Aus deutschen Lesebüchern
Dichtungen in Poesie und Prosa
erläutert für schule und Haus
Unter Mitwirkung namhafter Schulmänner
herausgegeben von
Rudolf Dietlein Woldemar Dietlein Friedrich Polack
weil. Rektor a. D» weil. Rektor und Kgl. Kreisschulinsxektor Kgl. Schulrat a. D.
in Halle a. S« in Dortmund in Treffurt
Zweiter Band
Achte, vermehrte und
verbesserte Auslage
willst du lesen ein Gedicht,
Sammle dich wie zürn Gebete,
Daß vor deine Seele licht
Das Gebild der Schönheit trete;
Daß durch seine Form hinan
Du den Blick dir aufwärts bahnest
Und, wie's Dichteraugen sahn,
Selbst der Schönheit Urbild ahnest.
Adolf Stöber.
herausgegeben von
Friedrich Polack und Dr. Paul polack
Kgl. Schulrat a. D.
in Treffurt a. w.
Kgl. provinzial-Schulrat
in Königsberg i. Pr.
Druck
und Verlag von
B. G. Teubner in
Leipzig und Berlin \%2
Georg-Eckert-Institui
für internationale
Schulbucfifor3chung
Braunschweig
-Schulbuchbibiioihek -
iooo/HW
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
wcrs3',^'2)-2.
Borwort zur ersten Auflage.
Der zweite Band des Erläuterungswerkes „Aus deutschen Lese-
büchern^ hat vorwiegend die Mittelstufe mehrklassiger und die Ober-
stufe ein- und zweiklassiger Schulen im Auge und wird für einfache
Schulverhältnisse einen gewissen Abschluß bilden. Band I hat indessen
gezeigt, daß eine scharfe Abgrenzung nach Stufen zwischen den einzelnen
Dichtungen schwer möglich ist, da ein und dieselbe Dichtung in dem einen
Lesebuche auf die Unterstufe, in dem zweiter: aus die Mittelstufe, ja in
einem dritten auf die Oberstufe verwiesen ist. Einzelne solcher Dichtungen,
deren Platz in den Lesebüchern zwischen Unter-, Mittel- und Oberstufe
schwankt, sind in Band I nicht ausschließlich für die Unterstufe, sondern
in einer mehr abschließenden Weise auch für höhere Stufen behandelt wor-
den. Den betreffenden Lehrern bleibt es überlassen, aus dem gegebenen
Stoffe für die jeweilige Altersstufe das Passende auszuwählen.
Mancher Lehrer hat in Band I dies ititb das bekannte Lesestück ver-
mißt und wird auch in Band II manchem Lesebuchbekannten nicht begegnen.
Die Rücksicht auf den verfügbaren Raum, auf den Preis des Werkes und
auf die Ökonomie des Ganzen hat bei der Ausstellung des Verzeichnisses
ein gewichtiges Wort mitgesprochen.
Was an sich leicht verständlich ist oder durch Auslegung den poetischen
Duft zu verlieren droht, ist von der Sammlung ausgeschlossen worden.
Ebenso sind viele Gedichte historischen und religiösen Inhalts weggelassen,
weil sie im Geschichts- und Religionsunterrichte als Beleuchtungs- und
Belebungsmittel Verwertung und die erforderliche Erläuterung finden.
Dichtungen, deren Stofs von mehreren Dichtern behandelt ist, oder die
in andern gleichsam Zwillingsschwestern haben, sind nur einmal behandelt
oder nur kurz zur Vergleichung herangezogen. Das Erläuterte wird für
die Behandlung des Nichterläuterten hinlänglich Stoff, Maß, Ziel und
Weg zeigen.
Eine Anzahl längerer, besonders prosaischer Lesestücke, die sich in allen
Lesebüchern finden, z. B. Hebels Kanitverstan, werden zwar behandelt,
aber textlich nicht gebracht werden.
