihm ein kleines Stück Landgebiet, wo er mit seinen
Hirten und Herden nach Gefallen schalten und walten konnte. Nun
war Amulius zwar König und hatte die höchste Macht in seinen
Händen, aber der Bösewicht fürchtete die Bache der Kinder Numi-
tors, und er ließ den unschuldigen Sohn seines Bruders auf der Jagd
töten, die Tochter Rhea Silvia aber machte er zur Priesterin der
Vesta, damit sie niemals die Gemahlin eines Mannes werden könne.
Jetzt erst fühlte der Tyrann sich sicher auf seinem Throne, denn
nun stand sein Bruder Numitor einsam und verlassen da, wie ein
Baum im Wüstensande, dem ein Sturmwind Aste und Zweige abge-
schlagen hat.
2. Doch die hohen Götter schlafen nicht; vor ihren Augen
blieben auch die Missetaten des Amulius nicht verborgen, und die
Schuld sollte eines Tages gerächt werden. Zu Rhea Silvia, der
priesterlichen Tochter Numitors, gesellte sich der Kriegsgott Mars;
sie ward sein Weib, und die Götter schenkten ihr zwei Söhne:
Romulus und Benins. — Mit Zorn und Schrecken vernahm König
Amulius die Botschaft, und er gab alsbald Befehl, die junge Mutter
in Ketten zu legen, ihre Kinder aber in den Fluten des Tiber zu
ertränken.
8. Als die königlichen Diener mit den Zwillingen, die sie in
einer Mulde trugen, zur Stadt hinauskamen, siehe, da hatte der Strom
seine Ufer weithin überschwemmt, und sie konnten nicht an das
Flußbett herankommen. In dem Glauben, die Kinder würden in der
Wildnis gewiß umkommen, auch wenn sie nicht in den Strom ge-
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worfen würden, setzten die Knechte das schlafende Brüderpaar in
der plumpen Holzwiege im seichten Wasser aus und gingen von
dannen. Durch göttliche Fügung aber verlief sich bald die Flut,
und die Mulde stand auf trockenem Erdboden. Da lagen nun die
Königskinder, von allen Menschen verlassen, in der Wildnis, und als
sie aus dem Schlummer erwachten, trieb der Hunger sie an, kläglich
zu wimmern und zu schreien. Das hörte eine Wölfin, die in der
Öde umherstrich, und das Raubtier trottete herzu, sah die hilflosen
Kleinen und — verschlang sie nicht, sondern erbarmte sich ihrer
Not und bot ihnen kräftige Wolfsmilch zur Nahrung dar. Den
hungrigen Kindern mundete das Getränk wie Nektar und Ambrosia;
sie tranken sich satt, schliefen eine gute Weile und riefen dann
wieder durch klägliches Geschrei ihre rauhe Amme aus dem nahen
Walde herbei.
4. Nun geschah es, daß Faustulus, einer der Hirten Numitors,
von ungefähr in die Gegend kam und das Treiben der Wölfin be-
obachtete. Als das Tier sich wieder in den Wald zurückbegeben
hatte, eilte er herbei, sah die Kindlein in der Mulde und staunte
nicht wenig ob dem Wunder, das hier geschehen. Ihm war vor
wenigen Tagen sein einziges Söhnlein gestorben, hier aber lagen vor
ihm zwei hilflose Knäblein — sollte er das nicht als einen Wink
vom Himmel ansehen, diese Kinder zu sich zu nehmen? Und der
wackere Mann besann sich nicht lange; er hob die hölzerne Wiege
auf, schlug seinen Mantel darüber und eilte mit seinem Funde nach
Hause, um den Schatz seiner Frau Acca Laurentia zu übergeben. Mit
Freuden nahm die ihres Kindes beraubte Mutter die Zwillinge in
Empfang und pflegte sie in Liebe und Treue.
5. So wuchsen die Königskinder in der Strohhütte des Hirten
zu schönen, kräftigen Knaben heran, und jedermann hielt sie für
die Kinder des Faustulus, denn dieser hatte sein Geheimnis wohl
bewahrt. Er wie sein Weib blickte mit Stolz und Freude auf die
Zwillinge, die nicht gemeinen Wesens und Ansehens waren und in
den Spielen mit ihren Altersgenossen alle anderen besiegten. Größer
geworden, streiften sie mit Wurfspieß, Bogen und Pfeilen durch die
Wälder und brachten, ihrer Mutter zur Freude, manche leckere
Beute nach Hause. Und nicht bloß die wilden Tiere bekämpften sie,
sondern fielen auch über die Straßenräuber her, jagten ihnen ihre
Beute ab und verteilten diese unter die Hirten. Dadurch aber zogen
die tapferen Brüder sich die Feindschaft aller Wegelagerer zu, und
diese Gesellen sannen auf Rache.
6. Einstmals, als das junge Hirtenvolk dem Gotte der Fluren,
Pan, zu Ehren auf dem grünen Anger festliche Spiele beging, wurde
384
es von jener Räuberbande, die sich in einem Hinterhalt auf die
Lauer gelegt hatte, überfallen, und es entspann sich ein heftiger
Kampf. Remus wurde gefangen genommen, vor den König Amulius
geschleppt und angeklagt, daß er unschuldige Wanderer überfalle und
beraube. Als sich im Verhör aber herausstellte, daß der Gefangene
zu den Hirten Numitors gehöre, sandte ihn der König zur Bestrafung
an seinen Bruder.
7. Bis dahin hatte Faustulus sein Geheimnis treu behütet, jetzt
aber trieb ihn die Angst um Remus an, es zu verraten. Er begab
sich zu Numitor, seinem Herrn, teilte ihm die Herkunft der Zwillinge
mit und sprach auch die Vermutung aus, seine Pflegesöhne möchten
wohl 'königlichen Stammes sein, da sie gleichen Alters mit den
Kindern der Vastalin Rhea Silvia seien, die der grausame Amulius
hatte aussetzen lassen. Mit Verwunderung vernahm Numitor die
Kunde, musterte mit scharfen Blicken die Jünglinge, fand sie schöner,
stolzer und edler als die Söhne der Hirten und konnte nicht zweifeln,
daß Romulus und Remus seine Enkel seien. Hier war ein Wunder
geschehen: die Götter hatten die unschuldigen Kinder behütet und
mochten die stolzen Jünglinge wohl zu großen Geschicken aus-
erkoren haben.
8. Die Zwillinge warfen einen unerbittlichen Haß auf den Mann,
der ihre Mutter in Ketten gelegt und sie hatte umbringen lassen
wollen; sie beschlossen, den grausamen Tyrannen vom Throne zu
stoßen und ihren Großvater in seine Rechte wieder einzusetzen. Tn
der Stille sammelten sie eine Schar tapferer Hirten um sich, brachen
mit ihren Getreuen in den Königspalast ein, überwältigten die Diener
und erschlugen im Kampfe auch den Tyrannen Amulius. Als das
geschehen war, riefen sie Numitor zum Könige aus, und das ganze
Volk Latiums begrüßte seinen rechtmäßigen Herrn mit jubelnder
Freude.
9. Aus Dankbarkeit übergab König Numitor seinen Enkeln das
Land am unteren Tiberstrom, wo sie als hilflose Kindlein ausgesetzt
worden waren. Und die Brüder sammelten eine Schar getreuer
Männer um sich, zogen mit ihnen in ihren Besitz, wo am Flusse die
sieben Hügel sich erhoben, und beschlossen, dort eine Stadt zu bauen,
die an Größe und Macht alle anderen Städte in Italien überragen
sollte.
10. Beide Brüder aber waren herrschsüchtig, und jeder hegte
in seinem Herzen das Begehren, die künftige Stadt nach seinem
Namen zu heißen und sie zu beherrschen. Darüber entstand ein
heftiger Streit, keiner wollte nachgeben, jeder der oberste sein. End-
lich einigten sie sich dahin, daß die Götter selbst durch den Vogel-
385
flug die Streitfrage entscheiden sollten. Darum begab sich jeder
auf eine Schauhöhe: Romulus auf den Palatin, Remus auf den
Aventinus. Auf den Gipfeln der Hügel ließen sie sich nieder, und
jeder beschrieb nach der Weise der Vogels!ugdeuter mit einem
Krummstabe die Linien von Ost nach West und von Nord nach
Süd. Mit gespannten Blicken spähten sie mit ihren Getreuen gen
Himmel — wem werden die Götter die glückbringenden Vögel zu-
erst senden? Da plötzlich erscholl ein Jauchzen auf dem Gipfel des
Aventin: Remus hatte gesiegt, sechs Geier kamen von Osten heran-
geflogen. Im selben Augenblicke aber erblickte Romulus zwölf
Geier über seinem Haupte, und er und seine Getreuen erhoben eben-
falls ein lautes Siegesgeschrei. Wer von beiden war nun der aus-
erwählte der Götter? Darüber entbrannte ein heißer Streit, zuerst
in Worten, bald aber mit Fäusten und Waffen, und Remus wurde
im Kampfe erschlagen.
11. Jetzt war Romulus Alleinherrscher, und alsbald fing er an,
auf dem palatinischen Hügel die Stadt zu bauen. Um Ansiedler
heranzulocken, schuf Romulus in der Ebene nach dem kapitolinischen
Berge eine große Freistätte für alle, die keine Heimat hatten und
in der neuen Stadt Landbesitz und Bürgerrecht erwerben wollten.
Da strömten viele Männer aus Latium und den benachbarten
Königreichen herzu und siedelten sich in Rom an.
Gustav Schalk.
239. Der Kampf der Horatier und Curiatier.
1. Der dritte König in Rom war Tullns Hostilius. Unter ihm
brach die Eifersucht, die bisher zwischen den Städten Alba und Nom
geherrscht hatte, in einen Krieg aus. Das Waffenglück sollte ent-
scheiden, ob Alba über Rom, oder Rom über Alba herrschen würde.
Der albanische Feldherr Mettius Fufetius brach mit seinem wohl-
gerüsteten Heere auf und bezog ein verschanztes Lager unweit Rom.
Tullns rückte ihm kühn entgegen und stellte sein Heer gegen die
Albaner in Schlachtordnung. Eben sollte das blutige Treffen be-
ginnen, als Mettius in die Mitte der beiden Schlachtreihen trat und
den Tullus zu einer Unterredung einlud. „Wir können es uns nicht
verbergen," sprach er bei der Zusammenkunft, „daß bloß Eifersucht
die beiden benachbarten und verwandten Völker gegeneinander auf den
Kampfplatz führte. Warum wollen wir uns einander selbst entkräften,
und beide geschwächt in die Hände unserer Feinde fallen? Benutzen
wir lieber ein Mittel, durch welches ohne großen Verlust an Blut
und Menschen entschieden werden kann, welches Volk dem anderen in
Ka PP eh u. Koch. Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 25
386
Zukunft unterworfen sein soll." Dem Tullns gefiel der Vorschlag,
und der Zufall bot selbst ein Mittel der Entscheidung.
2. Im römischen Heere dienten gerade Drillingsbrüder, Horatier
genannt, und ebenso im albanischen, die Curiatier. — Diese wurden
von beiden Seiten zu einem Zweikampf auserlesen. Man fragte sie,
ob sie den Kampf für die Herrschaft ihrer Völker ausfechten wollten;
und freudig boten sie sich hierzu an.
3. Nachdem der Vertrag feierlich beschworen war, griffen die drei
Brüder beiderseitig zu den Waffen. Unter steten Ermunterungen und
Ermahnungen ihrer Mitbürger traten sie zwischen beide Heere in die
Mitte. Hier standen die Römer, dort die Albaner vor ihrem Lager
aufgestellt, voll bauger Erwartung über den Ausgang des nahen
Kampfes, der sie in wenigen Augenblicken zur Herrschaft oder zur
Sklaverei führte. — Das Zeichen wird gegeben! Da stürzen beider-
seits die Jünglinge wie Schlachtreihen aufeinander los, und der Kampf
beginnt. Es blitzen, es klirren die Schwerter durcheinander. Schauder-
durchfahrt die Zuschauer. Plötzlich stürzt ein Römer und über ihn
noch ein Römer sterbend hin. Ein Freudengeschrei erschallt bei ihrenr
Falle aus dem albanischen Lager, während die Römer voll Bestürzung
keine Hoffnung mehr zu fassen wagen. Aber schwer verwundet sind
alle drei Albaner; der eine noch übrige Römer aber ist unverwundet
und frisch an Kraft und Mut. Der nimmt plötzlich scheinbar die
Flucht und lockt die anderen, ihn zu verfolgen. So trennt er listig
die dreifache Gewalt, wohl voraussehend, daß sie ihm nur so folgen
werden, wie es jedem seine schwächende Wunde zuläßt. Nach kurzer
Flucht bleibt er stehen und blickt sich um. Da sieht er seine drei
Gegner weit voneinander getrennt und einen schon nahe hinter sich.
Auf diesen rannte er mit großem Ungestüm zurück. Und während das
albanische Heer den Curiatiern zuruft, ihrem Bruder beizuspringen,
hat der Horatier ihn schon erlegt und stürmt auf den zweiten los.
Unter tausendstimmigem Zuruf der hoffnungschöpfenden Römer gibt
der Horatier auch diesem den Todesstoß. Und als er endlich auch den
dritten Albaner, der schwer verwundet und fast atemlos herankeucht,
niederbohrt, da erheben sich unter lautem Jubel die Römer und drängen
sich um ihren Sieger, ihm Glück zu wünschen.
Theodor Bernhard Wetter.
240. Horatius Cocles.
l. Der letzte römische König, Tarquinius, war zwar von Rom zurück-
gewichen, aber die Hoffnung, sein Königreich wieder zu erobern, gab er
noch nicht auf. Einer der mächtigsten und tapfersten Fürsten in Etrurien
387
War Porsenna, König von Clusium. Zu diesem großen Kriegsmanne begab
sich Tarquinius mit seinen Söhnen und bat und beschwor den Helden, ihm
seinen Thron wiedererobern zu helfen. Porsenna ließ sich endlich bewegen
und rüstete sein Heer zum Streite wider Rom.
Ob dieser Kunde befiel ein Schrecken die Römer, erscholl doch Porsennas
Kriegsruhm weithin über alle Grenzen Italiens. Von allen Seiten strömte
das Landvolk mit seinem Vieh und seiner Habe in die Stadt hinein.
Mauern, Türme und Tore wurden besetzt; auch auf die kleine Festung
auf dem Berge Janiculus jenseits des Tiber wurde eine starke Besatzung
gelegt und ebenso die hölzerne Brücke, welche über den Strom dorthin
führte, mit einer wehrhaften Kohorte besetzt.
2. Nicht lange, da erschien das feindliche Heer im Gebiete Roms.
Mit Sturm nahm Porsenna die Feste auf dem Janiculus und ließ als-
dann seine Tapfern gegen die Tiberbrücke vorgehen. Sie kamen mit solchem
Ungestüm vom Berge herunter, daß der Besatzung auf der Brücke der Mut
entfiel und fast die ganze Schar die Flucht ergriff. Nur einer war da,
dessen Herz keine Furcht kannte, das war Horatius Cocles. Dieser Tapfre
sprang den Fliehenden in den Weg, hielt sie mit Hilfe seines quer vor-
gestreckten Speeres auf und beschwor die Zagenden mit eindringlichen
Worten, in größter Eile die Brücke abzubrechen, er allein wolle die Feinde
so lange aufhalten, bis das Zerstörungswerk vollbracht sein werde. Die
feurigen Worte des tapfern Jünglings belebten den Mut der furchtsamen
Schar; kräftige Fäuste griffen zu Äxten und Brechstangen und hieben auf
die Pfosten, Balken und Dielen der Brücke ein. Die Arbeit schützte
Horatius Cocles mit zwei edeln Jünglingen, die die Scham getrieben hatte,
zurückzukehren und sich dem Tapfern an die Seite zu stellen.
3. Gegen den Andrang von Tausenden stand Horatius wie ein fester
Turm vorn am Brückenkopf und schlug jeden zu Boden, der ihn anzu-
greifen wagte. Bald war sein Schild dicht mit Pfeilen gespickt, doch wußte
er sich so geschickt zu decken, daß kein einziges Geschoß ihn traf. Aus
seinen Augen sprühten Flammen, und wer von den vordringenden Feinden
sein grimmes Antlitz erblickte, prallte schreckergriffen weit vor ihm zurück.
Hinter den drei Tapfern krachten unter schweren Axthieben Balken und
Bretter. Das Zerstörungswerk schritt rasch vorwärts, und als ein flüchtiger
Rückblick den Horatius belehrte, daß die Arbeit bald getan sei, gebot er
seinen beiden Kameraden, sich zu flüchten. Er allein hielt wacker stand
und trotzte heldenmütig allen Angriffen, bis lautes Jubelgeschrei und ein
Donuerkrachen hinter seinem Rücken ihm verkündigten, daß das Werk voll-
endet sei.
4. Da wandte sich plötzlich blitzschnell der gewaltige Mann, befahl
sein Leben dem Flußgott Tiberinus und sprang in voller Waffenrüstung
von der Höhe in den Strom hinab, daß die Fluten hoch aufrauschten
25*
388
nnb wirbelnd über ihn zusammenschlugen. Bald aber kam der Tapfere
wieder gum Vorschein, teilte mit kräftigen Armen die Wogen und schwamm
unter einem Hagel feindlicher Geschosse dem rettenden Ufer zu, wo ihn
die Freunde mit donnerndem Jubelschall begrüßten und im Triumph in
die Stadt geleiteten.
5. Die Tapferkeit dieses einzigen Mannes hatte dem Siegeslauf Por-
sennas Halt geboten und Rom vor dem Eindringen der Feinde gerettet.
Nach dem Kriege errichtete die dankbare Stadt ihrem großen Sohne ein
Standbild auf dem Waffenplatz und schenkte ihm so viel Land, wie er an
einem Tage mit dem Pfluge umkreisen konnte. Gustav Schalk.
241. Älueiu« Scäyola
1. Porsenna schritt nun zur Belagerung Roms und zog von der
See Schiffe herbei, uni der Stadt die Zufuhr an Lebensmitteln ab-
zuschneiden. Seine Absicht gelang ihm so gut, daß die Belagerten
bald drückenden Mangel litten und Getreide und Brot auch für die
höchsten Preise kaum noch zu erlangen waren. Eine düstre, schier
hoffnungslose Stimmung bemächtigte sich des darbenden Volkes, und
der Tag der Übergabe an den mächtigen Feind rückte immer näher
heran.
Diesen Zustand vermochte ein junger adliger Römer, namens Cajus
Mucius, nicht zu ertragen, und er entschloß sich aus Liebe zu seiner
unglücklichen Vaterstadt zu einer unerhörten Tat: In das feindliche
Lager wollte er sich schleichen und König Porsenna töten.
2. Gedacht, getan. In etruskischer Kleidung, den scharf ge-
schliffnen Dolch unter dem Mantel verborgen, begab sich der Ver-
messene nächtlicherweile aus der Stadt, setzte über den Strom, wartete
bis zum Morgen und mischte sich alsdann unauffällig unter die etrus-
kischen Krieger. Es gelang ihm auch, ohne Verdacht zu erregen, bis
in die Nähe des königlichen Zeltes vorzudringen. Dort sah er zwei
prächtig gekleidete Männer auf Stühlen sitzen, von welchen der eine
den Soldaten den Sold auszahlte. Welcher von beiden aber war der
König? — Mucius vermochte es nicht herauszufinden, scheute sich
auch, jemand zu fragen; denn wie leicht hätte er sich verraten können!
3. Da stellte er dem Schicksal seine Führung anheim, trat rasch
herzu, zog den Dolch und stieß die Waffe dem Manne, welcher den
Sold auszahlte, tief in das Herz hinein. Der tödlich Getroffnc war
aber nicht der König, sondern sein Schreiber. Rasch sprang der Misse-
täter nun durch den schreckensstarren Haufen der Krieger und suchte
zu entkommen; allein er wurde ergriffen und vor den König geführt.
Da stand er vor den Stufen des königlichen Sitzes ohne Furcht und
389
Zagen, als hätte er nicht ein todwürdiges Verbrechen, sondern eine
lobenswerte, rühmliche Tat vollbracht. Auf Porsennas strenge Frage
antwortete er stolz: „Ich bin ein römischer Bürger und heiße Cajus
Mucius. Als Feind habe ich einen Feind getötet und blicke ruhig
dem Tod ins Auge. Einen Römer kennzeichnen große Taten und große
Leiden; mein schwerstes Leid ist, daß meine Hand den König ver-
fehlt hat. Doch bleibt mir der Trost: Auf mich folgt eine lange
Reihe gleichgesinnter römischer Jünglinge, und einer von ihnen wird
sicher vollbringen, was mir nicht vergönnt gewesen. Kein Heer,
keine Schlacht hast du zu fürchten, doch zittre vor dem Dolch
eines Einzelnen!“
4. Porsenna fuhr zornentbrannt von seinem Sitz empor und be-
fahl, Feuer um den Vermessenen anzulegen und ihn lebendig zu ver-
brennen, wofern er nicht Namen und Plan der Verschwornen ver-
riete. Ruhig erwiderte Mucius: „Sieh her, wie wenig deine Drohung
einen Römer schreckt!“ Damit streckte er den Arm aus, legte die
rechte Hand in das lodernde Feuer eines Opferbeckens und ließ sie,
ohne einen Wehlaut auszustoßen, langsam verbrennen.
5. Außer sich über die furchtbare Grausamkeit, sprang der König
herzu, riß den Schrecklichen vom Feuer hinweg und rief erschüttert:
„Gehe hin, Unbesiegbarer! Leben und Freiheit seien dir geschenkt;
denn wahrlich, du hast grausamer an dir selbst gehandelt als an
mir und an meinem Schreiber! Des Kriegsrechts ledig, entlasse ich
dich ungestraft und würde dir ein „Glück auf!“ zurufen, stündest
du mit deiner unvergleichlichen Tapferkeit im Dienste meines Vater-
landes!“
Mucius erwiderte: „Ich sehe, daß Porsenna Mut und Tapferkeit
wohl zu schätzen weiß; darum will ich dem großmütigen Feinde offen-
baren, was ich dem drohenden verweigerte, höre! Dreihundert edle
Jünglinge in Rom haben sich verschworen, dich zu töten. Mich traf
zuerst das Los; die andern werden folgen und nicht rasten, bis dein
Herzblut die römische Erde färbt. Bedenke dein Heil, König Porsenna,
deine Tage sind gezählt!“
6. So sprach Mucius und kehrte unangefochten nach Rom zu-
rück. Man gab ihm den Ehrennamen Scävola (Linkhand), und er
genoß in seiner Vaterstadt nicht minderer Ehren als der tapfre
Brückenverteidiger Horatius Codes. Auf Porsenna hatten Tat und
Worte des übermenschlich starken Jünglings einen tiefen Eindruck
gemacht; Sorge und Furcht beschlichen sein Herz; der römische
Boden brannte ihm unter den Füßen wie glühend Feuer, und er
beschloß, Rom den Frieden anzubieten.
Gustav Schalk.
390
242. Cajus Marcius Coriolanus.
1. Der größte Feldherr Roms zur Zeit des Menenius Agrippa war
der junge Cajus Marcius. Er hatte mit unvergleichlicher Tapferkeit
die volskische Stadt Corioli erobert und erhielt dafür den Ehrennamen
Coriolanus. Als Kriegsmann der größte seiner Zeit, war Marcius
auch zugleich der stolzeste Patrizier Roms und der Plebejer grimmigster Feind.
2. Kurz nach einem siegreichen Kriege wurde Nom durch eine schwere
Hungersnot heimgesucht. Der Senat ließ in den Nachbarstädten viel
Getreide aufkaufen, um das Volk vor dem Verderben zu bewahren; selbst
aus dem fernen Sizilien langte Zufuhr an, und die meisten Senatoren
waren der vernünftigen Meinung, man müsse dem darbenden Volke das
notwendige Brot umsonst oder doch für einen ganz geringen Preis über-
lassen. Diesem Vorschlage widersprach auf das heftigste der stolze Corio-
lanus. „Die Plebejer, dieses Lumpengesindel," rief der hochfahrende Mann
wegwerfend und grimmig, „haben durch ihren Ausgang auf dem heiligen
Berg uns Patriziern drückende Zugeständnisse abgetrotzt; wir haben ihnen
die Volksanwülte (Tribunen) bewilligen müssen, die die Macht der Kon-
suln und des Senats in den wichtigsten Angelegenheiten einschränken und
lahmlegen können. Dieser Zustand ist des römischen Adels uwürdig und
mir ein Dorn im Auge. Jetzt ist die Zeit gekommen, da wir uns der
lästigen plebejischen Aufpasser und unwürdigen Würdenträger entledigen
können. Das Volk hungert, unsere Kornspeicher sind gefüllt; nun wohlan:
wir geben ihm Brot, und es opfert uns seine Tribunen, das sei die
Losung! Pocht es aber trotzig auf sein erschlichenes Recht, nun denn, so
mag es mit seinen Tribunen verhungern!"
3. Als diese grausame Rede des stolzen Patriziers im Volke bekannt
wurde, geriet die Menge in die größte Wut. Coriolanus wurde durch
die Tribunen vor das Volksgericht gefordert, wo er sich öffentlich
verantworten und sein Urteil empfangen sollte. Der trotzige Mann stellte
sich, leistete aber nicht Abbitte, wie man von ihm verlangte, sondern goß
durch verletzende Geringschätzung und heftige Schmähungen der Plebejer
nur noch mehr Öl in das lodernde Feuer der Empörung. Die wütende
Menge wollte ihren Erzfeind auf den tarpejischen Felsen schleppen und
ihn dort herunterstürzen; das Urteil der Tribunen aber lautete auf lebens-
längliche Verbannung aus Rom und dem römischen Gebiet. Nur mit
Mühe vermochten seine Freunde den Verfemten vor den Angriffen der
wilden Menge zu decken. Coriolanus, der ruhmreichste Bürger Roms,
ging in die Verbannung, aber sein trotziges Herz dürstete nach Rache
wider seine Feinde.
4. Der Besieger und Zwingherr der Volsker hatte den Mut, sich
frank und frei in das durch seine Faust niedergeworfene Land zu begeben
391
und seinen ehemaligen Gegner, den Feldherrn Attius Tullins in der Stadt
Antium, um Gastfreundschaft anzusprechen. Mit hohen Ehren wurde der
große Verbannte aufgenommen, und nun ging der römische Löwe unan-
gefochten mitten unter den grimmigsten Feinden seines Vaterlandes umher.
Es gelang ihm bald, die Volsker zum Kriege wider Rom aufzustacheln.
Ihm selbst wurde die oberste Führung des Heeres anvertraut, und nun
zog er aus, siel in das römische Gebiet ein, eroberte einen Ort nach dem
andern und vernichtete überall mit Feuer und Schwert die Ansiedelungen
und Saaten der Plebejer, die Güter der Patrizier hingegen ließ er
unangefochten. Das Ziel seiner Kriegsfahrt war das stolze Rom,
die Stadt, die ihn schnöde ausgestoßen; jetzt sollte sie für den Frevel
schrecklich büßen! Nahe vor der Stadt bezog er mit seinem Heere ein
festes Lager.
5. Rom schwebte in größter Gefahr; noch niemals hatte ein so furcht-
barer Feind vor seinen Mauern gestanden, und alle Quiriten, vom ersten
Konsul bis zum letzten Plebejer waren köpf- und ratlos vor Bestürzung
und Angst. Denn wer wollte sich erkühnen, mit dem Löwen Corwlanus
den Kampf aufzunehmen! Der Mann allein wog ein ganzes Kriegsheer
auf, und nun standen hinter ihm, von seinem Heldenodem beseelt, die
tapfern volskischen Legionen! Nein, ein bewaffneter Widerstand war aus-
sichtslos, ein solcher würde die Stadt nur ihrem sicheren Verderben preis-
geben; man mußte auf andere Mittel sinnen, dem gewaltigen Manne das
Schwert aus der Hand zu winden. Er war doch ein Römer, ein Sohn
der von ihm bedrohten Stadt; in ihren Mauern atmeten seine Freunde,
seine Mutter, sein Weib und seine Kinder — sollte denn sein Herz so
ganz zu Stein erhärtet sein, daß er kalten Blutes seine Teuersten ver-
nichten könne, um seinen Rachedurst zu stillen?
6. Eine Abordnung angesehener Patrizier, die dem Coriolanus einst
innig befreundet gewesen, begab sich in das feindliche Lager, richtete aber
bei dem furchtbar trotzigen Manne gar nichts aus und kehrte nieder-
geschlagen und hoffnungslos in die Stadt zurück. Ebenso erging es den
Auserwählten der römischen Priesterschaft. Coriolanus empsing die frommen
Männer zwar mit Ehrerbietung, wie es ihr Amt erheischte, schlug ihnen
aber ihre Bitten kurzweg ab und entließ sie ohne die geringsten Zugeständ-
nisse. Nun beschlossen die vornehmsten Patrizierfrauen, an ihrer Spitze
die Mutter und die Gemahlin des Coriolanus, in das feindliche Lager zu
gehen und den harten Mann um Gnade für seine unglückliche Vaterstadt
zu bitten. Volumnia, seine Gemahlin, nahm auch ihre beiden Knaben
mit, in der Hoffnung, wenn nichts anderes, so möchte doch wohl der
Anblick seiner geliebten Kinder das Vaterherz rühren.
7. Als Coriolanus die römischen Matronen im Lager erblickte, war
er wohl betroffen, aber sogleich nahm sein Antlitz einen ehernen Ausdruck
392
an, und kurz und kalt wollte er die Frauen abweisen. Plötzlich aber siel
sein Auge auf das bleiche Angesicht seiner Mutter, und in seinen Zügen
schmolz alle Härte und Strenge wie Märzenschnee in der Sonne. Mit
ausgebreiteten Armen trat er rasch herzu, um die geliebte Frau Veturia
an sein Herz zu drücken. Aber die edle Römerin wehrte ihm und sprach
traurig: „Blicke mich und diese hier an, mein Sohn, und unser Aussehen
wird dir bezeugen, was wir gelitten haben um deinetwillen! Und jetzt,
da wir einander nach langer, schmerzlicher Trennung wiedersehen, sollten
doch unsere Herzen springen und unsere Augen überströmen vor Freude:
allein wir müssen trauern und weinen, da wir den Mann sehen, der sein
eigenes Vaterland zerfleischt, wie ein grimmiger Löwe sein wehrloses Opfer.
Eins aber sage ich dir, und du merk es im Herzen, mein Sohn: Nicht
anders wirst du als Sieger in Rom einziehen, als über den Leichnam
deiner Mutter." „Und über den deines Weibes!" fiel Volumnia, seine
schöne junge Frau, herbe ein. Da rief mit drohender Stimme sein Knabe
Marcius keck und kühn: „Mich soll er nicht treten, Mutter; ich laufe fort,
und bin ich erst größer, dann will ich fechten."
8. Coriolanus kämpfte in seiner Seele einen schweren Kampf, viel
schwerer als jemals in einer heißen Männerschlacht. Sein erschüttertes
Herz neigte sich zum Erbarmen; aber durfte er den Volskern die ge-
schworene Treue brechen? Nein, nimmermehr durfte das geschehen! Mit
heftiger Bewegung wollte er sich wegwenden; doch seine Mutter kam ihm
zuvor, sank vor ihm auf die Knie nieder und sprach zu ihm mit flehend
erhobenen Händen: „Geh nicht so fort, mein Sohn, geh nicht! Ich weiß
wohl, was in deiner Seele vorgeht: Du schrickst davor zurück, den Volskern
die Treue zu brechen, aber müßte denn das geschehen, wenn du Rom
verschontest? Könntest du nicht beide Völker miteinander versöhnen und
den Feindseligkeiten für immer ein Ende machen? Das wäre fürwahr
die größte deiner Taten! Eroberst du aber Nom und vernichtest du die
Stadt — was wird dann dein Ruhm sein? — Die Nachwelt wird von
dir sagen: Coriolan war wohl ein großer, edeldenkender Mann, allein
seine letzte Tat, die Zerstörung seiner Vaterstadt, hat all das Große, was
er vollbracht, ausgelöscht, und sein Name ist den Menschen für alle Zu-
kunft zum Abscheu geworden. Ja, wahrlich, mein Sohn, so wird die
Nachwelt über dich urteilen! — Und was ist die Triebfeder deines Hasses
gegen Rom? — Verletzter Stolz, ich weiß es wohl! Aber meinst du,
es sei edel, eine Beleidigung blutig zu rächen? Große Seelen verzeihen
und vergessen. O Marcius, mein einzig geliebter Sohn, vergib auch du
deiner unglücklichen Vaterstadt und schone ihrer! Siehe, hier knien wir
zu deinen Füßen: deine Mutter, dein treues Weib, deine unschuldigen
Kinder und Roms edelste Matronen — willst du uns ohne das süße
Wort der Gnade von dir ziehen lassen? O, tue das nicht, mein Sohn!
393
Gedenke all der Liebe deiner Mutter und brich ihr nicht das Herz, indem
du Rom. unser aller Mutter, vernichtest!"
9. Ties erschüttert neigte sich Coriolanus herab, hob Veturia an sein
Herz, küßte sie und sprach: „Mutter, Rom hast du gerettet, aber deinen
Sohn für immer verloren!" Darauf küßte er auch voll inniger Zärtlich-
keit sein Weib und seine Kinder, begrüßte die römischen Matronen, und
verabschiedete die edeln Frauen mit der Versicherung, daß Rom verschont
bleiben solle.
Auf diese Freudenbotschaft wurden die zurückkehrenden Römerinnen
an den Toren der Stadt mit Jubel empfangen und von dem beglückten
Volke im Triumph in ihre Häuser geleitet. Coriolanus hielt Wort, er
führte das Heer von dannen, und der Krieg hatte ein Ende.
Rom hat seinen großen Sohn nicht wiedergesehen. In der volskischen
Stadt Antium soll Casus Marcius erschlagen worden sein; andere be-
richten, er habe dort bis in das späteste Alter gelebt und in seinen letzten
Jahren oft geklagt: Für einen Greis sei doch die Verbannung noch viel
bitterer als für den jüngeren Mann. Gustav Schalk.
243. Hannibals Übergang über die Alpen.
1. Auf der Grenzscheide Italiens und Galliens ragt in furcht-
barer Höhe das Alpengebirge empor, gleichsam eine unübersteigbare
Mauer zwischen beiden Ländern. Auf seinen steilen Höhen starrt alles
von Schnee und Eis, kein gebahnter Weg führte im Altertume über
das öde Hochgebirge. Nun sollte hierüber zum erstenmal ein ganzes
Heer setzen, Menschen, Pferde, Elefanten, Wagen und Gepäck, und
das in der rauhen Herbstzeit, wo alles um so schrecklicher war, zumal
für die an die Glutsonne Afrikas und Spaniens gewöhnten Krieger.
Betroffen stand das Heer vor den Alpen. Nur Hannibal zagte nicht.
Er versammelte seine Soldaten und hielt an sie eine kräftige, er-
ninnternde Rede, die allen Unmut entfernte.
2. Getrost fingen sie an, mit ihm hinanzuklettern. Aber kaum
waren sie etwas höher gekommen, da begann Mühsal und Elend. Sie
konnten auf den glatten Eismassen keinen festen Fuß fassen; bald glitt
der eine, bald der andere aus und stürzte jählings hinunter. Bald
meinen sie auf festen Boden zu treten; aber siehe, es ist nur leichter
Schnee, oben über einem Felsenspalt zusammengefroren, unten den
Abgrund, in den die Unglücklichen stürzen. Dann fällt ein Elefant,
dann rollt ein Wagen zurück und reißt alles hinter sich ins Verderben.
Dazu brechen die wilden Bergbewohner aus den Schluchten und Höhlen
hervor und überfallen die müden Kletternden. Verzweiflung sah man:
auf allen Gesichtern. Hannibal sprach überall seinen Soldaten Mut
394
ein: „Bald haben wir die Spitze erreicht; bergunter wird es besser
gehen!" Nach tausend Mühseligkeiten hatten sie endlich diese erreicht
und standen oben ans der Höhe des kleinen St. Bernhard. Hier in
diesen luftigen Schneegefilden ließ er seine ausgehungerten und fast
erstarrten Soldaten ausruhen.
3. Dann begann das Heer frischeren Mutes und getrost hinab-
zusteigen. Aber die Schwierigkeiten hierbei waren fast noch größer.
Jeder Tritt war unsicher, ja lebensgefährlich; Menschen und Tiere
stürzten in die gähnenden Klüfte. Jeden Augenblick sah man neues
Unglück. Mit übermenschlicher Anstrengung mußten Hindernisse aus
dem Wege geräumt, Felsen gesprengt werden. Endlich, nach Verlauf
von fünfzehn schrecklichen Tagen, hatten die erschöpften Krieger die
Ebene Oberitaliens erreicht.
Wie erschrak Hannibal, als er sein Heer musterte! Die Spätste
war umgekommen. Nur noch etwa 26000 Mann und wenige Elefanten
hatte er bei sich. Und mit diesem Heere, das seinem tapferen Feld-
herrn treu ergeben war, gewann Hannibal einen Sieg nach dem
anderen; und bald sollte selbst das stolze Rom vor dem Sieger zittern.
Theodor Bernhard Welter.
1. Die erste bekannte Tierhetze fand in Rom im Jahre 186 v. Chr.
statt. Seitdem wurde dieses Schauspiel, das während der Republik
meist im großen Zirkus stattfand, häufig und mit immer größerer
Pracht veranstaltet. Die Tiere wurden teils nur gezeigt, teils gehetzt
und erlegt, indem man sie abwechselnd miteinander und mit Menschen
kämpfen ließ. Die Tierkümpfer waren nicht bloß verurteilte Verbrecher
und Kriegsgefangene, sondern auch gemietete und geworbene Leute.
2. Die Schauspiele während des letzten Jahrhunderts der römischen
Republik lassen erkennen, daß die römische Macht bereits bis in die
äußersten Fernen der Erde reichte, daß ihr nichts mehr unmöglich
war. In den dreizehn Jahren von 58 bis 46 v. Chr. folgten drei
Schauspiele von beispielloser Pracht auseinander, in welchen dem Volke
Tiere vorgeführt wurden, deren Namen bis dahin kaum nach Rom ge-
drungen und deren Fang mit den ungeheuersten Schwierigkeiten ver-
knüpft war: die Ungeheuer des Nil, Krokodil und Flußpferd, das
Rhinozeros, eine weder vorher noch nachher gesehene afrikanische Affen-
art, und der Luchs aus Gallien, endlich die Giraffe. Die seltensten
und kostbarsten Tiere sind später in Rom zu wiederholten Malen und
in größerer Anzahl gezeigt, selbst getötet worden. Der Kaiser Com-
modus erlegte eigenhändig an einem Tage fünf Nilpferde, und an
verschiedenen anderen Tagen zwei Elefanten, eine Giraffe und einige
395
Nashörner. Auch den Tiger, dessen Fang man lange für unmöglich
gehalten hatte, sah man in Rom schon im Jahre 11 v. Chr. und
später nicht selten, wild und gezähmt. ^7
3. Am meisten erstaunt man jedoch über die große Anzahl der
Tiere von einer Gattung sowohl, wie auch über die Gesamtmenge der
verschiedenen, die bei einzelnen großen Schauspielen in Rom zu-
sammengebracht sein sollen. Wenn die uns überlieferten Zahlen un-
glaublich klingen, so ist nicht zu vergessen, daß gerade die Gattungen
der großen Tiere innerhalb zweier Jahrtausende eine starke, schwer
zu bemessende Abnahme erlitten haben. — Bei den von Pompejns
veranstalteten Spielen sah man angeblich 18 Elefanten, 500 bis 600
Löwen und 400 andere reißende afrikanische Bestien, und Cäsar ließ
den Römern auf einmal 100 Löwen und 40 Elefanten vorführen.
Daß 500 Bären, 100 und selbst 200, ja 300 Löwen und ebensoviel
andere afrikanische Tiere gezeigt oder gehetzt wurden — solche An-
gaben sind bei den Geschichtschreibern der Kaiserzeit nicht selten. Nach
dem eigenen Bericht des Augustus, der „an der unzähligen Menge
und unbekannten Gestalt der Tiere" besondere Freude hatte, wurden
in den von ihm gegebenen 26 Schauspielen an afrikanischen Tieren
allein ungefähr 3500 getötet; im Jahre 5 n. Chr. ließ dieser Kaiser
Tierhetzen aufführen, bei denen auch 36 Krokodile in dem unter Wasser
gesetzten Zirkus erlegt wurden. Bei dem hunderttägigen Fest, welches
Titus zur Einweihung des Flavischen Amphitheaters im Jahre 80
veranstaltete, sollen an einem Tage 5000 wilde Tiere aller Art ge-
zeigt, im ganzen 9000 zahme und wilde getötet worden sein; bei
den Festen des Kaisers Trajan sogar 11000. Mit den Tieren, die
damals in Rom zu einem einzigen großen Fest zusammengebracht
waren, könnte man alsp gegenwärtig alle zoologischen Gärten Europas
reichlich versorgen,
Um die zu den Schauspielen nötigen Tiere in der erforderlichen
Anzahl herbeizuschaffen, bedurfte es zahlloser Jäger, die Jahr für
Jahr in allen Zonen Gefahren der furchtbarsten Art zu bestehen hatten.
Damit ein einziges großes Fest mit der Pracht gefeiert werden könnte,
an die man in Rom gewöhnt war, richtete der Hindu seinen zahmen
Elefanten zur Jagd der wilden ab, stellten die Bewohner der Rheinnfer
Netze um das sumpfige Rohrdickicht, in dem der Eber hauste, jagten die
Mauren auf ausdauernden Wüstenpferden den Strauß in immer engeren
Kreisen und lauerten in den grauenvollen Einöden des Atlas bei ihren
Fanggruben auf den Löwen. Waren diese gefährlichen Jagden von glück-
lichen Erfolgen gekrönt, so verlangte die Sorge für die Fortschaffung
der erbeuteten Tiere eine neue Tätigkeit. Dann klang die Axt, knirschte
die Säge des Zimmermanns, rauchte die Esse des Schmiedes, und
396
bald ließen die furchtbaren Gefangenen ihre Wut an den Gitterstäben
ihrer Käfige aus.
5. Erstaunlich war die ungeheure Menge der im Amphitheater
gezeigten gezähmten und abgerichteten Tiere; erstaunlich aber waren
auch die Leistungen der Tierbändiger. Sie schienen es sich zur Aufgabe
gemacht zu haben, die Tiere gerade zu dem abzurichten, was ihrer
Natur am meisten zuwider war. Wilde Stiere ließen Knaben auf
sich tanzen, standen auf den Hinterfüßen, zeigten zugleich mit Pferden
ihre Kunststücke im Wasser und blieben auf schnellfahrenden Zwei-
gespannen als „Wagenlenker" unbeweglich. Hirsche lernten dem Zügel
gehorchen, Parder im Joch gehen, Kraniche beschrieben im Laufen
Kreise und bekämpften sich gegenseitig. Friedliche Antilopen rannten
mit den Hörnern gegeneinander, bis eine oder beide tot auf dem
Platze blieben. Löwen wurden bis zum äußersten Grade hündischen
Gehorsams gebracht; man sah sie in der Arena Hasen fangen, unver-
sehrt in den Zähnen halten, loslassen und wieder fangen. Elefanten
ließen sich auf den Wink ihrer schwarzen Lehrmeister auf die Knie
nieder, führten Tänze aus, zu denen einer von ihnen die Zimbeln
schlug, lagen zu Tisch, trugen je vier einen fünften in der Sänfte,
gingen auf dem Seil und schrieben Lateinisch.
