195 kraft. Immergrüne Pflanzen, wie die Fichte und Tanne, die Stech¬ palme mit den glänzenden Blättern und scharlachroten Früchten oder die seltsame Mistel mit ihren gelblichweißen Beeren, schmückten die Wohnungen und erinnerten daran, daß die Natur nicht erstorben sei, sondern nur schlummere, um zu neuem Leben kraftvoll zu er¬ wachen. Beim Festmahl war ein dem Sonnengott geweihter Eber das vornehmste Gericht. Um ihn scharte sich das ganze Haus¬ gesinde und gelobte Treue dem Hausherrn für das kommende Jahr, ebenso schwuren die Mannen aufs neue dem König oder Herzog unverbrüchliche Gefolgschaft. Auch die Gebietenden legten, die Hand auf des heiligen Tieres Kopf haltend, das feierliche Gelübde ab, gegen alle Untergebenen gerecht und treulich ihres Amtes zu walten. An des Sonnengotts frohem Feste sollten Knechtschaft und Ketten¬ last schwinden. Darum durfte sich jetzt auch der Sklave seines Lebens freuen, und dem Gefangenen wurden für diese Tage die Fesseln gelöst. 5. Nach dem Julfest oder dem Feste der Wintersonnenwende folgten die heiligen Zwölfnächte, in denen die Götter der Erde nahten oder auf ihr wandelten. Da zog Wodan auf seinem weißen Rosse mit hohem Gefolge durch die Lüfte, und seine Gemahlin kehrte als gütige Frau Holle in die Häuser der Irdischen ein. 6. Manche Gebräuche der altgermanischen Feste haben sich bis heute erhalten. Als die christlichen Glaubensboten unsern Vorfahren die frohe Botschaft von der Erscheinung Christi brachten, und nun die alten Götter allmählich im Glauben des Volkes dahinschwanden, sollten damit noch nicht alle liebgewordenen Gewohnheiten fallen. So hat denn die christliche Zeit manches Sinnige und Schöne der alten Gebräuche freundlich geschont und für die Feier ihrer Feste verwertet. Noch heute suchen am hohen Feste der Auferstehung, in dessen Benennung bei den germanischen Völkern sich „Ostern“ erhalten hat, die Kinder die Eier, die der Osterhase legte, und bei den skandinavischen Stämmen hat der Johannistag manche Züge des ulten Mittsommerfests. Noch heute grünen die Tannen bei uns Deutschen, die Stechpalmen und Misteln bei den Engländern am herrlichen Feste der Weihnacht zur Ehre dessen, der der erstorbenen Welt neues Leben brachte. Der Weihnachtsbaum gehört notwendig zum deutschen Hause. Wo nur immer Deutsche wohnen, da schmückt sich Weihnachten der Familientisch mit der lichtstrahlenden Tanne oder einem ähnlichen Baume. So schlingt schöner, uralter Brauch oiu freundliches Band um alle Genossen unsres Volkes, wie weit auch Länder und Meere sie trennen. Nach Aiber». 5 10 15 20 25 30 35 40 ©abriet u. Suppt tan, Lesebuch. B. II. Neubearbeitung. 14