Nochmals sei hier betont, daß es den Verfassern bei ihrem Werke nicht
auf eine gelehrte literarhistorische und sprachwissenschaftliche, sondern über-
wiegend auf eine methodisch-pädagogische Ausbeutung des Lesebuch-In-
haltes ankommt. Ein Beurteiler nennt eine solche methodisch-pädagogische
Zurichtung der Dichtungen ein Ruhepolster für den Lehrer, auf dem er
die eigene Arbeit verlerne und sich zu eiuer Art Leitungsschlauch zwischen
den Verfassern und den Schülern erniedrige. Über die Bedürfnissrage kann
a*
IV
Vorwort zur ersten Auflage.
aber nur die Erfahrung entscheiden, und diese gewinnt man wohl bei Hun-
derten von Schulprüfungen jahrein, jahraus! Da sieht und hört man,
wie schwer es ist, einen regelrechten Schacht in eine Dichtung zu legen, um
die Schätze recht zu heben; da merkt man, wie nötig ein Führer ist; da er-
kennt man auch hier die Wahrheit des Dichterwortes: „Wo viel Frei-
heit, da viel Irrtum; doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht!" Ein
unbekannter oder wenig bekannter Weg geht sich am besten an der Hand
eines Führers, der sich nicht mit allgemeinen Wegangaben begnügt, sondern
selbst durch alle Krümmungen mitgeht. Wieviel Zeit und nutzloses Hin-
und Herirren wird dadurch erspart! Und bleibt dem Lehrer mit dem „Er-
läuterungswerk" in der Hand nicht iroch genug zu tun übrig? Er hat
sich bei der Vorbereitung in die Gedanken der Ausleger hinein zu denken
und zu leben, dieselben seiner Eigenart gemäß zu gestalten, für seine Schul-
verhältnisse die passende Auswahl zu treffen, die nur angedeuteten Arbei-
ten, z. B. Vergleiche, auszuführen, die Fragen zu beantworten, die Hin-
weise zu suchen und zu verwerten und vor allem seine Herrschaft über den
Stoff und die Sprache sowie die Wärme des Lehrtones als Lernvermittler
in seine Klasse zu bringen.
Weil sich die Verfasser durch das Bedürfnis der Schule und die eigene
Lehr- und Revisionserfahrung die Marschroute für ihre Arbeit haben vor-
zeichnen lassen, darum sind sie auch ganz selbständig bei den Bearbeitungen
den Weg gegangen, den sie als den richtigen erkannt haben. Dankbar er-
kennen sie an, daß sie bewährten Meistern auf dem Gebiete der Gedichts-
behandlung dabei manches schuldig geworden sind; die Originalität ihrer
Arbeiten haben sie sich dadurch aber nicht beeinträchtigen lassen.
Auch Band II wird dem methodischen Gange im allgemeinen treu
bleiben, der in der „Einleitung" zu Band I vorgezeichnet und eingehend
begründet worden ist. Ohne peinlichen Schablonenzwang werden die vier
Stufen: Vorbereitung, Vortrag, Vertiefung und Verwer-
tung beachtet werden. Einem erfahrenen Schulmanne braucht der Wert
einer festen Gliederung für den Unterricht nicht angepriesen zu werden. Er
weiß, wie dadurch die Arbeit an Planmäßigkeit und Interesse, das Er-
gebnis an Sicherheit gewinnt. Klare Ziele, sichere Wege und warme
Herzensbeteiligung im Lehrer sind die Bürgen des Unterrichtserfolgs im
Schüler.
Die Unterrichts- und Erziehungsarbeit durch einen der edelsten und
reichhaltigsten Stoffe für Sprechen und Schreiben, Denken und Empfinden,
Wissen und Wollen fruchtbar machen zu helfen, das ist der Zweck unserer
Arbeit. Möge sie Lehrern und Schülern gesegnet sein!
