313 Mythologe, I. W. Wolf, in seiner Vorrede zu den „Hessischen Sagen," „lebendig und unauflößlich verbunden, und wo es nicht mehr mundet, da schmeckt auch der alte Trank nicht mehr, da stirbt das ganze alte Gewand des Volkslebens ab.-Die Wissen¬ schaft drang in die Tiefen unseres Alterthums, trug Licht in die dunkelen Tage der heidnischen deutschen Vorzeit. Das war eine der größten Thaten der Zeit, deren weitgreifende Folgen zu würdigen unsern Enkeln vorbehalten bleibt. Ihre Urheber haben sich durch sie ein Denkmal aors peronnius gesetzt und dankbar werden späte Zeiten den Namen der Brüder Grimm nennen." Um die hessischen Sagen erwarb sich in neuerer Zeit Verdienste Professor Philipp Dicffenbach in Friedberg, der in seinem trefflichen Werke : „Zur Urgeschichte der Wetterau, 1843," 19 Sagen der Wetterau sammelte. An ihn schließen sich Professor Weigand in Gießen, Pfarrer Oeser in Lindheim, in Kurhessen Lynker an, der leider auch schon seine kurze Lebens¬ bahn geschlossen hat. Doch den Ehrenkranz nach Grimm hat sich Dr. I. W- Wolf in Jugenheim an der Bergstraße mit seinen „Hessischen Sagen, Göttingen 1853," errungen, den leider ein früher Tod seinem „heiligen Berufe" entrissen hat. Johannes Wilhelm Wolf war geboren zu Eöl» 1817, und starb in der Nacht vom 28. Juni 1855. In seinen früheren Sagensammlungen, seiner „Deutschen Mythologie," seinen „Beiträgen zur deutschen Mythologie," in seiner „Zeitschrift für deutsche Mythologie" hat er mit bewunderungswürdigem Scharfsinn, mit großer Sorgfalt und Sicherheit der Wissenschaft neue Kreise aufgeschlossen. Er hat, wie er selbst einmal eben so sinnig wie wahr bemerkt, „vielen bis jetzt räthselhaften Gestalten (m der Sage und der Mythe) das Moos abgeschabt;" er hat in der deutschen Sage den Reichthum der mythologischen Bezüge, dir „Sache in jeder Sage" nachgewiesen. So hat er im Schnellerts Wuota», und im Rodenstein Donnar erkannt, und damit gezeigt, daß der „wilde Jäger im Odenwald" keine Erfindung moderner Phantastik und Sentimentalität, sondern eine den Urzeiten der Nation entstammende, freilich zum Gespenst herabgesunkene alte Gottheit ist, für deren Wirklichkeit jedoch jeder Bauer im Odenwald einsteht. Seine „Hessische Sagen" enthalten 278 einzelne Nummern, zu denen ebenfalls Wilhelm von Plönnies 48 Sagen geliefert, der den „Soldatenmund ausbeutete." Wie sich Keiner ein größeres Verdienst um die hessische Sage erworben hat, wie I. W. Wolf, so hat auch kein deutscher Schriftsteller Wahreres und Sinnigeres über die Bedeutung der Sage ge¬ sagt wie er. „Fragen wir die neuen Sammler," bemerkt er in der Vorrede (S. VII.), „wer ihnen die Liebe und Freude an diesen Dingen in's Herz gepflanzt, sie werden alle auf die Grimm hinweisen. Aber mit dieser Liebe und Freude ist noch eine andere ver¬ bunden, die am deutschen Wese», die am Vaterländischen, und das ist ei» eben so großer Gewinn, als der wissenschaftliche, den wir aus diesen Traditionen ziehen. Sie hoben die Erkenntniß des Tiefen und Sinnigen, was in unserem Volke lebt, sie luven Arm und Reich, und Jugend und Alt, u;id Groß und Klein an eine und dieselbe Tafel, zu einer und derselben Kost, sie halfen den alten, fast erstorbenen Gemeinsinn wieder mehr wecken, sie waren ein Mittelpunkt, um den sich die Höchsten mit den Niediigste» einten, und das werden sie mit jedem Tage mehr. Um sie, die Wundererfüllten, ge- schaart, lernte man das nüchterne Vernünfteln vergessen; wer ihren Geist in sich auf¬ genommen, den können die raffinirten Romane der neufranzösischcn Schule und ihrer deutschen Nachbeter nicht mehr befriedigen, denn arm und widerlich müssen diese Aus¬ geburten einer befleckten Phantasie und verdorbener Herzen erscheinen, sobald und wo unser Märchen die reinen, bunten Schwingen seiner duftigen Phantasie entfaltet und im leichten Flug Sterne und Sonne unter unsern Füßen erscheinen läßt, wenn die sinnige Sage ihre Aureolen um die Werke der Natur und der längst zum Staub zu¬ rückgekehrten Menschenhand spinnt, oder wenn der Schwank seinen kräftigen Tanz tritt, und jubelnd die alte Festfreude des Volkes an unsern Augen vorüberzieht." — „Haben die Sagen, fährt Wolf fort, solche Macht schon in ihrer natürlichen Gestalt auf jedes nicht ganz erkaltete Gemüth, dann wächst diese Macht noch an Be¬ deutung, sobald wir sie des Gewandes entkleide», welches die Jahrhunderte schützend 33