6. Mit den Kunststücken gezähmter Tiere wechselten die Kämpfe
der aufeinandergehetzten wilden ab; das Rhinozeros kämpfte mit dem
Elefanten, dem Bären, dem Stier, der Elefant mit dem Stier usw.
Die natürliche Wildheit der Tiere wurde durch scharfe Reizmittel ge-
steigert. Man trieb sie mit Peitschenknall an, verwundete sie mit
Stacheln und Bränden, warf ihnen mit Lappen behängte Strohpuppen
vor, die sie wütend in die Luft schleuderten, fesselte sie, je zwei, an
langen Seilen zusammen, und das Volk jauchzte vor Entzücken, wenn
sie, rasend gemacht, einander zerfleischten. Sodann traten im römi-
scher: Amphitheater geübte und gutbewaffnete Jäger auf, die mit
Hunden von bewährter Rasse einzeln oder in Menge den wilden Bestien
standzuhalten vermochten. Ihre Hunde wurden zu den Tierhetzen eigens
dressiert; durch den Kampf mit ihnen ermüdet, erlagen selbst Löwe
und Panther, Bär und Auerochs.
7. Endlich gehörten zu den Schauspielen der Amphitheater auch
die Vollstreckungen entsetzlicher Todesurteile. Menschen, teils an Pfühle
gebunden und völlig wehrlos, teils zur Verlängerung ihrer Qual mit
Waffen versehen, wurden den wilden Bestien überliefert. Verbrecher,
die zum Tode verurteilt waren, und häufig auch Kriegsgefangene,
wurden oft massenweise für den grausenerregenden Kampf mit den
wilden Tieren in der Arena bestimmt und hingeopfert.
Nach Ludwig Friedländer.
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245. Odin und Frigga.
1. Odin ist der vornehmste und höchste aller Äsen; er ist der
Vater der Götter und Menschen. Wenn er auszieht zum Streite
mit den Helden Walhallas, so deckt ein Goldhelm sein Haupt, die
Brust schirmt ein blanker Panzer, zur Seite hängt das kostbare
Schwert, und in der Hand führt er Gungnir, den herrlichen Spieß.
Allein nicht immer erscheint er in so glänzender Rüstung. Oftmals
trägt er einen blauen Mantel, mit goldenen Sternen besät, und auf
dem Kopfe einen breiten Hut. Lang ist das Haar seines Hauptes,
und der Bart wallt tief herab auf die Brust. Nur ein Auge hat
der hohe Äse; dieses aber ist groß und schön, und sprühende Lichter
brechen daraus hervor. Das andere Auge hat er dem Riesen Mim er
zum Pfande geben müssen, da dieser ihm einen Trunk aus seinem
weisheitsvollen Brunnen verstattete.
2. Sitzt er zu Tische mit den Helden Walhallas, so liegen die
Wölfe Geri und Freki zu seinen Füßen. Ihnen gibt er das Fleisch,
welches ihm vorgelegt wird; denn er bedarf keiner Speise; Met und
Wein sind seine Nahrung. Hugin und Munin, zwei nachtschwarze
Raben, sitzen auf seinen Schultern. Jeden Morgen erheben sie sich
und fliegen aus in die weite Welt, und mittags kehren sie wieder
und flüstern dem Weltenvater alles in die Ohren, was sie auf weitem
Fluge gehört und gesehen haben.
3. Sleipnir heißt Odins Roß. Es ist grau von Farbe und hat
acht Füße und läuft so schnell wie der Wind. Durch wehende
Lüfte, über Wasser und Land trägt es seinen Herrn mit gleicher
Windesschnelle, darum darf man wohl sagen, daß Sleipnir das beste
und edelste aller Rosse ist.
4. Odin ist der Gott des Krieges und Lenker der Schlachten.
Das Klirren der Schwerter und der Schilde Gekrach: das ist Musik
für sein Ohr. Wo Kriegsmannen scharfe Schwerthiebe tauschen, da
weilt er gern, und große Helden sind seine liebsten Gesellen. Ihnen
wendet er Glück zu im Kampfe und verleiht an sie seinen Spieß
Gungnir, welcher nimmer das Ziel fehlt. — Doch ist Odin auch der
Gott der Dichtkunst und hoher Weisheit.
5. Die Gemahlin des Weltenvaters heißt Frigga: sie ist von
großer Schönheit und teilt mit Odin den Thron, von welchem sie
alle Welten überschauen können. Gustav Schalk.
246. Walhalla.
1. Der größte Saal in Odins Haus heißt Walhalla. Er hat 540
Türen und ist von großer Pracht und Herrlichkeit. Säulen und Pforten
398
sind von purem Golde, und an den Wänden hangen glänzende Waffen
aller Art. Da sitzen in langen Reihen die Einherier und reden von
Kampf und Sieg und Ruhmeskränzen. Wunderschöne Jungfrauen, die
Walküren, reichen ihnen die Trmkhörner, gefüllt mit schäumendem Met.
Unzählbar sind die Scharen der Männer, die in Walhalla sitzen, und
jeder von ihnen ist ein Kriegsmann, der auf dem Kampfplatze gefallen ist.
Wenn Krieg auflodert, so sendet Odin feine Schildmädchen, die Walküren,
auf das Schlachtfeld. Auf wiehernden Rossen reiten sie durch die Luft;
von ihren Helmen und Panzern geht heller Lichtschein aus, und Sonnen-
strahlen brechen aus ihren Speeren und Schilden. Wo ein tapferer
Streiter gefallen ist, da sprengen sie herzu, heben ihn aufs Roß und
reiten mit ihm über die Himmelsbrücke gen Walhalla.
2. Große Helden empfängt Odin selbst an der Pforte Walhallas
und geleitet sie in den Saal. Dann erheben sich die Einherier von ihren
Sitzen und neigen sich ehrerbietig vor den hohen Gestalten. Odin führt
feinen Gast auf den Ehrenplatz und nötigt ihn, niederzusitzen. Die schönsten
Schildmädchen eilen herbei und setzen duftenden Braten auf die Tafel
und reichen in Goldhörnern den Met. So köstlicher Bewirtung erfreuen
sich die Einherier alle Tage. Jeden Morgen wird ein großer wilder Eber
auf der Jagd erlegt, und an seinem Fleische erlaben sich die Helden;
abends aber läuft der Eber wieder heil und lebendig in den Wald zurück.
Den Met liefert die Ziege Heidrun. Jeden Morgen wird ein so großes
Faß gefüllt, daß alle Helden Walhallas vollauf zu trinken haben. Auch
Odin trinkt mit ihnen, das Fleisch aber gibt er seinen Wölfen, Geri
und Freki; denn keiner Speise bedarf der hohe Äse; er lebt von Wein
und Met.
3. Schön ist das Leben der Einherier in Walhalla. Morgens in
der Früh kräht Goldenkamm, der Hahn, und weckt die Schläfer. Da
erheben sich die Helden vom Lager, legen Helme und Panzer an, um-
gürten sich mit guten Schwertern und satteln die stampfenden Rosse.
Drauf sprengt der Troß aus Walhallas Pforte und reitet auf den Kampf-
platz. Hier beginnt ein fröhliches Streiten. Aus der Ferne schon hört
man Rossegewieher und lauten Anruf und Eifengeklirr. Da wogen die
Reiter wild durcheinander, Speere sausen durch die Luft, es fallen wuchtige
Schwerthiebe, Schilde krachen wider einander, und Feuersunken stieben
aus Helmen und Brünnen. Manch gutes Roß wird da über den Haufen
gerannt, und ruhmvolle Helden sinken in den Sand. Und Odin sprengt
heran auf feinem Schimmel. Der Goldhelm deckt sein Haupt, und Brust
und Leib schirmt die strahlende Brünne. Jauchzender Zuruf begrüßt den
hohen Äsen, und die Helden neigen vor ihm die Speere. Odin freut sich
des Kampfes und ehrt die Streiter durch huldvolle Worte. Hat der
Kampf geendet, so reiten die Helden friedlich nebeneinander heim, und
399
feiner gedenkt weiter der Hiebe, die er von dem andern bekommen. Schon
steht in Walhalla das köstliche Mahl bereit, und die Schildmädchen öffnen
den heimkehrenden Helden die Pforten. Speere und Schilde werden an
die Wand gehängt; die tapfern Mannen setzen sich zu Tische und langen
durstig nach den blinkenden Trinkhörnern, die liebliche Jungfrauen ihnen
reichen. Gustav Schalk.
247. Baldur.
1. Viele hohe und herrliche Gestalten wandeln in Walhalla und über
die Menschenerde; allein, wer dürfte sich an Schönheit mit Baldur ver-
gleichen! Lieblich ist das Licht seiner Angen, und in seinem Angesichte
wohnt zaubervolle Anmut. Hoheit und göttliche Huld leuchten auf seiner
Stirn.
2. Baldur ist der Gott des Lichtes, der holden Sommertage, der
Milde und Güte. Im ewigen Sonnenlichte steht sein Haus Breideblick;
ringsumher ist Himmels friede, und nie vernimmt hier das Ohr rauhes
Scheltwort oder Schwerthieb und schlimmes Eisenklirren. Götter und
Menschenkinder haben ihn lieb, und den Worten seines Mundes lauschen
die hohen Äsen mit Wohlgefallen. Sinnvolle Weisheit künden seine Lippen,
und seine Zunge spricht immer zum Frieden.
3. Doch sinstere Mächte ruhen nimmer. Sie sinnen und trachten,
Göttern und Menschenkindern zu schaden. Auch Baldur sollte von ihrer
Tücke nicht verschont bleiben. Schlimme Träume störten seinen Schlummer
und kündeten Unheil seinem huldvollen Leben. Die Äsen befiel Bestürzung
und Sorge. Odin aber sprach: „Mein Rat ist, alle Geschöpfe, lebendige
und leblose hierher zu entbieten und Eide von ihnen zu nehmen, daß sie
meinem Sohn Baldur nicht schaden wollen." Dieser Vorschlag deuchte
allen der beste, und Odin sandte seine Boten in die Welt, den Wesen
seinen Willen zu künden. Da kamen Menschen und Tiere und Feuer
und Wasser, Eisen und Erze, Steine und Erden, Bäume und Sträucher,
Gifte und Krankheiten; und Frigga nahm heilige Eide von ihnen, daß sie
Baldur verschonen wollten.
4. Nun kehrte wieder Freude in Asgard ein, und die Äsen gingen
zu fröhlichen Gelagen und tranken aus goldenen Schalen den würzigen
Met. Auf weitem Plane standen sie und kurzweilten mit Baldur.
Einige schossen auf ihn mit Pfeilen, andere schleuderten Steine nach seinem
Haupt, und noch andere hieben mit scharfen Schwertern auf ihn ein.
Froh wie ein Kind stand Baldur im Kreise und achtete gar nicht des
Angriffs; denn es konnte ihm ja kein Leid geschehen; alle Dinge hatten
geschworen, seiner zu schonen. Da kam Loki vorüber, und finsterer In-
grimm stieg in seiner boshaften Seele auf, da er sah, daß der gute Äse
trotz aller Streiche unverletzt blieb. Er nahm die Gestalt eines alten
400
Bettelweibes an, ging heimlich zu Baldurs Mutter Frigga und fragte
lauernden Blickes: „Möge Baldur sich noch lange des Lebens freuen!
Aber bist du auch sicher, daß alle Dinge in der Welt geschworen haben?"
„Alle, außer der Mistel, die östlich von Walhall wächst; das schwache
Pflänzchen kann meinem Sohne auch so nicht schaden," meinte Frigga.
Das schlimme Wort war gesprochen; boshafte Freude zuckte über das
runzelvolle Gesicht der Bettlerin, und sie sagte: „Nun will ich weit wandern,
beschwerliche Wege; möge es der Himmelskönigin stets so nach Wunsch
ergehen, wie jetzt mit ihrem Sohne Baldur."
5. Draußen nahm der falsche Loki sogleich seine eigene Gestalt wieder
an und eilte auf das Feld östlich von Walhalla. Hier wuchs die Mistel;
und er brach einen Zweig ab, spitzte ihn zu einem Pfeil und ging damit
zu den Göttern, die noch immer mit Baldur Kurzweil trieben. Abseits
stand Hödur, der blinde Äse; der beteiligte sich nicht an dem Spiel der
andern. Loki trat zu ihm und sprach: „Seltsam dünkt es mich, daß du
der einzige bist, der dem Baldur die Ehre versagt, aus ihn zu schleudern."
Der Blinde antwortete: „Nicht darfst du mich darum schelten, Loki; du
weißt, ich kann nicht sehen und habe auch keine Waffen." Da gab ihm
Loki den Mistelzweig und führte ihm die Hand zum sicher treffenden
Wurfe. Hödur schleuderte den Pfeil und traf Baldur damit ins Herz,
so daß er augenblicklich tot zu Boden stürzte.
6. Sprachlos und starr vor Schrecken standen die Äsen. Aus jedem
Antlitz war die Lust gewichen, und mit verstörten Mienen blickten sie
nieder auf den Toten; daun aber erhoben sie ein lautes Wehgeschrei um
den lichten Baldur. Loki machte sich eiligst von dannen; aber er hat für
seine Freveltaten schreckliche Qualen erleiden müssen.
Gustav Schalk.
248. Drusus Tod.
1. Drusus ließ in Deutschlands Forsten
goldue Nömeradler horsten;
an den heil'gen Göttereichen
klang die Axt mit freveln Streichen.
2. Siegend fuhr er durch die Lande,
stand schon an der Elbe Strande,
wollt' hinüber jetzt verwegen,
als ein Weib ihm trat entgegen.
3. Übermenschlich von Gebärde,
drohte sie dem Sohn der Erde:
„Kühner, den der Ehrgeiz blendet,
schnell zur Flucht den Fuß gewendet!
401
4. Jene Marken unsrer Gauen
sind dir nicht vergönnt zu schauen;
stehst am Markstein deines Lebens;
deine Siege sind vergebens!
5. Säumt der Deutsche gerne lange,
nimmer beugt er sich dem Zwange;
schlummernd mag er wohl sich strecken;
schläft er, wird ein Gott ihn wecken."
6. Drusus, da sie so gesprochen,
eilends ist er aufgebrochen;
aus den Schauern deutscher Haine
führt er schnell das Heer zum Rheine.
7. Vor den Angen sieht er's flirren,
deutsche Waffen hört er klirren,
sausen hört er die Geschosse,
stürzt zu Boden mit dem Rosse.
8. Hat den Schenkel arg zerschlagen,
starb den Tod nach dreißig Tagen.
Also wird Gott alle fällen,
die nach Deutschlands Freiheit stellen.
Karl Simrock.
249. Armin und die Römersclilacht.
1. Unter der Regierung des ersten römischen Kaisers Augustus
machten die Römer große Anstrengungen, Deutschland zu erobern.
Mehrere Kriegszüge hatten sie schon unternommen, und die Gegenden
zwischen der Weser und dem Rhein waren ihnen dem Anscheine
nach gänzlich unterworfen. Varus, der gegen das Jahr 9 nach
Christi Geburt in Deutschland den Oberbefehl führte, hielt schon
auf römische Weise Gericht in den deutschen Gauen, und, was die
Deutschen am meisten auf brachte, er ließ nach römischer Sitte die
Beile mit den Rutenbündeln vor sich hertragen, die ein Zeichen
seines Rechtes über Leben und Tod und körperliche Züchtigung
sein sollten. Eine Züchtigung aber mit Schlägen wäre dem freien
deutschen Manne die entsetzlichste Beschimpfung gewesen, und das
Recht über sein Leben räumte er keinem Menschen, sondern allein
der Gottheit ein.
2. Dennoch wurde der Unwille lange Zeit nicht laut, und Varus
Kavv etz u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 26
402
hielt die Herrschaft der Römer in Deutschland für gegründet. Aber
so dachte Armin, ein edler deutscher Mann vom Volke der Cherusker,
nicht. Das Joch eines fremden Volkes schien ihm so unerträglich,
daß es unter jeder Bedingung abgeschüttelt werden müsse. Armin,
auch Hermann genannt, war eines cheruskischen Fürsten Sohn, von
fürstlicher Gesinnung und an Gestalt und Tapferkeit ein wahrer
Held. Er war als Knabe nach Rom gekommen und hatte die Römer
mit ihrer Staats- und Kriegskunst sowie mit allen ihren Fehlern
genau kennen gelernt. Sein Haß gegen das verdorbene Volk, welches
sich anmaßen wollte, freie Menschen zu Knechten zu machen, wurde
unauslöschlich. Er kehrte zu seinem Volke zurück, begeisterte mit
seiner Rede die übrigen deutschen Fürsten und Anführer und trat
an die Spitze des cheruskischen Bundes, um den verhaßten Feinden
den Untergang zu bereiten. Varus merkte in seinem selbstgefälligen
Hochmute nichts. Um ihn von seinen guten Lagerplätzen weg in
gefährliche Gegenden zu locken, mußte ein entferntes Volk einen
Aufstand erregen. Varus brach gegen dasselbe auf. Die verbün-
deten Fürsten entfernten sich, zogen ihre schon bereitgehaltenen
Haufen zusammen, verabredeten den Angriff, und als die Römer
mitten in den Wildnissen des Teutoburger Waldes waren — das war
ein großer Wald in der Gegend nach der Weser zu, von Paderborn
über Detmold nach Herford und Minden hin — da brachen die
Deutschen von allen Seiten auf sie los.
3. Die Römer dachten an keinen Angriff; ohne Ordnung, mit
vielem Gepäck, sogar mit einem Haufen von Frauen nnd Kindern
zogen sie in dem rauhen Waldgebirge daher; der Sturmwind brauste
in den hohen Gipfeln der Eichen, und der Boden war vom vielen
Regen ganz durchweicht. Die meisten mochten sich wohl in ihrem
Herzen weit weg aus diesen Wildnissen wünschen. Da kamen plötz-
lich aus dem Dickicht des Waldes, von allen Höhen und aus allen
Schluchten die Scharen der Deutschen, die solche Wege und solches
Wetter gewohnt waren, hervor, und schleuderten ihre scharfen Wurf-
speere gegen die erschrockenen Römer. Diese ordneten sich, so gut
sie in den unwegsamen Gegenden konnten, nahmen das Gepäck und
den Troß in die Mitte und verteidigten sich. Aber die Sehnen der
Bogen waren vom Regen erschlafft, die übrigen Waffen auch größten-
teils verdorben; auf dem schlüpfrigen Boden konnten sie in ihren
schweren Harnischen keinen festen Fuß fassen und den Deutschen
überhaupt wenig Schaden zufügen. Viele von ihnen sanken er-
mattet und verwundet zu Boden.
4. Am Abend endlich gelang es ihnen, einen Platz zum Lager zu
finden und sich zu verschanzen, so daß sie doch einige Stunden
403
ausruhen konnten. Am anderen Morgen aber mußten sie weiter;
ihre einzige Hoffnung war, sich bis zu ihren festen Plätzen, wo noch
Besatzung lag, und so weiter bis an den Rhein durchzuschlagen,
und wirklich kamen sie auch in eine etwas freiere, ebnere Gegend,
wo sie geschlossene Reihen bilden und die Angriffe der Deutschen
besser abwehren konnten. Allein das dauerte nicht lange; bald ging
ihr Weg wieder in den schrecklichen Wald. Nun griffen die Deut-
schen mit neuer Wut an, erschlugen eine Menge und jubelten laut,
daß der Römerhaufen immer kleiner und kleiner wurde. Noch ein-
mal versuchten diese ein Lager aufzuschlagen und Wall und Graben
auszuwerfen; allein die Deutschen ließen ihnen nicht Zeit dazu. Mit
verdoppelter Anstrengung und hellem Schlachtgesange stürmten sie
von allen Seiten heran; der Feldherr Varus verlor gänzlich den
Mut und stürzte sich, nachdem er schon mehrere Wunden empfangen
hatte, selbst in sein Schwert, viele der Anführer desgleichen; keiner
widerstand mehr; die Deutschen hatten nichts weiter zu tun, als die
Ermatteten und Fliehenden niederzumachen oder gefangen zu nehmen.
Nur wenigen einzelnen Römern gelang es, in der Dunkelheit der
Nacht zu entkommen und, durch glückliche Umstände begünstigt,
zu den festen Plätzen zu entfliehen, wo sie ihren Landsleuten die
traurige Botschaft von dem Untergange des Varus mit seinem ganzen
Heere verkündigten.
5. Die Deutschen feierten unterdes große Freudenfeste, dankten
ihren Göttern und verteilten die reiche Beute und die Gefangenen
unter sich. Unter diesen waren eine Menge vornehmer junger Römer,
die in allem Überflüsse und in Weichlichkeit aufgewachsen waren
und in ihrem Stolze schon geglaubt hatten, daß sie die Herren der
Welt wären; nun mußten sie in den rauhen deutschen Wäldern
traurig ihr Leben hinbringen, indem sie die niedrigsten Knechtsdienste
verrichteten, das Vieh hüteten und vor den Türen flerer standen,
die sie früher verächtlich Barbaren genannt hatten.
6. Dieser glückliche und herrliche Sieg, der unserem Vaterlande
Freiheit und Selbständigkeit gerettet hat, ward im Jahre 9 nach
Christi Geburt, und zwar in der Gegend, wo Detmold liegt, er-
fochten. Hermann begnügte sich aber nicht damit, nur den Varus
geschlagen zu haben, er eroberte und zerstörte auch alle römischen
besten, die diesseits des Rheins waren, und hörte nicht auf, bis er
an den Ufern des Stromes stand. Weiter ging er nicht; er hatte
nur den vaterländischen Boden von den fremden Unterjochern be-
freien wollen.
In Rom glaubte man ihn schon auf dem Wege nach Italien.
Der Kaiser Augustus, der sich sonst wohl zu fassen wußte, verlor
26*
404
dieses Mal alle Besinnung, rannte mit dem Kopfe gegen die Wand
und rief immer aus: „Varus, Yarus, gib mir meine Legionen wieder!“
Yams hatte ein ausgesuchtes Heer von mindestens vierzigtausend
Mann gehabt, das nun wie vom Erdboden rein weggetilgt war.
Einige Monate ließ der Kaiser aus Trauer Haare und Bart wachsen,
gelobte seinem Jupiter große Feste und Opfer, wenn er diese Gefahr
abwendete; und seine deutsche Leibwache — eine solche hielt er aus
geworbenen Leuten ihrer Treue und Tapferkeit wegen — schickte
er weit von Rom weg aus Furcht, sie möchte sich empören.
Friedrich Kohlrausch.
250. Haus und Hof der alten Deutschen.
1. Unsere Vorfahren lebten in den alten Zeiten, von denen wir
reden, nicht in zusammenhängenden Ortschaften. Städte gab es in
Germanien gar nicht; denn die Teutschen haßten das Leben hinter
Mauern. Sie wollten nicht von ihrem lieben grünen Wald geschieden
sein und von der goldenen Freiheit des Landlebens. Ganz allein in
die Waldeinsamkeit baute der Germane sein Blockhaus, und fühlte sich
heimisch und behaglich dort. Als geeignete Stelle benutzte er wohl
eine kleine Lichtung, die Umgebung eines heiligen Quells, das Tal
eines munteren Baches oder die Nähe einer Flußfurt. Das Haus
wurde mit einem großen Hofraum umgeben, der innerhalb seines
festen Zaunes das ganze Heimwesen einer Familie barg. Und wenn
auch aus einem einzelnen Gehöfte zuweilen mehrere hervorgingen und
sich Dörfer bildeten, indem Söhne oder andere Verwandte neue Wohn-
stätten in der Nähe der alten anlegten, so vermied man doch gänzlich
enge Gassen oder anstoßende Häuser. Jeder baute nur für seinen
Haushalt und benutzte die Vorteile des Geländes, niemand achtete auf
einen gemeinsamen Plan. Rasenplätze und Baumanger trennten die
Einzelhöfe voneinander. Kaum daß ein kreuz und quer laufender Land-
weg, der sich gewöhnlich neben einem Bache hinschlängelte, eine Art
naturwüchsiger Dorfstraße bildete. Die meisten Gehöfte lagen davon
abseits, winkelige Sack- und Nebenpfade führten zu ihnen.
2. Als die Germanen noch ein Wandervolk waren, hatten ihre
Häuser in einfachen Hütten bestanden, die man in wenigen Minuten
auseinandernehmen und auf Wagen laden konnte. In der Zeit um
Christi Geburt war man wenigstens im Westen, zwischen Elbe und
Rhein, schon weiter fortgeschritten zu einem vollkommeneren Hausbau,
der allerdings noch immer auf platter Erde, ohne Ausgrabung eines
Grundes errichtet wurde. Auch dieses altdeutsche Haus wurde
nicht gemauert, sondern gezimmert, denn den Gebrauch von Bausteinen
405
kannte man nicht. Es war also ein Blockhaus und zwar aus unbe-
hauenen, aufrechtstehenden und nur zum Teil eingerammten Balken,
welche auswendig mit Lehm verschmiert und mit farbiger Erde bemalt,
inwendig mit Brettern verschlagen waren. Die vier Umfassungswände,
die ein längliches Viereck umschlossen, waren nur mannshoch; über
ihnen lag ein hohes, nach allen Seiten gleich tief hinabgehendes, zelt-
förmiges Dach aus Stroh oder Schilf. Gern errichtete man das Ge-
bäude uni einen mächtigen Baum herum, so daß er mit Stamm und
Wurzeln im inneren Raume stand und mit seiner Krone das Dach
überschattete. Man tat dies, um dem leichten Bau eine größere Festig-
keit §u verleihen, und auch, weil man von einem solchen Baume glaubte,
er stehe im Schutze irgendeiner Gottheit. ' /
3. Das Haus war ein sogenannter Einbau, d. h. es barg unter
seinem Dache alle wesentlichen Räume für Wohnung und Wirtschaft.
Der Dachraum war von dem darunterliegenden durch keine Zwischen-
decke getrennt. Wenn man durch die einzige Tür, die auf einer Schmal-
seite lag, in das ziemlich dunkle, rauchgeschwärzte Innere hereintrat,
so kam man zunächst in den Flur oder die sogenannte Diele, die
aber keineswegs mit Brettern gedielt war, sondern, wie alle anderen
Räume, die bloße festgetretene Erde zum Fußboden hatte. Diese Diele
war der größte und, da sie unter der Mitte des Daches lag, auch der
höchste Raum des Hauses. Hier wurde die Ernte abgeladen, um auf
die Balken und Bretter des Dachstuhls hinaufbefördert zu werden; hier
wurde das Getreide ausgedroschen, hier nahm man alle Geschäfte und
häuslichen Verrichtungen vor, für die ein besonderes Gelaß nicht vor-
handen war. Rechts und links von der Diele, nur durch Holzpfeiler
und niedere Verschlüge unvollkommen von ihr getrennt, zogen sich die
Ställe für das Vieh hin, das im Sommer des Morgens aus-, des
Abends eingetrieben wurde und mit den Köpfen nach der Diele hinein-
guckte. Weder die Diele noch die Ställe reichten aber bis zu der
Wand, die der Tür gegenüber lag; denn im Hintergrund des Hauses,
etwa ein Viertel des Ganzen einnehmend, lag von einer Seitenwand
bis zur anderen der eigentliche Wohnraum des Hausherrn und seiner
nächsten Angehörigen, die Halle oder der Saal genannt. Vorn nach
dem Flur zu stand er offen, und auch von den Ställen war er nur
durch Verschlüge geschieden. Mitten in dem Saale lag der sehr niedrige,
heilig gehaltene Herd, auf dem fortwährend das Herdfeuer unterhalten
wurde. Die Frau des Hauses, unter deren Obhut der Herd stand,
verhütete mit ängstlicher Sorgfalt das gänzliche Verlöschen des Feuers.
Um den Brand auch über Nacht zu nähren, bedeckte man einen großen
Eichenblock, der an einem Ende glimmte, mit Asche, und wußte ihn
so geschickt zu legen, daß er oft das ganze Jahr hindurch nicht ver-
406
losch. Da das ganze Haus keine Fenster hatte und der Herd beständig
rauchte, so hätte bei geschlossener Tür der Qualm alles erfüllt, wäre
nicht gerade über dem Herde eine viereckige Öffnung im Dache ange-
bracht gewesen, durch die der Rauch abzog und am Tage das freund-
liche Himmelslicht hereinlugte. Gegen Schnee und Regen versperrte
man es durch ein vorgespanntes Tierfell, das doch nicht so dicht
schloß, daß der Rauch nicht noch einen Ausweg gefunden hätte. •
4. Rings um die Wände der Halle liefen Bänke, auf deren breiten
Sitzen sich die Hausgenossen und Gäste zum Mahle an kleineren oder
größeren Tischen niederließen. Der Ehrenplatz war der Hochsitz des
Hausherrn, der sich gerade hinter dem Herde erhob, gegenüber der
Tür, die der Hausvater im Auge behielt, so daß niemand ohne sein
Wissen aus- und einging. Hier und da stand in einem Winkel eine
schwere, hölzerne Truhe, in der Kleidungsstücke, Schmuck und andere
wertvolle Gegenstände aufbewahrt lagen. Aber es fehlte dem inneren
Hausraum auch nicht ganz an Schmuck. Manche Stellen des Gebälkes
waren mit wunderlichem Schnitzwerk, meist Menschen- oder Tier-
fratzen, verziert; die Verschlüge färbte man hier und da bunt. Auf
Gesimsen und Brettern stand bei wohlhabenden Hauswirten mancher
schöne, blanke Kessel und ausländischer Becher oder Krug. An den
Wänden der Halle und den hölzernen Pfeilern, die das Dachgebälke
stützten, hingen die Waffenstücke des Herrn und der Söhne des Hauses.
Mit Wohlgefallen mag der Blick auch in die Höhe geschweift sein, wo
von den Dachsparren an starken Haken die Schinken und Würste her-
niederhingen.
4. Schlafstellen waren nicht zu erblicken, denn die Bänke dienten
zugleich als Nachtruhestätten für die Hauseltern und die unverheirateten
Kinder. Stroh, Mäntel und Pelze vertraten, wenn es not tat, die
Stelle der Polster und Decken. Knechte und Mägde schliefen, soweit
sie ini Herrenhose wohnten, zuweilen im Flur und in den Ställen,
im Sommer auch im Freien, gewöhnlich aber in eigenen unterirdischen
Räumen. Auf dem Hofe nämlich befanden sich außer dem Hause noch
kleinere, eigentümliche Nebengelasse, welche Tunge genannt wurden.
Da diese keinen Herd hatten, so schützte man sie dadurch gegen die
Kälte, daß man sie kellerartig in die Erde eingrub und oben mit Vieh-
dünger belegte. Sie waren trichterförmig und ziemlich tief, in der
Mitte durch eine Balkenanlage in eine obere und untere Abteilung ge-
schieden- Der obere Raum diente zu Schlafstätten für das Gesinde,
am Tage wurde in ihnen das Geschäft des Webens und andere Arbeit,
die nicht im Freien verrichtet werden konnte, betrieben. Die untere
Abteilung benutzte man zur Aufbewahrung des Fruchtvorrates wäh-
rend des Winters. Drohte ein feindlicher Überfall, so versteckte man
407
auch andere Habe in den Tung, machte diesen ßhm der Bodenfläche
gleich und bedeckte ihn mit Erde und Rasen. s'
Jl Um das Haus selbst gegen frevelnde Feindeshand zu schützen,
war ein jedes mit einem weiten Hofraum umgeben, um den ein fester
Zaun, zuweilen auch wohl eine Dornenhecke oder ein Bollwerk aus
Geflecht, Rasen und Erde lief. Bei besonders stattlichen Gehöften
glich die Umzäunung nicht selten einer Befestigung, die sogar eine
feindliche Belagerung auszuhalten vermochte. Zwar gab es nicht
Gärten in unserem Sinne, aber hin und wieder wurde ein Winkel des
Hofes zur Anpflanzung der wenigen damals bekannten Küchengewächse,
z. B. der schön blühenden Bohne und des unentbehrlichen Lauchs,
vielleicht auch einiger Beerensträucher benutzt. Ein solcher Winkel stand
unter der besonderen Obhut der Hausfrau und war wohl zuweilen be-
sonders eingehegt. In dem übrigen Hofraum aber tummelten sich
Hühner, Enten und Gänse, wenn sie nicht im Freien ihre Nahrung
suchten, wohl auch zuweilen ein Teil des vierfüßigen Kleinviehs, da
es weder an Rasen noch an Wasserpfützen gefehlt haben wird. Knechte
und Mägde saßen oder standen hier und dort, oder gingen ab und zu,
wie es das Tagewerk eines jeden mit sich brachte. Zuweilen schlugen
die Hunde an, die treuen Wächter des Hofes. Dazwischen spielten,
lachten und schrien die meist nackt umherlaufenden flachsköpfigen
Kinder der Herrschaft und der verheirateten Knechte, mit ihren un-
schuldiger! blauen Augen und hübschen weißen und roten Gesichtern.
Und über all dem Treiben wachte das nimmermüde Auge der Hausfrau.
6. Nur Haus und Hof waren erbliches Grundeigentum der Fa-
milie, nicht so das Feld. Jeder Hausvater nämlich erhielt durch
Gemeindebeschluß einen Teil des Gemeindelandes zum Anbau des
nötigen Getreides bei der Ackerverteilung auf gewisse Zeit angewiesen.
Weideland wurde gar nicht verteilt und nicht einmal vom Walde ab-
gegrenzt, sondern es bildete mit diesem zusammen den allgemeinen
Anger, wo die Herden aller Dorfbewohner weiden durften, und zu-
gleich den gemeinsamen Jagdgrund. Diese Gemeindetriften und -Wälder
hießen daher die Allmende, d. h. der allgemeine Wald- und Weide-
boden, der allen Mitgliedern der Gemeinde zum Nießnutz offen stand.^
Gotthold Klee.
251. Das Grab im Busento.
\. Nächtlich am Busento lispeln bei Tosenza dumpfe Lieder,
aus den wassern schallt es Antwort, und in wirbeln klingt es wieder.
2. Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten,
die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
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3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
während noch die Iugendlocken seine Schultern blond umgaben.
Und am Ufer des Bufento reihten sie sich um die Wette;
um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
5. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam mit der Rüstung auf den, Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweitenmale, ward der Fluß herbeigezogen;
mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
8. Und es sang ein Ehor von Ulännern: „Schlaf in deinen Heldenehren l
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je dein Grab versehren!"
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere;
wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Uleer zu Uleere!
August Graf v. Platen-Hallermünde.
252. Gotentreue.
1. Erschlagen lag mit seinem Heer
der König der Goten, Theodemer.
2. Die Hunnen jauchzten auf blut’ger Wal,
die Geier stießen herab zu Tal.
3. Der Mond schien hell, der Wind pfiff kalt,
die Wölfe heulten im Föhrenwald.
4. Drei Männer ritten durchs Heidegefild,
den Helm zerschroten, zerhackt den Schild.
5. Der erste über dem Sattel quer
trug seines Königs zerbrochnen Speer.
6. Der zweite des Königs Kronhelm trug,
den mittendurch ein Schlachtbeil schlug.
7. Der dritte barg mit treuem Arm
ein verhüllt Geheimnis im Mantel warm.
8. So kamen sie an die Donau tief,
und der erste hielt mit dem Roß und rief:
9. „Ein zerhauner Helm, ein zerspellter Speer, —
vom Reiche der Goten blieb nichts mehr!“
10. Und der zweite sprach: „In die Wellen dort
versenkt den traurigen Gotenhort!
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11. Dann springen wir nach von dem Uferrand —
was säumest du, Vater Hildebrand?“
12. „Und tragt ihr des Königs Helm und Speer,
ihr treuen Gesellen, ich habe mehr!“
13. Auf schlug er seinen Mantel weich:
„Hier trag' ich der Goten Hort und Reich.
14. Und habt ihr gerettet Speer und Krön’,
ich habe gerettet — des Königs Sohn!
15. Erwache, mein Knabe! Ich grüße dich,
du König der Goten, jung Dieterich!“
Felix Dahn.
253. Aus der Siegfriedsage.
1. Wie Siegfried nach Worms kam.
Im Burgundenlande, auf der alten Königsburg zu Worms am
Rheine, wuchs eine edle Königstochter namens Kriemhild zur blühenden
Jungfrau heran, voll Liebreiz und Anmut. Ihrer pflegten nach des
Vaters frühem Tode drei Brüder, die Könige Günther, Geruot und Gifelher.
Leise, ahnungsreiche Träume umschwebten das sinnende Haupt der lieblichen
Kriemhilde in der stillen Abgeschiedenheit, in welcher sie, der edlen Zucht
und Sitte ihrer Zeit gemäß, ihre Kindheit und erste Jugend verlebte.
Einen Falken, so zeigt ihr ein Traumgesicht, zieht sie auf und pflegt ihn
als ihren Schützling manchen Tag. Da stürzen zwei Adler herab und er-
drücken mit ihren Klauen das zarte Tier vor ihren Augen. Schmerzlich
bewegt erzählt die Erwachende den Traum der lieben Mutter. „Der
Falke," deutet diese das stille bange Ahnen der Tochter, „der Falke ist ein
edler Mann, dem deine Zukunft bestimmt ist; wolle Gott ihn behüten, daß
du ihn nicht früh verlierst!" „Was sagt Ihr, liebe Mutter, mir von
einem Manne?" erwiderte die Tochter, „ohne die Liebe eines Helden will
ich bleiben, daß nicht meiner Liebe mit Leide zuletzt gelohnt wird."
Heiter in fröhlicher Jugend, stark in frischem Mannesmut und ge-
waltig in kühner Kraft ist inzwischen Siegfried im Niederland, zu Santen
am Rhein, zum Helden herangewachsen. Er ist schon durch manche Lande
gezogen, um freudig seines Leibes wunderbare Stärke zu versuchen. Da
hört er die Kunde von der schönen Jungfrau zu Worms am Rhein. Er
zieht mit seinen Mannen aus, zu werben um die schönste und anmutigste
Jungfrau, die in allen Landen zu sinden ist. Vor der Königsburg zu
Worms reiten die Fremden auf, Riesen gleich in männlicher Jugendkraft,
in nie gesehenem, herrlichem Schmucke der Rüstungen und der Rosse.
Niemand kennt die vor dem Königssaale am Rheinufer haltenden Mannen,
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niemand ihren Führer, den Jüngling von königlicher Gestalt. Da wird
nach Hagen von Tronje gesandt, dem alle fremden Lande kund sind; aber
auch er hat diese Helden noch niemals gesehen. „Fürsten oder Fürsten-
boten müssen es sein," sagt er; „von wannen sie immer kommen, es sind
hochgemute Helden." Bald aber fügt er hinzu: „Ich habe zwar noch
niemals Siegfrieden gesehen; aber ich muß glauben, daß nur er es sein
könne, der dort so herrlich einhergeht. Es ist Siegfried, der die Nibelungen
besiegte, der den unermeßlichen Schatz an edlem Gestein ihnen abgewann
und Land und Leute der Besiegten in Besitz nahm; der dem Zwerge
Alberich die unsichtbar machende Tarnkappe im heißen Kampfe entriß, der-
selbe Siegfried, der auch den Linddrachen schlug und in dem Blute sich
badete, daß feine Haut wie Horn unverwundbar wurde. Solchen Helden
sollen wir freundlich empfangen, daß wir nicht des schnellen Recken Haß
auf uns laden mögen." Siegfried wird herrlich empfangen, köstlich be-
wirtet. Fröhliche Kampfspiele werden auf dem Hofe des Königspalastes
gehalten. Kriemhild schaut verstohlen durch das Fenster, und im Anschauen
des starken Heldenjünglings vergißt sie alle Spiele mit ihren Gefährtinnen,
alle sinnigen Beschäftigungen der stillen Jungfraueneinsamkeit.
Aber ein ganzes Jahr weilt Siegfried am Hofe der Burgundenkönige,
ehe er die, um die er wirbt, nur einmal zu sehen bekommt. Er zieht auch
als Kampfgenosse mit den Helden der Burgunden zu manchem Streit,
zieht hin den weiten Weg in die Sachsengaue, deren König mit dem Dänen-
könig den Burgunden Krieg angekündigt hatte. Im mörderischen Kampfe
ist Siegfried der gewaltigste und siegreichste der Helden. Boten werden
mit der Siegesnachricht nach Worms voraufgesandt und erhalten von
Kriemhildens Hand reichen Lohn. Nach der Heimkehr wird ein großes,
heiteres Ritterspiel gehalten, und an dem fröhlichen Pfingstfeste ziehen von
nah und fern die Höchsten und Besten, unter ihnen allein zweiunddreißig
Fürsten, zum Hofe der Burgundenkönige. Da darf endlich auch Kriemhild
an der Seite ihrer Mutter Ute im Geleite von 100 schwerttragenden
Kämmerern und 100 geschmückten Edelfrauen und Fräulein, zum erstenmal
öffentlich erscheinen, und sie geht auf wie das Morgenrot aus trüben
Wolken, in mildem Schimmer der Jugend, der Schönheit und der stillen
Liebe, wie der Mond in mildem Schimmer neben den Sternen durch die
Wolken leuchtet. Da heißt nach hösischer Sitte Günther Siegfried heran-
treten, daß er ihre Schwester begrüße. Da tritt Siegfried heran und neigt
sich vor der Jungfrau. Noch aber wird kein Wort gewechselt, bis nach
der Messe, mit der das Fest begann, die Jungfrau dem Helden Dank sagt
für den tapfern Beistand, den er ihren Brüdern geleistet. Zwölf Tage,
so lange dauert das Ritterfest, bleibt er in der Nähe Kriemhilds. Dann
ziehen die fremden Gäste von dannen; auch Siegfried rüstet sich zur Heim-
fahrt. Doch leicht läßt er sich durch die Zureden des jungen Giselher
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bestimmen, noch länger da zu verweilen, wo er am liebsten war, und wo
er täglich die schöne Kriemhild sah.
2. Die Fahrt nach dem Jsenstein.
Nun aber herrschte jenseit der See eine Königin, herrlich in wunder-
barer Schönheit, aber auch herrlich in wunderbarer, fast unheimlicher.Kraft.
Mit Männern, die um ihre Hand warben, warf sie die Lanzen, schleuderte
sie den Wurfstein und sprang sie dem geworfenen Steine nach in kühnem
Sprunge. Nur dem, der in jedem dieser drei Spiele sie besiegte, wollte
sie sich ergeben. Wer unterlag, verlor das Haupt. Schon mancher Held
war umsonst gefahren nach der starken Kampfjungfrau Brunhitd, um
niemals wiederzukehren.
Da beschließt der König Günther von Burgundeuland, das Leben
um ihre Liebe zu wagen, und fordert Siegfried auf, ihm bei der Werbung
zu helfen. Siegfried sagt es zu, wenn Günther ihm seine Schwester
Kriemhild zum Weibe geben wolle; Günther gelobt dies. Mit einem Eide
wird dieser Bund bekräftigt, und dann wird das Schiff zur Abfahrt gerüstet.
Goldfarbene Schilde und reiche Gewände werden an das Gestade getragen,
und aus den Fenstern schauen holde Jungfrauen den Helden nach, die
unter dem schwellenden Segel am Ruder des Rheinschiffes sitzen. Denn
Siegfried, der kundige Seefahrer, führt selbst das Steuerruder, und Günther
ergreift gleichfalls die Ruderstange.
Nach zwölftägiger Fahrt kommen sie vor dem Jsenstein an, wo
Brunhild herrscht. In fremder, unheimlicher Pracht ragen fechsuudachtzig
Türme an dem Seegestade empor, drei weite Paläste und einen großen
Herrensaal umschließend, alle von grünem Marmorstein erbaut. Nur
Siegfried allein ist dieses ferne Land, diese wunderbare Burg und die
stolze Herrin selbst bekannt. Und auch die hehre Maid kennt den Helden,
der sich ihr nahet. „Seid willkommen, Herr Siegfried, hier in meinem
Lande!" sagt sie. „Was bedeutet Eure Reise? Das möcht' ich gern
wissen." „Da steht," entgegnet Siegfried der Fragenden, „Günther, ein
König an dem Rheine, der um deine Hand zu werben begehrt. Er ist
mein Herr; ich bin sein Mann." Jetzt beginnen die Kampfspiele; Günther
aber wird von Siegfried vertreten. Dieser hüllt sich in seine Tarnkappe
^den unsichtbar machenden Überwurf), um unsichtbar für Günther die
Kämpfe zu bestehen; Günther soll nur Scheinkämpfer sein. Der Königin
Brunhild trägt man ihren ungefügen Ger herbei, mit dem sie zu allen
Zeiten zu schießen pflegte, mit schwerer Stange und breitem Eisen, das
an feinen drei Ecken grimmig schneidet; ferner auch in den Kampfkreis
einen ungeheuren, runden Wurfstein, an dem zwölf Helden zu tragen
haben. Sie windet die Ärmel auf an den weißen Armen, faßt den Schild,
zuckt den Ger aufwärts — da beginnt der Streit.' Siegfried läßt sich
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beit Schild von Günther geben und heißt ihn nur die Gebärde des Kampfes
machen. Und wie freut sich Günther, als er Siegfrieds helfende Nähe
bemerkt! Jetzt schleudert Brunhild den Speer, und die Funken fliegen
wie vom Winde gewehte Flammen von des Gegners Schild, in den der
Speer einschlägt. Siegfried wankt; aber bald steht er wieder fest und
schleudert mit noch wilderer Kraft den Speer nach der Jungfrau. Sie
fängt ihn mit dem Schilde; aber sie füllt. „Habe Dank für den Schuß,"
ruft die Gewaltige, sofort wieder aufspringend, „habe Dank, edler Ritte
Günther!" Und zornig, besiegt zu fein, eilt sie nach dem Steine, ergreift
ihn, schwingt ihn mit gewaltigem Arme, schleudert ihn weit hin und springt
dem geworfenen mit fliegendem Kriegssprunge nach und über ihn hinaus,
daß laut ihr Eisengewand erklingt. Aber der kühne, kräftige Siegfried
faßt augenblicklich den Stein, schwingt ihn und wirft ihn weit über die
Kämpferin hinweg, und im Wurfe springt er, den König noch dazu unter
dem Arme tragend, mit übermenschlichen Kräften den ungeheuren Sprung,
weiter noch, als Brunhild gesprungen war. Diese wendet sich augen-
blicklich zu ihrem Heergefolge: „Kommt heran! Ihr sollt König Günther
alle werden untertan." Es wird zur Heimfahrt gerüstet, und die Helden
fahren über die See und rheinaufwärts nach Worms zurück. Das Ziel
ist erreicht; Brunhild wird mit Günther und Kriemhild mit Siegfried
vermählt. Noch aber kann sich die stolze Brunhild nicht zufrieden geben.
Erst als Siegfried sie noch einmal überwunden und ihr Ring und Gürtel
genommen hat, ergibt sie sich in ihr Schicksal. Fröhlich zieht Siegfried
mit der jungen Gemahlin in die Heimat zu dem lieben Elternpaar. Der
Vater tritt Krone und Reich, Land und Leute dem Sohne ab.
3. Der Streit der Königinnen.
Zehn Jahre genießen Siegfried und Kriemhild ihres Glücks in tiefem
Frieden und seliger Ruhe, Siegfried, der reichste und mächtigste der Könige;
Kriemhilde, die schönste und mächtigste der Königinnen. Allein in dem
Herzen der starken Brunhild ist die Glut noch nicht erloschen. „Ist nicht
Siegfried unser Gefolgsmann? und zehn Jahre lang hat er uns keine
Dienste geleistet!" fragt sie oft ihren Gemahl. Endlich gibt Günther ihrem
Drängen nach und sendet Boten zu Siegfried. Sie laden ihn zu einem
fröhlichen Feste, das am Sonnwendtage am Hofe der Burgunden zu Worms
soll gefeiert werden. Mit großem Heergefolge von eintausend Edlen ziehen
Siegfried und Kriemhild nach Worms. Reiche Gaben, rotes Gold und
strahlende Kleinode, werden mitgeführt. Nur das Kind wird zurückgelassen,
Siegfrieds und Kriemhilds Sohn; es sollte feinen Vater und seine Mutter
nimmer wiedersehen.
Glänzender Empfang wartet der Gäste zu Worms. Mit ihnen
strömen zum Ritterspiele Tausende von Rittern ein in die Tore der
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Königsstadt. In prächtigen Reitgewändern reiten die Könige mit ihrem
Gefolge durch die Gassen, und herrlich geschmückt sitzen edle Frauen und
schöne Mägdlein in den Fenstern. Posaunen-, Trompeten- und Flöteu-
schall erfüllt die weite Rheinstadt, daß sie laut davon erhallt.
Die beiden Königinnen, Kriemhild und Brunhild, sitzen zusammen,
wie einst in den schönen Tagen vor zehn Jahren. „Ich habe einen Mann,"
spricht Kriemhild, „der es verdiente, daß alle diese Königreiche sein wären,"
so wallt ihr treues, liebendes, argloses Herz über. Das war der Funken,
welcher einschlug. „Wie wäre das möglich?" entgegnete finster Brunhild.
„Diese Reiche gehören Günther und werden ihm untertan bleiben." Kriem-
hild überhört die Worte des aufsteigenden Grolls und fährt fort: „Siehst
du wohl, wie er dort steht? wie er so herrlich vor den Helden hergeht,
wie der Mond vor den Sternen? Darum ist mein Gemüt so fröhlich."
Brunhild entgegnet, Günther gebühre der Vorrang vor allen Königen, und
Kriemhild antwortet, Siegfried komme ihrem Bruder Günther doch wohl
gleich. Da bricht endlich Brunhild zornig aus: „Als dein Bruder mich
zum Weib gewann, hat Siegfried selbst gesagt, daß er Günthers Dienst-
mann sei, und dafür halte ich ihn seitdem." Freundlich bittet Kriemhild,
diese Rede zu lassen; ihre Brüder hätten sie keinem Dienstmanne verlobt.
„Ich lasse die Rede nicht," entgegnet Brunhild trotzig; „dein Mann ist
und bleibt uns untertan." Da bricht auch Kriemhilds gerechter Zorn aus:
„Und Siegfried ist doch noch edler als Günther, mein Bruder, und es
wundert mich nur, daß er so lange Jahre euch weder Zins noch Dienst
geleistet hat." „Das werden wir sehen," antwortet Brunhild, „ob man
dich so ehren wird wie mich." „Ja, wir werden es sehen," ruft Kriem-
hild, „ob ich nicht bei dem heutigen Kirchgänge den Vortritt vor dir
haben werde."
Die Königinnen gehen zur Kirche, nicht in freundlicher Gesellschaft
wie bisher, sondern jede abgesondert mit ihrem Gefolge edler Frauen.
Brunhild steht vor dem Münster und wartet auf Kriemhild. Als diese
anlangt, gebietet ihr Brunhild laut vor allem Volke, still zu stehen, und
spricht: „Eine Eigenmagd soll nicht vor der Königin hergehen." „Du
hättest sollen stillschweigen," antwortet Kriemhild; „denn wisse, nicht Günther
hat dich bezwungen, sondern Siegfried. Du bist also selbst von einem
Eigenmanne überwunden worden." Jetzt ist Brunhilds Übermut gebrochen;
aber hoch auf richtet sie sich in grimmiger Rachsucht. Sie ist öffentlich
bis auf den Tod beleidigt. Siegfrieds Tod ist beschlossen.
4. Hägens Verrat.
Jammernd in ohnmächtiger Wut, sitzt Brunhild einsam im Gemache.
Da findet sie Hagen und erfährt von ihr, wie schwer sie gekränkt ist.
Seine Herrin und Königin weint, bis in den Tod beleidigt von einem
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Manne — der Mann muß sterben. Die drei Könige werden zur Be-
ratung hinzugezogen, und nur der jüngste, Giselher, hält die Sache für
zu gering, als daß ein Held wie Siegfried darum das Leben verlieren
sollte; die übrigen, selbst der im Anfang schwankende Günther, stimmen
für Siegfrieds Tod. Es soll ein falsches Kriegsgerücht verbreitet, das Heer
aufgeboten und Siegfried auf diesem Kriegszuge erschlagen werden.
Die Heerfahrt ist in vollem Gange; Siegfried rüstet sich. Da begibt
sich der grimmige Hagen zu Kriemhild, um der Sitte gemäß von ihr Ab-
schied zu nehmen. K'riemhild hat den Streit schon halb vergessen. Daß
sie den vor sich sehe, der sich als ewigen Feind ihres Gatten bekannt und
ihm den Tod geschworen hat, davon kommt auch nicht die leiseste Ahnung
in ihr noch immer argloses Herz. „Hagen," spricht sie, „du bist mein
Verwandter, ich die deinige, wem soll ich in dem Kriege, der bevorstehe
das Leben meines Siegfried besser anvertrauen als dir! Schütze mir
meinen lieben Mann! Ich befehle ihn dir aus deine Treue. Zwar ist er
unverwundbar; aber als er sich im Blute des Drachen badete, fiel ihm
zwischen die Schulterblätter ein breites Lindenblatt, so daß diese Stelle
verwundbar blieb. Kommen nun in dichten Flügen die Kriegsspeere aus
ihn angeflogen, so könnte doch einer diese Stelle treffen; darum decke du
ihn dann, Hagen, schütze ihn." „Wohl," sagt der Tückische, „und um das
besser zu können, näht mir, königliche Frau, ein Zeichen auf diese Stelle
seines Gewandes, damit ich genau wisse, wie ich ihn zu schützen habe!"
Und die Arglose näht mit eigner Hand aus feiner Seide ein Kreuz auf
das Gewand ihres Gatten; sie näht selbst sein blutiges Todeszeichen.
Tags darauf beginnt der Kriegszug. Hagen reitet nahe an Siegfried
heran, um zu sehen, ob die Gattin in ihrer blinden, grenzenlosen Liebe
arglos genug gewesen ist, das Zeichen einzusetzen. Siegfried trägt es
wirklich, und nun ist die Heerfahrt nicht weiter nötig. Die Gefolgsmann-
schaft wird, statt in den Krieg, zu einer großen Jagd entboten. Noch
einmal sieht Siegfried seine treue Gattin, sie ihn zum letztenmal. Bange
Ahnungen, schwere Träume beängstigen ihre Seele wie damals, als sie
von dem Falken und den Adlern träumte. Jetzt hat sie zwei Berge auf
Siegfried fallen und ihn unter den stürzenden Bergtrümmern verschwinden
sehen. Siegfried tröstet sie, niemand trage Haß gegen ihn und könne
Haß gegen ihn tragen — allen habe er Gutes erwiesen, in kurzen Tagen
komme er wieder. Aber sie scheidet mit dem Worte: „Daß du von mir
scheiden willst, das tut mir inniglich weh."
5. Siegfrieds Tod.
Die Jagd ist vollendet. Die Helden und vorab Siegfried, der das
meiste Wild erlegt, sind von dem Rennen in der Sommerhitze müde und
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durstig; doch weder Wein ist mehr vorhanden, noch der Rheinstrom in
der Nähe, um aus ihm die ersehnte kühle Labung zu schöpfen. Aber
Hagen weiß nahe im Walde einen Brunnen; dahin, rät er, könne man
ziehen. Man bricht auf, und schon hat man die breite Linde im Gesichte,
unter deren Wurzeln der kühle Quell entspringt. Da beginnt Hagen:
„Man hat viel davon gesagt, daß dem schnellen Siegfried, der Kriemhilde
Mann, niemand folgen könne im eiligen Laufe. Wolle er uns das doch
sehen lassen!" „Laßt uns," entgegnet Siegfried, „zur Wette laufen nach
dem Brunnen! Ich werde mein Jagdgewand, auch Schwert, Ger und
Schild behalten. Legt ihr die Kleider ab!" Es geschieht. Der Wett-
lauf beginnt. Wie wilde Panther springen Hagen und Günther durch
den Waldklee; aber Siegfried ist weit zuerst zur Stelle. Ruhig legt er
nun Schwert, Bogen und Köcher ab, lehnt den Ger an der Linde Ast,
setzt den Schild neben den Brunnen, wartend bis der König auch heran-
gekommen sei, um ihn zuerst trinken zu lassen. Diese ehrerbietige Sitte
entgalt er mit dem Tode.
Günther kommt heran und trinkt; nach ihm beugt sich auch Siegfried
zum Brunnen nieder. Da springt Hagen herzu und trügt in raschem
Sprunge die Waffen, die er erreichen kann, Schwert, Bogen und Köcher,
abseits. Den Ger behält er selbst in der mörderischen Faust, und indem
Siegfried noch die letzten Züge an dem Brunnen einschlürft, schleudert
Hagen den Ger, Siegfrieds eigene Waffe, durch das Kreuz, das Siegfried
im Rücken trägt, daß von dem Herzblut des herrlichen Helden des Mörders
Gewand überströmt wird. Wütend springt der Todwunde auf von dem
Brunnen; zwischen den Schulterblättern ragt die lange Gerstauge aus
seinem Leibe hervor. Er greift nach Bogen und Schwert; er findet keine
Waffe. Da saßt er den Schild, der dicht neben ihm liegt, und den Hagen
nicht hat beiseiteschaffen können, und stürzt auf Hagen los. Grimmig
schlägt er mit dem Schilde auf den Mörder, daß die Edelsteine, mit denen
der Schild besetzt war, herausgesprengt werden. Er schlügt so furchtbar,
daß Hagen zu Boden stürzt und der Schild zerbricht. Der Wald hallt
wider von der Wucht der Schlüge, welche die Hand des sterbenden Helden
aus das Haupt seines Mörders fallen läßt. Da erbleicht seine lichte Farbe;
die Füße wanken. Die Stärke des Heldenleibes zerrinnt; der Tod hat ihn
gezeichnet. Kriemhilds Gatte fällt dahin in die Blumen, und in breiten
Strömen stürzt das Herzblut aus der Todeswunde.
Mit der letzten Kraft wendet er sich zornig zu seinen Mördern: „Ihr
Feiglinge, was helfen nun meine Dienste, da ihr mich erschlagen habt?
So also habt ihr meine Treue gelohnt und schlimmes Leid an euren
Blutsverwandten getan!" Alle Ritter des Burgundengefolges eilen jetzt
herbei zu der Mordstütte und umstehen im Kreise den sterbenden Helden.
Manche Klage wird laut; der Sterbende schweigt. Da läßt auch der
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Burgundenkönig einen Ton der Klage um den Gefallenen vernehmen.
Und jetzt regt sich noch einmal das bittere Leid des Lebens in der schon
in den Todesschlnmmer versinkenden Seele. „Das ist nicht not," spricht
der Todwunde, „daß der nach dem Schaden weint, der den Schaden getan
hat; es wäre besser unterblieben." Der grimme Hagen aber höhnt die
Klagenden und zugleich den schmählich Ermordeten: „Ich weiß nicht, was
ihr klagt. Nun hat ja alles ein Ende, was wir an Leid und Sorgen
getragen haben. Wohl mir, daß ich gegen diesen da Rat geschafft!" Und
noch einmal redet der Held mit sterbender Stimme zu dem Mörder: „Ihr
habt es leicht, Euch zu rühmen; hätte ich Euren Mordsinn erkannt, vor
Euch hätte ich mich wohl schützen wollen. Mich jammert nichts so sehr
als Frau Kriemhild, mein Weib. Und o weh, daß ich einen Sohn habe,
dem man nachsagen wird, daß seine nächsten Verwandten jemand durch
Mord erschlagen haben!" Der Name der treuen Gattin ist über die Lippen
des Sterbenden gegangen, und um ihretwillen wendet er sich abermals
und zum letztenmal an seine Mörder. „Wollt Ihr, edler König," redet er
Günther an, „noch einmal in Eurem Leben gegen jemand Treue beweisen,
so laßt Euch meine liebe Traute befohlen sein! Laßt es sie genießen, daß
sie Eure Schwester ist; sorgt für sie treulich, wie es Fürstensitte gebietet!
Auf mich warten lange mein Vater und meine Mannen." Weit umher
sind die Waldblumen von dem Blute des Erschlagenen rot genetzt. Jetzt
beginnt der Todeskampf. Doch nicht lange ringt er; die Todeswunde ist
zu schwer. Siegfried ist tot.
Da heben die Herren den Leichnam des Helden auf einen goldroten
Schild und tragen ihn gen Worms an den Rhein. Manche reden davon,
daß man sagen solle, Räuber hätten ihn erschlagen, um den Schandfleck
des Verwandtenmordes zu verhehlen. Aber Hagen ruft: „Ich will ihn
selbst nach Worms bringen. Was kümmert es mich, wenn Kriemhild
erführt, daß ich ihn erschlagen habe! Sie hat Brunhild so schwer gekränkt;
nun acht' ich es geringe, sie mag weinen, soviel sie will."
6. Kriemhilds Leid.
Der entsetzliche Hagen läßt den Toten, sowie man in der Nacht zu
Worms angekommen ist, vor die Tür des Hauses legen, in dem Kriemhild
wohnt, wohl wissend, daß sie selbst gleich am frühen Morgen, wenn sie ihrer
Gewohnheit nach zur Messe geht, ihn da sinden wird. Furchtbar gelingt
die Freveltat. Ein Kämmerer geht mit dem Lichte voran und sieht den
Leichnam. „Frau," sagt er, „steht stille! Da liegt ein erschlagener Ritter."
Ein lauter Schrei des Entsetzens ist Kriemhilds Antwort. Sie weiß, wer
da erschlagen liegt, ohne daß man es ihr sagt. Und als sie den Erschlagenen
sieht, ruft sie: „Du bist ermordet; dein Schild ist nicht zerhauen. Dem
gilt es den Tod, der das getan!" Siegfrieds Mannen und Siegfrieds
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Vater werden geweckt. Lauter Jammer erfüllt weit und breit die Säle
und Höfe, und zur Rache scharen sich die Getreuen des erschlagenen Helden.
Kaum daß Kriemhild warnen und abwehren kann: „Es ist jetzt noch nicht
Zeit zur Rache; dereinst wird sie kommen."
Und der Tag der Rache kam, wenn auch erst nach langen, langen
Jahren. Kriemhilde, die einst so saufte liebende Frau, wird, als man ihr
grausam das Liebste genommen, zur furchtbaren Rachegöttin, die nicht
eher ruht, als bis sie Hagen, den Mörder ihres Gemahls, getötet
hat. Und ob dabei ihre Brüder und das ganze Burgundenvolk zugrunde
gehen, sie achtet's nicht, bis sie am Schluß ihre grausige Tat selbst mit dem
Tode büßt. Nach A. F. C. Vilmar.
254. Gudruns Not und Klage.
1. „Jetzt will ich's vollenden," sprach die Königin Gerlind bei sich
selbst, als ihr Sohn Hartmut zu einer neuen Heerfahrt das Normannen-
land verlassen hatte. „Mit unerbittlicher Strenge will ich Gudruns Trotz
brechen und sie behandeln wie eine niedrige Magd, bis sie willenlos zu
meinen Füßen liegt."
Und sie begab sich zu Gudrun und sagte zu ihr mit erheuchelter
Freundlichkeit: „Mein Sohn Hartmut hat aus lauge Zeit die Burg ver-
lassen, weil er bei dir nicht gefunden hat, wonach sein Herz sich sehnt.
Aber die Hoffnung hat er mitgenommen, du werdest unter meiner mütter-
lichen Zucht doch einmal verständig werden, das Vergangene vergessen und
ihm die Hand zum Bunde reichen." Unwillig schüttelte bei diesen Worten
Gudrun die Locken. Frau Gerlind bemerkte es wohl und sagte plötzlich
in verändertem Tone: „Ich rate dir, bezwinge diesen Trotz, sonst wird es
dir übel ergehen, denn meine Geduld ist am Ende."
Kein Wort erwiderte Gudrun; regungslos, als ginge die Drohung
der Königin sie nichts an, saß sie da und blickte vom hohen Fenster auf
das Meer hinaus.
„Wir haben dich zu sanft behandelt," fuhr jetzt Frau Gerlind auf.
„Von nun an wirst du meine Dienerin sein und Magddieuste in meinen
Gemächern verrichten, wirst das Feuer schüren und den Staub fegen,
hörst du wohl, stolze Tochter des Hegelingenlaudes?" — „Ich höre es,"
versetzte Gudrun ohne Bewegung. Da lachte die Königin schadenfroh und
sprach höhnisch: „Die reiche, hochfahrende Tochter des wilden Hagen hat
sich wohl nicht träumen lassen, daß ihr Kind einst Mügdearbeit am Königs-
hofe des Normannenlandes verrichten werde." „Nein," versetzte Gudrun voll
Empörung, „meine Mutter ist eine, die so Unwürdiges für unmöglich hält;
erfährt sie es aber, so wird sie es rächen." — „Wie sollte sie das zu tun
vermögen?" fragte Frau Gerlind hohnlachend. „Die Schlacht auf dem
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 27
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Wülpenwerder hat der stolzen Hegelingenherrlichkeit für immer ein Ende
gemacht, und ganz töricht ist deine Hoffnung auf Befreiung. Bedenke
doch: Jahre sind schon vergangen, und deine Freunde wollen immer noch
nicht kommen! Warum zögern sie denn so lange? Glaube mir, sie werden
nimmer kommen; dir aber gebe ich noch einmal eine kurze Frist zur Be-
sinnung. Drei Tage! Beharrst du auch dann noch auf deiner Weigerung,
so bleibt es dabei: die Tochter des Königs Hettel wird in diesem Hause
als gemeine Magd den Besen führen."
2. Ohne Gruß rauschte die Königin hinaus. Gudrun aber seufzte tief auf,
ihre Hände ballten sich vor Zorn, und schwer sank ihr das Haupt auf die
Brust herab. Vor der Schmach, die ihrer harrte, schauderte sie wohl, aber
nicht einen Augenblick war sie darüber im Zweifel, was sie zu wählen
hatte. Als die liebliche Ortrun sich jetzt hereinschlich und sie unter Tränen
beschwor, doch nachzugeben, damit ihr die Schmach erspart bliebe, die ihre
Mutter ihr bereiten wollte, da erhob sie sich von ihrem Sitze und ant-
wortete nicht ohne Vorwurf, aber doch milde und gütig: „Wie, auch du
redest mir zu, meine traute Schwester? Wie kann meine edelsinnige
Freundin sich so verirren? Weißt du nicht, Liebste, wie Nanna geschah,
als Baldur dahingeschieden war? Sie vermochte nicht länger zu leben,
und freudig folgte sie dem Geliebten in das dunkle Reich der Hel. So
steht auch mir der Sinn, meine Ortrun. Denn kommt mein Geliebter
nicht, mir die Freiheit zu erkämpfen, so wandelt er gewiß nicht mehr auf
der Männererde; ich aber will ihm Treue halten, als ob er lebte; denn
gelobt man einander nur Liebe und Treue für dieses kurze Leben? Nein,
für die Ewigkeit, denn die Edeln werden im Lichte leben, wenn schon alle
neun Welten vergangen sein werden, und über ihren Häuptern werden die
Himmlischen heilige Bücher lesen."
Staunend blickte Ortrun zu der hohen Jungfrau empor, sie war in Schmerz
und Trauer nur noch herrlicher geworden. Zustimmend neigte sie sich, küßte
Gudrun die Hand und sprach: „DeineTreue werden die guten Götter einst herr-
lich lohnen; ich aber will die Mutter für dich bitten, daß sie dich nicht erniedrige."
3. Frau Gerlind aber spottete der Bitten ihres Kindes, und als die
Frist, die sie Gudrun gesetzt, vorüber war, ging sie zu ihr, die entscheidende
Antwort zu hören. Gudrun erhob sich und sagte: „Tue, was dir dein
Herz eingibt, ich aber halte fest an Ehre und Treue." — „Törin," lachte
Frau Gerlind höhnisch auf. „Streife die goldenen Spangen von deinen
weißen Armen und den Ring von deinem Finger; ziehe die seidenen Kleider
aus und lege die gestickten Schuhe ab, denn einer gemeinen Magd ziemt
nicht solcher Prunk; gleich den andern Dirnen wirst du dich kleiden
und essen und trinken wie sie. So erwarte ich dich morgen früh, wenn
die Sonne aufgeht, in meinem Gemach."
Gudrun nahm ihr Wort schweigend hin und tat fortan, was ihr be-
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fohlen wurde. Von früh bis spät hantierte sie in den Gemächern der
Königin, aß und trank, was den Mägden gereicht wurde, und ließ nie
einen Laut der Klage hören; in der Einsamkeit ihrer Kammer aber vergoß
sie wohl oft bittre Tränen des Zorns und Wehs. — —
4. Nach langer Zeit kehrte Hartmut von seiner Ausfahrt zur Burg
der Väter zurück, und seine erste Frage und Sorge galt Gudrun. „Immer
noch verstockt ist sie," sprach voll grimmen Hasses Frau Gerlind. „Unsere
Güte und Milde hat sie verachtet, nun trotzt sie auch der Strenge, aber
ich denke: steter Tropfen höhlt den Stein, und so wird auch endlich ihr
steinharter Trotz brechen; nur Geduld, mein Sohn!"
Hartmut trat vor Gudrun, sah sie in ihrer groben Magdkleidung und
schämte sich bitter. „Gudrun," sagte der ritterliche Held, „wirf das grobe
Gewand von dir und kleide dich in Gold und Seide, wie es meiner Braut
wohl ansteht!" — „Deiner Braut? Was redest du?" entgegnete Gudrun
stirnrunzelnd. „Wie dürfte denn eine arme Magd, die mit Besen und
Schüreisen hantiert, die Braut eines Königs sein?" —- „Wahrlich, Gudrun,
es ist nicht meine Schuld, daß dem so ist, sondern deine allein," erwiderte
Hartmut nicht ohne Vorwurf. „Meine Schuld?" entgegnete Gudrun, und
heiße Glut überflutete ihr Antlitz. „Du hast mich in die Hände deiner
Mutter gegeben, und siehe, was sie aus mir gemacht hat!" „Das ist mir
wahrlich Leid genug," versetzte Hartmut ausweichend, „aber die Königin
meint es gut, nun so reiche mir endlich deine Hand, und du bist in diesem
Hause die erste Gebieterin." Gudrun antwortete: „Schmach wäre mir
solche Ehre! Wo Frau Gerlind waltet, da ist kein Platz für Gudrun."
„O," rief Hartmut, „meine Mutter stände wohl gern vor dir zurück.
Sage ihr nur, du wollest die Krone dieses Landes auf dein Haupt setzen,
so wird sie dich liebreich in ihre Arme schließen, dich hegen und schmücken
wie ihre eigene Tochter." Finster wehrte Gudrun ab und wollte sich
entfernen.
„Ha! was hindert mich," fuhr da Hartmut heftig empor, „dich zu
zwingen? Meine Kriegsbeute bist du, wie deine Mädchen, und ich habe
die Macht und das Recht, mit euch zu schalten, wie ich will. Geböte ich
dir nun: schmücke dich, Gudrun, morgen soll unsere Hochzeit sein! so
müßtest du gehorchen."
„Du wirst mir das nicht gebieten!" entgegnete sie und maß den
Königssohn mit stolzem Blicke. Da faßte Hartmut ihre Hand, blickte ihr
freundlich in die blauen Augen und flehte sanft und zärtlich: „Wenn ich
dich aber auch heute noch bitte, Gudrun?" „Auch dann nicht und nimmer,
nimmer!" rief sie, wandte sich und entzog ihm ihre Hand. „Nun,"
sprach da Hartmut plötzlich mit völlig verändertem Tone, „so mögest
du Magddienste tun bis ans Ende, an mir hast du fortan keinen Anwalt
mehr!"
27 *
420
Zürnend ging er zum Gemach hinaus, und da seine Mutter ihn
höhnisch fragte, ob sie denn nun zur Hochzeit rüsten könne, antwortete er
unwirsch: „Redet mir nicht von Hochzeit! Nichts mehr zu schaffen habe
ich mit der trotzigen Hegelingentochter." — „Nun, ich verzage noch nicht,"
versetzte Frau Gerlind nachdenklich, „ich will es noch mit härteren Mitteln
versuchen." „Tut, was Ihr wollt," antwortete Hartmut, davoneilend, „nur
zerstöret nicht ihr junges Leben."
5. Einige Tage ließ die Königin den Dingen noch ihren Lauf und
sah zu, wie Gudrun in aller Stille die niedrige Arbeit in ihren Ge-
mächern verrichtete. Da stach das goldig schimmernde Haar der könig-
lichen Dulderin ihr in die Augen. Plötzlich streckte sie die Hand darnach
aus und rief: „Schneide dein Haar ab, denn wozu bedarf eine Magd so
herrlichen Schmuckes?" Gudrun tat, als hätte sie den bittern Scherz
nicht gehört, Frau Gerlind aber änderte den Ton und sagte herber: „Die
Arbeit in meinen Gemächern ist für dich zu leicht, dafür habe ich schwache
Dirnlein genug, deren Atem gerade ausreicht, den Staub von den Geräten
zu blasen. Du hast kräftige Arme, bist sehnig und nervig, wie eine Walküre;
du könntest wohl wilde Rosse tummeln und im Kampfgetümmel die Speere
schleudern, wie jene berühinte Königin des Nordens, von der die Skalden
wunderbare Taten berichten; Brunhild ist ihr Name. Für dich weiß ich
noch andere Beschäftigung, die nicht mindere Kraft erheischt als Nosse-
tummeln und Speerwerfen; meine Wäscherin sollst du sein und von nun
an täglich zum Strande gehen, um mit einer andern Magd täglich zu
waschen."
Lauernd beobachtete die Arglistige die hohe Jungfrau und bemerkte
mit Befriedigung, wie unter ihren Worten die schlanke Müdchengestalt
erbebte. „Du hast es gehört," keifte sie rauh. „Morgen mit Tagesanbruch
bist du bereit, mit der Genossin die Wäsche an den Strand zu trägem
Denke aber bei deiner Arbeit wohl daran, daß ich jeden Abend scharf
prüfen werde, ob das Linnen schneeweiß und die Gewänder blütensauber
sind; wo nicht, so fürchte meinen Zorn!"
6. Mit boshaftem Lachen verließ die Königin das Gemach, Gudrun
aber stand wie erstarrt. Als Wäscherin sollte sie fortan am rauhen
Meeresstrande stehen? Das konnte die Arge der Königstochter nicht bieten!
Am andern Morgen aber schon wurde sie eines andern belehrt: früh vor
Tag wurde sie geweckt, mußte mit einer rauhen Magd den schweren Wäsche-
korb zum Strande tragen und dort fleißig mit ihr waschen, bis der Abend
über dem Meere dämmerte.
Und täglich stand sie nun bei der harten, strengen Arbeit am Meeres-
ufer, teilte mit der niedrigen Genossin den kargen Imbiß und mnßte ihr
heißes Herzeleid tief im Busen verschließen. Und kehrte sie dann abends
müde und rastbedürftig zur Burg zurück, so horte sie kein freundliches
421
Wort, sondern meist nur scharfen Tadel, rauhes Scheltwort oder harte
Drohungen.
Sie ließ aber alles über sich ergehen; keine Träne floß ihr vom Auge,
oft aber wollte ihr schier das Herz brechen vor Jammer und Not. Nur
mit den Möwen, die sie am Tage umschwärmten, pflog sie heimliche Zwie-
sprach, und die wilden Schwäne, welche im Herbst von Mitternacht her-
geflogen kamen, fragte sie nach ihren Geliebten in der Heimat: nach ihrer
Mutter Hilde in der Burg Matelane, nach Herwig und Ortwein, nach
Wate und Horand. Aber die weißen Vögel zogen ohne Heimatgruß und
Antwort von dannen, und seufzend klagte Gudrun: „Sie hören mich nicht;
kein Gruß kommt aus der Heimat zu mir, und ich habe nun wohl nichts
mehr zu hoffen."
Wohl schalt sie sich kleinmütig und verzagt und bat ihren Geliebten
in der Stille ihres Herzens ob solcher Anwandlung um Verzeihung; er-
blickte sie aber ein Segel auf hoher See, so schwoll ihr das Herz in neuer
Hoffnung.
7. Der Winter kam mit seinen rauhen Stürmen, seiner nordischen
Dunkelheit und bitteren Kälte. Frau Gerlind aber kannte kein Erbarmen,
sie trieb Gudrun und ihre Genossin trotz Schnee und Sturm tagtäglich
an den Strand hinaus. Da standen die Armen im wilden Wogengebraus
und schafften mit allen Kräften, damit sie ihre Glieder vor der Erstarrung
des Frostes behüteten. Aber ihr Lohn waren Scheltworte, hartes Brot
und ein kaltes Nachtlager in öder Kammer. Keine ihrer Gespielinnen litt
solche Not wie sie, und wenn eine sie erblickte in ihrem Elend, so stürzten
ihr die Tränen aus den Augen vor unaussprechlichem Mitleiden.
8. Julfest ward in der Burg gefeiert; die Herrschaft des blinden
Hödur ging zu Ende, Baldur kehrte wieder und mit ihm das Licht und
die Hoffnung.
So sing auch Gudrun nach langer, dumpfer Winternacht wieder aufs
neue an zu hoffen. Oft unterbrach sie die rauhe Arbeit und spähte gegen
Norden hinaus, ob nicht noch weiße Segel über den wallenden Fluten
erschienen. Törichte Hoffnung! Kein Kiel durchfurchte die fturmgepeitschten
Wogen; ein Tag ging nach dem andern dahin; einer so rauh, so trübe,
wie der andere. Wenn sie im Morgengrauen das Fenster trat, so seufzte
sie tief im Angesicht des weiten Meeres, und von ihren Lippen floß die
Klage:
Gudruns Klage.
1. Nun geht in grauer Frühe
der scharfe Märzenwind,
und meiner Qual und Mühe
ein neuer Tag beginnt.
Ich wall' hinab zum Strande
durch Reif und Dornen hin,
zu waschen die Gewände
der grimmen Königin.
422
2. Das Meer ist tief und herbe:
doch tiefer ist die Pein,
von Freund und Heimatserbe
allzeit geschieden sein;
doch herber ist's, zu dienen
in fremder Mägde Schar,
und hat mir einst geschienen
die güldne Krön' im Haar.
3. Mir ward kein guter Morgen,
seit ich dem Feind verfiel;
mein Speis' und Trank sind Sorgen
und Kummer mein Gespiel.
Doch berg' ich meine Tränen
in stolzer Einsamkeit;
am Strand den wilden Schwänen
allein sing' ich mein Leid.
4. Kein Dräuen soll mir beugen
den hochgemuten Sinn;
ausduldend will ich zeugen,
von welchem Stamm ich bin.
Und so sie hold gebaren,
wie Spinnweb acht' ich's nur;
ich will getreu bewahren
mein Herz und meinen Schwur.
5. O Ortwin, trauter Bruder,
o Herwig, Buhle wert,
was rauscht nicht euer Ruder,
was klingt nicht euer Schwert!
Umsonst zur Meereswüste
hin späh' ich jede Stund';
doch naht sich dieser Küste
kein Wimpel, das mir kund.
6. Ich weiß es, nicht vergessen
habt ihr der armen Maid;
doch ist nur kurz gemessen
dem steten Gram die Zeit.
Wohl kommt ihr einst, zu sühnen,
zu retten, ach, zu spät,
wann schon der Sand der Dünen
um meinen Hügel weht.
7. Es dröhnt mit dumpfem Schlage
die Brandung in mein Wort;
der Sturm zerreißt die Klage
und trägt beschwingt sie fort.
O möcht' er brausend schweben
und geben euch Bericht:
„Wohl lass' ich hier das Leben;
die Treue lass' ich nicht."
Emanuel v. Geibel.
9. Hildburg, Gudruns liebste Gespielin, konnte den Jammer ihrer
Herrin nicht länger ertragen, obwohl sie selbst schwer genug unter der
Härte der Königin litt. Sie faßte sich ein Herz, trat bei Frau Gerlind
ein und bat: „Gewährt mir die Huld, Frau Königin, und lasset mich mit
Gudrun am Strande waschen; ich will es euch täglich mit fleißiger Arbeit
danken." Verwundert blickte Frau Gerlind die Maid an, schüttelte den
grauen Kopf und sprach: „Törichte Dirne, Du weißt nicht, was du bittest,
denn das Waschen draußen ist keine Lust, sondern saure Arbeit, zumal in
meinem Dienste." „Ich weiß es wohl," versetzte Hildburg, „aber gerade,
weil die Arbeit so schwer ist, möchte ich sie mit meiner Herrin teilen,
darum gewähret mir die Bitte!" „Es sei denn!" rief Frau Gerlind
unwirsch lachend. „Aber hütet euch, die Zeit zu verplaudern! Ist am
Abend die Arbeit nicht zu meiner Zufriedenheit vollbracht, so sind Hunger
und Schläge euer Lohn."
Hildburg war der Gewährung von Herzen froh und eilte sogleich an
den Strand, ihrer Herrin die gute Botschaft zu bringen. „Du Liebste,
423
Treueste!" jubelte Gudrun und küßte mit überströmenden Augen der
Freundin Stirn. „Jetzt wird mir die saure Arbeit leicht sein, denn wir
werden von unserer Heimat, von unseren Geliebten plaudern und unsere
Herzen erquicken an freundlichen Bildern der Hoffnung und an goldigen
Träumen. Wie danke ich dir, daß du zu mir gekommen! Wie will ich
es dir lohnen, sollten wir einst zur Heimat zurückkehren! Ach, Hildburg,
du bringst meinem Herzen die Hoffnung wieder! Groß und strahlend
erhebt sie sich, wie der Sonnenhirsch, der nun von Süden kommt, von
zweien am Zaume geleitet. Auf der Erde stehen seine Füße, die goldenen
Hörner hebt er zum Himmel! Gustav Schalk.
255. Die Hunnen.
1. Sie schleichen, wie der Nebel schleicht,
der nachts vom Moor zum Berge steigt,
der Busch und Baum und Menschenkind
im Schlaf mit eklem Gift umspinnt;
sie brechen gleich dem Sturm hervor,
der Tannen knickt wie dürres Rohr,
dem Strome gleich, der überschwillt
und Stadt und Dorf mit Jammer füllt:
die Hunnen, die Hunnen!
2. Der graue Wolf ist nicht so schlimm,
der Bär im Zorne nicht so grimm:
kein Fuchs, der durch die Heide schweift,
kein Marder, der im Hofe streift,
in Feld und Wald kein wildes Tier
ist ihnen gleich an Lust und Gier.
Glaubst du sie fern, so sind sie nah,
glaubst du sie fort, so sind sie da:
die Hunnen, die Hunnen!
3. Sie ziehn heran mit Rind und Roß,
mit Schaf und Hund, ein wüster Troß.
Ihr Wagen kracht, von Beute schwer;
Werwölfen gleicht das Männerheer,
wie Vandalinnen sind die Fraun,
wie Katzen ist die Brut zu schaun.
Manch Fürstenkind, manch edle Magd,
den Weidenstrick am Arme, klagt:
die Hunnen, die Hunnen!
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4. Sie schlagen den Herrn, sie rauben den Hort,
sie schleppen das Weib als Sklavin fort;
sie leeren den Stall, sie plündern den Schrein,
sie brechen den Keller und schütten den Wein;
sie schleudern ins Haus den flackernden Span,
es kräht von der Scheune der rote Hahn;
sie werfen den Brand in das reife Korn,
und Asche weht durch Distel und Dorn:
die Hunnen, die Hunnen!
5. Das Gras verwelkt an Rain und Pfad,
wenn ihn ein Hunnenfuß betrat;
der Bach versiegt, der Born wird faul,
wenn aus ihm trank ein Hunnengaul.
Vergilbt und tot ist Kraut und Klee,
im Wald verschmachten Hirsch und Reh;
kein Vogel singt im stillen Hain,
der Wind nur seufzt am nackten Stein:
die Hunnen, die Hunnen!
6. So braust, der Hagelwolke gleich,
der wilde Schwarm von Reich zu Reich;
vor ihm die schöne grüne Welt
mit Wiesenflur und Ackerfeld;
im Rücken kreischt der Habicht schrill
um Aas und Schutt, sonst alles still. —
Und weiter stampft der ehrne Huf,
und weiter klagt der Jammerruf:
die Hunnen, die Hunnen!
Friedrich Wilhelm W eher.
256. Karl der Grotze auf der Jagd.
1. Kaiser Karl der Große fährte seine Gäste gern auf die Jagd,
denn Weidwerk blieb ihm die liebste Erholung; der Jagdgrund, zu dein
er am häufigsten zog, war der Ardennerwald. Stattlich war der Auszug
der kaiserlichen Jagd, wie ihn Angilbert, der Freund und Sänger Karls,
beschreibt.
2. Wenn die erste Morgenröte auf die Berggipfel fiel, dann eilte
die Schar der edlen Knaben vor das Schlafgemach des Königs und er-
wartete ihn auf der untersten Stufe. In der Stadt wurde es laut; die
Menge tummelte sich auf dem Platze; die Herren riefen ihren Dienern;
Roß wieherte gegen Roß. Das Leibpferd des Königs wurde an die
Stufen geführt; Zaum und Decke waren mit Gold geschmückt; stolz
425
schüttelte es die Mähne und freute sich der Bergfahrt. Endlich trat Karl
heraus; sein edles Haupt umschloß ein Goldreif; gewaltig war auch in
der Jagdlust seine Haltung und Gebärde. Der Schwarm umdrängte ihn;
die Knaben trugen die Jagdspieße mit spitzen Eisen, das leinene Netz mit
vierfachem Saume, sie führten die halsgefesselten Hunde, Winde und Bracken.
Das Stadttor öffnete sich; die Hörner tönten; lustig zogen die Klänge
durch die Lust; der König fuhr mit seinem Jagdgefolge ins Freie. Länger
säumte die Königin; endlich kam sie aus dem Schlafgemach, gefolgt von
großer Schar. Die Locken hingen mit Purpurband durchwunden aus den
hellen Hals, goldene Fransen umsäumten das dunkle Purpurgewand, an
der Schulter glänzte ein kostbarer Beryll, auf der Stirn das goldene
Diadem, am Halse ein Band von Edelsteinen. Die Königin bestieg ihr
Roß, das feurig unter der Hand des Knaben aufbäumte, und folgte mit
großer Begleitung dem Gemahl. Die übrige Jugend erwartet an der
Tür die Kinder des Königs. Nach der Ehre ihres Alters treten sie
einzeln hervor, Karl, der Älteste, das verjüngte Abbild des Vaters, dann
der kriegstüchtige Pipin, der Liebling des Hofes, mit einer großen Schar
der Begleiter, auch er die Schläfe mit goldnem Reise geschmückt. Mit
der Schar der Edeln reiten sie in das Freie; groß ist Getön und Ge-
dräng; laut schallen die Hörner, bellen die Hunde. Jetzt erst folgt die
Reihe der Königstöchter; sie schwingen sich mit den Frauen ihres Ge-
folges auf die Rosse; sie jagen auf flüchtigen Rossen den Männern nach
in das Freie.