Die Herausgeber.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die zweite Auflage dieses Bandes unterscheidet sich von der ersten
nur durch die veränderte Anordnung der Stoffe nach gewissen Gesichts-
punkten. Das innerlich Zusammengehörige findet der Lehrer jetzt auch
äußerlich nebeneinander gerückt.
Möge sich die neue Auflage neue Freunde erwerben!
Die Herausgeber.
Vorwort zur fünften und sechsten Auflage.
Zu einschneidenden Veränderungen lag kein Grund vor. Nur einzelne
Kürzungen sind vorgenommen, mehrere Dichtungen aus den neuesten Lese-
büchern aufgenommen, manche Rede- und Stilübungen gegliedert und die
meistvertretenen Dichter in ihrer Eigenart gekennzeichnet worden. Glück
ans zur neuen Fahrt!
Die Herausgeber.
Borwort zur siebenten und achten Auflage.
Die verhältnismäßig rasche Folge der Auflagen bezeugt die fort-
dauernde Brauchbarkeit unseres Erläuterungswerkes. In der neuen, achten
Auflage sind wieder vielfach Kürzungen vorgenommen, die neuesten Lese-
bücher und neuzeitlichen Dichtungen berücksichtigt und die Winke des
„Kunsterziehungstages" sowie des Herrn Professors A. Schaefer in
Duisburg beachtet worden. Letzterem sagen wir besonderen Dank für sein
freundliches Interesse an unserem Buche und seine förderlichen Bemer-
kungen in seinen trefflichen ^Beiträgen zur Erklärung Deutscher Gedichte."
Möge das Buch wie bisher so auch weiterhin seinen Platz in der Schule be-
haupten und seine Helferdienste zum Segen der Schul- und Volkserzie-
hung leisten.
Königsberg i. Pr. und Treffurt a./W., am 2. Sept. 1911.
Die Herausgeber.
I. Alphabetisches Verzeichnis
der erläuterten Dichtungen nach ihren Anfängen?)
Seite
1. Abend zieht gemach heran. Scherenberg........................503
2. Ach, was soll der Mensch. Goethe.............................667
3. Alphirten wallen nah und fern. A. Stöber..................•. . 478
4. Als in dem Kriege. Hebel..................................... 73
5. Als Blücher, der Held, und Wellington. Rückert...............240
6. Als den Herrn ans Kreuz geschlagen. Rückert..................- HO
7. Als der Heiland litt am Kreuze. Mosen............................109
8. Als der Sandwirt von Passeyer. Schenkendorf......................200
9. Als die fränkischen Hofleute...................................... 4
10 Als ich ein Knabe von sieben Jahren war. Franklin................. 47
H. Als Kaiser Karl zur Schule kam. Gerok.............................159
12. Als Kaiser Rotbart lohesam. Uhland..............................166
13. Als noch verkannt und sehr gering. Goethe.......................106
14. An dem Meeresufer ging. Diepenbrock.............................115
15. An einem Sommermorgen. Fontane..................................470
16. April, April, weiß nicht, was. Löwenstein.......................380
17. Auf dem Teich, dem regungslosen. R. Lenau.......................449
18. Auf der Burg zu Germersheim. Kerner.............................174
19. Auf des Berges höchster Spitze. Freiligrath.....................508
20. Auf einer großen Weide. Schiller................................517
21. Aus einer Insel im Meere. Kopisch...............................265
22. Auf hoher Alp wohnt auch. Krummacher ...........................475
23. Auf, kommt in die Felder. Krummacher ...........................426
24. August, August! Ha, welche Lust! Löwen st ein...................385
25. Bei Goldhähnchens war ich. Heinr. Seidel........................ 88
26. Bei Wöbbelin im freien Feld/ Förster............................224
27. Beim Totengräber klopft es an. Vogl.............................290
28. Berggipfel erglühen. Scheffel...................................405
29. Bist du wohl im Kornfeld. Avenarius.............................469
30. Blaue Berge! Von den Bergen! Hebel..............................424
31. Bunt sind schon die Wälder. Salis ............................. 456
32. Burg Niedeck ist im Elsaß. Chamisso.............................130
33. Chlodewig, der Frankenkönig. Simrock............................154
34. Da drunten im tiefen Tale. Volkslied............................573
35. Da kommt die liebe Sonne wieder. Claudius.......................474
36. Da,',wo der Mondschein blitzet. Graf von Loeben.................559
') 25 Stücke neu von neueren Dichtern.
I. Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
Das Handelshaus Gruit van Steen. Barth................................ 51
Das Tal schreit auf zum Föhn. E. Fröhlich............................. 80
Das war die träge Margaret. I. Sturm..................................555
Das war im lust'gen Lautern. Osterwald................................191
Daß nicht alles so uneben sei. Hebel..................................266
Dem Spitzenhändler. G. v. Schubert ...............................- 19
Dem Winter wird beklommen. I. Sturm...............................404
Den Rosenzweig benagt. Rückert........................................ 98
Der alte Barbarossa. Rückert..........................................169
Der Blücher war so lahm. I. Sturm.....................................239
Der Damm zerreißt. Goethe.............................................348
Der Dersflinger war ein Schneidergesell. Sallet.......................184
Der du von dem Himmel bist. Goethe....................................495
Der Frühling hat sich eingestellt. Hvffmann von Fallersleben . 410
Der Gott, der Eisen wachsen ließ. Arndt...............................608
Der große König wollte gern sehn. Sallet..............................196
Der heiße Erntetag war vorüber. Harms................................. 00
Der Herbst, der Herbst, das ist. Dieffenbach..........................455
Der Herbst ist ein Geselle. Nathusius.................................454
Der Herzog tief im Walde. Uh land.....................................259
Der Knecht hat erstochen. Uhland......................................360
Der König Friedrich II. Hebel......................................... 72
Der Kuckuck sprach zu einem Star. Gellert............................. 90
Der Landmann lehnt in der Hütt'. Seidl................................667
Der letzte Schnee. Evers..............................................396
Der Lieder Lust ist mir erwacht. R. Reinick. 620
Der Löw' ist los, der Löw' ist frei. H. Bernhardi.....................297
Der Mai, der Mai. R. Löwen stein......................................381
Der Mai ist gekommen. Geibel..........................................415
Der Mensch hat nichts so eigen. Dach..................................546
Der Mensch hat wohl täglich. Hebel.................................. 69
Der Mond ist aufgegangen. Claudius....................................488
Der Mond scheint auf mein Lager. Gust. Falke..........................529
Der Mond scheint helle. Freiherr von Vincke...........................362
Der Pilger, der die Höhen. Chamisso...................................122
Der rasende Nordwind. Lessing...................................... • 2
Der Reiter reitet durchs Helle Tal. Schtvab...........................352
Der Sämann streut aus voller Hand. Krumm ach er.......................465
Der See ist zugefroren. Hoffmann von Fallersleben....................392
Der Sommer bleibt nicht lange mehr. Hoffmann v. Fallersleben 386
Der Sonntag ist gekommen. Hoffmann von Fallersleben . . . 643
Der Vater Blücher saß beim Wein. I. Sturm.............................241
Der Vogel schwankt so tief und still. Hebel...........................440
Der Wolf verzehrte. Simrock........................................... 10
Des Menschen Gedanken durchschweifen. Schmidt von Lübeck. . . 124
Deutschland gehört. Luden............................................. 46
Deutsche Worte hör' ich wieder. Hoffmann von Fallersleben. . 619
Deutschland, Deutschland über alles. Hoffmann v. Fallersleben . 587
Dezember jetzt, der kommt zuletzt. Löwenstein.....................388
Die Abendglocken läuten. Güll.........................................491
Die alte Fichte schwanket. Scheurlin..................................319
Die besten seiner Helden Kopisch......................................157
Die Blumen im Wiesengrund. H- Kletke..................................417
Die Fenster auf, die Herzen auf. W. Müller............................401
Die Flur will ruhn. Dehmel............................................650
Die Heere blieben am Rheine stehn. Kopisch........................237
VIII
I. Inhaltsverzeichnis.
t*
Seite
93. Die Jahre 1779, 80 und 81 waren. Ahlfeld............................... 37
