69 — 2. Da kam um die Ecke der Scheune ein Mann daher. Er schlich leise immer die Mauer entlang, wo es am dunkelsten war. Dabei sah er sich scheu nach allen Seiten um, ob auch kein Mensch da wäre, der ihn bemerken könnte. Als er sich aber ganz sicher glaubte, kletterte er auf die Mauer, kroch dort auf allen vieren wie eine Katze weiter bis an eine Stelle, wo die Mauer ans Haus stieß, und schwang sich dann in ein Fenster des Hauses hinein, das gerade offen stand. Der Mann war ein Dieb und gedachte, die Leute, die in dem Hause wohnten, zu bestehlen. Nachdem er durch das Fenster hineingekrochen war, befand er sich in einer leeren Kammer; dicht daneben war die Wohnstube der Haus¬ bewohner. Eine Tür, die dort hineinführte, war nicht geschlossen, sondern nur leicht angelehnt. Der Dieb wußte wohl, daß die Leute ans den Jahrmarkt gegangen waren. Doch dachte er, es konnte vielleicht jemand in die Stube ge¬ kommen sein, legte daher das Ohr an die Türspalte und horchte. Drinnen hörte er ein Kind laut sprechen, und wie er durchs Schlüssel¬ loch guckte, sah er beim Dämmerscheine, daß es ganz allein mit gefalteten Händen in seinem Bettchen saß; — das Kind betete laut sein Vaterunser. 3. Schon sann der Mann darüber nach, wie er dennoch seinen Dieb¬ stahl am besten ausführen möchte, da hörte er, wie das Kind mit lauter, klarer Stimme eben die Worte betete: „Und führe uns nicht in Ver¬ suchung, sondern erlöse uns von dem Übel!" Das ging dem Manne tief zu Herzen, und sein Gewissen erwachte. Ans demselben Wege, den er gekommen, schlich er wieder zurück bis in sein Kämmerlein. Dort bereute er von ganzem Herzen sein bisheriges Leben, bat Gott um Verzeihung und dankte ihm für den Schutz, den er ihm durch den Mund eines frommen Kindes hatte angedeihen lassen. Er ist darauf ein arbeitsamer und ordentlicher Mensch geworden. Robert Reinick. (Gekürzt.) 78. Oer habgierige Hund. Ein Hund hatte ein Stück Fleisch gefunden und lief da¬ mit über einen schmalen Steg. In dem klaren Wasser sah er sein Bild und meinte, das sei ein andrer Hund, der auch ein Stück Fleisch im Maule habe. Er dachte: „Das will ich ihm nehmen!“ — und hastig schnappte er danach. Da entfiel ihm das Fleisch, das er hatte, und das, welches er erhaschen wollte, war auf einmal auch verschwunden. August Wotttieb Meißner. «RachAfop.)