98 8. Eines Abends, als er schon wieder aus seiner Walte saß, kam der Pastor, nahm ihn behutsam in die Hand und untersuchte das kranke Bern. Der Zwirnsfaden wurde abgewickelt, die Schwefelhölzchen abgenommen, und nun war das Beinchen wieder geheilt. Bald konnte er beide Beine wieder gleich gut gebrauchen. Er wurde von Stunde zu Stunde dreister und flog oft zwei-, dreimal durch die Stube, ohne sich ausruhen zu müssen. 9. Ms dann nach einigen Tagen die Sonne einmal besonders hell schien, saß er auf der Fensterbank und hörte unten im Garten die Vögel herumfliegen. Da wurde sein Herz voll Sehnsucht nach den grünen Bäumen, und er dachte: „Ach, wie würden sich die Eltern freuen, und was würden sie wohl sagen, wenn du auf einmal ins Nest geflogen kämst!" Er schlug vor Freude mit den Flügeln, hüpfte von einem Bein auf das andere, und dann — dann gab er sich einen Schwung und sauste hinab in den Garten. O, wie schön war es hier! Er ruhte sich einen Augenblick aus, dann flog er auf die Spitze eines Baumes, und laut klang sein Pink! Pink! durch den Garten. Vom Baume flog er mitten auf den Rasen, da pickte er ein Goldkäferchen auf und hätte wohl noch lange herumgesucht nach Käfern und Würmern, wenn er nicht solche Sehnsucht nach der alten Kastanie gehabt hätte. 10. Er sah sie jenseits des Rasens an der Gartenmauer stehen. Einen ihrer dicken Äste suchte er sich als Ziel aus, und mit vielen schnellen Flügelschlägen flog er gerade darauf zu. Ach, wie herrlich war das Fliegen! Etwas Schöneres konnte es gar nicht geben. Von einem Aste hüpfte er zum andern und blickte überall nach dem elterlichen Neste umher. Aber er fand es nicht. Er rief und rief, aber niemand antwortete ihm. Da flog er wieder hinab in den Garten und sah den alten Pastor spazieren gehen. Er flog ihm aus die Schulter und rief: „Piep! Piep!" Der Pastor ließ ihn ruhig sitzen. Er erkannte ihn wohl wieder und freute sich über die Dankbarkeit des Tierchens. Als er aber langsam in die Nähe seines Hauses kam, verließ ihn der Buchfink und flog zur Kastanie zurück und hörte nicht auf zu rufen bis zum Abend. Da endlich wurde er gehört. Die Eltern und Geschwister, die den ganzen Tag über fort gewesen waren, kamen nun zurück und führten ihn zum Neste in der Astgabel. Und nun waren sie wieder alle beisammen. Nach H. Scharrelmann. (Aus Heimat u. Kindheit.)