94. Die linden Lüfte sind erwacht. Uhland..................................398
95. Die Mitternacht zog näher schon. Heine.................................141
96. Die Nacht ist hehr und heiter, v. St rach Witz.........................503
97. Die Nacht war kaum verblühet. Eichendorff..............................644
98. Die Nebel zerreißen. Goethe............................................503
99. Die Pappel spricht zum Bäumchen. C. Fröhlich........................... 77
100. Die Stadt Abdera in Thracien. Wieland.................................267
101. Die Wasser quellen. Evers.............................................396
102. Die Wunde brennt; die bleichen. Körner................................223
103. Dies ist ein Herbsttag. Hebbel........................................457
104. Dort unten in der Mühle. Kerner.......................................310
105. Drauß bei Schleswig vor der Pforte. Brentano..........................285
106. Drei Taler erlegen für meinen Hund. Chamisso..........................272
107. Droben stehet die Kapelle. Uhland.....................................315
108. Drusus ließ in Deutschlands Forsten. Simrock..........................146
109. Du altes, ehrliches Gesicht. Sigismund................................546
HO. Du bist wie eine Blume. Heine...........................................468
111. Du schöne Lilie auf dem Feld. Spitta..................................651
112. Du siehst geschäftig bei dem Linnen. Chamisso.........................543
113. Du wanderst in die Welt hinaus. I. Sturm..............................675
114. Dulde, gedulde dich fein! Heyse.......................................664
115. Durch Feld und Buchenhallen. Eichendorff..............................435
116. Du wolltest dein Blümlein. Karl Enslin................................539
117. Ein alter Löwe, der von jeher. Simrock................................. 5
118. Ein armer Bauer wollte sterben. Nicolai................................ 4
119. Ein bißchen Sonne gib. Rich. Zoozmann.................................671
120. Ein ehrlicher Grobschmiedgesell. Fliegende Blätter.................... 55
121. Ein' fromme Magd von gutem Stand. Ringwaldt...........................554
122. Ein frommer Landmann in der Kirche saß. Knapp...................127
123. Ein Gärtner geht im Garten. Schenkendorf........................466
124. Ein Gerber und ein Bäcker. K. Stöber............................ 30
125. Ein getreues Herze wisse«. P. Fl emmin g........................549
126. Ein großer Teich war zugefroren. Goethe......................... 82
127. Ein Hänfling, den der erste Flug. Lichtwer...................... 92
128. Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft. Leander. ... 58
129. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach. Wolfgang Müller . . 117
130. Ein Kaufmann ritt einst vom Jahrmarkt. Chr. v. Schmid .... 16
131. Ein kleines Blauveilchen. Förster............................... 95
132. Ein kleines.Nest. Lohmeyer......................................408
133. Ein kleines Lied. Ebner-Eschenbach..............................409
134. Ein Kutschpferd sah den Gaul. Gellert........................... 92
135. Ein Leben war's im Ährenfeld. Hoffmann von Fallersleben. . 428
136 Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen. Lessing................. 3
137. Ein preußischer Offizier, der sehr. Pustkuchen-Glanzow .... - 22
138. Ein Nabe trug ein Stück. Lessing................................ 7
139. Ein sanfter Morgenwind. Ebert...................................452
140. Ein Schifflein ziehet leise. Uhland.............................565
141. Ein seliger Sterben, mein Mütterlein. Frieda Jung...............520
142. Ein Sperling fing auf einem Ast. Pfeffel........................ 86
143. Ein Vogel ist es, und an Schnelle. Schiller.....................517
144. Ein Wanderbursch mit dem Stab. Vogl.............................287
146. Eine alte Kirche, welche den Sperlingen. Lessing.................. 88
146. Eine deutsche Dame aus einem Hause. Schiller...................... 63
147. Eine schöne Menschenseele finden. Herder..........................112
148. Einst war ein Graf, so geht die Mär'. Wolfgang Müller ... 110
I. Inhaltsverzeichnis. -
IX
Seite
149. Er schläft, er schläft! Hebel...................................525
150. Erhebt euch von der Erde. Schenkendorf..........................620
151. Erschlagen war mit dem halben Heer. Felix Dahn..................150
152. Es braust ein Ruf wie Donnerhall. Schneckenburger...............603
153. Es entstand ein hitziger Rangstreit Lessing........................ 13
154 Es führt dich meilenweit. Schiller................................516
155. Es gäb' noch mehr der Zähren. Martin Greif........................530
156. Es geht bei gedämpfter Trommel. Chamisso..........................583
157. Es gibt einen Hauskobold. Trojan.................................. 21
158. Es ging die Riesentochter. Rückert................................128
159. Es ging ein Mann im Syrerland. Rückert............................101
160. Es haben alle Stände. Fontane . ..................................183
161. Es irrt durch schwanke Wasserhügel. Lenau......................... 98
162. Es ist, als müßt' ein Zauber. Joh.'Trojan.........................528
163. Es ist bestimmt in Gottes Rat. Feuchtersleben.....................575
164. Es ist kein Tal so wüst. Seidel....................,............661
165. Es ist nichts lieblicher Hebel.................................... 75
166. Es ist recht und wohlgesagt. K. Stöber............................ 28
167. Es ist schon spät; es wird schon kalt. Eichendorff................561
168. Es ist so still; die Heide liegt. Storm...........................438
169. Es ist so still geworden. Kinkel .................................485
170. Es kam von einer Neustadt her. Volkslied..........................299
171. Es läuft ein fremdes Kind. Rückert................................530
172. Es reden und träumen die Menschen viel. Schiller..................661
173. Es ritt ein Herr, das war sein Recht. Rückert.....................104
174. Es sah'n am Tum zu Mainz. Kopisch.................................194
175. Es schleicht um Busch und Halde. Geibel...........................461
176. Es sprach der große König. Brunold................................191
177. Es stand ein Sternlein am Himmel. Claudius........................535
178. Es steht im Meer ein Felsen. Fr. v. Meyer.........................660
179. Es tobet der Wind. Ahlfeld........................................458
180. Es war das Kloster Grabow. Rückert................................134
181. Es war im Winter. Müllenhoff...................................... 50
182. Es zieht ein stiller Engel. Spitta................................677
183. Es zog aus Berlin ein tapserer Held. Arndt........................206
184. Fahr wohl, o goldne Sonne! Rückert.................................480
185. Feldeinwärts flog ein Vögelein. Tieck..............................464
186. Fern von Gottes Herzen. M. Hartmann................................464
187. Flüchtiger als Wind und Welle. Herder..............................412
188. Frau Amme, Frau Amme. Hebbel.......................................301
189. Frau Magdalis weint auf ihr. Bürger................................273
190. Fridericus Rex, der große Held. Fröhlich...........................197
191. Friede sei um diesen Grabstein her. Claudius.......................534
192. Friedlich Dorf! Nach alter Sitte. A. Stöber........................536
193. Frisch auf, ihr deutschen Scharen! Arndt...........................623
194. Frühling sprach zu der Nachtigall. Hoffmann v. Fallersleben . 418
195. Frühling läßt sein bl. Band. Mörike................................400
196. Fühlst du ein bittres Leid am Herzen. Fr. Polack...................127
197. Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt. FelixDahn...................153
198. Geh aus, mein Herz, und suche Freud'. P. Gerhard...................652
199. Gemächlich in der Werkstatt saß. Chamisso..........................357
200. Generalmarsch wird geschlagen. Schmid..............................211
201. Gerade dort, wo die Gemarkungen. Auerbach.......................... 57
202. Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. H. Besser.....................188
203. Glatt ist der See; stumm ist die Flut. Schnezler...................362
X
. I. Inhaltsverzeichnis.
Seite
204. Goldne Abendsonne, wie. Urner....................................479
205. Goldner Frühlingssonnenschein. I. Sturm..........................405
206. Gott grüß' euch, Alter! Pfefsel..................................555
207. Graf Eberhard im Bart. Uhland....................................132
208. Hast du das Schloß gesehen. Uhland................................. 292
209. Heil dir im Siegerkranz. Schuhmacher und Harries.................633
210. Heil euch im Siegerkranz. Geibel.................................641
211. Heiß war der Tag und blutig. Gerok...............................249
212. Herr Heinrich sitzt am Vogelherd. Vogl...........................161
213. Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm. Min ding . . ...................186
214. Herr Sturm hat gar ein lustig Kind. Dieffenbach..................455
215. Heut bin ich über Rungholt. Liliencron...........................136
216. Hoch auf des Berges Rücken. Kühne................................327
217. Hoch klingt das Lied vom braven Mann. Bürger.....................334
218. Hoch wehen die Fahnen. Lingg.....................................642
219. Horch, Marthe, draußen pocht es. Seidl..............................303
220. Höret, was ich euch will sagen. Hebel...............................496
221. Hört, ihr Herr'n, und laßt euch sagen. Volkslied....................497
222. Ich bin ein Preuße! Kennt ihr. Thiersch..........................638
223. Ich bin so gar ein armer Mann. Uhland............................270
224. Ich bin vom Berg der Hirtenknab'. Uhland.........................324
225. Ich ging im Walde so für mich hin. Goethe..........................132
226. Ich hab' mich ergeben. Maßmann......................................600
227. Ich habe gute Dienerschaft..........................................543
228. Ich höre leis den Baum mich fragen. O. v. Redwitz..................657
229. Ich kann den Blick nicht von euch. Freiligrath..................... 015
230. Ich sah deu Wald sich färben. Geibel................................463
231. Ich trat in einen heilig düstern. N. Lenau..........................448
232. Ich war ein kleiner Knabe. W. Müller . .............................328
233. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. H. Heine............• • • 558
234. Ich wollt' zu Land ausreisen. Volkslied.............................453
235. Ihr Kinder, kommt herein vom Spiel. Gerok...........................443
236. Im alten Berg Kyffhäuser. C. Költsch................................172
237. Im Februar gar weiß und klar. R. Löwenstein.........................378
238. Im Häuslein gegenüber. Honcamp......................................531
239. Im Hofe zwischen den Scheuern. Immer mann........................... 62
240. Im Januar beginnt das Jahr. R. Löwen st ein.........................376
241. Im Julius zum kühlen Fluß. R. Löwenstein............................383
242. Im März, im März sei froh. R. Löwenstein............................379
243. Im stillen, heitern Glanze. K. Rudolphi.............................490
244. Im Süversee gen Westen. Böttger.....................................340
245. Im Wald und auf der Heide. Volkslied................................450
246. Immer gewöhne sich der Mensch. Herder............................ 17
247. In allem Leben ist. Rückert......................................... 94
248. In dem Schweizerlande. Krummacher...................................476
249. In dem Regiments des berühmten. Pustkuchen-Glanzow . . . 25
250. In dem wilden Kriegestanze. Schenkendorf............................215
251. In einer Handelsstadt Norddentschlands. Oldenb. Volksbote .... 53
252. In eines Mannes Haus. Krummacher.................................... 87
253. In jenen Zeiten, die wir preisen. Simrock...........................268
254. In meinem Stübchen ist's bequem. Hebel..............................391
255. In meines Vaters Garten.............................................394
256. In Wien der Kaiser Joseph. Hebel.................................... 75
257. Inmitten der Fregatte. Freiligrath...............................510
I. Inhaltsverzeichnis.
258. Joachim Hans von Zieten. Fontane..................................
259. Jockli, zieh das Käppli ab! Zschokke..............................
260. Johann, der muntre Seifensieder. Hagedorn.........................
261. John Maynard. Fontane ,...........................................
262. Jung Siegfried war ein stolzer. Uhland............................•••
263. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe. Kerner.........................