3. Das ganze Jagdheer ist am Waldessäume gesammelt. Die Ketten
werden den Hunden abgelöst; sie stürzen in das Holz, das Wild zu suchen.
Die Reiter umgeben das Dickicht, Gebell erschallt, ein Eber ist gefunden,
den Hunden stürmen die Männer nach, von lautem Getöse ertönt der
Wald. Der Eber stürzt vorwärts und hält sich aus der Höhe des Berges.
Die Hunde erreichen ihn; er aber fällt sie mit scharfem Zahn. Da sprengt
der König selbst herzu, und als der Schnellste im Haufen stößt er ihm
das Eisen in die borstige Brust und ruft laut dem Gefolge zu. „Gut
Heil dem Tage, wie der Ansang war; wohlauf an Weidmanns Werk mit
Gunst, Gesellen!" — Kaum war das Wort gesprochen, so stob der Haufe
den Berg hinab, und jeder dachte der Beute; Karl aber flog allen voran,
den Wurfspeer in der Hand.
4. Viel Wild ward erlegt bis zum Abend. Da teilte der König die
Jagdbeute unter alle Edeln; dann ging der Zug nach der grünen Lichtung
wo ein Bach floß, Wohnsitz von vielen Vögeln, die dort hausten und
badeten. Dort standen goldgeschmückte Zelte auf dem Grunde und hin
und wieder die Jagdhütten der Edeln. Und Karl rüstete den Jagd-
genossen ein frohes Mahl und setzte sie, nach den Jahren gesellt, die
würdigen Greise zusammen, die Männer bei vollen Jahren und wieder
426
die flügge Jugend, und gesondert die Jungfrauen. Er ließ den Wein
auf die Tische setzen. Unterdes sank die Sonne, die Nacht stieg herauf,
die Müden ruhten aus unter dem Zeltdache im grünen Walde.
5. Nicht ohne Gefahren war die Jagd gm Bergwald; noch wurde
der Bär und Auerochs verfolgt, und Karl selbst erlebte mit dem Getier
Abenteuer. Einst, — es war in früheren Jahren, — verfolgte er einen
Trupp Ure. Er fuhr an eins der Tiere heran und hob die Waffe;
aber der Schlag mißlang; das greuliche Tier zerriß dem Könige die
Strümpfe und die Bänder der Schuhe und traf mit der Spitze des Horns
sein Bein. Jsambard aber, der Sohn des Warin, sprang gegen das Tier,
bohrte den Speer zwischen Schulter und Hals bis in das Herz und wies
das zuckende Ungeheuer dem Könige. Der König aber tat, als sähe er's
nicht. Nun kamen alle und wollten zum Dienste des Königs ihre Strümpfe
ausziehen; er aber hinderte sie und sprach: „So zugerichtet muß ich zu
Hildegard kommen." Der König ritt zurück; er rief die Königin, zeigte
ihr den zerrissenen Fuß und sprach: „Was verdient der, der mich von
diesem Gegner befreit hat?" Und sie erwiderte: „Das Beste." Da er-
zählte der Herr ihr alles der Reihe nach und legte ihr die ungeheuern
Hörner als Zeichen hin; sie aber stöhnte und weinte und schlug sich die
Brust. Und da Jsambard damals in Ungnade war und aller Würden
beraubt, so warf sie sich dem Könige zu Füßen und erbat für Jsambard
alles zurück, und sie selbst spendete ihm Gaben. Gustav Freytag.
257. Klein Roland.
1. Frau Berta saß in der Felsenkluft,
sie klagt ihr bittres Los;
klein Roland spielt' in freier Luft,
des Klage war nicht groß.
2. „O König Karl, mein Bruder hehr,
o daß ich floh von dir!
Um Liebe ließ ich Pracht und Ehr',
nun zürnst du schrecklich mir.
3. O Milon, mein Gemahl, so süß,
die Flut verschlang mir dich.
Die ich um Liebe alles ließ,
nun läßt die Liebe mich.
4. Klein Roland, du mein teures Kind,
nun Ehr' und Liebe mir!
Klein Roland, komm herein geschwind!
Mein Trost kommt all von dir.
427
5. Klein Roland, geh zur Stadt hinab,
zu bitten um Speis' und Trank;
und wer dir gibt eine kleine Gab',
dem wünsche Gottes Dank!" —
6. Der König Karl zur Tafel saß
im goldnen Rittersaal;
die Diener liefen ohn' Unterlaß
mit Schüsseln und Pokal.
7. Von Flöten, Saitenspiel, Gesang
ward jedes Herz erfreut;
doch reichte nicht der helle Klang
zu Bertas Einsamkeit.
8. Und draußen in des Hofes Kreis,
da saßen der Bettler viel;
die labten sich an Trank und Speis'
mehr als am Saitenspiel.
9. Der König schaut' in ihr ©ei>räug’
wohl durch die offne Tür,
da drückt sich durch die dichte Meng'
ein feiner Knab' herfür.
10. Des Knaben Kleid ist wunderbar,
vierfarb zusammengestückt;
doch weilt er nicht bei der Bettlerschar,
herauf zum Saal er blickt.
11. Herein zum Saal klein Roland tritt,
als wär's sein eigen Haus;
er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt'
und trägt sie stumm hinaus.
12. Der König denkt: „Was muß ich sehn?
Das ist ein sondrer Brauch."
Doch weil er's ruhig läßt gescheh'n,
so lassen's die andern auch.
13. Es stund nur an eine kleine Weil',
klein Roland kehrt in den Saal;
er tritt zum König hin mit Eil'
und faßt seinen Goldpokal.
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14. „Herda! Halt an, du kecker Wicht!"
Der König ruft es laut.
Klein Roland läßt den Becher nicht,
zum König auf er schaut.
15. Der König erst gar finster sah,
doch lachen mußt' er bald:
„Du trittst in die gold'ne Halle da
wie in den grünen Wald.
16. Du nimmst die Schüssel von Königs Tisch,
wie man Äpfel bricht vom Baum;
du holst, wie aus dem Bronnen frisch,
meines roten Weines Schaum." —
17. „Die Bäuerin schöpft aus dem Bronnen frisch,
die bricht die Äpfel vom Baum;
meiner Mutter ziemet Wildbret und Fisch,
ihr roten Weines Schaum."
18. „Ist deine Mutter so edle Dam',
wie du berühmst, mein Kind,
so hat sie wohl ein Schloß lustsam
und stattlich Hofgesind'?
19. Sag an, wer ist denn ihr Truchseß?
Sag an, wer ist ihr Schenk?" —
„Meine rechte Hand ist ihr Truchseß,
meine linke, die ist ihr Schenk." —
20. „Sag an, wer sind die Wächter treu?"
„Mein' Augen blau allstund." —
„Sag an, wer ist ihr Sänger frei?" —
„Der ist mein roter Mund." —
21. „Die Dam' hat wackre Diener, traun!
Doch liebt sie sondre Livrei,
wie Regenbogen anzuschau'n,
mit Farben mancherlei." —
22. „Ich hab' bezwungen der Knaben acht
von jedem Viertel der Stadt,
die haben mir als Zins gebracht
vierfältig Tuch zur Wat." —
429
23. „Die Dame hat, nach meinem Sinn,
den besten Diener der Welt.
Sie ist wohl Bettlerkönigin,
die offne Tafel hält?
24. So edle Dame darf nicht fern
von meinem Hofe sein:
Wohlauf, drei Damen! auf, drei Herrn!
führt sie zu mir herein!"
25. Klein Roland trägt den Becher flink
hinaus zum Prunkgemach;
drei Damen auf des Königs Wink,
drei Ritter folgen nach.
26. Es stund nur an eine kleine Weil',
(der König schaut in die Fern')
da kehren schon zurück mit Eil'
die Damen und die Herrn.
27. Der König ruft mit einemmal:
„Hilf, Himmel! Seh' ich recht?
Ich hab' verspottet im offnen Saal
mein eigenes Geschlecht.
28. Hilf, Himmel! Schwester Berta, bleich,
im grauen Pilgergewand!
Hilf, Himmel! In meinem Prunksaal reich
den Bettelstab in der Hand!"
29. Frau Berta fällt zu Füßen ihm,
das bleiche Frauenbild.
Da regt sich plötzlich der alte Grimm,
er blickt sie an so wild.
30. Frau Berta senkt die Augen schnell,
kein Wort zu reden sich traut;
klein Roland hebt die Augen hell,
den Ohm begrüßt er laut.
31. Da spricht der König mit mildem Ton:
„Steh auf, du Schwester mein!
Um diesen deinen lieben Sohn
soll dir verziehen sein."
430
32. Frau Berta hebt sich freudenvoll:
„Lieb Bruder mein, wohlan!
Klein Roland dir vergelten soll,
was du mir Gut’s getan.
33. Soll werden seinem König gleich,
ein hohes Heldenbild,
soll führen die Färb' von manchem Reich
in seinem Banner und Schild.
34. Soll greifen in manches Königs Tisch
mit seiner freien Hand,
soll bringen zu Heil und Ehre frisch
sein seufzend Mutterland."
Ludwig Uhland.
258. Roland Schildträger.
1. Der König Karl saß einst zu Tisch
zu Aachen mit den Fürsten.
Man stellte Wildbret auf und Fisch
und ließ auch keinen dürsten.
Viel Goldgeschirr von klarem Schein,
manch roten, grünen Edelstein
sah man im Saale leuchten.
2. Da sprach Herr Karl, der starke Held:
„Was soll der eitle Schimmer?
Das beste Kleinod dieser Welt,
das fehlet uns noch immer.
Dies Kleinod, hell wie Sonnenschein,
ein Riese trägt’s im Schilde sein
tief im Ardennerwalde.“
3. Graf Richard, Erzbischof Turpin,
Herr Haimon, Naims von Bayern,
Milon von Anglant, Graf Garin,
die wollten da nicht feiern.
Sie haben Stahlgewand begehrt
und hießen satteln ihre Pferd’,
zu reiten nach dem Riesen.
4. Jung Roland, Sohn des Milon, sprach:
„Lieb’ Vater, hört, ich bitte!
Vermeint Ihr mich zu jung und schwach,
daß ich mit Riesen stritte,
431
doch bin ich nicht zu winzig mehr,
Euch nachzutragen Euren Speer
samt Eurem guten Schilde.“
5. Die sechs Genossen ritten bald
vereint nach den Ardennen;
doch als sie kamen in den Wald,
da täten sie sich trennen.
Roland ritt hinterm Vater her;
wie wohl ihm war, des Helden Speer,
des Helden Schild zu tragen!
6. Bei Sonnenschein und Mondenlicht
streiften die kühnen Degen;
doch fanden sie den Riesen nicht
in Felsen noch Gehegen.
Zur Mittagsstund’ am vierten Tag
der Herzog Milon schlafen lag
in einer Eiche Schatten.
7. Roland sah in der Ferne bald
ein Blitzen und ein Leuchten,
davon die Strahlen in dem Wald
die Hirsch’ und Reh’ aufscheuchten;
er sah, es kam von einem Schild,
den trug ein Riese, groß und wild,
vom Berge niedersteigend.
8. Roland gedacht’ im Herzen sein:
„Was ist das für ein Schrecken!
Soll ich den lieben Vater mein
im besten Schlaf erwecken?
Es wachet ja sein gutes Pferd,
es wacht sein Speer, sein Schild und Schwert,
es wacht Roland, der junge.“
9. Roland das Schwert zur Seite band,
Herrn Milons starkes Waffen;
die Lanze nahm er in die Hand
und tät den Schild aufraffen;
Herrn Milons Roß bestieg er dann
und ritt erst sachte durch den Tann,
den Vater nicht zu wecken.
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10. Und als er kam zur Felsen wand,
da sprach der Fies' mit Lachen:
„Was will doch dieser kleine Fant
auf solchem Rosse machen?
Sein Schwert ist zwier so lang als er,
vom Rosse zieht ihn schier der Speer,
der Schild will ihn erdrücken.“
11. Jung Roland rief: „Wohlauf zum Streit!
Dich reuet noch dein Necken.
Hab’ ich die Tartsche lang und breit,
kann sie mich besser decken.
Ein kleiner Mann, ein großes Pferd,
ein kurzer Arm, ein langes Schwert
muß eins dem andern helfen.“
12. Der Riese mit der Stange schlug,
auslangend in die Weite;
jung Roland schwenkte schnell genug
sein Roß noch auf die Seite.
Die Lanz’ er auf den Riesen schwang,
doch von dem Wunderschilde sprang
auf Roland sie zurücke.
13. Jung Roland nahm in großer Hast
das Schwert in beide Hände,
der Riese nach dem seinen faßt’,
er war zu unbehende.
Mit flinkem Hiebe schlug Roland
ihm unterm Schild die linke Hand,
daß Hand und Schild entrollten.
14. Dem Riesen schwand der Mut dahin,
wie ihm der Schild entrissen;
das Kleinod, das ihm Kraft verliebn,
mußt’ er mit Schmerzen missen.
Zwar lief er gleich dem Schilde nach,
doch Roland in das Knie ihn stach,
daß er zu Boden stürzte.
15. Roland ihn bei den Haaren griff,
hieb ihm das Haupt herunter,
ein großer Strom von Blute lief
ins tiefe Tal hinunter.
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Und aus des Toten Schild hernach
Roland das lichte Kleinod brach
und freute sich am Glanze.
16. Dann barg er’s unterm Kleide gut
und ging zu einem Quelle;
da wusch er sich von Staub und Blut
Gewand und Waffen helle.
Zurücke ritt der jung’ Roland
dahin, wo er den Vater fand
noch schlafend bei der Eiche.
17. Er legt sich an des Vaters Seit’,
vom Schlafe selbst bezwungen,
bis in der kühlen Abendzeit
Herr Milon aufgesprungen:
„Wach auf, wach auf, mein Sohn Roland,
nimm Schild und Lanze schnell zur Hand,
daß wir den Riesen suchen!“
18. Sie stiegen auf und eilten sehr,
zu schweifen in der Wilde;
Roland ritt hinterm Vater her
mit dessen Speer und Schilde.
Sie kamen bald zu jener Statt’,
wo Roland jüngst gestritten hätt’,
der Riese lag im Blute.
19. Roland kaum seinen Augen glaubt,
als nicht mehr war zu schauen
die linke Hand, dazu das Haupt,
so er ihm abgehauen,
nicht mehr des Riesen Schwert und Speer,
auch nicht sein Schild und Harnisch mehr
nur Rumpf und blut’ge Glieder.
20. Milon besah den großen Rumpf:
„Was ist das für ’ne Leiche?
Man sieht noch am zerhau’nen Stumpf,
wie mächtig war die Eiche.
Das ist der Riese! Frag’ ich mehr?
Verschlafen hab’ ich Sieg und Ehr’,
drum muß ich ewig trauern.“ —
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 28
434
21. Zu Aachen vor dem Schlosse stund
der König Karl gar bange:
„Sind meine Helden wohl gesund?
Sie weilen allzulange.
Doch seh ich recht, auf Königswort!
so reitet Herzog Haimon dort,
des Kiesen Haupt am Speere.“
22. Herr Haimon ritt in trübem Mut,
und mit gesenktem Spieße
legt er das Haupt, besprengt mit Blut,
dem König vor die Füße:
Ich fand den Kopf im wilden Hag,
und fünfzig Schritte weiter lag
des Riesen Kumpf am Boden.“
23. Bald auch der Erzbischof Turpin
den Riesenhandschuh brachte,
die ungefüge Hand noch drin;
er zog sie aus und lachte:
„Das ist ein schön Reliquienstück,
ich bring' es aus dem Wald zurück,
fand es schon zugehauen.“
24. Der Herzog Naims von Bayerland
kam mit des Riesen Stange:
„Schaut an, was ich im Walde fand!
ein Waffen, stark und lange.
Wohl schwitz’ ich von dem schweren Druck;
hei! bayrisch Bier, ein guter Schluck,
sollt' mir gar köstlich munden!“
25. Graf Richard kam zu Fuß daher,
ging neben seinem Pferde;
das trug des Riesen schwere Wehr,
den Harnisch samt dem Schwerte:
„Wer suchen will im wilden Tann,
manch Waffenstück noch finden kann,
ist mir zu viel gewesen.“
26. Der Graf Garin tät ferne schon
den Schild des Riesen schwingen.
„Der hat den Schild, des ist die Krön’,
der wird das Kleinod bringen!“ —
435
„Den Schild hab’ ich, ihr Heben Herrn,
das Kleinod hätt’ ich gar zu gern,
doch das ist ausgebrochen.“
27. Zuletzt tät man Herrn Milon sehn,
der nach dem Schlosse lenkte;
er ließ das Rößlein langsam gehn,
das Haupt er traurig senkte.
Roland ritt hinterm Vater her
und trug ihm seinen starken Speer
zusamt dem festen Schilde.
28. Doch wie sie kamen vor das Schloß
und zu den Herrn geritten,
macht er von Vaters Schilde los
die Zierat in der Mitten.
Das Riesenkleinod setzt’ er ein,
das gab so wunderklaren Schein
als wie die liebe Sonne.
29. Und als nun diese helle Glut
im Schilde Milons brannte,
da rief der König frohgemut:
„Heil Milon von Anglante!
Der hat den Riesen übermannt,
ihm abgeschlagen Haupt und Hand,
das Kleinod ihm entrissen.“
30. Herr Milon hatte sich gewandt,
sah staunend all die Helle:
„Roland, sag an, du junger Fant!
wer gab dir das, Geselle?“
„Um Gott, Herr Vater, zürnt mir nicht,
daß ich erschlug den groben Wicht,
derweil Ihr eben schliefet!“
Ludwig Uhland.
259. Das weitze Sachsenrotz.
1. Es jagt der Sturm im grünen Wald,
er reitet und zwängt der Eichen Wucht.
Die alte Weser muß ihre Wellen
vor Zorn und Angst am Fels zerschellen,
und vom Gebirg und aus der Schlucht
des Donners Siegesrusen hallt.
28*
436
2. Ein srünk'scher Mann, gar müd' und still,
verlassen irrt im fremden Land;
die Glieder brechen ihm fast zusammen,
doch löscht ihm nichts des Auges Flammen;
da steht ein Hüttlein an dem Slrand:
„Hallo, ein Fremder Obdach will!"
3. Ein Sachse hoch, mit stolzem Blick,
sieht lang' und fremd den Franken an:
„Kommst du, um Gastfreundschaft zu bitten,
so bist du sicher in Sachsenhütten."
Da trat den Herd der Franke an,
er nahm den Becher und gab ihn zurück.
4. Sie sitzen ernst am heil'gen Herd,
sie sehen schweigend einander an,
und stumm bewundert immer wieder
ein jeder des andern Heldenglieder.
Da hebt zuletzt der Franke an:
„Bei Gott, wir sind einander wert!
5. Wenn solcher viel das Sachsenland
zum Kampf gen unsern König stellt,
so möchte Karol bitter klagen,
daß Sachs' und Frank' noch Schlachten schlagen."
Da führt' der Sachse ihn an der Hand
hinaus aufs regengrüne Feld.
6. Ein weißes Roß, gar stark und schön,
sprang auf der freien Weide frei.
„O, laß das schöne Roß uns fangen!"
So sprach der Franke mit Verlangen.,
„Gefangen hat's noch keiner gesehn,
doch auf mein Locken kommt es frei."
7. Und wie er es gerufen mild,
da kommt es lustig wiehernd an
und bäumt die schlanken Vordersüße
und bringet seine besten Grüße.
Da sprach der Sachse: „Siehe da,
das ist des Sachsenvolkes Bild!"
8. Der Franke reichet ihm die Hand:
„Das war ein Wort zu seiner Zeit;
du sollst von frünk'scher Großmut hören,
437
dem Kampf der Völker will ich wehren
du, denke dieser Stunde heut',
ich bin der König Karl genannt."
9. Der Sachse reichet ihm die Hand:
„Hast sränk'sche Großmut du genannt,
so lern' auch Sachsentreue kennen:
Ich will dir deinen Gastsreund nennen,
Herr Karl, du bist in mächt'ger Hand,
ich bin der Wittekind genannt."
10. Da rief Herr Karl: „Ja, treu und frei!
Das edle Roß, das ist dein Bild!
Nun soll der goldne Friede tagen,
du sollst die Herzogskrone tragen;
das weiße Roß, das führ' im Schild,
für ewig sei es treu und frei!"
Max ö. Oer.
260. Heinrich der Vogelsteller
1. Herr Heinrich sitzt am Vogelherd
recht froh und wohlgemut;
aus tausend Perlen blinkt und blitzt
der Morgenröte Glut.
2. In Wies' und Feld und Wald und Au, —
horch, welch ein süßer Schall!
Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag,
die süße Nachtigall!
3. Herr Heinrich schaut so fröhlich drein:
„Wie schön ist heut' die Welt!
Was gilt's? Heut' gibt's 'neu guten Fang!"
Er lugt zum Himmelszelt.
4. Er lauscht und streicht sich von der Stirn
das blondgelockte Haar:
„Ei doch! Was sprengt denn dort herauf
für eine Reiterschar?"
5. Der Staub wallt auf, der Hufschlag dröhnt,
es naht der Waffen Klang.
„Daß Gott! Die Herrn verderben mir
den ganzen Vogelfang!"
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6. „Ei nun! — Was gibt's?" — Es hält der Troß
vorm Herzog plötzlich an,
Herr Heinrich tritt hervor und spricht:
„Wen sucht ihr da? Sagt an!"
7. Da schwenken sie die Fähnlein bunt
und jauchzen: „Unsern Herrn! —
Hoch lebe Kaiser Heinrich, hoch
des Sachsenlandes Stern!"
8. Dies rusend knien sie vor ihm hin
und huldigen ihm still
und rufen, als er staunend fragt:
„'s ist Deutschen Reiches Will'!"
9. Da blickt Herr Heinrich tiefbewegt
hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabst mir einen guten Fang! —
Herr Gott, wie dir's gefällt!"
Johann Nepomuk Vogl.
261. Heinrich I. als Städteerbauer.
1. Größere befestigte Ortschaften kannte man zur Zeit Heinrichs in
Sachsen und Thüringen noch nicht; nur an den Ufern des Rheins und
der Donau und jenseits dieser Flüsse, wo einst die Römer gewohnt hatten,
gab es auf deutschem Boden volkreiche Städte mit festen Mauern und
Türmen, die aber seit den Normannenzügen und den Ungarkriegen meist
in Schutt und Trümmern lagen. Die Sachsen wohnten noch nach alter
Sitte auf einzelnstehenden Höfen, mitten in ihren Fluren und Äckern,
oder hatten sich in offene Dörfer zusammengebaut. Nur hier und da
erhoben sich im Lande Königspfalzen und feste Schlösser adeliger Herren,
nur hier und da wurden die umfriedeten Sitze der Bischöfe, Priester und
Mönche die ersten Sammelpunkte eines lebendigern Verkehrs. Auch die
Grenzmarken waren schlecht gehütet; die Festen, die Karl der Große einst
hier angelegt hatte, waren meist in den Kriegen gegen die Dänen und
Wenden zerstört. Das Land lag also, ohne Gegenwehr leisten zu können,
dem einbrechenden Feind offen, der dann im Innern bei der Zerstreuung
der Wohnsitze ebensowenig aufzuhalten war. Das erste Erfordernis schien
deshalb Heinrich, die bestehenden Burgen zu erweitern und stärker zu
befestigen, wie neue Festen anzulegen, um größere Streitkräfte in sichern
Plätzen sammeln zu können. Besonders mußte dies an den Grenzen ge-
schehen, um den Feind an der Schwelle des Landes zurückzuweisen.
2. Tag und Nacht wurde nun in den Markgegenden gebaut; Haus
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mußte an Haus, Hof au Hof sich schließen; alles wurde mit Mauern
und Wällen umschlossen. Ohne Rast und Ruhe ging die Arbeit fort;
ungewohnte Anstrengungen mutete Heinrich dem Volke zu, denn es sollte
im Frieden sich abhärten, um die Entbehrungen des Kriegs leichter bestehn
zu können. So stiegen schnell mit Wällen und Mauern umringte Ort-
schaften in jenen Grenzgegenden auf; kleinere Plätze wurden vergrößert,
zerstörte Befestigungen hergestellt, oft erhoben sich zahlreichere Wohnungen
der Menschen plötzlich, wo früher nur eine einsame Hütte gestanden hatte.
Damals wurde Quedlinburg am Harz auf Fluren, welche die Bode durch-
fließt, von Grund aus aufgebaut; Merseburg, das dem Könige immer ein
teurer Ort war, wurde vergrößert und erhielt eine neue steinerne Mauer.
3. In Merseburg eröffnete Heinrich zugleich ein Asyl für Verbrecher;
es geschah, um die Stadt zu bevölkern und wehrhaft gegen die Feinde
zu machen. Dieses verdächtige Volk wohnte in der Vorstadt Merseburgs,
während die eigentliche Burg von verläßlicheren Dienstleuten besetzt war.
Heinrich gab ihnen Äcker und Waffen und gebot ihnen, mit ihren Lands-
leuten Frieden zu halten; gegen die Wenden aber erlaubte er ihnen auf
den Raub auszuziehen, so oft sie es wollten.
4. Aber auch auf andre Weise suchte Heinrich die Bevölkerung der
neuen Burgen zu heben. Er gebot, alle Gerichtstage, Volksversammlungen
und Gelage fortan innerhalb der Burgmauern zu halten; so oft die Sachsen
.zusammenkamen, sollten sie sich in den Burgen versammeln, damit sie,
die das Leben in eingeschlossenen Orten immer noch für eine Einkerkerung
hielten, sich allmählich daran gewöhnten. Auch hier scheint er dem Bei-
spiel König Eduards gefolgt zu sein, der in ähnlicher Weise alle Kauf-
handlungen innerhalb der Burgtore vorzunehmen gebot. Aber die befestig-
ten Ortschaften Sachsens und Thüringens sollten bei einem neuen Einbruch
der Feinde nicht nur die Möglichkeit zu einem kräftigeren Widerstand
gewähren, sondern zugleich allen Grenzbewohnern Zuflucht und Sicherheit
bieten. Deshalb mußte jeder neunte Manu von den Dienstleuten in die
Stadt ziehen, hier für sich und zugleich für feine acht Gefährten Wohnung
herrichten, wie auch Speicher und Vorratskammern besorgen; denn der
dritte Teil aller Feldfrüchte, die man gewann, mußte in die Stadt ein-
geliefert werden und wurde dort aufgespeichert. Die acht aber, die
draußen waren, bestellten für den in der Stadt das Feld, säten und
ernteten für ihn und brachten die Ernte in seine Scheunen. Außer-
halb der Stadt sollten diese Dieustleute sich keine oder nur wertlose
Wohnungen anlegen, da diese doch bei dem ersten Angriff vom Feinde
zerstört würden.
5. Obwohl diese Anordnungen zunächst nur für die Marken Sachsens
und Thüringens getroffen waren und auch nur dort durchgeführt werden
konnten, wirkten sie doch auch tiefer in das Land hinein und gewöhnten
440
die Sachsen mit der Zeit cm das städtische Leben. Allmählich bildeten
sich um die königlichen Pfalzen und die größern Burgen volkreiche Orte,
auch um die Bischofssitze und die berühmtesten Kirchen und Klöster er-
wuchs ein lebendiger Verkehr, zahlreicher bauten die Menschen hier sich
an und befestigten bald ihre Wohnorte gegen die Feinde. So entstanden
die Städte Sachsens und Thüringens zunächst als Wehr gegen äußere
Feinde, dann aber als ein fruchtbarer, friedlich eingehegter Boden, auf
dem die schönsten Früchte deutschen Fleißes und deutscher Geistestiefe ge-
deihen sollten. Ist es auch nicht richtig, daß Heinrich die städtischen
Freiheiten und Gerechtsame in Deutschland begründet hat, wie man früher
wohl glaubte, so trägt er den Beinamen des Städtegründers doch nicht
ganz mit Unrecht, denn er war es, der die Sachsen zuerst an das Leben
hinter Mauern. Wällen und den Verschluß der Tore gewöhnte, der die
Zerstreuten in engere Kreise des Lebens zusammendrängte. Wenn daher
einer durch das weite Sachsenland zieht, und es winkt ihm von fern eine
volkreiche Stadt mit ihren Türmen, und er beim Eintritt sieht, wie hier
Tausende ein friedliches und fleißiges Leben führen, so mag er Heinrichs
gedenken, der die Sachsen zum Städtebau zwang.
Wilhelm t>. Giesebrecht.
262. Ottos I. Krönung.
1. Als Heinrich I. gestorben war, versammelten sich alsbald die
Franken und Sachsen zur Wahl eines neuen Königs. Getreu einem
dem Könige Heinrich gegebenen Versprechen, wählten sie seinen
Sohn Otto zum König, den der Vater als seinen dereinstigen Nach-
folger bezeichnet hatte. Aber Otto selbst verlangte nach einer voll-
ständigeren Anerkennung seiner königlichen Stellung. Man bestimmte
daher, zu Aachen, in der alten Kaiserburg Karls des Großen, sollten
die Herzoge, Grafen und die vornehmsten Reichsvasallen aus allen
deutschen Ländern sich versammeln, um die getroffene Wahl allge-
mein anzuerkennen und dem neuen Könige zu huldigen, der dann
nach altem Brauche gesalbt und gekrönt werden sollte.
2. Und so geschah es am 8. August des Jahres 936. In der
Säulenhalle, welche die Kaiserpfalz mit dem Münster verband, stand
der Marmorstuhl Karls des Großen, der Erzthron des Reiches; hier
versammelten sich die Großen aus allen deutschen Landen, erhoben
Otto auf den Thron und gelobten ihm unter Handschlag Treue auf
immerdar und Beistand gegen alle seine Widersacher. So huldigten
sie ihm nach alter Sitte auf fränkischer Erde als Karls des Großen
Nachfolger und König der Franken. Nach der Huldigung begab
sich Otto, von den Herzogen, Grafen und Herren begleitet, in feier-
441
lichem Zuge zum Münster. Die Gänge oben erfüllte dicht gedrängt
das Volk, das von weit und breit zum großen Feste herbeigeströmt
war. In. dem untern Raum aber erwartete der Erzbischof Hildebert
von Mainz mit allen Erzbischöfen, Bischöfen und Priestern, die sich
eingestellt hatten, den jungen König. Als dieser an der Pforte er-
schien, schritt er ihm entgegen, den Krummstab in der Rechten,
und führte ihn mit der Linken bis in die Mitte des Münsters, wo
Kaiser Karls Grabstein liegt und Otto von allen Seiten erblickt
werden konnte. Hier wandte er sich um und rief laut zu dem
Volke: „Sehet, ich führe euch Otto zu, den Gott zu eurem König
erwählt, König Heinrich bestimmt und alle Fürsten erhoben haben.
Gefällt euch solche Wahl, so erhebt eure Rechte zum Himmel!“
Alle erhoben die Hände, und donnernd hallte es in der Runde: „Heil
und Segen dem neuen Herrscher!“
3. Darauf schritt der Erzbischof mit Otto bis zum Altare vor,
wo Schwert und Wehrgehenk, Mantel und Spangen, Zepter, Stab
und Krone, die Zeichen der königlichen Würde, bereit lagen. Zuerst
nahm er Schwert und Wehrgehenk und sprach zum Könige ge-
wendet: „Nimm hin dies Schwert und triff damit alle Feinde des
Herrn, Heiden und schlechte Christen. Denn darum hat dir Gottes
Wille alle Gewalt über das Reich der Franken verliehen, daß die
ganze Christenheit sichern Frieden gewinne.“ Dann ergriff er den
Mantel mit den Spangen und legte ihm denselben an mit folgenden
Worten: „Die Säume dieses Gewandes, die bis zur Erde herab wallen,
sollen dich mahnen, bis an das Ende auszuharren im Eifer für den
Glauben und in der Sorge für den Frieden.“ Und als er ihm Zepter
und Stab überreichte, sprach er: „An diesen Zeichen lerne, daß du
väterlich züchtigen sollst, die dir untergeben sind! Vor allem aber,“
fuhr er fort, „strecke deine Hand aus voll Barmherzigkeit gegen die
Diener Gottes, wie gegen die Witwen und Waisen, und nimmer
versiege auf deinem Haupte das Ol des Erbarmens, auf daß du hier
und dort die unvergängliche Krone zum Lohn empfangest!“ Mit
diesen Worten nahm er das Ölhorn, salbte ihn mit dem heiligen Öle,
das die Kirche als ein Zeichen der Barmherzigkeit ansieht, und
setzte ihm unter Beihilfe des Erzbischofs Wikfried von Köln das
goldne Diadem auf das Haupt. Als so die Krönung vollbracht war,
stieg Otto, schon im Glanze der Krone, zu dem Thron empor, der
zwischen zwei Marmorsäulen von wunderbarer Schönheit erhöht war,
von wo er das ganze versammelte Volk überblickte und von allen
gesehen werden konnte. Hier blieb er, während die Messe gehalten
wurde; dann stieg er vom Throne herab und kehrte zur Pfalz Karls
des Großen zurück.
442
4. In der Pfalz war inzwischen an marmorner Tafel das Königs-
mahl mit auserlesener Pracht bereitet. Mit den Bischöfen und
Herren setzte sich der neue Herrscher zu Tische, und es dienten
ihm beim Krönungsmahle die Herzoge der deutschen Länder. So
ist es zuerst damals geschehen und oft dann in der Folge; es war
ein Zeichen, daß die Herzoge der einzelnen Länder den König, der
über das ganze Volk gesetzt war, als ihren Herrn erkannten, daß
sie nichts andres sein sollten und wollten als die ersten seiner
Dienstleute. Denn wie an dem Hofhält der deutschen Fürsten von
alters her die mächtigsten und angesehensten unter den Dienstleuten
als Mundschenk, Kämmerer; Truchseß und Marsch all die Person des
Fürsten umgaben und ihrer warteten, so leistete damals der Loth-
ringerherzog Giselbert, in dessen Gebiet Aachen lag, die Dienste des
Kämmerers und ordnete die ganze Feier; der Frankenherzog Eber-
hard sorgte als Truchseß für die Tafel; der Schwabenherzog Her-
mann stand als oberster Mundschenk den Schenken vor; und Arnulf
von Bayern nahm für die Ritter und ihre Pferde als Marschall Be-
dacht, wie er auch die Stellen bezeichnet hatte, wo man lagern und
die Zelte aufschlagen konnte. Denn die alte Kaiserstadt reichte
nicht aus, die Zahl aller der Herren, die nach Aachen geritten waren,
in sich zu fassen.
5. Als die Festlichkeiten beendet waren, lohnte Otto einem jeden
der Großen mit reichlicher Gunst und großen Geschenken, und froh
kehrten alle in die Heimat zurück. Ein solches Fest hatten die
deutschen Völker bisher nicht gesehen, und nie ist eine Krönungs-
feier von gleicher Bedeutung wieder begangen worden.
Wilhelm v. Giesebrecht.
263. Der gleitende Purpur.
1. „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!"
schallt im Münsterchor der Psalm der Knaben.
Kaiser Otto lauscht der Mette,
Diener hinter sich mit Spend' und Gaben.
2. „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!"
Heute, da die Himmel niederschweben,
wird dem Elend und der Blöße
Mäntel er und warme Röcke geben.
3. Hundert Bettler stehn erwartend. —
Einer hält des Kaisers Knie umfangen
mit den wundgeriebnen Armen,
dran zerrissner Fesseln Enden hangen.
443
4. — „Schalk! Was zerrst du mir den Purpur?
Harr' und bete! Kennst du mich als Kargen?"
Doch der Bettler hält den Mantel
fest und jammert: „Kennst du mich, den Argen?
5. Du Gesalbter und Erlauchter!
Kennst du mich? ... Du hast mit mir gelegen,
mit dem Siechen, mit dem Wunden,
unter eines Mutterherzens Schlägen.
6. Aus demselben Wollentuche
schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
Aus demselben Psalmenbuche
sang das frische Jugendantlitz beider!
7. ,Heinz, wo bist du? Heinz, wo bleibst du?<
hast zum Spiele du mich oft gerufen
durch die Säle, durch die Gänge,
auf und ab der Wendeltreppe Stufen . ..
8. Wehe mir! Da du dich kröntest,
hat des Neides Natter mich gebissen!
Mit dem Lügengeist im Bunde
hab' ich dieses Deutsche Reich zerrissen!
9. Als den ungetreuen Bruder
und Verräter hast du mich erfunden!
Du ergrimmtest und du warfest
in die Kerkertiefe mich gebunden . . .
10. In der Tiefe meines Kerkers
hab' ich ohne Mantel heut' gefroren . . .
Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Heute wird der Welt das Heil geboren!"
11. „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!"
Hundert Bettler strecken jetzt die Hände.
„Gib uns Mäntel! Gib uns Röcke!
Sei barmherzig! Gib uns deine Spende!"
12. Eine Spange löst der Kaiser
sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet
über seinen sünd'gen Bruder,
und der erste Bettler steht bekleidet . . .
13. Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
Jubelt Erd' und Himmelreich mit Schallen.
Gloria! Gloria! Friede! Freude!
Und am Menschenkind ein Wohlgefallen!
Conrad Ferdinand Meyer.
444
264. Die deutsche Kaiserwahl.
Der fromme Kaiser Heinrich war gestorben,
des sächsischen Geschlechtes letzter Zweig,
das glorreich ein Jahrhundert lang geherrscht.
Als nun die Botschaft in das Reich erging,
da fuhr ein reger Geist in alles Volk,
ein neu Weltalter schien heraufzuziehn;
da lebte jeder längst entschlafne Wunsch
und jede längst erloschne Hoffnung auf.
Kein Wunder jetzo, wenn ein deutscher Mann,
dem sonst so Hohes nie zu Hirne stieg,
sich heimlich forschend mit den Blicken maß;
Kann's doch nach deutschem Rechte wohl geschehn,
daß, wer dem Kaiser heut' den Bügel hält,
sich morgen selber in den Sattel schwingt.
Jetzt dachten unsre freien Männer nicht
an Hub- und Haingericht und Markgeding,
Wo man um Esch' und Holzteil Sprache hält;
nein, stattlich ausgerüstet zogen sie
aus allen Gauen, einzeln und geschart,
ins Maienfeld hinab zur Kaiserwahl.
Am schönen Rheinstrom zwischen Worms und Mainz,
wo unabsehbar sich die ebne Flur
auf beiden Ufern breitet, sammelte
der Andrang sich; die Mauern einer Stadt
vermochten nicht das deutsche Volk zu fassen.
Am rechten Ufer spannten ihr Gezelt
die Sachsen sammt der slaw'schen Nachbarschaft,
die Bayern, die Ostfranken und die Schwaben;
am linken lagerten die rhein'schen Franken,
die Ober- und die Niederlothringer, —
so war das Mark von Deutschland hier gedrängt.
Und mitten in dem Lager jeden Volks
erhub sich stolz das herzogliche Zelt.
Da war ein Grüßen und ein Händeschlag,
ein Austausch, ein lebendiger Verkehr!
Und jeder Stamm, verschieden an Gesicht,
an Wuchs und Haltung, Mundart, Sitte, Tracht,
an Pferden, Rüstung, Wafsenfertigkeit,
und alle doch ein großes Brüdervolk,
zu gleichem Zwecke festlich hier vereint;
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was jeder im besondern erst beriet,
im hüllenden Gezelt und im Gebüsch
der Jnselbuchten, mählich war's gereift
zum allgemeinen, offenen Beschluß.
Aus vielen wurden wenige gewählt,
und aus den wenigen erkor man zween,
all' beide Franken, fürstlichen Geschlechts,
erzeugt von Brüdern, Namensbrüder selbst,
Kunrade, längst mit gleichem Ruhm genannt.
Da standen nun auf eines Hügels Saum
im Kreis der Fürsten, sichtbar allem Volk,
die beiden Männer, die aus freier Wahl
das deutsche Volk des Thrones wert erkannt,
vor allen, die der deutsche Boden nährt,
von allen Würdigen die Würdigsten,
und so einander selbst an Würde gleich,
daß fürder nicht die Wahl zu schreiten schien,
und daß die Wage ruht' im Gleichgewicht. /
Da standen sie, das hohe Haupt geneigt,
den Blick gesenkt, die Wange schamerfüllt,
von stolzer Demut überwältiget:
Ein königlicher Anblick war's, ob dem
die Träne rollt' in manchen Mannes Bart.
Und wie nun harrend all die Menge stand
und sich des Volkes Brausen so gelegt,
daß man des Rheines stillen Zug vernahm
— denn niemand wagt es diesen oder den
zu küren mit dem hellem Ruf der Wahl,
um nicht am andern Unrecht zu begehen
noch aufzuregen Eifersucht und Zwist —;
da sah man plötzlich, wie die beiden Herrn
einander herzlich faßten bei der Hand
und sich begegneten im Bruderkuß;
da ward es klar, sie hegten keinen Neid,
und jeder stand dem andern gern zurück.
Der Erzbischof von Mainz erhub sich jetzt:
„Weil doch," so rief er, „eiuer muß es sein,
so sei's der ältere." Freudig stimmten bei
gesamte Fürsten, und am freudigsten
der jüngre Kunrad. Donnergleich erscholl
oft wiederholt des Volkes Beifallsruf.
Als der Gewählte drauf sich niederließ,
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ergriff er seines edlen Vetters Hand
und zog ihn zu sich auf den Königssitz;
und in den Ring der Fürsten trat sofort
die fromme Kaiserwitwe Kunigund'.
Glückwünschend reichte sie dem neuen König
die treu bewahrten Reichskleinode dar. —
Zum Festzug aber scharten sich die Reihen,
voran der König, folgend mit Gesang,
die Geistlichen und Laien, so viel Preis
erscholl zum Himmel nie an einem Tag!
Wär' Kaiser Karl gestiegen aus der Gruft,
nicht freudiger hätt' ihn die Welt begrüßt.
So wallten sie den Strom entlang nach Mainz,
woselbst der König im erhabnen Dom
der Salbung heil'ge Weihe nun empfing. —
(Wen seines Volkes Ruf so hoch gestellt,
dem fehle nicht die Kräftigung von Gott!)
Und als er wieder aus dem Tempel trat,
erschien er herrlicher als kaum zuvor,
und seine Schulter ragt' ob allem Volk.X/
Ludwig Uhland.
265. Ein Gottesurteil um Königsmord.
1. Michaelistag des Jahres 1048. Braungolden liegt der Herbst ans
den Südabhängen des Harzes und dem langen Rucken des Rotenberges,
der die Harzgelände vom Eichsfeld scheidet. Zwischen Harz und Eichsfeld,
angeschmiegt an den Nordfuß des Rotenberges, liegt das Kloster Pöhlde.*)
Durch die Wipfel der nahen Gerichtslinde streicht der Herbstwind. Blatt
um Blatt rieselt aus dem breiten Geäst herab auf die vielhundertköpfige
Menge, die auf alter Gerichtsstätte eines besonderen Schauspiels harrt.
Heute ist außerordentlicher Gerichtstag, „Gebotenes Ding", und eine
Klage auf Königsmord steht zur Verhandlung.
Bor Wochen schon kam Kunde davon und lief von Ort zu Ort, von
Mund zu Mund. Und nun sind sie herbeigekommen in großen Scharen:
Mönche und Klosterschüler von Pöhlde, hörige Bauersleute vom Vorwerk
*) Pöhlde hat mehr als einmal in die Geschichte des alten Deutschen Reiches hin-
eingespielt. Dort zeigt nian König Heinrichs Vogelherd; dort bereitete Heinrich l. seiner
Gemahlin Mathilde einen Witwensitz; dort ward Eckert von Meißen ermordet, als er
zur Kaiserwahl zog; dort saß der geächtete und flüchtende Heinrich der Löwe mit dem
Abt an der Tafel, und der Abt zerschnitt das Tafeltuch, als er den Gegner Barbarossas
erkannte; dort auch ereignete sich der hier erzählte sehr bezeichnende gerichtliche Zwei-
kampf.
