108 86. König Wichtel der Erste. von Julius sturm. Das Buch für meine Kinder. 2., verm. Auflage. Leipzig 1880. S. 47. 1. Wenn du wüßtest, was ich weiß!“ sagte vor vielen Jahren ein armer Tagelöhnersjunge zu seiner Schwester und zwinkerte geheimnisvoll mit den Augen. „Das wird etwas Rechtes sein,“ entgegnete die Schwester. Der Bruder aber rief: „Das ist wohl etwas Rechtes, und wenn du es wüßtest, sprängst du vor Freuden deckenhoch.“ „Ei, so sage mir's doch,“ bat die Schwester schmeichelnd, und der Bruder warf sich in die Brust und sagte stolz: „Heut nacht kann ich ein König werden, wenn ich nur will.“ Da lachte die Schwester laut auf und spottete: „Du in deiner ge¬ flickten Jacke wärst mir ein schöner König!“ — „Die alte Jacke behalte ich auch nicht,“ entgegnete der zukünftige König, „ich be¬ komme einen roten Mantel, der mit Gold gestickt ist, und eine goldene Krone bekomme ich auch, und wenn du nur willst, kannst du eine Prinzessin werden und bekommst ein schönes Kleid, und wenn ich auf meinem goldenen Throne sitze, dgnn sitzest du neben mir auf einem silbernen Throne. Ein goldenes Schloß be¬ kommen wir, können alle Tage die köstlichsten Braten essen und brauchen kein dürres Holz mehr im Walde zusammenzulesen.“ „Aber wie soll denn das alles geschehen?“ fragte die Schwester ganz verwundert, „unsere Eltern sind ja doch arme Leute.“ Da machte der Bruder ein kluges Gesicht und fing an zu erzählen: „Mir träumte heute nacht —“ weiter kam er nicht; denn ein lautes Lachen unterbrach ihn, und die Schwester rief: „Da haben wir’s! ein Traum! Ich danke, eine Traumprinzessin will ich nicht werden.“ Sie wollte davonlaufen, aber der Bruder hielt sie am Kleide fest und sprach ärgerlich: „So laß mich doch nur ausreden, die Haupt¬ sache kommt erst noch. Was ich dir erzählte, sah ich freilich nur im Traum; aber plötzlich war es mir, als zupfe mich etwas am Ohr. Ich wachte auf, der Mond schien hell in die Kammer, und vor meinem Bette stand ein kleiner Mann, der hatte einen langen, grauen Bart und ein braunes Gesicht voller Runzeln. Der kleine Mann blinzelte mich mit hellen, klugen Augen an und legte den Finger auf den Mund, als wollt’ er sagen: ,Nur still, ganz still!4 Dann fragte er mich flüsternd, ob mir der Traum gefallen habe, und ob ich Lust hätte, ein König zu werden und mit dir in einem goldenen Schlosse zu wohnen. Als ich ihm zunickte, fuhr er fort: