Einleitende Bemerkungen zu den hessischen Sagen und Volksliedern. Eine frische Anschaulichkeit des Volkslebens in Hessen bieten vorzugsweise außer den mundartlichen Mittheilungen die Sagen und Volkslieder, an denen Hessen, ohne nur den Umfang des Landes in Rechnung zu bringen, reicher ist als jedes andere Land. In ihnen erschließt sich recht eigentlich das Gemüth des Volkes; sie sind ein reiner Spiegel, ohne falschen Anhauch. Wie diese Sagen und Lieder aus dem Herzen der Väter gewachsen sind, so klingen sie auch immer wieder dem neuen Geschlechte lieblich imd unauslöschlich in die Seele und erfreuen sich durch diese lebendige Wechsel¬ wirkung eines unsterblichen Lebens im Volke. Wenn wir im Geiste W. H. Niehls eine naturgeschichtliche Untersuchung des hessischen Volksthums unternehmen wollen, so müssen wir die dichterischen und geschichtlichen Strömungen dieser Vvlkstraditionen in ihrer ganzen Breite und Tiefe berücksichtigen. Sagen und Volkslieder sind vor¬ treffliche Bausteine zur natnrgeschichtlichen Grundlage der Wissenschaft vom Volke, eines Kosmos des Volkslebens. In Hesse», kann man sagen, wurde zuerst reiche Aehrenlese gehalten. Den Volks¬ liedern ging A. Elwert*) in Hessen nach, von I. G. von Herders „Stimmen der Völker in Liedern" angeregt; die Herausgeber von „des Knaben Wunderhorn" folgten, dann von Erlach, in neuster Zeit Ludwig Erk**) und F. L. Mittler***). Auch unser Landsmann W. von Plönnies bereitet schon längere Zeit eine Sammlung hessischer Volkslieder vor. Die Sammlungen von Erk und Mittler sind vorzügliche Arbeiten, die nachfol¬ gende Sammler in Hessen höchstens vervollständigen können. Ludwig Erk ist zu Wetzlar 1807 geboren und in der Nähe des uralten Jagdschlosses Karl des Großen, zwischen Darmstadt und Frankfurt a. M., zu Dreieichenhain erzogen, wo sein Vater Lehrer war. Jetzt ist er Lehrer der Musik am königl. Seminar für Stadtschulen in Berlin. Er hak die Volkslieder und, was noch werthvoüer ist, deren Melodien aus dem Munde der Landleute in Hessen entweder selbst oder durch gesangskundige Freunde aufzeichnen lassen, zu denen sein Schwager L. Glock, dermalen Lehrer in Messel, und sein Bruder Friedrich Erk, Lehrer der Realschule zu Düsseldorf, gehören. „Als Sammler der Volkslieder, sagt er im Vorwort zu seiner zweiten Sammlung, in seiner heutigen Gestalt (wie es noch gegenwärtig im Munde des Volkes lebt) habe ich gewissermaßen die Pflichten eines Historikers zu erfüllen, indem ich mich bestreben muß, Mitlebenden und Nachkommen ein edles Nationalgut, so weit es für eine lebenskräftige Production anzusehen ist, (denn es steht auch ihr eine Corruption, fast Stück für Stück, zur Seite) *) „Ungedruckte Reste alten Gesanges von A. Elwert. Gieße» und Marburg. 1784." **) „Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen. Gesammelt und herausgegeben von Ludwig Erk und W. Jrmcr. Leipzig 1843. 1.—6. Heft." 409 Lieder. „Neue Sammlung deutscher Volkslieder mit ihren eigenthümlichen Melodien. Heraus¬ gegeben vo» Ludwig Erk. Berlin 1841. 1.-5. Heft." 106 Lieder. „Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder der Vorzeit und Gegenwart mit ihren eigenthümlichen Melodien. Herausgegeben von Ludwig Erk. Berlin 1853-1855." 2 Bände. ***) „Deutsche Volkslieder. Sammlung von F. L. Mittler. Marburg. Elmert. 1855." (886 S.)