447
und Herrenhof, freie Männer vom Harzrand und Rhumesprung, Weiber
und Kinder. Sie drängen heran und stehen in weitem Ringe um die
Mahlstatt, wohl bedacht, Stab und Strohwisch nicht zu stören, mit denen
der Fronbote die Dingstätte eingehegt hat.
Auf der Steinbank unter der Linde aber sitzt ernsten Angesichts der
Graf des Lisgaus. Strick und bloßes Schwert liegen vor ihm auf dem
Steintisch zum Zeichen, daß Tod und Leben in seine Hand gegeben. Vom
Fuß zur Schulter ragt der geschälte Stab, das Zeichen der Gerichtsgewalt,
die der Graf an Kaisers Stelle übt.
Rechts und links vom Grafen nimmt der „Umstand" seinen Platz,
das sind die Schöffen, die Männer, die das Urteil „schaffen" helfen.
2. Beklemmende Stille jetzt! Man hätte wohl mögen das Laub der
Linde fallen hören. Starr wie aus Stein die Menge des Volkes, die
Schöffen, der Graf.
Da erhebt sich der Graf, legt die linke Hand auf Strick und Schwert
und gebietet Stille; mit dem Richterstab in der Rechten pocht er dreimal
laut auf den Tisch. Das Gericht ist gehegt.
Mit vernehmlicher Stimme fragt der Graf die Schöffen: „Ist es Zeit,
zu halten ein offenes Gericht?" Und als die Schöffen die Frage bejaht,
wendet sich jener zur Seite und spricht: „Arnold, Dienstmann des Grafen
Billung, tretet vor und erhebt Eure Klage. Ihr aber, Graf Thietmar,
tretet dem Kläger gegenüber, hört, wessen er Euch beschuldigt und reinigt
Euch, so Ihr es vermögt, von der Anklage!" Zwei hochgewachsene Gestalten
lösen sich vom Rande des Ringes, treten inmitten des Umstandes vor den
Steintisch und messen einander mit scharfem Blick. Zwei Todfeinde sehen
sich finster blickend ins Auge, und zwischen ihnen steht der Tod, einen
der beiden als Opfer heischend, sei's den Lehensherrn, fei's den Lehensmann.
3. Und Arnold, der Dienstmann, bringt seine Klage: „Ich beschuldige
Euch, Graf Thietmar, daß Ihr unsern königlichen Herrn, den Kaiser des
Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Heinrich HI., freventlich
nach dem Leben getrachtet, beschuldige Euch, daß Ihr Eure Dienstmannen
angestiftet, den Königsmord zu vollbringen."
Bewegungslos steht Graf Thietmar; festgeschlossen bleiben seine Lippen;
seine Augen bohren sich in den Boden; keinen Blick mehr hat er für
seinen Gegner.
Der Kläger fährt fort: „Als im Sommer dieses Jahres unser kaiser-
licher Herr zu Gaste war in Bremen bei Herrn Adalbert, dem Erzbischof,
geschah es, daß er von Lesum nach Marsel ritt, mit ihm Herr Adalbert
und wenige Mannen. Und als sie ein einsam Gehölz durchreiten, wird's
plötzlich zur Seite lebendig; verkappte Reitersleute sprengen daher, stürzen
sich mit blankem Schwert auf den arglos reitenden Kaiser; und hätte nicht
Herr Adalbert frühzeitig die Gefahr erspäht und mit seinen Leuten im
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Namen Gottes die Hand schützend über des Kaisers Majestät gebreitet,
— wahrlich, ein Königsmord lastete heute auf dem Sachsenlande und aus
Euch, Graf Thietmar. Denn Eure Leute waren es, die zu Königsmord
ausritten, und Ihr wäret es, der sie dazu verleitet, und damit ich meine
Worte erhärte mit bestimmter Tatsache, so erkläre ich laut und öffentlich
vor Richtern und allem Volk: auch mich wolltet Ihr für den Mordanschlag
dingen; ich aber weigerte mich solcher Tat, wandte mich ab von Euch und
stehe nun hier als Kläger gegen Euch und Eure Leute, als Kläger auf
Königsmord."
Eine Bewegung geht durch die Menge. Daun wieder Totenstille und
gespannte Erwartung.
4. „Graf Thietmar, was bringt Ihr zu Eurer Rechtfertigung?" unter-
bricht mit tiefer Stimme der Gerichtsgraf die lautlose Stille.
Regungslos steht der Beklagte noch immer mit starrem Blick. Nicht
mit der Wimper hat er gezuckt bei der schweren Anklage. Jetzt aber wirft
er den Kopf zurück, greift mit der Rechten an den Knopf seines Schwertes,
mißt seinen Gegner mit einem Blick glühenden Hasses und spricht laut
und vernehmlich: „Rechtfertigen? Nun ja! Aber nicht mit leerem Wort,
mit Eid und Eideshelfern, sondern mit der Tat, mit dem Schwerte in
der Hand.
Ich begebe mich des Rechts, mit meinem Wort und dem Zeugnis
meiner Sippen mich zu reinigen. Mein Schwert und Gott! — sie sollen
sprechen für oder wider mich. Arnold, Vasall der Billuugen, ich fordere
dich zum Zweikampf hier auf umhegter Mahlstatt vor aller Angesicht, vor
steigender Sonne und fallendem Laub, vor Richter und Schöffen! Und
Gott selbst möge entscheiden, ob ich des Königsmordes zu Recht beschuldigt
bin oder nicht!"
Graf Thietmar schweigt. Wieder messen sich die Gegner mit scharfein
Blick. Totenstille ringsum.
5. Der Graf fragt den „Umstand", ob er den Zweikampf gestatte. Die
Schöffen geben ihre Zustimmung.
Blank die Waffen! Mit erhobenem Schwert stehen Thietmar und
Arnold gegeneinander. Die Sonne des Michaelistages flimmert im
blinkenden Stahl. Atemlos steht die Menge.
Siehe, jetzt kreuzen sich die Klingen! Waffenklang und Schwertgeklirr!
Funken stieben von Stahl. Einander gewachsen sind die Gegner. Ent-
scheidungslos dehnt sich der Kampf.
Da schreit's aus dem Ringe: „Blut! Blut! Graf Thietmar ist ge-
troffen!" In breitem Streifen rinnt das Blut die Wange herab. Eine
klaffende Kopfwunde raubt dem Grafen fast die Besinnung; sein Wider-
stand erlahmt; er sinkt zu Boden.
Die angstvolle, minutenlange Spannung ist gelöst. „Gott hat ge-
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richtet: Königsmord beschweret doch sein Gewissen," heißt es in der Menge.
„Gott hat gerichtet; schuldig ist Graf Thietmar des Königsmordes," spricht
ernst und feierlich auch der Gaugraf und läßt seinen Richterstab sinken.
Den Spruch des Grafen begleitete die Menge mit beifälligem Murmeln.
— Das „Gebotene Ding" ist geschlossen. — Langsam zerstreut sich das
Volk; Graf und Schöffen verlassen gemessenen Schrittes die Mahlstatt.
Thietmars Sohn, Thietmar der Junge, bleibt allein bei seinem verwundeten
Vater, beugt sich über ihn und schwört ihm, daß er Rache nehmen wolle
am Kläger und an allen Verderbern der Billunge. Dann kamen Mönche
und trugen den Verwundeten und von Gott Gerichteten in die Herberge
des Klosters, holten lindernden Balsam aus dem Klostergarten, lasen Messe
an seinem Lager und bereiteten ihn vor zum Gange vor das Angesicht dessen,
des Urteil er gefordert. Nach drei Tagen starb er, und Mönche begruben
seinen Leib im engen Klosterkirchhof zu Pöhlde. August Tecklenburg.
266. Heinrichs IV. Reise nach Kanossa.
1. Zahlreich waren die deutschen Fürsten am 16. Oktober 1076 in
Tribur versammelt. Der König war mit seinen Freunden von Worms
aufgebrochen und nach Oppenheim gezogen. Nur der Rhein trennte ihn
von dem Felde, wo seine Widersacher über sein Schicksal beschlossen. Sie
verlangten vom Könige, sich in allen Dingen dem Papste zu unterwerfen
und seine Fehler gegen den apostolischen Stuhl öffentlich zu bekennen
und zu büßen. Auch sollte Heinrich nur durch den Papst vom Banne
gelöst werden können und die Lossprechung spätestens bis zum Jahrestage
des Bannes (22. Februar) erfolgen. Man beschloß, den Papst auf den
2. Februar zu einem feierlichen Fürstentage nach Augsburg einzuladen,
damit er dort mit den Fürsten die Sache des Königs verhandele und
das Urteil über ihn fälle. Gelänge es dem Könige nicht, bis zum Ablauf
der Frist die Lossprechung zu erlangen, so habe er unwiderruflich für
immer das Reich verwirkt. Die Abgesandten und alle Fürsten gelobten
eidlich, daß sie dann Heinrich nicht mehr als ihren Herrn anerkennen,
ihm den königlichen Namen nicht mehr geben würden. Durch diese Be-
schlüsse überlieferten die deutschen Fürsten ihren König dem Urteils-
spruche Roms.
2. Da entschloß sich der König, schnell dem Papste, der kurz nach
Weihnachten Rom verlassen hatte, entgegenzutreten, um ihn zur Los-
sprechung vom Banne zu bewegen. Er durfte keinen Augenblick ver-
säumen, wenn er den Papst noch erreichen und den Augsburger Tag
hintertreiben wollte. Einige Tage vor Weihnachten entkam der König
mit seiner Gemahlin, mit dem kleinen Konrad und einem treuen Diener
seinen Wächtern in Speier. Da die aus Deutschland über die Alpen
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 29
450
führenden Pässe von seinen Gegnern sorglich gehütet wurden, nahm er
zunächst seinen Weg nach Hochburgund zu dem Oheim seiner Mutter,
dem Grafen Wilhelm. Schon der Gefahr entronnen, feierte er in Besanyon
das Weihnachtsfest. Nur einen Tag verweilte der König hier und setzte
dann mit einem bereits ziemlich zahlreichen Gefolge die Reise fort. Bei
Genf über die Rhone setzend, erreichte er bald das Gebiet seiner Schwieger-
mutter, der Markgräfin Adelheid von Susa. Auf alle Weise unterstützte
sie die Reise ihres Schwiegersohnes, ihrer Tochter und ihres kleinen Enkels,
eine Reise, deren Beschwerden sich nun mit jedem Tage steigerten.
3. Der König wählte den Weg über den Mont Cenis, und die ohne-
hin mühevolle Straße bot gerade damals fast unübersteigliche Schwierig-
keiten dar. Schon sehr früh war der Winter mit unerhörter Strenge
eingetreten, und die Kälte dauerte in ganz ungewöhnlicher Weise an.
Große Schneemassen bedeckten bereits im November das obere Deutsch-
land und die Alpengegenden; Rhein und Po waren so fest gefroren, daß
sie monatelang Rosse und Wagen trugen. Gewiß war es ein Wagnis
für den König, mit einer zarten Frau und -einem dreijährigen Knaben
unter solchen Umständen den Weg über das Hochgebirge anzutreten; aber
jedes Zögern war gefährlich, wenn er seine Krone erhalten wollte.
4. Große Not standen der König und seine Begleiter aus, bis sie
die Paßhöhe erstiegen. Die Straßen waren völlig verschneit und mußten
mühsam durch Landleute, die man aufbot, gangbar gemacht werden. Aber
die Mühen fingen doch erst recht an, als man den Gipfel erreicht hatte
und das Hinabsteigen begann. Unmöglich war es, auf dem abschüssigen
spiegelglatt gefrorenen Boden sich zu halten, und mehr als einmal ver-
zweifelte man, je das Tal zu erreichen. Kriechend auf Händen und Füßen
oder die Schultern der Führer umklammernd, bald strauchelnd, bald weite
Strecken hinabrollend, kamen die Männer endlich hinunter. Die Königin
mit ihren Dienerinnen wurde auf Nindshüute gesetzt und so hinabgezogen.
Die meisten Schwierigkeiten machte das Wegschaffen der Pferde. Man
ließ sie teils mit Winden herab, teils schleppte man sie mit gebundenen
Füßen fort; aber die meisten verendeten doch oder wurden mindestens
unbrauchbar. Endlich kam man aus den Bergen heraus, und welche
Schrecken man auch überstanden hatte, kein Menschenleben war verloren
gegangen. Der König vergaß die bestandenen Leiden um so leichter, als
er überall, wohin er kam, gute Aufnahme fand.
5. Von allen Seiten strömten die Bischöfe und Grafen herbei. Ein
gewaltiges Gefolge sammelte sich um den König, und es hätte nur bei
ihm gestanden, dem Papste mit gewaffneter Hand entgegenzutreten. Sie
alle, die sich um den König scharten, dachten nicht anders, als daß er
gekommen sei, um die kaiserlichen Rechte wahrzunehmen und den ver-
wegenen Mönch zu züchtigen, der ihm seine Krone bestritten hatte. Nur
451
mit Mühe überzeugte Heinrich sie, daß die Klugheit ihm riete, für den
Augenblick zu weichen. Da gaben sie endlich seinen Gründen nach.
6. Inzwischen hatte der König erfahren, daß sich Gregor nach Kanossa,
der festesten Burg der Markgräfin Mathilde, begeben habe. Ohne Zögern
brach Heinrich dorthin auf. Erst vor wenigen Tagen war Gregor auf
Kanossa angelangt, aber schon hatte er manchen Büßer der Burg sich
nahen sehen. Jene gebannten Bischöfe und Räte Heinrichs, die glücklich
über die Alpen gekommen waren, flehten barfuß und in härenen Kleidern
vor dem Burgtore um Einlaß. Einige von ihnen schienen sogleich los-
gesprochen zu sein, bei anderen behielt sich der Papst die Lossprechung
vor, bis Heinrichs Sache entschieden sei. Denn schon hörte er, daß
auch der König, der größte Sünder gegen den heiligen Petrus, sich
Kanossa nahe.
7. Als Heinrich mit seinem Gefolge vor der Burg ankam, ließ er
Mathilde und den Abt Hugo zu einer Unterredung auffordern. Beide
erschienen, und er zeigte ihnen seine Bereitwilligkeit, sich jeder Forderung
des Papstes zu unterwerfen, wenn er nur vom Banne losgesprochen werde.
Sie versprachen ihm, ihren Einfluß aufzubieten, um den Papst zur Milde
zu stimmen. Aber ihre Fürsprache war vergeblich; der Papst war durch,
keine Vorstellungen zu erweichen. Da entschloß sich der König, öffentlich
die strengsten Bußübungen vorzunehmen, welche die Kirche von reuigen
Sündern fordert. So wollte er vor aller Welt zeigen, daß er jede Genug-
tuung dem Papste zu leisten bereit sei, die derselbe beanspruchen könne
Weigerte der Papst sich dann, ihm den Schoß der Kirche zu öffnen, so
lag klar vor Augen, daß ihm die Eigenschaft fehlte, die kein Priester
und am wenigsten der höchste Priester der Christenheit, verleugnen darf,
die Barmherzigkeit.
8. Es war am 25. Januar, als der König und mit ihm einige
andere Gebannte barfuß und im härenen Büßerhemde vor dem Burgtor
erschienen und Einlaß begehrten. Die Pforten blieben ihnen geschlossen;
trotz des dringenden Flehens des königlichen Mannes, trotz der bitteren
Kälte öffneten sie sich nicht. Auch als am folgenden Morgen Heinrich
von neuem um Aufnahme bat, als er bis zum Abend nicht müde wurde,
unter Tränen das Mitleid des apostolischen Vaters anzurufen, blieb
Gregors Herz unbewegt. Er gewann es über sich, daß Kanossa noch am
dritten Tage das kläglichste aller Schauspiele ansehen mußte. Doch schon
war von allen, die in der Burg anwesend waren, Gregor der einzige,
der ohne Herzensregung den König in einer solchen Erniedrigung anblicken
konnte. Man bestürmte ihn unter Tränen, sich durch Heinrichs Not
erweichen zu lassen; man warf ihm unerhörte Herzenshärtigkeit vor; man
schalt ihn, wie wir aus seinem eigenen Munde wissen, einen rohen und
grausamen Tyrannen.
29*
452
9. Schon wollte Heinrich Kanossa verlassen; da gab der Papst nach.
Der König gelobte, sich mit den deutschen Fürsten nach dem Wunsche des
Papstes zu vergleichen. Sollte der Papst über die Alpen reisen wollen,
so versprach der König ihm und seinem Gefolge Sicherheit des Leibes
und Lebens. Nachdem diese Bestimmungen zwischen Kaiser und Papst
getroffen waren, öffnete sich die Pforte der Burg, und Heinrich trat mit
den anderen Gebannten ein. Bald standen sie vor den Augen des Priesters,
der mit seinem Bannstrahl den Kaiser entwaffnet hatte; unter einem
Strom von Tränen warfen sie sich vor ihm zu Boden. Die ganze Um-
gebung weinte laut, und auch ihm, dem noch vor einigen Stunden so
eisernen Manne, wurden jetzt die Augen feucht. Er hörte Heinrichs Schuld-
bekenntnis, die Beichte seiner Genossen, und erteilte den Reuigen die
Absolution mit dem apostolischen Segen. Dann erhob er sie und führte
sie nach der Burgkirche. Nach einem feierlichen Dankgebet reichte er ihnen
allen die Lippen zum Kuß und hielt daun selbst die Messe.
10. Nach der Messe setzte sich der Papst mit dem König an der-
selben Tafel zum Mahle. Als dies beendet war, verlangte der König,
die Burg zu verlassen. Beim Abschiede erinnerte ihn der Papst noch
einmal an seine Versprechungen und versprach ihm seinen Beistand gegen
die Fürsten, soweit er sich der königlichen Sache annehmen könne, ohne
die Gerechtigkeit zu verletzen. So schieden Gregor und Heinrich. Mit
anderen Gefühlen ritt Heinrich von der Burg, als er gekommen war.
Zweierlei hatte der König gewonnen, was für ihn von der höchsten Be-
deutung war: er war vom Banne gelöst, und der Augsburger Tag war
vereitelt. Er hatte erreicht, was er zunächst erreichen wollte; aber die
Erinnerung an die vier Tage von Kanossa hat ewig auf seiner Seele
gebrannt. Wilhelm Giesebrecht.
267. Die Kreuzfahrer.
1. Gott will es! So rufen die Ritter,
entflammt von der Predigt Gewalt,
daß der Schwur wie ein himmlisch Gewitter
die Kirchengewölbe durchhallt,
und tausend Schwerter, sie blitzen,
und tausend Herzen, sie glühn,
das Grab des Erlösers zu schützen,
zum Heiligen Lande zu ziehn.
2. Gott will’s, — und die Helden, sie scheiden
gelassen vom heimischen Gau.
Gott wilPs, und die Schiffe durchschneiden
im Fluge des Ozeans Blau.
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Gott will’s! Das ertönt als Parole
zur Landung am heiligen Strand.
Gott will’s! Das beschwinget die Sohle
durch der Wüste brennenden Sand.
3. Und lassen auch Tausende schmachtend
ihr Gebein der Hyäne zum Raub,
Zehntausende dringen, nichts achtend,
voran durch den glühenden Staub.
Gott will’s! Das erhebt wie mit Flügeln,
ist einer zum Tode schon matt; —
da schimmern von rötlichen Hügeln
die Kuppeln der heiligen Stadt.
4. Gott will’s! — Die Pilgrime fallen
in den Staub mit entzücktem Gesicht;
die Kreuzespaniere, sie wallen
im abendlich goldenen Licht.
Gott will es! — Schon fällen die Lanzen
die Helden zum heiligen Sturm:
Gott will’s! — Die Eroberer pflanzen
das Kreuz auf Jerusalems Turm.
Karl v. Grerok.
268. Wikher.
Fern von des Rheines Heimatstrand
zog ins gelobte Heilige Land
mit Gottfried Bouillon schlecht und recht
Wikher, ein deutscher Lanzenknecht.
Durch Palästinas Berg und Tale
ward’s manchem heiß im Sonnenstrahle.
Die Rüstung, die der Recke trug,
drückt ihn und seinen Gaul genug —
da dacht’ er an sein Heimatdach,
das stand im alten Bacharach;
da dacht’ er an den grünen Rhein
und seinen kühlen, goldnen Wein.
Und wie er sann, und wie er träumte,
kam’s, daß er hinter dem Zuge säumte.
Er sprach: „Die Hitze brennt zu sehr,
zu Nachtzeit hol’ ich ein das Heer!“
Und legte sich in die hohe Heide,
das Pferd erlabt sich auf der Weide.
454
Doch will ihn kaum der Schlaf umhüllen,
da störet ihn ein furchtbar Brüllen,
und sieh, es stürzt ein mächtig Tier
aufs Büßlein aus dem Waldrevier.
Der wackre Deutsche war nicht faul,
er liebte seinen treuen Gaul,
stand gleich bereit mit Schild und Schwert,
zu kämpfen für das gute Pferd.
Kaum merkt das Tier den kecken Mann,
läßt es das Boß und fällt ihn an.
Da sieht er wehn die langen Mähnen,
dazwischen den weiten Bachen gähnen,
die Augen blitzen wie Feuer hell,
der Leib ist stark, die Füße schnell;
es springt an den Schild mit der Krallentatze.
„Ei", ruft der Knecht, „verfluchte Katze!"
Und rüstig spaltet er sogleich
des Tieres Haupt mit einem Streich.
Voll Schmerzen brüllt’s zum letztenmal,
und röchelnd stürzt es dann zu Tal.
Der Deutsche sieht’s mit kaltem Blut,
da scheint der Pelz ihm gar so gut;
er trennt ihn sauber mit dem Schwert
und legt ihn hinten auf das Pferd.
Der Abend dunkelt’ indes heran,
und weiter zog der deutsche Mann.
So kam er in ein Dorf geritten.
Da liefen die Leute aus den Hütten
und staunten an die zottige Haut,
riefen ihm zu und jubelten laut,
sagten, nun wäre die Gegend frei,
er hab’ erlegt den großen Leu! —
Als er die Männer höret sagen,
daß er der Tiere König erschlagen,
von dessen Mut und wilder Stärke
man ihm erzählt viel Wunderwerke,
da wendet sich der Knecht fürbaß,
der längst den harten Strauß vergaß,
besieht die Haut sich für und für:
,Eine gelbe Katze schien es mir!
Längst hätt’ ich gern den Leu gesehn,
nun ist’s mir schier im Traum geschehn,
455
daß ich gar einen hab’ erschlagen!“
Und ritt voran mit gutem Behagen.
Wolfgang Müller von Königswinter.
269. Friedrich Rotbart.
1. Tief im Schoße des Kyffhäusers,
bei der Ampel rotem Schein
sitzt der alte Kaiser Friedrich
an dem Tisch von Marmorstein.
2. Ihn umwallt der Purpurmantel,
ihn umfängt der Rüstung Pracht;
doch aus seinen Augenwimpern
liegt des Schlafes tiefe Nacht.
3-. Vorgesunken ruht das Antlitz,
drin sich Ernst und Milde paart;
durch den Marmortisch gewachsen
ist sein langer, goldner Bart.
4. Rings wie eh'rne Bilder stehen
seine Ritter um ihn her,
harnischglänzend, schwertumgürtet,
aber tief im Schlaf wie er.
5. Heinrich auch, der Ofterdinger,
ist in ihrer stummen Schar,
mit den liederreichen Lippen,
mit dem blondgelockten Haar.
6. Seine Harfe ruht dem Säuger
in der Linken ohne Klang;
doch auf seiner hohen Stirne
schläft ein künftiger Gesang.
7. Alles schweigt, nur hin und wieder
füllt ein Tropfen vom Gestein,
bis der große Morgen plötzlich
bricht mit Feuersglut herein.
8. Bis der Adler stolzen Fluges
um des Berges Gipfel zieht,
daß von seines Fittichs Rauschen
dort der Rabenschwarm entflieht.
9. Aber dann wie ferner Donner
rollt es durch den Berg herauf,
und der Kaiser greift zum Schwerte,
und die Ritter wachen auf.
10. Laut in seinen Angeln dröhnend,
tut sich auf das eh'rne Tor;
Barbarossa mit den Seinen
steigt im Waffenschmuck empor.
11. Aus dem Helm trägt er die Krone
und den Sieg in seiner Hand;
Schwerter blitzen, Harfen klingen,
wo er schreitet durch das Land.
12. Und dem alten Kaiser beugen
sich die Völker allzugleich,
und aufs neu' zu Aachen gründet
er das heil'ge Deutsche Reich.
Emanuel v. Geibel.
276. Schwäbische Kunde.
Als Aaiser Rotbart lobesam
zum Heil'gen Land gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen Heer
durch ein Gebirge, wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Not;
viel Steine gab's und wenig Brot,
456
und mancher deutsche Reitersmann
hat dort den Trunk sich abgetan.
Den Pferden war's so schwach im Magen,
fast mußt' der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein perr aus Lchwabenland,
von hohem Muchs und starker pand,
des Rößlein war so krank und schwach,
er zog es nur am Zaume nach;
er hätt' es nimmer aufgegeben,
und kostet's ihn das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
hinter dem peereszug zurück.
Da sprengten plötzlich in die Auer'
fünfzig türkische Reiter daher.
Die Huben an, auf ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den spießen.
Der wackre Schwabe sorcht' sich nit,
ging seines A)eges schritt vor schritt,
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und tät nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem streich
die beiden Borderfüß' zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
er schwingt es auf des Reiters Aopf,
haut durch bis auf den Sattelsnopf,
haut auch den Sattel noch in Stiicfcn
und tief noch in des Pferdes Rücken.
Zur Rechten sieht inan wie zur Linken
einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus;
sie fliehen in alle Melt hinaus,
und jedeni ist's, als würd' ihm mitten
durch Aopf und Leib hindurchgeschnitten.
Drauf kam des Megs 'ne Thristenschar,
die auch zurückgeblieben war;
die sahen nun mit gutem Bedacht,
was Arbeit unser peld gemacht.
457
Don denen hat's der Aaiser vernommen.
Der ließ den Schwaben vor sich kommen;
er sprach: „Sag an, mein Ritter wert,
wer hat dich solche Streich' gelehrt?"
Der Held bedacht' sich nicht zu lang:
„Die streiche sind bei uns im Schwang;
sie sind bekannt ini ganzen Reiche,
man nennt sie halt nur Schwabenstreiche."
Ludwig Uhland.
1. Spätherbst 1157. Glutrot steht die Novembersonne über den
Wassern der Havel. Noch können ihre Strahlen die dichten Nebel-
massen nicht durchdringen; erst nach geraumer Zeit gelingt es einem
Sonnenblitz, die schweren Schleier zu zerreißen. Deutlich hebt sich
der düstere Wald vom Ufer des Stromes. Die steilen Hügel treten
jäh aus dem Wasser. Tiefe Stille. Der Havel trübe Fluten schleichen
träge vorüber. — Plötzlich unterbricht eiliger Hufschlag den Frieden.
Wie Sturmesbrausen klingt es. Immer näher kommen die seltsamen
Reiter: kleine, finster blickende Gesellen auf mageren Gäulen. Es
sind Wenden. Hastig fliegen sie am Ufer dahin, suchend und nicht
findend. Jenseits Freundesland, und hier der Feind — dort Leben,
hier Tod.
2. Da jagt ein vereinzelter Reiter heran; auf schwarzem Roß
eine hohe, gebieterische Gestalt: Jaczo von Köpenick, der Führer der
dämonischen Schar, flüchtend vor Albrecht dem Bären. Geschlagen
und vertrieben von der kaum errungenen Brandenburg, sucht er sein
Heil in rasender Flucht. Hart am Abgrund bringt er sein Tier zum
Stehen. Unstet irrt sein Auge, Verzweiflung und Trotz blickend.
Nirgends eine Furt. In der Ferne nahen seine Verfolger. „Ver-
lassen von den Göttern!----------Sich ergeben? — Niemals!"
Schon erblickt er die ersten der Feinde. Kurze Zeit, und sie sind
heran. Es bleibt ihm keine Wahl. Da — suchend schweift sein Blick
nach oben, sein starker Körper bebt, und heiß quillt es aus seinem
Herzen: „So hilf du mir, den sie Christus nennen."
3. Tief bohrt er dem Tiere den Dorn in die zitternden Flanken,
und mit angstvollem Schrei springt es in den brausenden Strom.
Nur mühsam entringen Roß und Reiter sich den feuchten Fesseln.
Immer wieder drohen beide zu verderben. Das Auge zum Himmel
gewandt, das Schwert in den geschlossenen Händen, fleht Jaczo in-
brünstig zum Christengott. Und er wird gerettet. Eine Landzunge
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nimmt den zu Tode Erschöpften auf. Er wirft sich auf sein Antlitz
und liegt dort lange, lange. —
4. Müde erhebt er sich, in den Mienen die Spuren eines Kampfes,
wo starker Manneswille zerbrochen wird wie dürres Reis, und hängt
Schwert und Schild an eine Eiche. Sinnend verweilt er noch davor.
Dann wendet er sich ab und besteigt sein Roß — als Christ.
Hermann B e r n d t
272. Der Schenk von Limburg.
1. Zu Limburg auf der Feste
da wohnt' ein edler Graß
den keiner seiner Gäste
jemals zu Hause traf.
Er trieb sich allerwegen
Gebirg und Wald entlang, —
kein Sturm und auch kein Regen
verleidet' ihm den Gang.
2. Er trug ein Wams von Leder
und einen Jägerhut
mit mancher wilden Feder,
das steht den Jägern gut;
es hing ihm an der Seiten
ein Trinkgefäß von Buchs;
gewaltig konnt' er schreiten
und war von hohem Wuchs.
3. Wohl hatt' er Knecht' und Mannen
und hatt' ein tüchtig Roß,
ging doch zu Fuß von dannen
und ließ daheim den Troß.
Es war sein ganz Geleite
ein Jagdspieß, stark und lang,
an dem er über breite
Waldströme kühn sich schwang.
4. Nun hielt auf Hohenstaufen
der deutsche Kaiser haus.
Der zog mit hellen Haufen
einstmals zu jagen aus;
er rannt' auf eine Hinde
so heiß und hastig vor,
daß ihn sein Jagdgesinde
im wilden Forst verlor
5. Bei einer kühlen Quelle
da macht' er endlich Halt;
gezieret war die Stelle
mit Blumen mannigfalt.
Hier dacht' er sich zu legen
zu einem Mittagschlaf,
da rauscht' es in den Hägen,
und stand vor ihm der Graf.
6. Da hub er an zu schelten:
„Treff' ich den Nachbar hie?
Zu Hause weilt er selten,
zu Hofe kommt er nie.
Man muß im Walde streifen,
wenn man ihn sahen will;
man muß ihn tapfer greifen,
sonst hält er nirgends still."
7. Als drauf ohn' alle Fährde
der Graf sich uiederließ
und neben in die Erde
die Jägerstauge stieß,
da griff mit beiden Händen
der Kaiser nach dem Schaft:
„Den Spieß muß ich mir pfändeu,
ich nehm' ihn mir zu Haft.
8. Der Spieß ist mir verfangen,
des ich so lang' begehrt;
du sollst dafür empfangen
hier dies mein bestes Pferd.
Nicht schweifen im Gemälde
darf mir ein solcher Mann,
der mir zu Hof und Felde
viel besser dienen kann."
1
— 459
9. „Herr Kaiser, wollt vergeben —
Ihr macht das Herz mir schwer.
Laßt mir mein freies Leben,
und laßt mir meinen Speer!
Ein Pferd hab' ich schon eigen,
für Eures sag' ich Dank;
zu Rosse will ich steigen,
bin ich mal alt und krank."
10. „Mit dir ist nicht zu streiten,
du bist mir allzu stolz,
doch führst du an der Seiten
ein Trinkgefäß von Holz;
nun macht die Jagd mich dürsten,
drum tu mir das, Gesell,
und gib mir eins zu bürsten
aus diesem Wasserguell!"
11. Der Graf hat sich erhoben;
er schwenkt den Becher klar,
er füllt ihn an bis oben,
hält ihn dem Kaiser dar.
Der schlürft mit vollen Zügen
den kühlen Trank hinein
und zeigt ein solch Vergnügen,
als wär's der beste Wein.
12. Dann faßt der schlaue Zecher
den Grafen bei der Hand:
„Du schwenktest mir den Becher
und fülltest ihn zum Rand,
du hieltest mir zum Munde
das labende Getränk;
du bist von dieser Stunde
^ des Deutschen Reiches Schenk!"
Ludwig u h l et rt b.
273. Der Graf von Habsburg.
1. Zu Aachen in seiner Kaiserpracht,
im altertümlichen Saale,
saß König Rudolfs heilige Macht
beim festlichen Krönungsmahle.
Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins,
es schenkte der Böhme des perlenden Weins,
und alle die Wähler, die sieben,
wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt,
umstanden geschäftig den Herrscher der Welt,
die Würde des Amtes zu üben.
2. Und rings erfüllte den hohen Balkon
das Volk in freud'gem Gedränge;
laut mischte sich in der Posaunen Ton
das jauchzende Rufen der Menge;
denn geendigt nach langem verderblichen Streit
war die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
und ein Richter war wieder ans Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr,
des Mächtigen Beute zu werden.
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3. Und der Kaiser ergreift den goldnen Pokal
und spricht mit zufriedenen Blicken:
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl,
mein königlich Herz zu entzücken;
doch den Sänger vermiss' ich, den Bringer der Lust,
der mit süßem Klang mir bewege die Brust
und mit göttlich erhabenen Lehren.
So hab' ich's gehalten von Jugend an,
und was ich als Ritter gepflegt und getan,
nicht will ich's als Kaiser entbehren."
4. Und sieh, in der Fürsten umgebenden Kreis
trat der Sänger im langen Talare;
ihm glänzte die Locke silberweiß,
gebleicht von der Fülle der Jahre.
„Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold;
der Sänger singt von der Minne Sold,
er preiset das Höchste, das Beste,
was das Herz sich wünscht was der Sinn begehrt:
doch sage, was ist des Kaisers wert
an seinem herrlichsten Feste?" —
5. „Nicht gebieten werd' ich dem Sänger," spricht
der Herrscher mit lächelndem Munde;
„er steht in des größeren Herren Pflicht;
er gehorcht der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
man weiß nicht, von wannen er kommt und braust,
wie der Quell aus verborgenen Tiefen:
so des Sängers Lied aus dem Innern schallt
und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
die im Herzen wunderbar schliefen."
6. Und der Sänger rasch in die Saiten fällt
und beginnt sie mächtig zu schlagen:
„Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler Held,
den flüchtigen Gemsbock zu jagen,
ihm folgte der Knapp' mit dem Jägergeschoß,
und als er auf seinem stattlichen Roß
in eine Au' kommt geritten,
ein Glöcklein hört er erklingen fern,
ein Priester war's mit dem Leib des Herrn;
voran kam der Mesner geschritten.
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7. Und der Graf zur Erde sich neiget hin,
das Haupt mit Demut entblößet,
zu verehren mit gläubigem Christensinn,
was alle Menschen erlöset.
Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld,
von des Gießbachs reißenden Fluten geschwellt;
das hemmte der Wanderer Tritte.
Und beiseit' legt jener das Sakrament;
von den Füßen zieht er die Schuhe behend',
damit er das Bächlein durchschritte.
8. Was schaffst du? redet der Graf ihn an,
der ihn verwundert betrachtet. —
Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann,
der nach der Himmelskost schmachtet,
und da ich mich nahe des Baches Steg,
da hat ihn der strömende Gießbach hinweg
im Strudel der Wellen gerissen.
Drum daß dem Lechzenden werde sein Heil,
so will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
durchwaten mit nackenden Füßen.
9. Da setzt ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd
und reicht ihm die prächtigen Zäume,
daß er labe den Kranken, der sein begehrt,
und die heilige Pflicht nicht versäume.
Und er selber auf seines Knappen Tier
vergnüget noch weiter des Jagens Begier;
der andre die Reise vollführet.
Und am nächsten Morgen mit dankendem Blick,
da bringt er dem Grafen sein Roß zurück,
bescheiden am Zügel geführet.
10. Nicht wolle das Gott, rief mit Demutstnn
der Graf, daß zum Streiten und Jagen
das Roß ich beschritte fürderhin,
das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem Gewinst,
so bleib' es gewidmet dem göttlichen Dienst;
denn ich hab' es dem ja gegeben,
von dem ich Ehre und irdisches Gut
zu Lehen trage und Leib und Blut
und Seele und Atem und Leben.
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11. So mög’ auch Gott, der allmächtige Hort,
der das Flehen der Schwachen erhöret,
zu Ehren Euch bringen hier und dort,
so wie Ihr jetzt ihn geehret.
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
durch ritterlich Walten im Schweizerland,
Euch blühn sechs liebliche Töchter.
So mögen sie, rief er begeistert aus,
sechs Kronen Euch bringen in Euer Haus,
und glänzen die spätsten Geschlechter!"
12. Und mit sinnendem Haupt saß der Kaiser de
als dächt’ er vergangener Zeiten;
jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah,
da ergreift ihn der Worte Bedeuten.
Die Züge des Priesters erkennt er schnell
und verbirgt der Tränen stürzenden Quell
in des Mantels purpurnen Falten.
Und alles blickte den Kaiser an
und erkannte den Grafen, der das getan,
und verehrte das göttliche Walten.
Friedrich r
274. Der Sänger.
1. „Was hör’ ich draußen vor dem Tor,
was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
im Saale widerhallen!“
Der König sprach’s, der Page lief;
der Knabe kam, der König rief:
„Laßt mir herein den Alten!“
2. „Gegrüßet seid mir, edle Herrn,
gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern an Stern!
Wer nennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
schließt, Augen, euch! hier ist nicht Zeit,
sich staunend zu ergötzen.“
3. Der Sänger drückt’ die Augen ein
und schlug in vollen Tönen;
die Ritter schauten mutig drein
und in den Schoß die Schönen.
i. Schiller.
463
Der König, dem das Lied gefiel,
ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
eine goldne Kette holen.
4. „Die goldne Kette gib mii nicht,
die Kette gib den Kittern,
vor deren kühnem Angesicht
der Feinde Lanzen splittern;
gib sie dem Kanzler, den du hast,
'und laß ihn noch die goldne Last
zu andern Lasten tragen.
5. Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet;
das Lied, das aus der Kehle dringt,
ist Lohn, der reichlich lohnet.
Doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
Laß mir den besten Becher Weins
in purem Golde reichen.“
6. Er setzt’ ihn an, er trank ihn aus:
„O Trank voll süßer Labe!
O, wohl dem hochbeglückten Haus,
wo das ist kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich
und danket Gott so warm, als ich
für diesen Trunk euch danke.“
Wolfgang v. Goethe.
275. Des Sängers Fluch.
(£s stand in alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr;
weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer,
und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz,
drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz.
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und liegen reich;
er saß auf seinem Throne so finster und so bleich;
denn, was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist U)ut,
und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut.
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar,
der ein' in goldnen Locken, der andre grau von Haar;
der Alte mit der Harfe, der faß auf schmuckem Roß;
es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.
464
‘k- Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn!
Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton!
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Ls gilt uns heut', zu rühren des Königs steinern Lserz."
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal,
und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl;
der König furchtbar prächtig wie blut'ger Nordlichtschein,
die Königin süß und milde, als blickte Bollmond drein.
6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll,
daß reicher, immer reicher der Klang zum Ghre schwoll;
dann strömte himmlisch Helle des Jünglings Stimme vor,
des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor.
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger, goldner Zeit,
von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit;
sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt;
sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.
8. Die Höslingsschar im Kreise verlernet jeden Spott;
des Königs trotz'ge Krieger, sie beugen sich vor Gott;
die Königin, zerflossen in lDehmut und in Lust,
sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.
9- „Zhr fyabt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein U)eib?"
Der König schreit es wütend; er bebt am ganzen Leib;
er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt.
sO. Und wie vom Sturm zerstoben ist all' der Hörer Schwarm.
Der Jüngling hat verröchelt in seines Meisters Arm;
der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß;
er bind't ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß.
t \. Doch vor dem hohen Tore, da hält der Sängergreis;
da faßt er feine Harfe, sie, aller Warfen H)reis,
an einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt;
dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt:
\2. „U)eh euch, ihr stolzen fallen! Nie töne süßer Klang
durch eure Räume wieder, nie Saite, noch Gesang,
nein, Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt,
bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt!
t3. N)eh euch, ihr dust'gen Gärten im holden Maienlicht!
Tuch zeig' ich dieses Toten entstelltes Angesicht,
daß ihr darob verdorret, daß jeder Auell versiegt,
daß ihr in künft'gen Tagen versteint, verödet liegt.
465
Meh dir, verruchter Mörder, du Ulrich des 5ängertums!
Umsonst fei all dein Ringen nach Aränzen blut'gen Ruhms!
Dein Name sei vergessen, in ew'ge Nacht getaucht,
sei wie ein letztes Röcheln, in leere Lust verhaucht!"
s5. Der Alte hat's gerufen; der Fimmel hat's gehört;
die Mauern liegen nieder, die fallen sind zerstört;
noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Fracht;
auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.
l6. Nnd rings statt duft'ger Gärten ein ödes Weideland;
kein Baum verstreuet schatten; kein ^uell durchdringt den Sand;
des Aönigs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch:
Versunken und vergessen! — das ist des Gängers Jluch.
Ludwig tthlan d.
276. Graf Eberhard der Rauschebart.
1. Der Überfall im Wildbad.
1. In schönen Sommertagen, wann lau die Lüfte wehn,
die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn,
da ritt aus Stuttgarts Toren ein Held von stolzer Art,
Graf Eberhard der Greiner, der alte Rauschebart.
2. Mit wenig Edelknechten zieht er ins Land hinaus;
er trägt nicht Helm noch Panzer, nicht geht's auf blut'gen Strauß;
ins Wildbad will er reiten, wo heiß ein Quell entspringt,
der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder fängt.
3. Zu Hirsau bei dem Abte, da kehrt der Ritter ein
und trinkt bei Orgelschalle den kühlen Klosterwein;
dann geht's durch Tannenwälder ins grüne Tal gesprengt,
wo durch ihr Felsenbette die Enz sich rauschend drängt.
4. Zu Wildbad au dem Markte, da steht ein stattlich Haus;
es hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß heraus.
Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast;
den Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast.
5. Wann er sich dann entkleidet und wenig ausgeruht
und sein Gebet gesprochen, so steigt er in die Flut;
er setzt sich stets zur Stelle, wo aus dem Felsenspalt
am heißesten und vollsten der edle Sprudel wallt.
6. Ein angeschoßner Eber, der sich die Wunde wusch,
verriet voreinst den Jägern den Quell in Kluft und Busch;
nun ist's dem alten Recken ein lieber Zeitvertreib,
zu waschen und zu strecken den narbenvollen Leib.
Kappey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 30
466
7. Da kommt einstmals gesprungen sein jüngster Edelknab':
„Herr Graf, es zieht ein Haufe das obre Tal herab,
sie tragen schwere Kolben, der Hauptmann führt im Schild
ein Röslein rot von Golde und einen Eber wild."
8. Mein Sohn, das sind die Schlegler, die schlagen kräftig drein.
Gib mir den Leibrock, Junge! Das ist der Eberstein.
Ich kenne wohl den Eber, er hat so grimmen Zorn;
ich kenne wohl die Rose, sie führt so scharfen Dorn."
9. Da kommt ein armer Hirte in atemlosem Laus:
„Herr Graf, es zieht 'ne Rotte das untre Tal heraus.
Der Hauptmann führt drei Beile; sein Rüstzeug glänzt und gleißt,
daß mir's wie Wetterleuchten noch in den Augen beißt."
10. „Das ist der Wunnensteiner, der gleißend' Wolf genannt.
Gib mir den Mantel, Knabe! Der Glanz ist mir bekannt,
er bringt mir wenig Wonne, die Beile hauen gut.
Bind mir das Schwert zur Seite! Der Wolf der lechzt nach Blut.
11. Ein Mägdlein mag man schrecken, das sich im Bade schmiegt,—
das ist ein lustig Necken, das niemand Schaden fügt;
wird aber überfallen ein alter Kriegesheld,
daun gilt's, wenn nicht sein Leben, doch schweres Lösegeld."
12. Da sprach der arme Hirte: „Des mag noch werden Rat;
ich weiß geheime Wege, die noch kein Mensch betrat;
kein Roß mag sie ersteigen, nur Geißen klettern dort.
Wollt Ihr sogleich mir folgen, ich bring Euch sicher fort."
13. Sie klimmen durch das Dickicht den steilsten Berg hinan,
mit seinem guten Schwerte haut oft der Graf sich Bahn.
Wie herb das Fliehen schmecke, noch hatt' er's nie vermerkt;
viel lieber möcht' er fechten, — das Bad hat ihn gestärkt.
14. In heißer Mittagsstunde bergunter und bergauf, —
schon muß der Graf sich lehnen auf seines Schwertes Knauf;
darob erbarmt's den Hirten des alten hohen Herrn,
er nimmt ihn auf den Rücken: „Ich tu's von Herzen gern."
15. Da denkt der alte Greiner: „Es tut doch wahrlich gut,
so sänftlich sein getragen von einem treuen Blut.
In Fährden und in Nöten zeigt erst das Volk sich echt;
drum soll man nie zertreten sein altes gutes Recht."
467
16. Als braus der Graf gerettet zu Stuttgart sitzt im Saal,
heißt er 'ne Münze prägen als ein Gebächtnismal;
er gibt bem trenen Hirten manch blankes Stück bavon,
auch manchem Herrn vom Schlegel verehrt er eins zum Hohn.
17. Dann schickt er tücht'ge Maurer ins Wilbbab alsofort;
bie sollen Mauern führen rings um ben offnen Ort,
bamit in künft'gen Sommern sich jeber greise Mann,
von, Feinben ungefährbet, im Babe sängen kann.
2. Die brei Könige zu Heimsen.
1. Drei Könige zu Heimsen, wer hätt' es je gebacht,
mit Rittern unb mit Rossen, in Herrlichkeit unb Pracht!
Es sinb bie hohen Häupter ber Schlegelbrüberschaft;
sich Könige zu nennen, bas gibt ber Sache Kraft.
2. Da thronen sie beisammen unb halten eifrig Rat,
bebenken unb besprechen gewalt'ge Waffentat,
wie man ben stolzen Greiner mit Kriegsheer überfällt
nnb besser als im Babe ihm jeben Schlich verstellt.
3. Wie man ihn bann verwahret unb seine Burgen bricht,
bis er von allem Zwange bie Ebeln lebig spricht.
Dann fahre wohl, Lanbfriebe! bann, Lehnbienst, gute Nacht!
bann ist's ber freie Ritter, ber alle Welt verlacht.
4. Schon sank bie Nacht hernieber, bie Kön'ge sinb zur Ruh';
schon krähen jetzt bie Hähne bem nahen Morgen zu;
ba schallt mit scharfem Stoße bas Wächterhorn vom Turm:
Wohlauf, wohlauf, ihr Schläfer! Das Horn verkünbet Sturm.
5. In Nacht unb Nebel braußen, ba wogt es wie ein Meer
unb zieht von allen Seiten sich um bas Stäbtlein her;
verhaltne Männerstimmen, verworrner Gang unb Drang,
Hufschlag unb Rossesschnauben unb bumpfer Waffenklang.
6. Unb als bas Frührot leuchtet, unb als ber Nebel sinkt,
hei, wie es ba von Speeren, von Morgensternen blinkt!
Des ganzen Gaues Bauern stehn um ben Ort geschart,
unb mitten hält zu Rosse ber alte Rauschebart.
7. Die Schlegler möchten schirmen bas Stäbtlein nnb bas Schloß,
sie werfen von ben Türmen mit Steinen unb Geschoß.
..Nur sachte!" ruft ber Greiner, „euch wirb bas Bab geheizt;
aufbampfen soll's unb qualmen, baß euch's bie Augen beizt."
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8. Rings um die alten Mauern ist Holz und Stroh gehäuft,
in dunkler Nacht geschichtet und wohl mit Teer betraust;
drein schießt man glühnde Pfeile, — wie raschelt's da im Stroh!
Drein wirft man feur'ge Kränze, — wie flackert's lichterloh!
9. Und noch von allen Enden wird Vorrat zugeführt,
von all den rüst'gen Bauern wird emsig nachgefchürt,
bis höher, immer höher die Flamme leckt und schweift
und schon mit lust'gem Prasseln der Türme Dach ergreift.
10. Ein Tor ist frei gelassen, so hat's der Graf beliebt.
Dort hört man, wie der Riegel sich leise, lose schiebt;
dort stürzen wohl verzweifelnd die Schlegler jetzt heraus?
Nein, friedlich zieht's herüber, als wie ins Gotteshaus.
11. Voran drei Schlegelkön'ge, zu Fuß, demütiglich,
mit unbedecktem Haupte, die Augen unter sich, —
dann viele Herrn und Knechte, gemachsam, Mann für Mann,
daß man sie alle zählen und wohl betrachten kann.
12. „Willkomm!" so ruft der Greiner, „Willkomm in meiner Haft!
Ich traf euch gut beisammen, geehrte Brüderschaft!
So konnt' ich wieder dienen für den Besuch im Bad.
Nur einen miß ich, Freunde, den Wunnenstein; 's ist schad!"
13. Ein Bäuerlein, das treulich am Feuer mitgefacht,
lehnt dort an seinem Spieße, nimmt alles wohl in acht.
„Drei Könige zu Heimsen," so schmollt es, „das ist viel;
erwischt man noch den vierten, so ist's ein Kartenspiel."
Ludwig Uhland.
277. Die Erfindung der Buchdruckerkunst.
1. Wichtiger noch als die Erfindung des Schießpulvers, welche dem
deutschen Mönche Berthold Schwarz zugeschrieben wird, ist die der Buch-
druckerkunst, die ebenfalls von einem Deutschen gemacht wurde. Noch
vor 500 Jahren gab es keine anderen als geschriebene Bücher.
Diese wurden meist von den Klöstern geliefert, in denen sich die Mönche
mit dem Bücherabschreiben beschäftigten, und waren natürlich sehr teuer.
Denn wie viele Zeit und Arbeit kasteie es, ein einziges Buch abzuschreiben!
Daher konnten nur wenige reiche Leute Bücher besitzen. Sogar das Buch
der Bücher, die Heilige Schrift, fand sich höchst selten; denn eine voll-
ständige Bibel kostete wohl gegen 1000 Mark. Da kam man allmählich
darauf, die Buchstaben einer Seite im Buche auf eine Holztafel einzu-
schneiden, so daß sie erhaben waren, sie mit Schwärze zu bestreichen und
469
dann auf Papier abzudrucken. Nun konnte man diese Seiten leicht
mehrere hundertmal vervielfältigen. Allein um ein ganzes Buch zu
drucken, mußte man Seite für Seite in besondere Tafeln schneiden, und
das war doch immer höchst mühsam. Indes wurde hierdurch die Er-
findung der Buchdruckerkunst vorbereitet.
2. Ein Bürger aus Mainz, Johann Gutenberg, der sich in
Straßburg niedergelassen hatte, kam nämlich auf den Gedanken, die Buch-
staben einzeln aus Holz zu schnitzen, aneinander zu reihen und
abzudrucken. War nun eine Seite vollendet, so konnte man die Buch-
staben wieder auseinander nehmen, zu einer anderen Seite benutzen und
so ein ganzes Buch zustande bringen. Die ersten Versuche befriedigten
noch nicht, weil die Holzbuchstaben nicht lange hielten. Aber Gutenberg
ward nicht müde, seine Kunst weiter auszubilden. Er kehrte nach Mainz
zurück und verband sich dort mit Johann Fust, einem Goldschmiede, und
mit Peter Schöffer aus Gernsheim zu neuen Versuchen. Der letztere
war ein sehr geschickter Mann, der die Kunst erfand, die Schriftzeichen
aus Metall in Formen zu gießen, während bisher jeder einzelne Buch-
stabe geschnitzt wurde. So machte die wichtige Erfindung immer weitere
Fortschritte, und bald war man imstande, ganze Bücher zu drucken.
Das erste gedruckte Buch war eine lateinische Bibel. Alle Welt staunte
über die neue Kunst, welche die Erfinder sorgfältig geheim hielten. Die
Mönche, denen sie die einträgliche Nahrungsquelle des Bücherabschreibens
raubte, verschrien sie als Schwarzkünstelei. Allein das Geheimnis konnte
nicht lange bewahrt bleiben. Durch die Druckergesellen in der Mainzer
Werkstätte wurde die Erfindung weiter verbreitet, und bald entstanden
Buchdruckereien in mehreren anderen Städten, ja in kaum 50 Jahren
druckte man schon Bücher in fast allen Ländern Europas.
3. Welche gewaltigen Erfolge diese Erfindung haben mußte, läßt
sich leicht begreifen. Was weise Männer Großes und Herrliches dachten
und ersannen, das konnte nun in kurzer Zeit allen bekannt werden. Das
Wort Gottes konnte aus den Bücherschätzen der Kirchen und Klöster auch
in die Hände des Volkes, ja in die Hütten der Armen gelangen. Der
Unterricht in den Schulen konnte sich emporschwingen und mehr und
mehr über alle Stände verbreiten. Durch die Buchdruckerkunst war eine
Pforte reicher Erkenntnis für alle geöffnet. Daß die geistige Bildung in
immer weitere Kreise dringen, immer mehr zu einem Gemeingute der
Menschen werden kann, das ist durch sie erst möglich geworden.
I. C. Andrä.
278. Doktor Martin Lutlier.
a. Luther im Kloster.
1. Am 17. Juli 1505 ging Luther, von weinenden Freunden geleitet,
zum Kloster der Augustiner, um hinter dessen Mauern den Frieden seiner
470
Seele zu suchen. Erst von hier aus teilte er den Eltern den getanen
Schritt mit und bat um nachträgliche Einwilligung. Aber der Vater, von
jeher ein Feind aller Möncherei, war aufs tiefste entrüstet. Erst später
hat er, und auch das noch mit unwilligem, traurigem Herzen, sich in
diesen Schritt seines Sohnes gefunden. Luther aber ist damals gewiß ge-
wesen, einem Rufe von Gott selbst gefolgt zu sein. „Ich gedachte," so
hat er später gesagt, „nie wieder aus dem Kloster zu gehen; ich war der
Welt abgestorben, bis es Gott Zeit deuchte, mich wieder herauszuführen."
2. In feierlicher Weise wurde Martin Luther, nachdem ihm noch ein-
mal die Satzungen des Ordens verlesen und die Beschwerden des klöster-
lichen Lebens, der Verzicht aus allen eigenen Willen, die Entsagungen der
Armut, die Schmach des Bettelns vorgehalten worden waren, als Novize
eingekleidet. Unter Wechselgesängen wurden ihm seine Laienkleider aus-
gezogen und die Mönchsgewüuder angelegt; zuerst das weiße wollene
Untergewand, welches der Orden zu Ehren der Jungfrau Maria trug,
dann das Skapulier, ein schmales Stück Tuch über Schultern, Brust und
Rücken, als Zeichen, daß er das Joch des Herrn auf sich nehme, der ge-
sprochen: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht," und endlich das
schwarze Mönchsgewand und der schwarze Gürtel.
3. Als Novize wurde er zunächst dem Novizenmeister übergeben, der
ihn in die Übungen der mönchischen Frömmigkeit einzuführen und seinen
Wandel zu beaufsichtigen hatte. Zwar rühmt Luther seinen Novizeu-
meister als einen feinen, alten Mann, dennoch blieben auch ihm die
niedrigsten Dienstleistungen nicht erspart. Die verächtlichsten Arbeiten,
wie Ausfegen und Reinigen der Zellen, mußte er verrichten, auch mit dem
Bettelsack auf dem Rücken in die Stadt gehen, um von den Bürgern
Brot, Eier, Fleisch und Geld zu sammeln. Er tat alles in demütigem
Gehorsam; hoffte er doch, dadurch fromm und Gott wohlgefällig zu werden.
Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit unterzog er sich den vorgeschriebenen Ge-
betsübungen und anderen gottesdienstlichen Verrichtungen, mit denen jeder
Tag und zum Teil auch die Nacht reichlich ausgefüllt war. Allem unter-
warf er sich mit willigem Gehorsam, zu den Vätern mit heiliger Ehrfurcht
aufschauend.
4. Nach Ablauf des Probejahres erfolgte die feierliche Aufnahme in
den Orden. Diesmal hatte Luther im weißen Untergewande zu erscheinen,
und unter ähnlichen Zeremonien wie ein Jahr früher wurden ihm die
jetzt mit Weihwasser und Weihrauch gesegneten Gewänder angelegt. Darauf
hatte er in die Hände des Priors das Möuchsgelübde abzulegen. Hierauf
erklärte ihn der Prior feierlichst in den Orden für aufgenommen. Nach
Ablegung des Gelübdes mußte sich der neue Ordensbruder in Kreuzessorm
auf den Boden vor dem Prior niederwerfen, der ihn mit Weihwasser be-
sprengte. Die feierliche Handlung schloß nach einer Ermahnungsrede des
471
Priors mit dem Friedenskuß der Ordensbrüder, die ihn beglückwünschten,
daß er nun wäre als ein Kindlein, das frisch aus der Taufe käme. Es
war erreicht, wonach Luther sich so lange gesehnt; er war jetzt wirklich im
Stande der Heiligkeit. Nun war keine Rückkehr mehr, er war der Welt ab-
gestorben, wie er glaubte, für immer. Als wirklicher Ordensbruder erhielt
er jetzt eine eigene Zelle. Sie war einfach genug, der gelobten Armut
entsprechend; ein Tisch, ein Stuhl, ein Leuchter und eine einfache Lager-
stätte bildeten die ganze Einrichtung.
5. In dieser Zelle hat Luther die heißen inneren Kämpfe bestanden,
in denen er zum Rüstzeug der Reformation zubereitet ist. Im Mönchs-
tum wollte er die Heiligkeit und Gerechtigkeit erringen, die ihm vorschwebte.
Er hat später selbst von sich sagen dürfen: „Ist je ein Mönch durch
Möncherei in den Himmel kommen, so wollte ich auch hineingekommen
sein." Das wird auch durch das Zeugnis seiner Klostergenossen bestätigt.
Bis ins kleinste suchte er die Pflichten, die er mit dem Gelübde auf sich
genommen hatte, zu erfüllen. In Fasten, Beten, geistlichen Übungen, Nacht-
wachen und Kasteiungen konnte er sich nicht genug tun. Aber während
die Brüder die Strenge seines Lebens bewunderten, ihn sogar als ein
Muster von Heiligkeit rühmten, überkam ihn selbst immer mehr das Gefühl
der Unwürdigkeit und Gottverlassenheit. ^ Bernhard Rogge.
b. Luther in Worms und aus der Wartburg.
1. Unter Zusicherung freien Geleits ließ Kaiser Karl V. an Luther
die Aufforderung ergehen, vor dem Reichstage in Worms zu erscheinen.
Der kaiserliche Herold Caspar Sturm erhielt den Auftrag, die Vorladung
nach Wittenberg an Luther zu überbringen und diesen nach Worms zu
geleiten. Luther war hoch erfreut, daß ihm Gelegenheit gegeben werden
sollte, seine Sache öffentlich vor aller Welt zu vertreten.
2. Am Osterdienstag, den 2. April 1521, trat er die Reise an. Zwei
Freunde und ein Augustinermönch reisten mit ihm. Der Wittenberger
Rat stellte ihm Wagen und Pferde. Voran ritt der Herold, den kaiser-
lichen Adler auf dem Waffenrocke. Hunderte von Studenten und viele
Freunde gaben ihm das Geleit, und gar manche glaubten ihn das letzte Mal
gesehen zu haben, als sie von ihm Abschied nahmen, um heimzukehren,
während er seines Weges weiterzog. Aber er stand unter einem noch
besseren Geleite als unter dem des Kaisers und seiner Freunde, denn Gott
war mit ihm. ■
3. Je weiter die Reise ging, um so mehr gestaltete sie sich zu einem
Triumphzuge. Von allen Seiten strömte das Volk zusammen, um den
Mann zu sehen, der so Großes wage. Ein großartiger Empfang wurde ihm
m Erfurt bereitet. An der Grenze des Stadtgebietes begrüßten ihn die Ver-
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tretet der Universität, der er früher selbst angehört hatte. In stattlichem
Zuge, darunter 40 Mann zu Pferde, und gefolgt von Tausenden aus
allen Ständen der Bevölkerung, wurde er in das Kloster seines Ordens
geleitet, in welchem er dereinst unter schweren und heißen Kämpfen zur
Erkenntnis der evangelischen Wahrheit sich hindurchgerungen hatte. In
allen Straßen, durch die der Zug ging, wogte die Menge; selbst auf den
Dächern und Türmen drängle man sich, um den Mann Gottes zu sehen.
Am Tage nach seinem Einzuge in Erfurt predigte Luther in der Kirche
des Augustinerklosters unter großem Zulauf. Als er am folgenden Tage
seine Reise fortsetzte, schloß sich auch sein Freund Justus Jonas ihm an.
Auch in Gotha und Eisenach, wo Luther weiter Rast machte, hat er ge-
predigt. Noch in Thüringen gelangte ein neuer Erlaß des Kaisers zu
seiner Kenntnis, der die Auslieferung und Verbrennung aller seiner Bücher
anordnete und in allen Städten Deutschlands öffentlich angeschlagen wurde.
Einen Augenblick erschrak Luther, als er die Kundgebung las, aber den-
noch setzte er unverzagt seine Reise fort, obgleich er den ganzen Weg über
Krankheit zu klagen hatte. Je mehr er sich dem Ziele näherte, desto mehr
hörte er von den Ränken seiner Gegner. Aber er war fröhlich und guter
Dinge. Als seine Freunde ihn vor den Gefahren warnten, die seiner in
Worms warteten, entgegnete er: „Christns lebt, und wir werden nach
Worms gehen allen Pforten der Hölle zum Trotz." Als ihn wenige
Stunden vor Worms nochmals eine Warnung erreichte, die ihn an das
Schicksal des Hus erinnerte, antwortete er in unerschütterlichem Gott-
vertrauen: „Nach Worms bin ich berufen, nach Worms muß ich ziehen.
Und wenn so viele Teufel darin wären, wie Ziegel auf den Dächern,
dennoch will ich hinein."
4. Am 16. April, vormittags 10 Uhr, näherte sich der Zug der Stadt
Worms. Der Turmwächter meldete ihn vom Dom her durch einen Trompeten-
stoß an. Dem voranreitenden Herold folgte im offenen Wagen Luther in der
Mönchskutte mit drei Begleitern, umgeben von einer großen Anzahl statt-
licher Reiter, die sich ihm unterwegs angeschlossen hatten, oder die ihm von
Worms entgegengeritten waren; mehr denn tausend Menschen folgten zu
Fuß. In den Straßen, durch die Luther fuhr, waren alle Fenster mit
Menschen besetzt, jung und alt, vornehm und gering drängte sich an ihn
heran; Mütter hoben ihre Kinder in die Höhe, um ihnen den kühnen
Augustinermönch zu zeigen. Im Hause der Johanniterritter, wo der Kurfürst
von Sachsen wohnte, fand auch Luther seine Herberge. Als er vom Wagen
stieg, sprach er: „Gott wird mit mir sein."
5. Gleich nach seiner Ankunft wurde Luther benachrichtigt, daß er am
folgenden Tage um 4 Uhr vor dem Reichstag zu erscheinen habe. Dieser
versammelte sich in dem bischöflichen Palast, in welchem der Kaiser ab-
gestiegen war. Auf Seitenwegen wurde Luther dorthin geführt, da eine
473
große Menge Volks sich in den Straßen versammelt hatte. Auf dem Wege
zum Sitzungssaal soll ihm der berühmte Feldhauptmann Georg von Fruuds-
berg auf die Achsel geklopft und gesagt haben: „Mönchlein, Mönchlein,
du gehst jetzt einen Gang, einen solchen Stand zu tun, dergleichen ich und
mancher Oberste auch iu unserer ernsten Schlachtordnung nicht getan haben;
bist du auch ernster Meinung und deiner Sache gewiß, so fahr in Gottes
Namen fort und sei nur getrost, Gott wird dich nicht verlassen." — Als
Luther uach zweistündigem Warten im Reichstag vorgelassen wurde, be-
deutete man ihm, daß er nur zu sprechen habe, wenn er gefragt werde.
Auf einer Bank lagen die unter Luthers Namen erschienenen Schriften
aufgehäuft. Luther wurde gefragt, ob er sie als die seinigen anerkenne,
und ob er ihren Inhalt widerrufen oder bei demselben beharren wolle.
Die stattliche Versammlung, vor der Luther stand, mochte ihn befangen
machen. Sah er sich doch außer dem Kaiser, dem mächtigsten Herrscher
der Welt, sechs Kurfürsten, zahlreichen Fürsten und Ständen des Reiches,
sowie den päpstlichen Abgesandten gegenüberstehen, darunter viele, in deren
Mienen er schon eine feindselige Gesinnung lesen konnte. Mit leiser
Stimme erwiderte er, als ihm die Titel der Bücher genannt waren, daß
er sie geschrieben habe. Was aber die Frage des Widerrufs betreffe, so
handele es sich dabei um Gottes Wort und der Seelen Seligkeit, was
höher stehe als alles andere im Himmel und auf Erden. Daher wäre
es vermessen und gefährlich, etwas Unbedachtes vorzubringen. „Deshalb
bitte ich," so schloß er, „inständig Eure Majestät um Bedenkzeit, damit
ich ohne Verletzung des göttlichen Wortes und ohne Gefahr für meine
Seele in genügender Weise antworten kann." Nach einer kurzen Beratung
des Kaisers mit seinen Räten, von denen einige sich gegen eine Bewilligung
der Bedenkzeit aussprachen, wurde ihm eröffnet, daß er zwar einer Be-
denkzeit unwürdig sei, daß ihm aber der Kaiser aus angeborener Güte
einen Tag zur Überlegung schenken wolle.
6. So wurde Luther am folgenden Tage, den 18. April, abermals
vor den Reichstag geführt. Es war schon dunkel geworden, als er gegen
6 Uhr abends vor die Reichsverfammlung gerufen wurde, für die man
diesmal einen größeren Saal gewählt hatte, und es mußten Fackeln an-
gezündet werden, um den Raum zu erleuchten. Wieder wurde Luther
gefragt, ob er feine Bücher widerrufen wolle. Luthers Antwort erfolgte
in festerem Tone als am Tage zuvor. Alle Befangenheit war ihm nun
entschwunden. In unerschrockener Haltung, mit lauter Stimme, aber einfach
und schlicht, gab er seine wohlüberlegte Erwiderung. In längerer Rede
sprach Luther von dem Inhalt seiner Schriften. Wohl gab er zu, daß er
in einigen Büchern, die er gegen einzelne Personen geschrieben habe, oft-
mals heftiger gewesen sei, als es sich ziemen möchte; aber widerrufen könne
er auch diese nicht. Für alle seine Schriften wolle er nicht anders ein-
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treten, als eS der Herr Jesns Christus getan habe, da er vor dem Hohen-
priester um seine Lehre befragt und von einem Diener geschlagen, sagte:
„Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei." „Deshalb," so
fuhr er fort, „bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen Ew. Majestät,
die allerdurchlauchtigsteu Herrschaften, oder wer sonst, sei es hoch oder
niedrig, es vermag, Zeugnis vorzubringen, meine Irrtümer darzutun, mich
mit prophetischen oder evangelischen Schriften zu überwinden. Wenn ich
dessen überwiesen werde, werde ich bereit sein, jeden Irrtum zu widerrufen
und werde der erste sein, der meine Bücher ins Feuer wirft." Der kaiser-
liche Wortführer aber verlangte von Luther eine runde Antwort, eine
Antwort „ohne Hörner und Mantel". Darauf entgegnete Luther mit
fester Stimme: „Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät, Kur- und Fürstliche
Gnaden eine schlichte Antwort begehren, so will ich eine solche geben, die
weder Hörner noch Zähne haben soll: Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen
der Heiligen Schrift oder mit hellen Gründen widerlegt werde — denn
ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da am Tage ist,
daß sie öfters geirrt und sich widersprochen haben — deshalb kann und
will ich nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider
das Gewissen zu tun."
Die Behauptung Luthers, daß auch die Konzilien geirrt haben könnten,
ries in der Versammlung eine große Bewegung hervor. Als Luther sich
erbot, seine Behauptung zu beweisen, erhob sich der Kaiser, der längst un-
geduldig geworden war, und machte den Verhandlungen dadurch ein schnelles
Ende. In der allgemeinen Unrnhe, die nun entstand, rief Luther noch die
denkwürdigen Worte: „Ich kann nicht anders. Hier stehe ich; Gott helfe
mir. Amen!"
7. Unwillig hob der Kaiser die Sitzung auf. Die im Saale herrschende
Unruhe wuchs noch, als Lnther nnter dem höhnischen Gezisch der Spanier
hinausgeführt wurde, weil man meinte, er werde gefangen genommen. Im
Vorsaal ließ ihm Herzog Erich von Braunschweig eine Kanne Einbecker
Bier reichen. Luther ließ sich den Trank wohlschmecken und sagte: „Wie
Herzog Erich jetzt meiner gedacht, also gedenke unser Herr Jesus Christus
seiner in seinem letzten Stündlein." In die Herberge zurückgekehrt, reckte
Luther die Hände empor und rief mit freudestrahlendem Angesicht: „Ich
bin hindurch, ich bin hindurch." Der Kurfürst von Sachsen äußerte sich
voll Bewunderung über Luther; er sagte: „Wohl hat der Pater, Doktor
Martinas, geredet vor dem Kaiser und allen Fürsten und Ständen des
Reichs, Latein und Deutsch; er ist mir viel zu kühn."
Die Feinde Luthers setzten es durch, daß der Kaiser ihn als einen
verstockten Ketzer in die Reichsacht erklärte. Wohl wurde ihm noch aus
21 Tage sicheres Geleit gestellt, dann aber sollte die Acht in Kraft treten.
Niemand sollte ihn „hausen, Höfen, ätzen, tränken, noch mit Worten oder
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Werken heimlich oder öffentlich Hilfe, Anhang, Beistand, Fürschub be-
weisen, sondern ihn gefangennehmen und wohl bewahrt an kaiserliche
Majestät senden."
8. Schlimm würde es Luther ergangen sein, wenn nicht sein Landes-
herr, Kurfürst Friedrich der Weise, für seine Sicherheit gesorgt hätte. Als
Luther auf der Rückreise durch den Thüringerwald fahr, brachen plötzlich
bewaffnete Ritter aus dem Walde hervor, überfielen den Wagen und
rissen Luther heraus. Der Klosterbruder, der ihn begleitete, ergriff eilig
die Flucht; den andern Begleiter und den Fuhrmann ließ man unbehelligt
weiterziehen. Luther aber wurde in einem Reitermantel, den man ihm
umtat, auf ein Pferd gesetzt und auf Umwegen nach der Wartburg ge-
führt. Hinter ihren schützenden Mauern war er nun fürs erste den
Nachstellungen seiner Feinde entzogen. In weiten Kreisen herrschte die
Überzeugung, daß die römischen Gegner seine Gefangennnahme veranlaßt
hätten, und daß er von ihnen heimlich beiseite geschafft worden wäre. Auf
der Wartburg erhielt Luther statt seiner Mönchskutte weltliche Kleidung.
Er galt dort für einen ritterlichen Gefangenen, der den Namen „Junker
Georg" führte, ließ sich einen stattlichen Bart wachsen und trug ritterliche
Kleider und ein Schwert an seiner Seite. Luther blieb auf der Wart-
burg zehn Monate. Während dieses Aufenthalts begann er ein großes .
und schönes Werk: die Übersetzung der Bibel in die deutsche Muttersprache...
Nach Bernhard Rogge.
279. Die Schlacht hei Lützen und Gustav Adolfs Tod.
Bei dem Städtchen Lützen, unweit Leipzig, kam es zwischen Wallen-
stein und Gustav Adolf am 16. November 1632 zur Schlacht. Am
Morgen, während dichter Nebel noch die Gegend bedeckte, bereiten
sich die Schweden zum Kampfe. Der König sinkt betend auf die Knie,
mit ihm sein ganzes Heer. Begleitet von Pauken- und Trompeten-
schall, erbraust der Gesang: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Gegen
Mittag bricht die Sonne durch die Nebelhülle. Da schwingt sich der
König auf sein Streitroß und ruft: „Nun wollen wir dran! Das walt’
der liebe Gott! Jesu, Jesu, hilf mir heute streiten zu deines Namens
Ehre!“ Lind mit dem Feldgeschrei: „Gott mit uns!“ stürmen die
Schweden gegen die Wallensteinschen an. Es entsteht ein verzweifelter
Kampf, hin und her schwankt der Sieg. Endlich dringt der schwedische
rechte Flügel, von Gustav selbst geführt, siegreich vor und jagt die
Feinde fliehend vor sich her. Da erfährt der König, sein linker Flügel
wanke. Mit Blitzesschnelle eilt er dorthin; nur wenige können ihm
folgen. Sein kurzes Gesicht bringt ihn zu nahe an den Feind; er
erhält einen Schuß in den Arm, gleich darauf einen zweiten in den
476
Rücken. Mit dem Seufzer: „Mein Gott, mein Gott!“ sinkt er vom
Pferde. Und über den Gefallenen stürmen die schnaubenden Kriegs-
rosse hinweg und zertreten mit ihren Hufen den edeln Leib. Des
Königs Tod erfüllt die Schweden mit glühendem Rachedurste. Gleich
grimmigen Löwen stürzen sie sich auf die Feinde und werfen alles
vor sich nieder. Nichts hilft es den Kaiserlichen, daß der kühne
Reitergeneral Pappenheim ihnen frische Truppen zuführt. Er selber
fällt, von schwedischen Kugeln durchbohrt, und nun ist der Sieg
errungen. Mit dem Rufe: „Der Pappenheimer ist tot; die Schweden
kommen über uns!“ ergreifen die Kaiserlichen die Flucht. Aber der
Verlust ihres Heldenkönigs raubte den Schweden die Siegesfreude.
Erst am andern Tage fanden sie seinen Leichnam, der Kleider be-
raubt, bedeckt mit Blut und vielen Wunden. Er wurde nach Schweden
gebracht und zu Stockholm in der königlichen Gruft bestattet.
Lange Zeit bezeichnete auf dem Felde bei Lützen ein einfacher
Stein den Ort, wo Gustav Adolf gefallen war. 1838 errichtete man
ein gußeisernes Erinnerungszeichen. Ein lebendiges Denkmal aber
für den Verteidiger des evangelischen Glaubens ist der Gustav-
Adolfs-Verein, dessen Mitglieder jährlich einen Geldbeitrag geben,
um den Evangelischen, die unter der katholischen Bevölkerung zer-
streut wohnen, Kirchen und Schulen zu erbauen.
J. C. Andrä.
280. Plünderungsszene aus dem Dreißigjährigen
Kriege.
(Das folgende Stück ist dem „Simplizissimus“ von Grimmelshausen entnommen.
Der Verfasser erzählt darin, wie er als Knabe einst von umherstreifenden
Leitern gezwungen wurde, ihnen den Weg nach seines Vaters Hof zu zeigen,
den sie dann gründlich ausplünderten.)
„Das erste, was die Reiter taten und in den Zimmern meines
Vaters anfingen, war, daß sie ihre Pferde einstellten; hernach hatte
ein jeglicher seine besondre Arbeit zu verrichten, deren jede lauter
Untergang und Verderben anzeigte. Denn obzwar etliche anfingen,
zu metzgern, zu sieden und zu braten, so daß es sahe, als sollte eine
lustige Schmauserei gehalten werden, so waren hingegen andre, die
durchstürmten das Haus unten und oben. Andre machten von Tuch,
Kleidungen und allerlei Hausrat große Pakete zusammen, als ob sie
irgendwo einen Krempelmarkt einrichten wollten; was sie aber nicht
mitzunehmen gedachten, wurde zerschlagen und zugrunde gerichtet.
Etliche durchstachen Heu und Stroh mit ihren Degen, als ob sie
nicht Schweine genug zu stechen gehabt hätten. Etliche schütteten
die Federn aus den Betten und füllten hingegen Speck, anderes
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dürres Fleisch und Gerät hinein, als ob alsdann besser drauf zu
schlafen wäre. Andre schlugen Ofen und Fenster ein, gleichsam als
hätten sie einen ewigen Sommer zu verkündigen. Kupfer- und Zinn-
geschirr schlugen sie zusammen und packten die verbogenen und
verderbten Stücke ein. Bettladen, Tische, Stühle und Bänke ver-
brannten sie, obgleich viele Klafter dürres Holz im Hofe lagen.
Häfen und Schüsseln mußten endlich alle entzwei; entweder weil sie
lieber Gebratenes aßen, oder weil sie gedachten, nur eine einzige
Mahlzeit allda zu halten. Unsere Magd ward im Stalle so behandelt,
daß sie nicht mehr aus demselben herausgehen konnte. Den Knecht
legten sie gebunden auf die Erde, steckten ihm ein Sperrholz in den
Mund und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstigen Mistlachen-
wassers in den Leib. Das nannten sie einen schwedischen Trunk,
dadurch sie ihn zwangen, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie
Menschen und Vieh hinwegnahmen und in unsern Hof brachten,
unter welchen mein Vater, meine Mutter und unsere Ursel auch waren.
Da fing man nun erst an, die Steine von den Pistolen und hin-
gegen anstatt deren nun die Daumen der Bauern aufzuschrauben und
die armen Schelme so zu foltern, als wenn man hätte Hexen brennen
wollen. Auch steckten sie einen von den gefangenen Bauern in den
Backofen und waren mit Feuer hinter ihm her, obgleich er noch
nichts bekannt hatte. Einem andern machten sie ein Seil um den
Kopf und drehten es mit einem Holz zusammen, so daß ihm das
Blut zu Mund, Nase und Ohren heraussprang. Kurz, es hatte jeder
seine eigne Erfindung, die Bauern zu peinigen, und also auch jeder
Bauer seine besondre Marter.“ Chr. v. Grimmelshausen.
281. Danklied für die Verkündigung des Friedens.
Gott Lob! nun ist erschollen
das edle Hried- und ^reudenswort.
daß nunmehr ruhen sollen
die Epieß' und Schwerter und ihr Mord.
Wohlauf und nimm nun wieder
dein Saitenfpiel hervor,
o Deutschland! und sing Lieder
im hohen vollen Ehor.
Erhebe dein Gemüte
zu deinem Gott und sprich:
iprr, deine Gnad' und Güte
bleibt dennoch ewiglich.
Paul Gerhardt.
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282. Vom Fels zum Meer.
1. Hoch ragt empor auf felsenfestem Grund
die Zollernburg in altersgrauen Tagen,
sie schaut hinab und sieht in weiter Rund’
/ die Ströme nordwärts ihre Schiffe tragen;
sie ziehen hin mit Lasten, reich und schwer,
vom Fels zum Meer.
2. Da wird’s zu eng in seinem Felsenschloß
dem Zollernaar, er lüftet seine Schwingen,
und wo hinab mit Schiff und Kahn und Floß
die Ströme munter durch die Täler springen,
da fliegt er mit der Wolken dunklem Heer
vom Fels zum Meer.
3. Und in den Marken zwischen Sumpf und Sand,
wo tief in Wäldern rauschen mächt’ge Föhren,
die Seen glänzen weit hinein ins Land,
da ist der Aar gekürt zu hohen Ehren,
das Zepter führt er, und er wirft den Speer
vom Fels zum Meer.
4. Und weiter fort mit kräftigem Flügelschlag
schwingt sich der Aar, zu höherm Ziel zu steigen.
Am Balt’schen Meer erglänzt sein Ehrentag,
die Fahnen vor der Majestät sich neigen,
die Königskrone leuchtet hoch und hehr
vom Fels zum Meer.
5. O Zollernaar, breit deine Flügel aus
zu Schutz dem Volke und dem Vaterlande,
dich schreckt nicht Sturm und wilder Wogen Graus,
du schlägst der Feinde Schar in feste Bande,
du bist des Deutschen Reiches Ehr' und Wehr
vom Fels zum Meer.
Adolf Waetzoldt.
283. Der Graste Kurfürst und der Bauernstand.
L Zweiundzwanzig ZaHre lang hatte der schreckliche Religionskrieg,
den die Geschichte den Dreißigjährigen nennt, in den deutschen Landen
gewütet, als Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, 16^0 zur Regie-
rung kam. 5ein Vater, Kurfürst Georg Wilhelm, war aus übergroßer
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Friedensliebe in dem Aampfe neutral geblieben, hatte fein Land aber
dadurch erst recht in üble Lage gebracht. Brandenburg war der Tummel-
platz der rohen Ariegshorden beider Parteien geworden. Über kein
Land waren so furchtbare Greuel der Verwüstung hereingebrochen als
über die arme Mark. Zahlreiche Dörfer und Stabte lagen eingeäschert,
ganze Gegenden verwüstet und verödet da. Alagend sang der fromme
Liederdichter Paul Gerhardt in seinem Friedensliede von f6H8:
„Den schmerz drückt niemand bester
in unsre SeeT hinein
als ihr, zerstörte Schlösser,
ihr Stäbte voller Schutt und Stein!
Zhr vormals schönen Felder,
mit frischer Saat bestreut;
jetzt aber lauter Wälder
und dürre, wüste peid'."
Wenn der Große Aurfürst dieses verwüstete Land nach achtund-
vierzigjähriger Regierungstätigkeit bei seinem Tode in blühendem Zu-
stande hinterließ, so läßt sich ermessen, welch eine Fülle von Staatsweis-
heit, Tatkraft und landesväterlicher Fürsorge dieser gewaltige Mann
aufgewendet haben muß, um das zu erreichen.
2. Seine größte Sorgfalt richtete der junge, erst zwanzigjährige
Aurfürst auf die pebung des gänzlich verarmten Bauernstandes. Tr
selbst war ein tüchtiger Landwirt und Gärtner, säte und pstanzte mit
eigener pand, pfropfte junge Wildlinge mit Reisern edler Mbstarten und
half gelegentlich in Potsdam Trauben schneiden und Aarpfen fischen.
Tr bereiste die verschiedenen Landesteile, um überall mit eigenen Augen
zu sehen und eine genaue Aenntnis aller Verhältnisse im Lande zu er-
halten.
3. Um den Landbau zu fördern, erließ er besondere Verordnungen.
Patte ein Bauer oder Aossät nur zwei Söhne, so durste keiner von
beiden ein pandwerk lernen, vielmehr mußten sich beide dem Ackerbau
widmen, und zwar in der Art, daß der eine nach dem Tode des Vaters
das väterliche Gut, der andere eine verwüstete Landschaft übernahm.
Dem letzteren wurde das nötige Bauholz unentgeltlich angewiesen und
aus eine Reihe von Zähren Steuerfreiheit gewährt. Zeder Bauer wurde
angehalten, bei seinem pause einen Garten anzulegen, und keinem jungen
Landmann wurde die Trlaubnis zum peiraten erteilt, wenn er nicht
zuvor mindestens ein Dutzend Gbstbäume angepflanzt hatte.
Tine treue und sachverständige Gehilfin in diesen Bestrebungen
fand der Aurfürst in seiner Gemahlin Luise penriette von Dramen.
480
Sie zeigte sich als echte Holländerin und wurde dem verwahrlosten Volke
eine Lehrmeisterin der Milchwirtschaft, des Garten- und Gemüsebaues.
Dicht am fürstlichen Schlosse zu Aölln an der Spree, wo sich heute der
Lustgarten mit seinen Springbrunnen, Blumenanlagen und Denkmälern
ausbreitet, legte die Aurfürstin einen ergiebigen Aüchengarten an, in
welchem u. a. auch die erste deutsche Aartosfel gezogen wurde. Unweit
davon, am jenseitigen Ufer der Spree, enstand eine Molkerei nach
holländischem Muster, welche die Aurfürstin oft besuchte, um die Arbeiten
daselbst zu beaufsichtigen. Bekannt ist, daß sie das Domänengut Bötzow
an der L)avel, das sie samt dem alten Jagdschlösse von ihrem Gemahl
zum Geschenk erhielt, das spätere Oranienburg, zu einer holländischen
Musterwirtschaft umwandeln ließ. U)ie sich die Fürstin um deren Ver-
waltung auf das sorgfältigste kümmerte, geht aus ihren Briefen hervor,
die sie von Preußen aus an den Geheimen Bat Otto von Schwerin
schrieb: „Zch bin recht böse," heißt es darin, „daß meine Aühe in so
schlechtem Zustande sind; ich kann es nicht verstehen; denn im Tier-
garten zu Berlin haben sie dasselbe Futter und sind recht schön. —
Mas den Karpfenteich betrifft, so bin ich ganz eingenommen davon und
glaube, daß man ringsherum Bäume pflanzen kann. Ich bitte Sie, im
Frühjahre noch mehr Aarpfen in den großen Weiher fetzen zu lasten
und mir zu schreiben, ob der Streichteich gemacht worden ist. — Zch
sehne mich unbeschreiblich danach, alles zu sehen."
5. Die Aurfürstin Luise gründete auch das Bruchdorf Neuholland,
um die holländische Viehzucht in die Mark zu verpflanzen. Ganz dem
Wohle des Landes lebend, löste sie die verpfändeten fürstlichen Domänen-
güter wieder ein und bereicherte die Schatzkanuner mit ihrem kostbaren
Geschmeide. Aber nicht bloß um Aühe und Garten, um Feld und
Viehstand kümmerte sich Luise, sondern auch um eine bessere Erziehung
der Jugend. Das Waisenhaus in Oranienburg zeugt von ihrem wohl-
tätigen Wirken. Mit unbeschreiblicher Liebe hing bald das Volk an
der edlen Fürstin. Zhr Name wurde noch lange nach ihrem Tode wie
der einer heiligen verehrt. Luise begann damals der Lieblingsname in
den brandenburgifch-preußifchen Landen zu werden.
6. Dem Aurfürften bewiesen die märkischen Bauern ihre Dankbar-
keit und Treue für seine landesväterliche Fürsorge später durch ein herz-
erhebendes Beispiel. Friedrich Wilhelm war mit dem Aaiser und den
verbündeten deutschen Fürsten in den Aampf gegen Frankreich gezogen,
um Ludwig XIV. Übermut und Raubgier zu zügeln. Zn diesem Feld-
zuge erwies sich der Aurfürst als einziger tatkräftiger Heerführer. Um
den gefährlichen Gegner loszuwerden, hetzte der hinterlistige Franzosen-
könig die Schweden gegen ihn auf, die mit großer Heeresmacht in
Brandenburg einsielen und dort auf das furchtbarste hausten. Da waren
481
es nicht die Ritter und Bürger des Landes, die den Greueln des Feindes
Ginhalt geboten, sondern das kernfeste Landvolk, das sich zusammen-
scharte, um den Kampf mit den Schweden aufzunehmen. Auf ihre
Fahnen schrieben die treuen märkischen Landleute: „Wir sind Bauern
von geringem Gut und dienen unserm Kurfürsten und Herrn mit unserm
Blut."
7. Und wie hier zwischen dem großen Herrscher und seinen bäuer-
lichen Untertanen die Losung „Treue um Treue!" galt, so auch zwischen
ihm und den übrigen Landeskindern. Gleich den verwüsteten Feldern
blühten Handwerk, Gewerbe und Industrie unter des Kurfürsten Schutz
und Pflege wieder auf. Auf seine Anregung entstanden in Branden-
burg Eisenwerke und Stahlwerke, Glashütten, Gewehrfabriken, Zucker-
siedereien, Gaze-, Seiden- und Kreppwebereien. Bettlern wurde Arbeit
in den Fabriken, Tagedieben Beschäftigung in Spinnhäusern angewiesen.
Und auch der Handwerker und der Bckann des Gewerbes war seinem
Pfleger und Beschützer dankbar; wo sich ihm Gelegenheit bot, bezeugte
er ihm seine Liebe und Ergebenheit. Als im Zahre f650 der Kurfürst
sein im Westfälischen Frieden neu erworbenes Bistum Blinden besuchte,
da huldigten ihm die gewerbetreibenden Stände in besonders begeisterter
Weise und begrüßten ihn als ihren Helfer und Retter.
Hermann Iahnke.
284. Eine Schulprüfung Friedrich Wilhelms I.
1. Giesenbrügge ist ein Dorf in der Neuinark. Die Gegend ist sandig,
zum Teil von Mooren durchzogen, und lange Striche von Fichtenwald
ziehen sich an mehreren klaren und fischreichen Seen entlang.
Es war im Jahre 1730 an einem Tage im Juli. Eine schwüle,
drückende Stille lag auf der Gegend, und die Sonne schien heiß von dem
unbewölkten Himmel herab. Das Gewitter blieb nun zwar an diesem
Tage aus, obwohl es mancher erwartet hatte. Aber etwas anderes traf
ein, das niemand erwartet hatte, nämlich ein Besuch Friedrich Wilhelms I.
Wenige Jahre vorher hatte der König eine neue Schule in Giesenbrügge
eingerichtet. Er hatte zum Bau des Schulhauses das Holz gegeben und
einen Lehrer namens Wendroth geschickt. Bei dem früheren Lehrer hatten
die Kinder nur den Katechismus gelernt. Nun lernten sie auch Lesen,
Schreiben und Rechnen und einige andere nützliche Kenntnisse. An Wider-
willen gegen die neue Schule fehlte es allerdings im Anfange bei manchen
Eltern nicht. Wendroth aber war ein fleißiger Manu; die Kinder lernten
etwas bei ihm, und so wurden auch die Abgeneigten nach und nach ge-
wonnen. Wo der König aber etwas Neues gegründet hatte, da sah er
auch selbst nach, ob es gedieh, und ob seine Beamten fleißig waren und
ihre Schuldigkeit taten. Seine Fahrten durch das Land waren daher bei
Kappey ix. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. ZI
482
allen trägen und gewissenlosen Leuten sehr gefürchtet. Denn plötzlich war
er da, wo ihn niemand erwartete, und seinem scharfen Auge entging kein
Fehler. So wußte auch an diesem Tage in Giesenbrügge und zehn Meilen
in der Runde kein Mensch, daß der König unterwegs war, die Schule
zu besuchen.
2. Der Lehrer Wendroth hatte des Tages Last in der niedern Schul-
stube getragen. Der Abend war nahe. Die Schuljugend tummelte sich
munter aus dem Platze vor der Kirche. Wendroth schritt, in der Rechten
die Gießkanne, von Beet zu Beet, als atemlos seine Frau in den Garten
stürzte. „Was ist?" rief Wendroth: „Der König ist hier. Er kommt eben
mit dem Schulzen die Straße herauf!" Wendroth riß eilig den Hausrock
von den Schultern und eilte durch den Garten ins Haus. Aber als er
eben die Tür öffnete, um auf die Gasse zu kommen, stand der König
vor ihm. „Ah, das ist mir lieb, daß ich Ihn hier zu Hause finde," be-
gann Friedrich Wilhelm. „Majestät," erwiderte Wendroth, „ich war in
meinem Garten. Solchen Besuch hatte ich heute nicht vermutet." „Ja,
das ist meine Art so," lachte der König; „da geraten noch ganz andere
Leute in Schrecken. Fass' Er sich! Er soll mir eine Stunde halten mit
seinen Jungen!" — „Wie Majestät befehlen!" sagte Wendroth. — „Der
Schulbesuch ist doch gut?" — „Sehr gut, Majestät." Der König war
in die Schulstube getreten. Er musterte alles genau: Bänke, Tische, Ge-
räte, Bücher. Dann ließ er sich die Listen geben und sah die Schreib-
hefte nach. „Was bringt Er denn den Jungen bei?" — „Lesen, Schreiben
Rechnen, die Heilige Schrift, etliche Kenntnisse in der Erdkunde und Natur-
geschichte." — „Gut! Weiter ist nichts nötig. Nun leg' Er mal los!"
3. Es bedurfte nicht großer Mühe, die Jungen herbeizurufen. Bald
füllte sich die Schnlstube mit Schülern. Sie waren alle gekommen, wie
sie gingen und standen, einige mit Schürzen, wenige mit Jacken angetan,
die meisten in Hemdsärmeln. Alle sahen neugierig und eifrig auf den
König, der sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte und lächelnd die
wohlgenährten, strammen Burschen betrachtete. Zuerst prüfte Wendroth
in der Biblischen Geschichte. Die Jungen bestanden gut. Ebenso ging
es mit dem Lesen. Beifällig nickte der König. „Nun die Hauptsache
fürs Leben," sagte er, „Rechnen! Ich werde mal die Aufgabe erteilen."
Die Tafeln waren schon in den Händen der Jungen, und diese standen
da, die Griffel bereit haltend und die Augen fest auf den König gerichtet.
„Wenn ein Mensch," begann der König, „ein Jahr lang jeden Tag vier
Taler verdient, wieviel macht das im ganzen Jahr, also in 365 Tagen?
Durch welche Rechnungsart wollt ihr das finden?" „Durch das Mal-
nehmen," sagte eine Stimme. „Recht so," rief der König, „rechnet das
also aus! Und wenn ihr es ausgerechnet habt, dann zieht von der Summe
240 Taler ab! Dann will ich wissen, was bleibt. Vorwärts!" Tiefe
483
Stille trat ein, die Griffel quietschten auf den Tafeln. Wendroth lehnte
an einem Tische, die Jungen rechneten. Da rief eine helle Stimme: „Ich
bin fertig!" Wer war es? Ha, der kleine Jochen Müller hielt die Tafel
empor. „Na mal heraus!" lachte der König. „Was kommt heraus?"
„Ich nehme 365 mal 4 mal — macht 1460; dann ab 240 — bleibt 1220.
„Bravo!" rief der König, „gut gemacht. Und wenn nun zwei Leute sich
in die Summe teilen, wieviel kommt auf jeden?" — „610," sagte Jochen.
„Sehr gut!" rief der König. Wendroth hatte seine Linke auf Jochens
Kopf gelegt. „Ein sehr kluger Junge," sagte er, „fleißig, Majestät, sehr
fleißig." „Glaub's," sagte der König, „was sind die Eltern?" „Arme
Tagelöhner," sagte der Lehrer. „Werde nachsehen lassen," entschied der
König. „Hier, Jochen, sind zwei Dukaten, und immer ordentlich rechnen!"
4. Der Jubel der Jungen war groß. Der König ward umringt,
und da er sich gnädig über die Leistungen aussprach, auch noch andere
Aufgaben glücklich gelöst wurden, konnte Wendroth mit dem Tage zu-
frieden sein. Nach einer Besprechung mit dem Pastor und dem Schulzen
stieg der König wieder in seinen Wagen. Die Dorfbewohner umstanden
das Fuhrwerk. Als der König abfuhr, rief alles ein donnerndes Hoch.
Nach Georg Hiltl.
285. Friedrich der Große als Kronprinz.
1. Die schönsten Stunden waren für Friedrich den Großen, als
er noch Kronprinz war, die, in denen er sich dem Lesen geistvoller
Bücher hingeben oder sich im Flötenspiel üben konnte. Als der
Vater mit ihm einmal Dresden besuchte, hörte er den berühmten
Musiker Quantz Flöte blasen und wünschte nun, diese Kunst gleich-
falls zu lernen. Die Lehrstunden mußten vor dem König geheim
gehalten werden, doch die Mutter hatte es zu vermitteln gewußt,
daß Quantz mehrmals im Jahr für einige Tage nach Berlin kam, wo
er sich denn an den schnellen Fortschritten des Schülers erfreuen
konnte. Der Prinz wurde ein Meister des Flötenspiels und hat sich
die Liebe dafür bis in sein hohes Alter bewahrt. Die enganliegende
Uniform haßte er; wenn er sich vor dem Vater sicher glaubte, zog
er einen schönen Schlafrock von Goldbrokat an, warf den steifen
Soldatenzopf ab und ließ sich nach der Mode frisieren. In solchem
Aufzug gab er sich dann mit Wonne dem Flötenspiel oder seinen
geliebten französischen Büchern hin. Aber einmal trat unvermutet
der Vater ein, da war der Schrecken groß. Der König geriet in
Wut, warf den Schlafrock in die Flammen des Kamins, befahl die
Bücher in den Laden zurückzubringen und hielt dem Sohne eine
stundenlange Strafpredigt.
31 *
484
2. Daß der lebhafte Jüngling sich unter so hartem Drucke
äußerst unbehaglich fühlte, war ihm nicht zu verargen, aber er faßte
infolge solcher Stimmung einen abenteuerlichen Plan, den man nur
mit seiner Jugend entschuldigen kann; er war damals 18 Jahre alt.
Er beschloß, nach England zu seinem Oheim zu fliehen. Zwei Freunde,
die ihn fast vergötterten, die Leutnants von Latte und von Keith,
und seine Schwester Wilhelmine wurden ins Geheimnis gezogen. Auf
einer weiteren Reise mit dem Vater, die nach den Rheingegenden
und nahe ans Meer führte, sollte der Plan ausgeführt werden.
3. Da kam zufällig ein Brief des Kronprinzen an Katte, worin
von der Verschwörung die Rede war, in die Hände des Königs.
Sofort ließ dieser den Prinzen auf ein Schiff bringen und als Ge-
fangenen nach Wesel führen. Sein Zorn war so heftig, daß er den
Sohn bei den Haaren riß und ihm mit dem Stockknopf die Nase
blutig schlug. In Wesel ließ er ihn vor sich bringen, und wenig
fehlte, daß er ihn mit dem Degen durchstoßen hätte, doch ein an-
wesender General fiel ihm in den Arm und rief: „Töten Sie mich,
aber verschonen Sie Ihren Sohn!“ Der König sandte nach Berlin
Befehl, den Leutnant Katte zu verhaften; auch Keith schwebte in
großer Gefahr, aber der Kronprinz hatte Gelegenheit gefunden, ihn
beizeiten zu warnen. Er selbst wurde nach der Festung Küstrin
gebracht, wo er auf einem hölzernen Schemel seine magre Kost ver-
zehren mußte, doch blieb er ungebeugt. Nun berief der König ein
Kriegsgericht und verlangte, daß der Prinz ganz ebenso wie ein
andrer Deserteur behandelt, d. h. zum Tode verurteilt werden sollte.
Doch das Kriegsgericht lehnte einstimmig die höchste Strafe ab.
Trotzdem wollte der König seinen Willen durchsetzen, da riß der
Generalmajor von Buddenbrook seine Weste auf und sprach uner-
schrocken: „Wenn Ew. Majestät Blut verlangen, so nehmen Sie
meines, jenes bekommen Sie nicht, so lange ich noch sprechen darf.“
Auch der Fürst von Dessau, der beim König viel galt, verwandte
sich dringend für den Prinzen. Da versank der König in Nach-
denken und gab eine mildere Stimmung zu erkennen.
4. Dem Kronprinzen stand indessen eine schwere Stunde bevor.
Katte war zum Tode verurteilt, und der König ließ sich selbst durch
die inständigsten Bitten seines Vaters und Großvaters nicht zur Be-
gnadigung bewegen. Er verfügte, daß Katte gleichfalls nach Küstrin
gebracht und dort vor den Augen des Kronprinzen hingerichtet
werden sollte. Ganz buchstäblich wurde der Befehl freilich nicht
ausgeführt, doch kam der Zug an dem Gefängnis vorbei. Weinend
rief Friedrich dem Freunde zu: „Mein lieber Katte, vergeben Sie
mir, daß ich Sie ins Unglück gestürzt habe.“ Katte antwortete:
485
„Dessen bedarfs nicht, gnädiger Herr; wenn ich zehn Leben zu
verlieren hätte, so wollte ich sie willig für Sie hingeben.“ Am Sand-
hügel angekommen, erlitt er furchtlos den Tod. An diesem grau-
sigen Vormittag fiel der Kronprinz mehrmals in tiefe Ohnmacht.
Der Feldprediger, der Katte auf dem Wege zum Tode begleitet
hatte, kam nach der Hinrichtung zu Friedrich, überbrachte ihm die
letzten Aufträge seines Freundes und ermahnte ihn mit freundlichen
Worten, sich seiner großen Schuld gegen den Vater bewußt zu
werden. Der Besuch wurde mehrmals wiederholt, und endlich ging
der Prinz in sich und bereute, was er getan.
5. Als der König dies erfuhr, sprach er seine Begnadigung aus,
doch bestimmte er, daß er noch einige Jahre in Küstrin bleiben, in
einem Privathaus wohnen, in Zivilkleidern gehn, innerhalb der Tore
bleiben und zu seiner Übung bei der dortigen Verwaltung als Kriegs-
rat arbeiten sollte. Der Prinz betrieb seine Obliegenheiten mit dem
größten Eifer. In das folgende Jahr fiel das Vermählungsfest seiner
Schwester Wilhelmine; da wagte man, dem König vorzustellen, daß
die Freude seiner Gemahlin an diesem frohen Tage ohne die Gegen-
wart ihres Lieblings nur unvollkommen sein würde. Weil er nun
bei ungewöhnlich guter Laune war, ließ er den Sohn aus Küstrin
kommen, versteckte ihn aber bis gegen Ende der Tafel, dann trat
er mit ihm in den Saal und führte ihn zur Königin mit den Worten:
„Seht Ihr, Madame, da ist nun der Fritz wieder.“ Er hätte der
Mutter, dem Sohn und der Schwester keine größere Freude bereiten
können. In diesen Tagen erschienen auch, vom Fürsten von Dessau
geführt, alle Generale und Obersten Berlins vor dem König und
baten, den Kronprinzen wieder in den Militärdienst aufzunehmen.
Die Bitte wurde gewährt, und der König umarmte den Sohn unter
väterlichen Ermahnungen.
6. Der Friede war nun völlig hergestellt. Der Prinz wurde
Oberst eines Regiments und setzte seine Ehre darein, dem Vater
Ergebenheit und Gehorsam zu bezeigen; seine militärischen Dienst-
pflichten erfüllte er mit der äußersten Pünktlichkeit. Der Vater
kaufte für ihn das Schloß Rheinsberg, und da hat Friedrich eine
Reihe der schönsten Jahre verlebt. Er versammelte bei den Mahl-
zeiten die tüchtigsten und geistreichsten Männer um sich, und ihre
ernsten sowohl als heitern und witzigen Gespräche, von seinem Feuer-
geist belebt, waren ihm die herrlichste Würze dieser Stunden.
C. \V i 11.
486
286. Zielen.
1. Joachim Hans oon Zielen,
Husarengeneral,
dem Feind die Stirne bieten,
er tät's wohl hundertmal;
sie haben's all' erfahren,
wie er die Pelze wusch
mit seinen Leibhusaren,
der Zieten aus dem Busch.
2. Hei, wie den Feind sie bleuten
bei Hennersdorf und Prag,
bei Liegnitz und bei Leuthen
und weiter Schlag ans Schlag!
Bei Torgau, Tag der Ehre,
ritt selbst der Fritz nach Haus,
doch Zieten sprach: „Ich kehre
erst noch mein Schlachtfeld aus."
3. Sie kamen nie alleine,
der Zieten und der Fritz,
der Donner war der eine,
der andre war der Blitz.
Es wies sich keiner träge,
drum schlug's auch immer ein,
ob warm', ob kalte Schläge,
sie pflegten gut zu sein. —
4. Der Friede war geschlossen,
doch Krieges Lust und Qual,
die alten Schlachtgenossen
durchlebten's noch einmal;
wie Marschall Daun gezaudert
und Fritz und Zieten nie,
es ward jetzt durchgeplaudert
bei Tisch in Sanssouci.
5. Einst möcht' .es ihm nicht schmecken,
und sieh, der'Zieten schlief,
ein Höfling wollt' ihn wecken,
der König aber rief:
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„Laßt schlafen mir den Alten,
er hat in mancher Nacht
Für uns sich wach gehalten,
der hat genug gewacht." —
6. Und als die Zeit erfüllet
des alten Helden war,
lag einst, schlicht eingehüllet,
Hans Zieten, der Husar:
Wie selber er genommen
die Feinde stets im Husch,
so war der Tod gekommen,
wie Zieten aus dem Busch.
Theodor Fontane.
287. Friedrich der Große in Lebensgefahr.
1. Als im Herbste des Jahres 1761 die Österreicher die Festung
Schweidnitz genommen und in Schlesien festen Fuß gefaßt hatten,
bezog Friedrich der Große ein festes Lager bei der Stadt Strehlen,
um von hier aus die beiden Städte Breslau und Neiße gegen feind-
liche Unternehmungen zu schützen. In dieser Zeit entging er einer
Gefahr, von der sein Leben bedroht war, und die um so größer war,
weil sie nicht von offenen Feinden ausging, sondern von schnödem
Verrat, gegen den der Mensch keine Waffe hat.
Ein schlesischer Edelmann namens von Warkotsch, der in Schön-
brunn in der Nähe von Strehlen ansässig war, und dem der König
schon manche Gnadenbezeigungen erwiesen hatte, faßte den schwarzen
Plan, für einen Judaslohn von 100000 Gulden die Person des Königs
lebend oder tot einem Obersten Wallis, der mit einem österreichischen
Husarenregimente in der Nähe stand, zu überliefern.
2. Des Königs Hauptquartier befand sich nicht zu Strehlen selbst,
sondern in Woiselwitz, eine kleine Viertelstunde von der Stadt, und
war nur vou wenig Soldaten bewacht. Hier fand sich Warkotsch öfters
ein, machte dem König seine Aufwartung und wurde einigemal an
seine Tafel gezogen. Da er sich als früherer Soldat und angenehmer
Gesellschafter auch bei den Offizieren des Königs beliebt machte, so
wurde es ihm nicht schwer, die Gelegenheit zur Ausführung seines
schwarzen Vorhabens auszuspähen. Er stand deshalb mit dem Obersten
Wallis in einem lebhaften Briefwechsel, der durch einen katholischen
Geistlicheu in Siebenhuben namens Franz Schmidt vermittelt wurde.
Dieser überbrachte die Briefe, die er von jenem erhielt, dem Obersten
in sein Quartier. Zur Bestellung dieser geheimen Schriftstücke wählte
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Warkotsch seinen Jäger Matthias Kappel, dessen ehrliche Seele aber
wegen des eifrigen und heimlichen Briefwechsels Verdacht zu schöpfen
begann.
3. Am Abend des 30. November war der Verräter wieder in
Woiselwitz und verweilte bis Mitternacht im Kreise der preußischen
Offiziere von des Königs Gefolge. Auf dem Heimritt nach Schön-
brunn, bei deut ihn sein Jäger Kappel begleitete, entschlüpfte wieder
manches verdächtige Wort dem Munde des Barons, als z. B.: „Nur
zwei Schildwachen vor des Königs Hause? — Dreizehn Mann Garde
in ganz Woiselwitz? — Wie unvorsichtig! Wie leicht wäre es da
für eine österreichische Husarenpatrouille, sich der Person des Königs
zu bemächtigen! Nicht wahr, Kappel!"
4. Kappel schwieg und schüttelte argwöhnisch das Haupt. In
Schönbrunn erfährt er von seiner Frau, daß in seiner Abwesenheit
der Kaplan Schmidt aus Siebenhuben dagewesen sei und den Herrn
Baron dringend zu sprechen begehrt, endlich aber, da dessen Rückkehr
sich verspätete, bei der Frau Baronin einen Brief an ihren Gemahl
zur sofortigen Bestellung hinterlassen habe, auf den er eilig Antwort
haben müsse. — Da klingelt's plötzlich im Zimmer des Barons. Kappel,
soeben int Begriff, sein Nachtlager aufzusuchen, fährt schnell wieder
in seine grüne Livree und meldet sich bei seinem Herrn.
Auf dem Tische liegt ein mit dickem Siegel verschlossener Brief.
„Hier, diesen Brief mußt du sogleich dem Herrn Kaplan Schmidt in
Siebenhuben überbringen." —„Heut' noch, Herr Baron?" —'„So-
gleich, eile, guter Kappel!" — Der gute Kappel nimmt den Brief
und geht — aber nicht zum katholischen Geistlichen in Siebenhuben,
sondern zuvor erst zum protestantischen Geistlichen in Schönbrunn,
zum Pfarrer Gerlach. „Ist zwar ein Ketzer," denkt der gut katholische
Kappel, „aber doch ein ehrwürdiger Mann — das sagen sie alle —
und er kann mir wohl einen guten Rat geben, ob ich diesen Brief
meines Herrn bestellen soll oder nicht. Denn es steht geschrieben:
,Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen!' und es geht doch
nichts über ein gutes Gewissen." Der Pfarrer öffnet und liest den
Brief, den Warkotsch an Wallis geschrieben hatte: „Sie können den
König heut' nacht lebend oder tot in Ihre Gewalt bekommen."
5. Also das ist das Geheimnis, ein Anschlag gegen das Leben
unseres Königs! Kappel erschrickt. Der Pfarrer fertigt schnell eine
Abschrift des sauberen Schriftstücks und steckt sie in den alten Umschlag.
Kappel aber behält die Urschrift bei sich, und während er einen Reit-
knecht des Barons mit der Abschrift zum Kaplan Schmidt nach Sieben-
huben schickt, eilt er selbst mit der Urschrift geradenwegs zum König
nach Woiselwitz.
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„Ihr seid," sagte der König, als er von der drohenden Gefahr
Kenntnis erhalten hatte, zu Kappel, „ein Werkzeug, das eine höhere
Hand für mich bestimmt und abgeschickt hat." Und er dachte vielleicht
im stillen: „Der alte Ziethen hatte doch recht, als er mir von dem
Bundesgenossen dort oben sprach; er hält seine schützende Hand noch
heute über meinem Haupte, und er wird sie auch fürder über unserem
Vaterlande halten." — „Ist er ein Protestant?" fragte er den Jäger
weiter. „Nein, Ew. Majestät, ich bin ein Katholik." — „Seht, ihr
Herren," sagte darauf der König zu seiner Umgebung, „Warkotsch
ist ein Protestant, sein Kuratns Schmidt ist ein Katholik, und dieser
ehrliche Mann hier ist gleichfalls Katholik. Es gibt Schurken und
ehrliche Leute in jeder Konfession."
6. Der Verräter Warkotsch und seine Helfershelfer, der verräterische
Priester, entzogen sich der sofort verfügten Verhaftung durch eilige
Flucht. Das Gericht erkannte gegen sie auf die strenge Todesstrafe
des Vierteilens, die nun, da beide flüchtig geworden waren, nur an
ihren Bildnissen vollstreckt werden konnte. Als dem Könige das Urteil
zur Genehmigung vorgelegt wurde, sagte er: „Das mag immerhin
geschehen; die Porträts werden vermutlich ebensowenig etwas taugen
wie die Originale."
So wurde das Urteil im Mai des folgenden Jahres an den
beiden Bildnissen auf einem dazu erbauten Schafott in Breslau voll-
zogen.
Fedor von Köppen.
288. Wie schön leuchtet der Morgenstern!
Wie schön leuchtet der Morgenstern!
Hab’ doch kein andres Lied so gern!
Mit Tränen füllt sich jedesmal
mein Auge, spiel’ ich den Choral.
’s war damals, als der alte Fritz
noch stritt um Schlesiens Besitz,
hier in den Schluchten lag sein Heer,
der Feind dort auf den Höhn umher.
Da sah’s im Dorf gar übel aus,
die Scheuern leer, kein Brot im Haus,
im Stalle weder Pferd noch Kuh
und vor dem Feind die Furcht dazu.
So hatt’ ich eben eine Nacht
mit Seufzen und Gebet durchwacht
und stieg beim ersten Morgengraun
den Turm hinauf, um auszuschaun,
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wie’s draußen stund'; 's war still umher,
und ich sah keine Feinde mehr.
Da zog ich still mein Käppiein ab,
dem lieben Gott die Ehre gab.
Horch! Plötzlich trabt’s ins Dorf hinein,
der Himmel woll' uns gnädig sein!
Ein alter Schnauzbart jagt im Trab
nach meinem Haus, dort steigt er ab;
kaum bin ich unten, schreit er: „Lauf,
schließ mir geschwind die Kirche auf!“
Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes Gut,
was man vertraut hat meiner Hut,
und Kirchenraub bestraft sich schwer “
Doch er schrie wild: „Was schwafelt er?
Flink aufgeschlossen, sonst soll ihn —!“
Schon wollt’ er seinen Säbel ziehn,
da dacht’ ich bang an Weib und Kind
und öffnete die Kirch’ geschwind
und trat dann zagend mit ihm ein,
mein Weib schlich weinend hinterdrein.
Er ging vorüber am Altar,
hinauf dann, wo die Orgel war;
da stand er still: „Gesangbuch her!
Hier den Choral da spielet er,
und daß sie brav die Bälge tritt!
Marsch! Vorwärts jetzt und zögert nit!“
Ich fing mit einem Vorspiel an,
wie ich’s mein Lebetag getan.
Da fiel der Alte grimmig ein:
„Was soll mir das Geklimper sein?
Hab ich’s denn nicht gesagt dem Herrn:
Wie schön leuchtet der Morgenstern!“
„'s ist nur das Vorspiel! "—„ Dummes Zeug!
Was spielt er den Choral nicht gleich?“
So spielt' ich denn, weil ePs befahl,
ganz ohne Vorspiel den Choral;
der alte Schnauzbart sang das Lied,
ich und mein Weib, wir sangen mit.
Das Lied war aus, still saß der Mann,
ein heißer Strom von Tränen rann
ihm übers braune Angesicht,
die funkelten wie Demantlicht.
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Dann stand er auf und drückte mir
die Hand und sprach: „Da, nehmt das hier.“
Es war ein großes Talerstück.
Ich wies das Geld beschämt zurück;
er aber rief: „Was soll das, Mann?
Bei Gott, es klebt kein Blut daran!
Gebt’s an die Armen in dem Ort."
Drauf gingen wir zusammen fort,
und noch im Gehen sprach er weich:
„Kein Lied kommt diesem Lied mir gleich.
Es hat mich in vergangner Nacht
zum lieben Gott zurückgebracht;
's rief gestern abend der Major
vor unsrer Front: „Freiwill’ge vor!
’s soll ein verlorner Posten stehn
dem Feinde nah, dort auf den Höhn.
Hat keiner Lust, hat keiner Mut?"
Das trieb mir ins Gesicht das Blut:
„Da müßten wir nicht Preußen sein!"
Ich rief’s und trat rasch aus den Reihn;
drei meiner Söhne folgten mir:
„Gehst du, so gehen wir mit dir!"
So zogen wir nach jenen Höhn,
um dort die ganze Nacht zu stehn.
Es blitzte hier, es krachte da,
es war der Feind uns oft so nah,
daß er uns sicherlich entdeckt,
wenn uns nicht droben der versteckt.
Ja, Manü, ich hab’ so manche Nacht
im Feld gestanden auf der Wacht,
doch war mir nie das Herz so schwer —
’s kam nur von meinen Jungens her;
ihr habt ja Kinder — nun, da wißt
ihr selbst, was Vaterliebe ist.
Drum hab’ ich auch emporgeblickt
und ein Gebet zu Gott geschickt;
und wie ich noch so still gefleht,
da ward erhört schon mein Gebet,
denn leuchtend ging im Osten fern
auf einmal auf — der Morgenstern.
Und mächtig mir im Herzen klang
der längst vergeßne, fromme Sang;
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hätt’ gern gesungen gleich das Lied,
doch schwieg ich, weil’s uns sonst verriet.
Zugleich fiel mir auch manches ein,
was anders hätte sollen sein,
vor allem, daß ich dieses Jahr
noch nicht im Gotteshause war.
Das machte mir das Herz so schwer,
das war’s, das trieb mich zu euch her.“
Der Alte sprach’s, bestieg sein Pferd
und machte munter rechtsumkehrt.
Seht! Drum hab’ ich das Lied so gern:
„Wie schön leuchtet der Morgenstern!“
und spiel’ noch heute jedesmal
ganz ohne Vorspiel den Choral,
und wenn ich spiel’, sitzt immerdar
mir dicht zur Seite der Husar,
ich höre seinen kräft’gen Baß
und da — wird mir das Auge naß.
Julius Sturm.
289. Der Sieger von Torqau.
1. Der Tag war heiß und blutig,
der Tag der Torgauer Schlacht;
es sank die Sonne glutig,
das Schlachtfeld deckte die Nacht,
verstummt war in der Runde
Geschütz und Waffenschall,
nur manchmal vom Süptizer Grunde,
kam noch ein ferner Hall.
2. Doch wer war nun erlegen
dem Gegner heut’ im Feld,
war’s Daun, der tapfre Degen,
war’s Friedrich, der große Held?
Sie haben beide gestritten
in Feuer und Pulverdampf,
sie waren beide geritten
voran im blutigen Kampf.
3. Zu Torgau auf dem Lager
der alte Marschall saß,
doch nicht der Ruhe pflag er,
fein Aug’ den Schlaf vergaß,
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er achtet nicht der Wunde
in seinem hohen Sinn,
er meldet die Siegeskunde
nach Wien der Kaiserin.
7. Indes sich so der Freude
der wackre Daun ergab,
saß Friedrich tief im Leide
vor seiner Hoffnung Grab.
Er war noch spät gekommen
zu eines Kirchleins Tür
und hatte müd' genommen
darin sein Nachtquartier.
5. Dort an des Altars Stufen
lehnt er gedankenvoll,
nur seine Blicke rufen,
wann sich wer nahen soll.
Bei einer Kerze Schimmer
verbringt er die bange Nacht
und sammelt im Geist die Trümmer
des Heers zur neuen Schlacht.
6. Doch als er nun am Morgen
feldein vom Dorfe ritt,
noch immer in tiefen Sorgen,
ihm Zieten entgegen tritt:
„Mein Handstreich ist gelungen,
getroffen hat der Blitz,
wir haben zu Nacht bezwungen
die Höhen von Süptiz."
7. Der Kriegsherr steht betroffen
ob solcher Siegesmär';
da reißt der Nebel, und offen
zeigt sich ein fliehendes Heer.
Der alte Zieten glühet,
von Friedrich weicht der Schmerz,
er dankt ihm stumm und ziehet
ihn weinend an das Herz.
Martin Greif.
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290. Mein Ururqrotzvater und der alle Fritz.
1. Allgemein bekannt ist wohl die Geschichte: „Der alte Fritz und der
Müller von Sanssouci." Aber gänzlich unbekannt ist, glaube ich, die
Geschichte, die meinem Ururgroßvater, deni Oderbruchmüller, mit dem alten
Fritz Passiert ist. Und doch ist es eine wahre Begebenheit, deren Hergang
sich mündlich in unserer Familie fortgeerbt hat.
Unter den vielen Kolonisten, die aus dem außerpreußischen Deutsch-
land dem Nus des großen Friedrich in das von ihm urbar gemachte Oder-
bruch folgten, befand sich auch mein Ururgroßvater. Er muß ein leb-
hafter, tatkräftiger und unternehmender Mann gewesen sein, den eine gewisse
unruhige Tatenlust zu immer neuen Unternehmungen anreizte. Zunächst
ließ er sich im Ober-Oderbruch im Dorfe Manschnow bei Frankfurt an
der Oder nieder, wo er auf einem Sandberge die ersten drei Windmühlen,
die das Oderbruch sah, erbaute. Bon diesen Windmühlen erhielt er den
Namen Bruchmüller, so daß sein alter Name über diesem neuen voll-
kommen in Vergessenheit geraten ist. Nur einige Jahre jedoch hielt er
es in Manschnow aus. Als auch das Mittel-Oderbruch durch Dämme
trocken gelegt worden war, ging er nach seiner alten Heimat, ins An-
haltinische, zurück, führte von dort eine Schar Kolonisten ins Mittel-
Oderbrnch und begründete dort mit ihnen in der Nähe von Wrietzen das
Dorf Neurüdnitz, wofür er das erbliche Lehnschulzenamt daselbst erhielt.
Kaum, daß die Kolonisten angefangen hatten, in der neuen Heimat etwas
warm zu werden, da erschienen russische Agenten im Oderbruch, um im
geheimen Auftrag ihrer Kaiserin, die ja bekanntlich eine anhaltinische
Prinzessin war, deutsche Auswanderer nach Rußland in die Wolga-
niederungen zu locken. Auch der Lehnschulz von Neurüdnitz ließ sich
gewinnen. Er soll, so erzählt man sich bei uns, die Kaiserin in ihrer
Jugend persönlich gekannt haben, da sie als Prinzessin bei ihren Aus-
fahrten öfters in dem Gehöft seines Vaters sich ein Glas Milch hatte
reichen lassen. Wegen dieser Jugendbekanntschaft soll er sich goldene
Berge und hohe Ehren in Rußland versprochen haben.
2. Sei dem, wie es wolle, der Lehnschulze wollte wandern, und dem
bewährten Führer schloß sich das ganze Dorf an. Überall wurde in der
Stille gepackt und das Bündel geschnürt, und die eben erst eingenommene,
neue Heimat sollte wieder verlassen werden. Da kam plötzlich, wenige
Tage vor dem zum Aufbruch festgesetzten Termin, ein Kommando Husaren
ins Dorf gesprengt, umstellte den Schulzenhof, hob meinen Ururgroßvater
auf und schleppte ihn nach der Festung Spandau. Die Behörden hatten
nämlich von den möglichst geheim betriebenen Wanderzurichtungen doch
Wind bekommen und beschlossen, ohne viel Lärm zu machen, nur den als
Führer bekannten Bruchmüller aufheben zu lassen. Der Zweck war erreicht,
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die Neurüdnitzer sahen sich führerlos und packten wieder aus, froh, ohne
weitere Strafe davonzukommen. Nur in das Haus des Lehnschulzen war
die Trauer eingekehrt. Der Vater war der Familie entführt worden,
und Tage um Tage vergingen und wurden zu Wochen, ohne daß von
feiner Freilassung irgend etwas verlautet wäre; ja, die junge, verlassene
Frau hörte, daß der gefangene Brnchmüller einer strengen Bestrafung
entgegensehe, die ihm eine lange Reihe von Jahren hinter den Spandauer
Festungswüllen einbringen würde. Endlich nach einigen Wochen des
Hangens und Bangens faßte die Frau sich ein Herz und machte sich mit
ihrem vierjährigen Jungen, meinem Urgroßvater, nach Potsdam auf, um
den alten Fritz selbst um Gnade anzuflehen.
3. Es gelang ihr auch wirklich, König Friedrich auf einem seiner
einsamen Spaziergänge allein anzutreffen. Der König machte, als er sah,
daß die Frau mit dem Jungen an der Hand ihn anreden wollte, ein
ermutigendes Zeichen, daß sie reden solle: „Hoher Herr König, ick bün
de Brockmöllersche un wull Sei schön bidden---------"
Weiter kam sie nicht. Friedrich war der Name Bruchmüller nur zu
gut bekannt. Und dieser Name hatte jetzt in seinem Ohr keinen allzu
guten Klang; denn so gerne er es sah, daß Fremde in sein Land kamen,
so sehr erregte es seinen Zorn, wenn preußische Untertanen auswandern
wollten. Unwirsch stampfte er deshalb mit dem Fuß und erhob drohend
den berühmten und berüchtigten Krückstock. Die arme, heftig erschrockene
Frau stand wie versteinert vor dem zürnenden König. Die Sache meines
Ururgroßvaters schien verloren. Da griff der kleine Bruchmüller als
rettender Engel ein. Ängstlich seine Mutter am Nock zupfend, rief der
Bursche: „Modder, kum weg, de Kerl will di slan!" Der Zorn des
Königs war augenblicklich erstickt in einem lauten Lachen über den
komischen Ausruf des Kleinen, und die Frau wurde mit freundlichen und
ermutigenden Worten entlassen. - Schon nach wenigen Tagen kehrte der
gefangene Bruchmüller ohne jede Strafe zu seiner Frau zurück. Er hatte
nur Urfehde schwören müssen, me wieder auswandern zu wollen. Und
er hat Wort gehalten, die Wanderlust war ihm gänzlich vergangen.
Sein Sohn und Enkel folgten ihm auf dem Lehnschulzenhofe, und noch
jetzt baut der größte Teil ihrer zahlreichen Nachkommenschaft in Neu-
rüdnitz und den umliegenden Dörfern als kernhafte Bauern ihre Scholle.
Und noch jetzt danken alle Bruchmüllers es dem alten Fritz, daß sein
Eingreifen uns in dem Vaterlande zurückgehalten hat, während wir sonst
vielleicht im fernen Rußland um unser Deutschtum ringen müßten oder
gar schon zu Russen gemacht wären. W. Bruchmüller.
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291. Die Einfuhr
ung der Kartoffel.
1. Ich mochte wohl ein Bürschchen von fünf oder sechs Jahren
sein und noch in meinen ersten Höschen stecken — also etwa um
das Jahr 1743 oder 1744 — als es hier bei uns und im Lande weit
umher eine so schrecklich knappe und teure Zeit gab, daß viele
Menschen vor Hunger starben; denn der Scheffel Roggen galt den
damals beinahe für unerschwinglich gehaltenen Preis von einem
Taler acht Groschen.
Es kamen von landeinwärts her viele arme Leute nach Kolberg,
die ihre kleinen, hungrigen Würmer auf Schiebkarren mit sich
brachten, um Korn von hier zu holen, weil man Getreideschiffe in
unserem Hafen erwartete, die der grausamen Not steuern sollten.
Alle Straßen bei uns lagen voll von diesen unglücklichen ausge-
hungerten Menschen. Meine Großmutter, bei der ich erzogen ward,
ließ täglich mehrere Körbe voll Grünkohl in unserem Garten pflücken
und kochte einen Kessel voll nach dem anderen für unsere ver-
schmachtenden Gäste, und mir ward das gern übernommene Ehren-
ämtchen zuteil, ihnen die Speise in kleinen Schüsselchen nebst einer
Brotschnitte zuzutragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen
Napf begierig aus der Hand, ja sie rissen sich denselben wohl unter-
einander selbst vor dem Munde weg.
2. Im nächstfolgenden Jahre erhielt Kolberg, aus des großen
Friedrich vorsorgender Güte, ein Geschenk, das hierzulande völlig
unbekannt war. Ein großer Frachtwagen voll Kartoffeln nämlich
langte auf denz/Markte an, und durch Trommelschlag erging in der
Stadt und den Vorstädten die Bekanntmachung, daß jeder Garten-
besitzer sich zu einer bestimmten Stunde vor dem Rathause einzu-
finden habe, indem des Königs Majestät ihnen eine besondere Wohl-
tat zugedacht habe. Man ermißt leicht, wie alles und jedes in eine
stürmische Bewegung geriet, und das um so mehr, je weniger man
wußte, was es mit diesem Geschenk zu bedeuten habe.
3. Die Herren vom Rate zeigten nunmehr der versammelten
Menge die neue Frucht vor, die hier noch nie ein menschliches
Auge erblickt hatte. Daneben ward eine umständliche Anweisung
verlesen, wie diese Kartoffeln gepflanzt und bewirtschaftet, desgleichen
wie sie gekocht und zubereitet werden sollten. Besser freilich wäre
es gewesen, wenn man eine solche geschriebene oder gedruckte In-
struktion gleich mit verteilt hätte; denn nun achteten in dem Ge-
tümmel die wenigsten auf jene Vorlesung. Die guten Leute nahmen
die hochgepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen,
schmeckten und leckten daran, kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar
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dem anderen; man brach sie voneinander und warf sie den Hunden
vor, die daran herumschnupperten und sie verschmähten. Nun war
ihnen das Urteil gesprochen. „Die Dinger“, hieß es, „riechen nicht
und schmecken nicht, und nicht einmal die Hunde mögen sie fressen.
Was wäre uns damit geholfen?“ Am allgemeinsten war dabei der
Glaube, daß sie zu Bäumen heranwüchsen, von welchen man zu
seiner Zeit ähnliche Früchte herabschüttle. Alles dies ward auf
' dem Markte, dicht vor meiner Eltern Tür, verhandelt.
4. Inzwischen ward des Königs Wille vollzogen und seine
Segensgabe unter die anwesenden Garteneigentümer ausgeteilt nach
Verhältnis ihrer Besitzungen, jedoch so, daß auch die Geringeren
nicht unter einigen Metzen erhielten. Kaum irgend jemand hatte
die erteilte Anweisung zu ihrem Anbau recht begriffen. Wer sie
also nicht geradezu in seiner getäuschten Erwartung auf den Kehricht-
haufen warf, ging doch bei der Auspflanzung so verkehrt als mög-
lich zu Werke. Einige steckten sie hie und da einzeln in die Erde,
ohne sich weiter um sie zu kümmern; andere, und darunter war
auch meine liebe Großmutter, glaubten das Ding klüger anzugreifen,
wenn sie die Kartoffeln beisammen auf einen Haufen schütteten und
mit etwas Erde bedeckten.
5. Nun mochten aber wohl die Herren vom Kat gar bald in
Erfahrung gebracht haben, daß es unter den Empfängern viele lose
Verächter gegeben, die ihren Schatz gar nicht einmal der Erde an-
vertraut hätten. Darum ward in den Sommermonaten durch den
Ratsdiener und Feldwächter eine allgemeine und strenge Kartoffel-
schau veranstaltet und den widerspenstig Befundenen eine kleine
Geldbuße aufgelegt. Das gab wiederum ein großes Geschrei und
diente auch eben nicht dazu, der neuen Frucht Gönner und Freunde
zu erwecken.
6. Das Jahr nachher erneuerte der König seine wohltätige
Spende durch eine ähnliche Ladung. Allein diesmal verfuhr man
dabei hohem Orts zweckmäßiger, indem zugleich ein Eandreiter mit-
geschickt wurde, der als ein geborner Schwabe des Kartoffelbaues
kundig und den Leuten bei der Auspflanzung behilflich war und ihre
weitere Pflege besorgte.
So kam also diese neue Frucht zuerst ins Land und hat seit-
dem durch immer vermehrten Anbau kräftig gewehrt, daß nie wieder
eine Hungersnot so allgemein und drückend bei uns hat um sich
greifen können. Dennoch erinnere ich mich gar wohl, daß ich erst
volle vierzig Jahre später bei Stargard zu meiner angenehmen Ver-
wunderung die ersten Kartoffeln im freien Felde ausgesetzt ge-
Nach Joachim Nettelbeck.
iv. 32
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292. Der Tod der Königin Luise.
\♦ 2im 25. 3nni \8\0 war die Königin nach dem Lustschlosse
^ohenzieritz bei Neustrelitz in Mecklenburg abgereist, Hier ward sie
von einem Unwohlsein befallen, das sich in kurzer Zeit verschlimmerte.
Brustkrämpfe traten mit einer Heftigkeit auf, daß ihr der Atem aus-
gehn zu wollen schien. Bon ihrem zunehmenden Leiden benachrichtigt,
begab sich der König in Begleitung seiner beiden ältesten Söhne nach
Hohenzieritz an ihr Krankenlager.
2. Die Nacht auf den sy. Juli war die letzte Trdennacht der
Königin. Gegen Morgen brachte ihr der Arzt die Nachricht von der
Ankunft des Königs. „Der König, mein Gemahl?" rief die Kranke
freudig; „das hilft mir von meinen Schmerzen. (D, laßt ihn zu mir
kommen!" Das war ein schmerzliches Wiedersehen. Der König um-
armte sie mit Wehmut und konnte vor Traurigkeit nicht reden. „Du
bist ja so traurig, lieber freund," sagte sie, „ist es denu so gefährlich
mit mir?" — „Das nicht," erwiderte der König gefaßt, „ich sehe dich
nur leiden, das ist mein Schmerz. — Gottlob, daß ich hier bin!" setzte
er hinzu. Die Antwort schien die Königin etwas zu beruhigen. —
„Wer ist mit dir gekommen?" fragte sie. Tr antwortete: „Fritz und
Wilhelm." — „Ach Gott, welche Freude!" rief sie inniglich gerührt.
Der König entfernte sich und kehrte bald mit den beiden Söhnen zurück.
„Mein Fritz, mein Wilhelm!" rief die Königin zu wiederholten Malen
aus. Beide knieten an ihrem Bette nieder und empfingen ihren letzten Segen.
3. Ts nahte die neunte Stunde. Die Brustkrämpfe traten wieder
ein; sie wurden immer heftiger. Auf einen Wink des Königs entfernten
sich die beiden Prinzen, nachdem sie von der sterbenden Mutter Abschied
genommen hatten. Die Arzte forderten die Kranke auf, die Arme höher
zu legen, — ihr fehlte die Kraft dazu. — „Ach, mir hilft nichts als
der Tod," sagte sie mit matter Stimme. Der König hielt die rechte
Hand der Sterbenden in der seinigen. Auf der andern Seite des Bettes
kniete die Prinzessin Friederike. Der Herzog, ihr Vater, die verwitwete
Landgräfin von Hessen-Darmstadt, einst ihre Pflegerin in seliger Kind-
heit, waren im Zimmer. Die Züge der Kranken nahmen eine himm-
lische Verklärung an. „Herr Zesu, kürze mein Leiden!" betete sie, und
mit diesem letzten Gebetsseufzer schied ihre Seele von dem irdischen
Leibe. Ts war fünf Minuten vor neun Uhr. Der König beugte sich
im tiefsten Seelenschmerze mit äußerster Fassung zu der Toten nieder
und drückte ihr die Augen zu, — „seines Lebens Sterne, die ihm auf
seiner dunkeln Bahn so treu geleuchtet." — Tine ehrfurchtsvolle Stille
herrschte ringsum. Auf dem Angesichte der Toten lag der Friede einer
bessern Welt, zu dem sie nach den Kämpfen des Lebens eingegangen war.
Fedor v. Röppen.
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293. Soldaten-Morgenlied.
1. Erhebt euch von der Erde,
ihr Schläfer aus der Ruh’;
schon wiehern uns die Pferde
den guten Morgen zu:
die lieben Waffen glänzen
so hell im Morgenrot,
man träumt von Siegeskränzen,
man denkt auch an den Tod.
2. Du reicher Gott, in Gnaden
schau’ her vom blauen Zelt,
du selbst hast uns geladen
in dieses Waffenfeld.
Laß uns vor dir bestehen
und gib uns heute Sieg!
Die Christenbanner wehen,
dein ist, o Herr, der Krieg!
3. Ein Morgen soll noch kommen,
ein Morgen, mild und klar;
sein harren alle Frommen,
ihn schaut der Engel Schar.
Bald scheint er sonder Hülle
auf jeden deutschen Mann;
o brich, du Tag der Fülle,
du Freiheitstag, brich an!
4. Dann Klang von allen Türmen —-
und Klang aus jeder Brust —
und Ruhe nach den Stürmen
und Lieb’ und Lebenslust!
Es schallt auf allen Wegen
dann frohes Siegsgeschrei, —
und wir, ihr wackern Degen,
wir waren auch dabei!
Max v. Schenkendorf.
294. Das Lied vom Feldmarschall.
1. Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus!
Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus.
Er reitet so freudig sein mutiges Pferd;
er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.
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2. O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein;
drnm kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein.
3. Der Mann ist er gewesen, als alles versank,
der mutig auf gen Himmel den Degen noch schwang;
da schwur er beim Eisen gar zornig und hart,
den Welschen zu weisen die preußische Art.
4. Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf erklang,
hei, wie der weiße Jüngling in'n Sattel sich schwang!
Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht,
mit eisernem Besen das Land reingemacht.
5. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß,
daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus,
daß Tausende liefen dort hasigen Lauf,
zehntausend entschliefen, die nimmer wachen auf.
6. Am Wasser der Katzbach er's auch hat bewährt;
da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt.
Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab
und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!
7. Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch!
Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg.
Da mußten sie springen wie Hasen übers Feld;
hinterdrein ließ erklingen sein Hussa der Held.
8. Bei Leipzig auf dem Plane, o herrliche Schlacht!
da brach er den Franzosen das Glück und die Macht.
Da lagen sie sicher nach blutigem Fall;
da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.
9. Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus!
Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus
dem Siege entgegen, zum Rhein, übern Rhein,
du tapferer Degen, in Frankreich hinein!
Ernst Moritz Arndl.
295. Von Ems nach Berlin.
Der 15. Juli 1870 ist angebrochen. Kurgäste und Emser Einwohner
stehen zahlreich um das Kurhaus versammelt. Da erscheint der König,
zur Reise nach seiner Hauptstadt gerüstet. Ein begeistertes Hochrufen,
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das nicht enden will, begrüßt ihn. Blumen bedecken seinen Weg. Er er-
widert — Tränen der Rührung in den Augen — einige Worte und ruft
den Versammelten zu: „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!" Der Wagen
führt ihn zum Bahnhöfe. Auch dort ein dreifaches Hoch, und fort braust
der Zug.
Und nun geht es den 84 Meilen langen Weg von Ems nach Berlin.
Schweigsam lehnt der König in dem Armstuhle seines Wagens; selten
schweift sein Blick hinaus auf die reichgesegneten Fluren seines Landes.
Gar manche Sorge lagert noch auf seinem Haupte. „Wie werden die
Hessen, wie wird Hannover die neue Wendung der Dinge aufnehmen?
Wird Süddeutschland fest und unerschütterlich zu uns stehen?"
Da fährt der Zug in einen großen Bahnhof. Es ist Kassel. Der
Bahnsteig ist von Menschen überfüllt. Tausende von Bürgern aller Stände,
aller Parteien kommen mit dem Oberbürgermeister, um die Ergebenheits-
adresse, die er überreicht, mit herzlicher Zustimmung zu begleiten. Und
niemand weicht von dem Bahnsteig, bis der König mit seinem Gefolge
im Wartesaal sein Mittagsmahl beendet hat. Als er heraustritt und
wieder in den Wagen steigt, erneuern sich die jubelnden Hochrufe, das
Hüte- und Tücherschwenken. Mit solcher Begeisterung und Liebe empfangen
ihn die Hessen. Bewegt winkt der Monarch wieder und wieder vom
Fenster seines Wagens den Draußenstehenden seinen Dank zu. Dann
geht es rasch vorwärts.
Es ist eine denkwürdige Reise. Die Liebe und Begeisterung des
Volkes, das auf allen Stationen, ja oft weite Strecken längs der Bahn
in großen Scharen versammelt ist und ihm zuruft: „Auf nach Frankreich!
Auf nach Paris! Hoch König Wilhelm!" scheinen ihn mehr zu tragen
als die Flügel des Dampfes, die den Zug dahintreiben.
Der Empfang der Hannoveraner in Göttingen, der Braunschweiger
in Börßum tut dem König ganz besonders wohl. Er weiß jetzt, daß nur
ein Sinn in Norddeutschland herrscht, und er zweifelt nicht mehr, daß
auch der Süden desselben Sinnes sein werde. Und ist noch ein Nest
von Sorge in seinem Herzen, jetzt weicht er, als es in Brandenburg
hineingeht. Sein ernstes Gesicht heitert sich auf, als er seinen Sohn,
den Kronprinzen, erblickt, und als gleich dahinter Bismarck, Moltke und
Roon erscheinen. In ihrer Begleitung macht er den letzten Teil seiner Reise
Der blumenbekränzte Potsdamer Bahnhof in Berlin empfängt den
König. Der Bahnsteig ist überfüllt. Ein donnerndes Hurra ertönt. Der
König steigt aus, reicht dem greisen Wrangel die Hand und schreitet dann
langsam, die Hände links und rechts reichend, nach allen Seiten freundlich
grüßend und von den Frauen Blumensträuße entgegennehmend, ins Warte-
zimmer.
Nach kurzem Verweilen besteigt der König seinen Wagen und fährt
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langsam durch die dichtgedrängten, ihm zujubelnden Menschenmassen nach
seinem Palais. Dort erdröhnt noch einmal ein hunderttausendstimmiges
Hurra; der König richtet einige Worte des Dankes an das Volk, dann
tritt er ins Schloß.
Doch nicht lange ist dem Ermüdeten Ruhe gegönnt. Die Volks-
menge umsteht noch immer das Palais und läßt nicht nach, bis der König
sich aufs neue am Fenster zeigt. Da entblößen sich rasch alle Häupter,
und aus vieltansendstimmigem Chor braust das Lied zu ihm hinaus:
„Heil dir im Siegerkranz!" Der Feuergeist von 1813 leuchtet aus dem
Gesänge hervor.
Es ist elf Uhr. Noch immer wogt das Volk vor dem Palaste auf
und ab. Da erscheint Moltke, der schweigsame Denker der Schlachten.
Stürmisches Willkommen wird ihm von allen Seiten zuteil; fast hebt
man ihn auf die Schultern, um ihn ins Schloß zu tragen. Eine halbe
Stunde später, da die begeisterten Rufe nicht aufhören, treten einige
Schutzleute unter die Versammelten: Der König lasse bitten, nach Hause
zu gehen; er habe noch viel zu arbeiten diese Nacht. „Der König will
Ruhe! Nach Hause! Nach Hause!" erschallt es durch die Menge, und in
wenigen Augenblicken ist der ganze Platz geleert. Nus dem Daheim.
296. Die Wacht am Rhein.
1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
wer will des Stromes Hüter sein!“
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
2. Durch Hunderttausend zuckt es schnell,
und aller Augen blitzen hell.
Der deutsche Jüngling, fromm und stark,
beschirmt die heil’ge Landesmark.
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
3. Auf blickt er, wo der Himmel blaut,
wo Vater Hermann niederschaut,
und schwört mit stolzer Kampfeslust:
„Du, Rhein, bleibst deutsch wie meine Brust!“
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
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4. „Und ob mein Herz im Tode bricht,
wirst du doch drum ein Welscher nicht;
reich wie an Wasser deine Flut
ist Deutschland ja an Heldenblut.“
Dieb' Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
5. „Solang ein Tröpfchen Blut noch glüht,
noch eine Faust den Degen zieht
und noch ein Arm die Büchse spannt,
betritt kein Welscher deinen Strand.“
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
6. Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
die Fahnen flattern in dem Wind:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wir alle wollen Hüter sein.
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein!
Max Schneckenburger
297. Der Siegesznq des Kronprinzen.
(6. August 1870.)
1. Während das siegreiche Heer teils in geschlossenen Gliedern vor-
überflutete, teils in ausgelösten Haufen das eroberte Dorf Fröschweiler
durchsuchte, erscholl plötzlich von Wörth herauf ein unbeschreibliches
Getöse. Es mußte wieder etwas Neues, Außerordentliches im Anzuge sein.
Die Soldaten sprangen wie elektrisiert zu allen Häusern und Höfen
hinaus, stellten sich in Reih' und Glied und bildeten auf beiden Seiten
der Straße eine undurchdringliche Mauer. Ich stand auf der Haustreppe.
„Was ist denn?" — „Der Kronprinz kommt! — Der Kronprinz kommt!"
— Ich kann nicht sagen, wie diese Nachricht meine Seele durchzuckte.
Ich rief meinen Leuten zu: „Schnell heraus, der Kronprinz von Preußen
kommt!"
2. Das Getöse dringt immer näher, und das Triumphgeschrei wird
immer größer. Jetzt sind sie im Unterdorf! Horch, wie sie jubeln!
Gebt acht! Jetzt biegen sie um die brennende Kirche! Die Trommeln
wirbeln, die Siegeslieder brausen, eine ungeheuere Begeisterung flammt
durch die Reihen, alle Häupter sind entblößt, die Mützen fliegen hoch
empor, und aus aller Mund tönt ein tausendfaches donnerndes Hurra!
Hoch! Hurra! Wir stehn da wie verzaubert .... Wahrhaftig, da zieht er,
umgeben und gefolgt von seinen Generalen, an unsern Blicken vorüber.
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3. Wie sein Angesicht von Freude strahlt, und wie er so wohlwollend
die jubelnden Scharen begrüßt! Kein Wunder, sie haben ihr Blut ver-
gossen, und ihr Hurrarufen läutet dem geschlagenen Kaiser zu Grabe.
Welch großartiges, majestätisches Schauspiel! Was doch in diesem Augen-
blicke sein fürstliches Herz empfinden mag? Ob durch die Siegesfreude
auch eine Ahnung zieht von dem tausendfachen Weh, das der Krieg über
die Völker wälzt? Wir glauben's gern. Sein Blick ist milde, seine ganze
Erscheinung erweckt Vertrauen.
4. Der Siegeszug bewegt sich vorwärts in der Richtung nach Reichs-
hofen. Im Oberdorf aber schwenkt der hohe Feldherr rechts ab, dort liegt
in einer Stube der tapfere General Raoult, blutend aus vielen Wunden,
mit zerbrochenem Schwert und brechendem Herzen. Der deutsche Sieger
tritt in die Bauernhütte ein, schaut freundlich in die fieberglühenden
Augen, drückt teilnahmsvoll die todesmatte Hand: — ein Wort huldvoller
Anerkennung, eine Träne hochherzigen Mitleids, und noch einmal unter
gewaltigen Siegesmürschen und endlosem Freudengeschrei wogt der Triumph-
zug vorüber. Jetzt rauschen die Feuerklänge weiter hinab ins Tal; aus
dem Kirchturm schlagen die Flanunen hoch gen Himmel und leuchten weit
hinaus ins Schlachtgefilde. Karl Klein.
298. Die Rose yoh Gorze.
1. Am Tage nach dem Siegeskampfe von Gravelotte fuhr der
König Wilhelm von Pont a Mousson zurück und kam auf diesem
Wege auch durch das Städtchen Gorze. Allenthalben begrüßten die
Truppen den greisen Sieger mit lautem Jubel, ja selbst die Ver-
wundeten, von denen Gorze angefüllt war, stimmten ein in das
Hurra, das brausend in die Lüfte stieg. Auch der Hauptmann von
Zedtwitz war als Schwerverwundeter nach Gorze gebracht worden.
Bei dem alten Invaliden Antoine, der in der Schlacht bei Magenta
ein Bein verloren hatte, fand der deutsche Hauptmann ein Unter-
kommen; der alte Stelzfuß und sein Töchterchen pflegten und er-
quickten den todeswunden Krieger aufs beste. Als der Verwundete
das donnernde Hurra hörte und auf seine Frage ihm sein Wirt er-
zählte, daß König Wilhelm durch Gorze ziehe, drängte es ihn, dem
greisen Sieger auch einen Gruß zu senden, und er tat es in einer
Weise, in welcher sich das deutsche Gemüt anmutig offenbarte.
Durch einen Hornisten ließ er seinem Kriegsherrn eine schöne weiße
Rose mit folgenden Worten übersenden: „Ein schwer verwundeter
Offizier, der wohl schwerlich die nächsten Tage überleben wird,
schickt Ew. Majestät die Rose als Siegesgruß für Gravelotte!“ Der
König ließ seinen Kutscher halten. Tief gerührt nahm er die schöne
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Rose und steckte sie ins Knopfloch. Er fragte nach dem Namen
des sinnigen Spenders, dankte herzlich für den zarten Gruß, wünschte
baldige Genesung und fuhr weiter. Nach langem Krankenlager genas
der Hauptmann. Zum Dienst war er jedoch nicht mehr tauglich,
und deshalb übertrug man ihm, als Anerkennung seiner Verdienste
um das Vaterland, die Stelle eines Bezirkskommandeurs in Halber-
stadt.
2. Herr von Zedtwitz hatte die Rose von Gorze, diese Schmerzens-
gabe, wohl längst vergessen, und es durfte angenommen werden, daß
sie auch dem König Wilhelm aus dem Gedächtnis entschwunden sei.
Doch der edle Monarch hatte für verdienstvolle Männer seines Heeres
und des Vaterlandes ein dankbares Herz und ein treues Gedächtnis;
dies sollte auch der Hauptmann von Zedtwitz erfahren. Am 23. De-
zember 1871 empfing derselbe aus dem königlichen Kabinett eine
Kiste, welche ein prachtvolles Bild von zweieinhalb Fuß Breite und
zwei Fuß Höhe enthielt. In dem Bilde erhebt sich ein Gedenkstein,
auf dem die Worte stehn: „Gorze 19. August 1870.“ Eine schwarz-
weiß-rote Fahne bedeckt diesen Gedenkstein zur Hälfte, während
über die andre Hälfte die schwarz-silberne Fahnentroddel herabhängt.
In der Mitte des Bildes steht ein Infanteriehelm, geschmückt mit
dem eisernen Kreuze und bekränzt mit einem reichen Lorbeerkranze,
an dessen Blättern Tränen glänzen. Oben an dem breiten, pracht-
voll vergoldeten Rahmen schimmert eine massiv silberne Rose. Diesem
sinnigen Weihnachtsgeschenke lag folgendes Schreiben von der Hand
Kaiser Wilhelms bei: ,,In dankbarer Erinnerung an den Mir unver-
geßlichen Augenblick, wo Sie, schwer verwundet, in Gorze am 19. August
1870 Mir eine Rose nachsandten, und Ich, Sie nicht kennend, an
Ihrem Schmerzenslager vorübergefahren war, sende Ich das bei-
kommende Bild, damit noch in spätern Zeiten man wisse, wie Sie in
solchem Augenblicke Ihres Königs gedachten, und wie dankbar er
Ihnen bleibt. ,X7.,, i n
VV llnelm Rex
Weihnachten 1871. 22 1271 “
So bezeugte Kaiser Wilhelm den Helden des Vaterlandes seine
königliche Treue und seinen Dank. August Wolter.
299. Die Trompete von Vionville.
L Sie Haben Tod und Berderben gespien;
wir Haben es nicht gelitten.
Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien,
wir Haben sie niedergeritten.
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2. Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,
tief die Lanzen und hoch die Fahnen, —
so haben wir sie zusammengesprengt, —
Kürassiere wir und Ulanen.
3. Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt;
wohl wichen sie unsern sieben;
doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,
unser zweiter Mann ist geblieben.
Die Brust zerschossen, die Stirn zerklafft,
so lagen sie bleich aus dem Rasen,
in der Kraft, in der Zugend dahingerasit! —
Nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!
5. Und er nahm die Trompet', und er hauchte hinein;
da, — die mutig mit schmetterndem Grimme
uns geführt in den herrlichen Kampf hinein,
der Trompete versagte die Stimme!
6. Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz
entquoll dem metallenen Munde;
eine Kugel hatte durchlöchert ihr Trz, —
um die Toten klagte die wunde.
7. Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein,
um die Brüder, die heut' gefallen, —
um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein,
erhob sie gebrochenes Lallen.
8. Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann,
rundum die Wachtfeuer lohten;
die Rosse schnoben; der Regen rann, —
und wir dachten der Toten, der Toten!
Ferdinand Freiligrath.
300. Wie ein braver Pommer zum Eisernen Kreuz kam.
1. Ein pommerscher Gutsherr sieht einmal an einem Morgen unter
seinen Arbeitern auch einen derben Tagelöhner, der das Eiserne Kreuz auf
der Brust hatte. Als Feierstunde war, ruft er ihn, und damit der maul-
faule Pommer ans Reden kommt, gibt er ihm zuerst etwas Ordentliches
in den Magen; denn dann fängt die Mühle an zu laufen.
2. Drauf fragt er ihn denn, wie er zum Eisernen Kreuz gekommen
sei. „Ja," meint der Pommer, „das ist eine lange Geschichte — denn
ich habe es vom König Wilhelm selber gekriegt, und zwar fürs Einhaneu."
507
Tut der Pommer einen Schluck aus dem Kruge und erzählt daun weiter:
„Es war nach der Schlacht von Champigny, in der die Württemberger
sich so brav und tapfer gehalten und nur von der Übermacht zurück-
gedrängt wurden. Da wird bei uns zum Vorrücken geblasen. Meine
Kompagnie mußte ausschwärmen, und ich suchte mir Deckung, daß ich
bequem schießen konnte. „Jetzt gilt's, Jungen," sagte unser Hauptmann,
als die Franzosen immer mehr herauskamen, „die müssen aufgehalten
werden, bis die Kameraden heran sind. Schießt zu, was das Zeug halten
will." Ich schütte meine Patronen vor mich hin, alle rechts, daß ich nur
so zuzugreifen brauche, und fchieße los. Da kommen aber immer mehr
Franzosen heraus; dem Oberst wird die Sache bedenklich, und er läßt zum
Zurückgehen blasen. Ich höre das — und denke aber: „Einpacken die
Patronen all' ist auch nicht angenehm, und liegen lassen das liebe Gut
kannst du auch nicht — also du läßt den Kerl blasen und bleibst hier
und verschießt deine Patronen, dann kannst du dich immer noch auf die
Hacken machen." Ich bin soeben recht im Schießen, da kommt unser
Adjutant hergefprengt und schreit: „Kerls zurück, habt ihr denn keine
Ohren?" „Ach was," sag' ich und drehe mich so halbrechts herum, „ich
will nur erst die Patronen verschießen." Und fort war der Adjutant
und nichts mehr zu sehen. Zuletzt bin ich ganz allein gewesen und vor
mir alles rot von Franzosen, kaum zwanzig Schritt weit. Wie ich die
letzte Patrone verschossen, da denke ich: „Nun aber ist's hohe Zeit, daß
du dich wegmachst." Ich nehme also die Hacken unter die Beine und
springe wie ein Hirsch hinter dem Regimenté her. Die Franzosen schossen
mir nach, das war ein Hagelwetter, aber alles zu hoch und ich komme
ganz munter beim Regimenté an. Wie ich eintreten will, sehe ich den
Adjutanten mit dem Obersten sprechen und mit der Hand auf mich deuten.
Da denke ich: „Aha — jetzt gibt's was in die Kreide."
3. Unser Oberst war ein kreuzbraver Mann. Der kommt aus mich
zugeritten, lacht über das ganze Gesicht und sagt: „Kerl, sind deine Knochen
noch alle beieinander?"
„Zu Befehl, Herr Oberst," sagte ich.
Da lacht er wieder und sagt: „Na, Kerl, da kannst du mehr als
Brot essen."
Ich denke: „Na — diesmal ist die Sache glatt abgelaufen, und dem
Adjutanten seine Plauscherei hat doch nichts genützt."
4. Da heißt's am folgenden Tage plötzlich: „Seine Majestät der
König kommt." Na, das war so eine Freude, als der alte Herr kam.
Er fuhr vorbei, und ich hatte mir schon so ein paar Kartoffeln verwahrt;
denn ich hatte einen heidenmäßigen Hunger. Da kommt plötzlich unser
Adjutant auf mich herangesprengt und sagt, ich solle aus der Stelle zu
Seiner Majestät kommen.
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Na, ich denke, der Schlag soll mich rühren, aber ich ammle mich
wieder und sagte: „Zu Befehl. Ich habe ja nichts Böses begangen."
Der Adjutant grinste aber so mit dem Gesichte, als wollte er sagen:
„Wart Kerl, nun habe ich dich gekriegt für das Nichtparieren, du sollst
doch nicht so leicht wegkommen." Ich habe wahrhaftig nicht gedacht, daß
ein Mensch so hinterhältig sein kann.
5. Also mir sind die Beine wacklig, und ich werde so in ein Haus
geführt und dann in eineu Saal, da hat's gerochen, daß einem das Wasser
im Maul zusammengelaufen ist, so gut.
Ich denke eben: „Na, wer da mitessen könnte," da muß ich schon ins
Nebenzimmer. Jetzt kommt der König auf mich zu und ist so freundlich
wie die liebe Sonne und sagt: „Mein Sohn, wie war denn die Geschichte
gestern mit den Patronen. Erzähle mir einmal alles, was du weißt,
ganz genau."
„Zu Befehl, Majestät," sage ich und erzähle so alles gerade, wie's
gewesen ist, und daß ich das Signal wohl gehört, aber das liebe Gut
nicht hätte liegen lassen wollen, und wie der Adjutant gekommen und
geschrien hätte: „Zurück, Kerls!" — da hätte ich allerdings geglaubt, daß
keine Zeit zum Komplimentmachen sei, und hätte so gesagt: „Ach was —
ich verschieße erst meine Patronen." Das ist das Ganze gewesen, Herr
König, weiter hab' ich nichts verbrochen."
Da lachte der König über das ganze Gesicht und sagte: „Das hast
du brav gemacht, mein Sohn." Ich denke: „Na — nun ist's gut, nun
mag der Adjutant sagen, was er will." Da fragte mich Seine Majestät:
„Hast du schon zu Mittag gegessen, mein Sohn?"
„Zu Befehl, Eure Majestät," sag' ich, „ich bin noch mundnüchtern."
„Du hast wohl tüchtigen Hunger," sagte Seine Majestät weiter.
„Ja," sag' ich, „und der Durst ist auch nicht schlecht."
Da lachte der König wieder übers ganze Gesicht und sagte, ich solle
mitessen.
Ich setze mich denn an den schönen, großen Tisch mit all' den hohen
Herren und Generalen. Da war Suppe, Erbsensuppe, aber nicht von der
Berliner Erbswurst. Es war aber der Teller nur halb voll, daß ich dachte:
„Wenn du nur mehr von der Suppe haben könntest."
Als ich fast fertig war, rief der König herüber: „Möchtest du noch
etwas Suppe haben, mein Sohn?"
„Zu Befehl, Euer Majestät," sage ich, „wenn noch ein bißchen
da ist."
Da lachten die Herren, und einer von den Kammerdienern brachte
mir noch so einen Teller voll. Herr, die Suppe schmeckt mir heute noch
im Halse!
Da kommt dann einer herein und bringt einen Kalbsbraten, fast so
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groß wie ein Ochsenviertel, und ein andrer nimmt so ein großes Messer
und säbelt herunter immer ein Stück ans das andre auf einen großen Teller.
„Na," denke ich — „der versteht's schon besser als der mit der Suppe."
Der große Teller kommt an mich znerst, und ich nehme ihn vor mich
und dann auch so ein Schüsselchen mit Kartoffeln dazu. Ich denke zwar:
„Es ist ein bißchen viel, aber du darfst dich hier nicht lumpen lassen,"
und esse zu. Die hellen Tropfen haben mir ans der Stirne gestanden,
bis die Häppchens alle gegessen waren. Wie ich denn nun fertig war (und
der Herr neben mir schenkte immer tapfer ein, daß ich's gut herunter
kriegte), fragt mich Seine Majestät der König: „Wie ist's, mein Sohn,
möchtest du noch mehr haben?"
Ich sage: „Zu Befehl, Majestät, wenn noch ein bißchen da ist." Da
lachten alle Herren aus vollem Halse, und auch Seine Majestät hielt sich
die Seiten. Ich wußte nicht warum. Aber der König sagte: „Nein, es
ist gut für heute, mein Sohn, jetzt soll ein andres Gericht kommen."
3. Na, ich war froh, daß es mit dem Kalbsbraten alle war, und
denke: „Was wird nun kommen?" — da tritt ein hoher Offizier mit
Schnüren auf den Schultern an mich heran und hängt mir das Eiserne
Kreuz an. Wie ich ankomme, da lachte der Adjutant wieder übers ganze
Gesicht und drehte seinen Schnauzbart herum und gab mir die Hand. Ich
freute mich, daß er wieder gut war und seine Plauscherei bei Majestät
ihm doch nichts genutzt und ich fürs Einhauen an der Tafel das Eiserne
Kreuz von Seiner Majestät selbst gekriegt hatte.
So ist es gekommen und nicht anders."
Der Verfasser aber und der geneigte Leser denken eins miteinander:
„Wenn's aufs Essen bloß ankäme oder gar aufs Trinken, da hätte der
König viele Kreuze zu verteilen gehabt." Daß der Füsilier aber mehr als
Brot essen konnte, hatte ihm sein Oberst schon gesagt. Er wollte eben
das liebe Gut nicht liegen lassen, weder auf dem Schlachtfelde noch an
des Königs Tafel. Emil Frommel.
301. Kaiser Wilhelm I. in Essen.
1. Als Kaiser Wilhelm I. einmal die Kruppschen Werke in Essen
besuchte, führte man ihn vor den mächtigen Dampfhammer „Fritz".
Man erklärte ihm, wie vernichtend der Hammer niedersausen könnte.
„Aber," sagte Krupp und deutete auf einen ergrauten Arbeiter, der
neben dem Hammer stand, „der Arbeiter Ackermann hat eine so sichere
Hand und ein so scharfes Auge, daß er mit einer Bewegung am Hebel
den Hammer im Niederfallen aufhalten kann. Man darf getrost seine
Hand auf den Amboß legen; wenn der Eisenhammer von diesem
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Manne bedient wird, dann hält er eine Linie über der Hand im
Schlagen inne, ohne sie zu berühren."
2. Der Kaiser hatte aufmerksam zugehört und betrachtete dann den
Arbeiter, der ziemlich verlegen aussah. „Mit einer Menschenhand
wollen wir den Versuch dieses Kunststücks zwar nicht machen," meinte
Kaiser Wilhelm, „aber meine Uhr will ich dazu hergeben!" Er zog
seine mit Edelsteinen besetzte Uhr aus der Tasche und legte sie auf
den mächtigen Amboß. Ackermann machte ein sehr bestürztes Gesicht,
ging aber doch an die Arbeit.
3. Die Dampfmaschine, die den Hammer in Bewegung setzt, beginnt
zu brausen. Die Riemen knattern. Langsam erhebt sich der Riesen-
hammer. Plötzlich saust er mit Blitzesschnelle in die Tiefe, und ebenso
schnell hält er an. Ackermann hat durch einen Hebel das Fallen des
Hammers aufgehalten; eine Linie über der Uhr war er zum Stehen
gekommen. Sie lag unverletzt auf dem Amboß, und der Arbeiter
reichte sie dem Kaiser, im stillen glücklich und dankbar, daß ihm sein
Kunststück auch heute gelungen. Aber der kaiserliche Herr lächelte gütig.
„Die Uhr sollen Sie zum Andenken an diesen Augenblick behalten,
Ackermann!" sprach er. Überrascht, beinahe ungläubig sah der Arbeiter
den Kaiser an und streckte ihm, noch immer wortlos, die goldene Uhr
entgegen, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. Krupp nahm ihm
die Uhr aus der Hand und sprach einige freundliche Worte mit dem
aufgeregten Mann. Einige Minuten später, als er sich etwas be-
ruhigt hatte, gab ihm sein Herr die Uhr zurück — in einen Tausend-
markschein gewickelt.
Deutscher Kinderfreund.
302. Unser Fritz.
1. Zwei Sterne sind untergegangen,
die uns den Himmel geschmückt,
zwei Augen sind uns erloschen,
die segnend auf uns geblickt.
2. Ein Herz voll Güte und Liebe
für ewig nicht mehr schlägt —
o du Deutschland, armes Deutschland,
was wurde dir auferlegt!
3. Wir haben auf ihn gewartet
ein langes, ein schreckliches Jahr,
sein teures Haupt war umdunkelt
vom Schatten der Todesgefahr.
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4. Wir sagten einet zum anbetn:
„Habt Kraft und Mut und Geduld,
wir werden sie wiedersehen,
die alten Züge der Huld.
5. Den Mund mit dem lieben Lächeln,
in den Augen den strahlenden Blitz,
wir werden ihn wiedersehen
unsern Helden und Herrn, unsern Fritz,
6. Er hat ja dem Tode gestanden
so manchmal in blutiger Schlacht,
so wird er den Rückweg finden
auch jetzt aus der Todesnacht.
7. Er kann ja Menschen nicht weinen
und Menschen nicht leiden sehn,
es drängt das gütige Herz ihn,
den Leidenden beizustehn.
8. Er weiß, daß sein Deuschland, sein ganzes,
in Tränen liegt auf den Knien,
die Hände zum Himmel erhoben:
„Erhalt und errette ihn!"
9. Drum wird er auch jetzt sich erbarmen
über sein weinendes Land
und wiederkehren zur Heimat,
wo die Kinderwiege ihm stand."
10. Wir hofften, wir harrten, wir glaubten,
unser Glauben uns nicht betrog,
durch Schnee und durch Wiuter zur Heiumt
das sehnende Herz ihn zog. —
11. Nun ist er da, wo die Wiege
dem Kinde gestanden vor Zeit,
nun geht er nie mehr aus Deutschland,
nie mehr in Ewigkeit.
12. Doch nimmer wird er uns lächeln
mit der Augen sanfter Gewalt,
sein Mund wird nimmer uns sprechen,
denn die Toten sind stumm und kalt. —
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13. Du wolltest so viel ihm geben,
du wolltest so viel ihm tun,
o du Deutschland, armes Deutschland,
was gibst deinem Fritz du nun?
14. Da, wo dein Herz am wärmsten,
da nimm ihn zu dir hinab,
gib deinem schlummernden Liebling
ein friedenbehütetes Grab
15. und sage der Gottessonne,
wenn über Deutschland sie fliegt,
das; sie küsse den Ort und die Stätte,
wo er begraben liegt,
16. daß, so oft die jubelnde Lerche
zum Himmel erhebt den Gesang,
ihr Kuß vom Schlaf ihn erwecke,
der ihn zu frühe bezwang.
17. daß er lausche und horche und höre,
wie vom Fritz man redet und spricht,
daß er lächle in süßem Traume:
„Mein Deutschland vergaß mich nicht.
18. Ich habe ihm Treue gehalten
bis ins bittere Todesleid —
nun ruh' ich in seinem Herzen
für ewige, ewige Zeit."
Ernst von Wildenbruch,
303. Nächstenliebe und Unerschrockenheit.
Der erste deutsche Reichskanzler, Fürst Bismarck, machte im
Jahre 1842 als Leutnant bei den Landwehr-Ulanen eine Übung mit.
An einem Sommernachmittage stand er mit mehreren Kameraden zu-
sammen an der Brücke des Sees zu Lippehne und sah zu, wie sein
Reitknecht Hildebrand das Pferd in die Schwemme ritt. Der unkundige
Reiter geriet in eine tiefe Stelle des Sees. Das Pferd wurde unruhig
und überschlug sich beim Schwimmen; der Reiter verschwand in der
Flut. Im Augenblick warf Bismarck Säbel und Uniform von sich und
sprang ihm nach. Es gelang ihm auch, den Diener zu ergreifen und
mit ihm an die Oberfläche emporzukommen; aber nun umklammerte
dieser in der Todesangst seinen Retter und zog ihn in den Abgrund
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hinab. Eine lautlose Pause angstvoller Spannung trat unter der herbei-
geströmten Menge ein; für einige Sekunden schien es, als ob beide
verloren wären. Endlich war es Bismarck unter dem Wasser gelungen,
sich aus der gefährlichen Umarmung loszuringen. Mächtig rudernd
erreichte er das Ufer und zog unter dem lauten Jubel der Zuschauer
den geretteten Diener nach sich ans Land. Dieser edlen Tat verdankte
Bismarck das schlichte Denkzeichen mit der Inschrift: „Für Rettung
aus Gefahr“, das er lange als einzigen Ordensschmuck auf der Brust
trug. Fedor v. Koppen.
304. Die Prinzen und der alte Moltke.
An einem schönen Tage fuhr die Prinzessin Wilhelm mit ihren
drei ältesten Söhnen spazieren.
Unterwegs begegnete ihnen der alte Moltke, der sinnend einher-
schritt. Sobald die Prinzen den berühmten Schlachtenlenker sahen,
grüßten sie ihn mit lebhafter Freude. Die hohe Frau aber ließ den
Wagen halten und fragte den lächelnden Grafen, ob es ihm die Zeit
erlaube, mit ihnen zu fahren; er würde dadurch den Kindern eine
große Freude bereiten.
Moltke sprach: „Ich habe nichts Wichtiges vor und stehe gern
zu Diensten.“ •
Er setzte sich nun in den Wagen, und die Prinzessin sprach:
„Sie glauben gar nicht, Exzellenz, wieviel meine Söhne von Ihnen
reden, und wie oft sie wünschen, mit Ihnen zu sprechen. Die Kinder
werden von der heutigen Spazierfahrt eine unauslöschliche Erinnerung
haben.“
Hierauf verneigte sich Moltke und fing nun an, sich mit den
Prinzen zu unterhalten. Dabei erkannten diese aber, daß der alte
Moltke gar nicht so schweigsam sei, als man sonst zu sagen
pflegte.
Im Laufe der Unterhaltung baten die Prinzen den alten
Herrn, er möchte doch mit nach Hause kommen und sie einmal
exerzieren lassen.
Diesem Wunsch konnte Moltke nicht widerstehen, und zur
Freude der Prinzen sagte er: „Ich will gern mit in das Schloß
kommen, und dann können wir ja einmal Soldat spielen.“
Als sie im Schloß angelangt waren, stellten sich die drei Prinzen
auf, und der greise Feldmarschall fing an zu kommandieren.
Da ging es an ein Hin- und Hermarschieren, daß es eine Lust
war, und als darauf etwa eine Stunde verflossen war, nahm der alte
Moltke Abschied, und die Prinzessin Wilhelm dankte ihm für seine
KaPVey u. Koch, Deutsches Lesebuch für Mittelschulen. IV. 83
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Freundlichkeit und Gefälligkeit. Die Prinzen aber gestanden dem
alten Herrn, daß er ihnen eine große Freude bereitet habe, und baten
ihn, er möchte doch bald wiederkommen. . T_
Karl A. Krüger.
305. Deutsches Reichslied.
1. Glorreich auf dem Erden-
runde
steht das deutsche Vaterland!
Nord und Süd zum ew'gen Bunde
sind vereint mit Herz und Hand.
Von den Alpen bis zum Meere
herrscht des Kaiserzepters Macht.
Für des Reiches Ruhm und Wehre
Gut und Blut sei dargebracht!
Heil dem Kaiser, groß und hehr!
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
2. Stark in sich und fest ge-
gründet,
ist's der Freiheit sichrer Port!
Mit der Wahrheit treu verbündet,
ist's des Rechtes heil'ger Hort!
Nicht den Lorbeer sucht's zu pflücken,
der da sproßt auf blut'gem Feld,
mit des Friedens Rosen schmücken
möcht' es sich und alle Welt!
Heil dem Kaiser, groß und hehr!
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
3. Doch wer Deutschlands Ruhm
und Ehre
zu bedrohen sich erkühnt,
sei gewiß, daß Deutschlands Heere
kämpfen, bis die Schmach gesühnt!
Alle werden Wacht wir halten
ob dem Reich nach deutscher Art,
wie getan vordem die Alten
unter Kaiser Silberbart!
Heil dem Kaiser, groß und hehr!
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
4. Hört ihr's rauschen in den
Eichen,
brausen stolz von Strom zu Strom?
Auf den Bergen Flammenzeichen,
Glockenklang von Dom zu Dom!
Zu der Sonne rühmlich schwinget
Deutschlands Adler sich empor,
und in alle Lande dringet
deutscher Herzen Jubelchor:
Heil dem Kaiser, groß und hehr!
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
5. Sei, o Gott, du allerwegen
Deutschlands Burg und Deutschlands Hort!
Ströme nieder deinen Segen
auf den Kaiser fort und fort!
Deutsche Sitte, deutsche Treue
walt' in uns durch alle Zeit!
Blühe immerdar aufs neue,
Deutschlands Macht und Herrlichkeit!
Heil dem Kaiser, groß und hehr!
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
Friedrich Wilhelm Plath.
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306. Hoch die deutsche Flagge!
1. Wie grüßt so unermessen
die See im Sonnenglanz,
wie furcht der Kiel so sicher
durch lust'gen Wellentanz!
2. Die Kraft des freien Bürgers
hat Mast an Mast gefugt,
von dem der Hansa Zeichen
in alle Welt gelugt.
3. Was aber schwellt die Wimpel
so freudig heut' und hehr?
Das Deutsche Reich ist unser —
und unser ist das Meer!
4. Nicht trifft uns wie vorzeiten
der fremden Völker Hohn,
heut' schützt die deutsche Flagge
des Landes fernsten Sohn.
Ernst Scherenberg.
307. Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland.
1. Mb wir, in Not und Schmach versunken,
in blut'gem Hader uns entzweit,
uns blieb ein lichter Gottesfunken, —
der Traum der deutschen Herrlichkeit.
Und häuften sich die Leidenstage,
daß schon der Treu'sten Hoffnung schwand,
fort klang's wie eine heil'ge 5age:
Gin Volk, ein Herz, ein Vaterland!
2. Das klang durch unsre schönsten Lieder,
das traf die deutsche Brust mit Macht,
von 5trom und Bergen hallt' es wieder,
an unfern Marken hielt es Macht.
Und als des Kampfes wilde Flammen
entlohten von verruchter Hand,
da standen endlich wir zusamnien,
ein Volk, ein Herz, ein Vaterland!
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3. Und herrlich ist das Werk gelungen,
der Feind geworfen in den Etaub,
mit unserm Blut ihm abgerungen
der nie verjährte schnöde Raub;
des Sieges volle Kränze schlingen
um uns ein unzerreißbar Band,
nun soll's in Ewigkeit erklingen:
Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland!
Albert Träge
308. Mein Vaterland.
1. Wie könnt’ ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist,
wenn auch die Welt ihr Liebstes
und Bestes bald vergißt.
Ich sing’ es hell und ruf’ es laut:
Mein Vaterland ist meine Braut!
Wie könnt’ ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
2. Wie könnt’ ich dein vergessen!
Dein denk’ ich allezeit;
ich bin mit dir verbunden,
mit dir in Freud’ und Leid.
Ich will für dich im Kampfe steh’n
und, soll es sein, mit dir vergeh’n.
Wie könnt’ ich dein vergessen!
Dein denk’ ich allezeit.
3. Wie könnt’ ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist,
so lang’ ein Hauch von Liebe
und Leben in mir ist.
Ich suche nichts als dich allein,
als deiner Liebe wert zu sein.
Wie könnt’ ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
Heinrich Hoff mann von Fallerslebe