XI
Seite
194
54
261
343
318
314
264. Kann denn kein Lied. Rückert...............
265. Kennst du das Bild auf zartem. Schiller . .
266. Kennt ihr das Land so wunderschön. B. Wächter
267. Kommt, Kinder, wischt die Augen aus. Claudius
268. Konzert ist heute angesagt. Dieffenbach. . . .
269. Krachen und Heulen. Ernst Otto.............
230
517
595
414
419
346
270. Lande hab' ich viel gesehen. W. v. d. Vogelweide.................589
271. Leise zieht durch mein Gemüt. Heine................................. 399
272. Liebes, leichtes, luftiges Ding. Herder..........................103
273. Lieblich war die Maiennacht. Lenau............................... 551
274. Lies mich vorwärts. Rätsel....................................... 02
275. Luftig wie ein leichter Kahn. Lenau..............................316
276. Mancher geneigte Leser. Hebel........................................ 43
277. Markt und Straßen stehn verlassen. Eichendorsf......................645
278. Mein Arm wird stark. Fr. v. Stolberg................................322
279. Mein Engel, weiche nicht. Kl. Harms.................................676
280. Mir geht noch über die Veilchen. Trojan.............................668
281. Mit Mann und Roß und Wagen. Volkslied...............................224
282. Morgen muß ich weg von hier. Volkslied..............................574
283. Morgenrot! Leuchtest mir. Hauff.....................................623
284. Muttersprache, Mutterlaut. Schenkendorf.............................596
285. Nach dem Sturme fahren wir. Falk.....................................659
286. Nach Frankreich zogen zwei. Heine....................................241
287. Nacht ist's, und Stürme sausen. Platen...............................180
288. Nächtlich am Busento lispeln. Platen.................................148
289. Näher rückt die trübe Zeit. Arnold...................................460
290. Nehmt euch in acht vor den. Rückert..................................227
291. Nicht lass' ich mich zäumen. E. Fröhlich. ........................... 81
292. Nicht weit von Bistritz wohnte. Jacobs............................... 50
293. Nichts Schönres gibt cs. Jul. Sturm..................................524
294. Noch ahnt man kaum der Sonne Licht. Uhland...........................564
295. Noch harrte im heimlichen Dämmerlicht. Körner........................355
296. November sagt. R. Löwenstein. . .....................................387
297. Nun ade, du mein lieb Heimatland. Disselhof..........................572
298. Nun geht, Graf Otto! zum drittenmal. A. Fr. v. Schack................367
299. Nun hat am klaren Frühlingstage. Kinkel..............................483
300. Nun seht mir doch das Spinnlein an. Hebel............................432
301. Nun stellt euch auf. Jul. Wolfs......................................119
302. Nun werden grün die Brombeerhecken. Freiligrath......................278
303. O Ägir, Herr der Fluten. Kaiser Wilhelm II......................... 506
304. O du Deutschland, ich muß. Arndt.....................................214
305. O du lieblicher Geselle. E. Fröhlich................................ 85
306. O ein Tag im März. Trojan............................................380
307. O Frühlingszeit, o Frühlingszeit. Kletke............................376
308. O, hast du noch ein Mütterchen. Rode.................................520
309. O klagt nicht. Vierordt..............................................258
XII
I. Inhaltsverzeichnis.
Seite
310. O legt mich nicht ins dunkle Grab. Ilhland..........................399
311. O lieb', solang du lieben kannstl Freiligrath.......................577
312. O Mutter, wie stürmen die Flocken. Rückert..........................282
313. O sanfter, süßer Hauch. Uh land.....................................399
314. O Straßburg, o Straßburg. Volkslied.................................570
315. O Täler weit, o Höhen. Eichendorff..................................571
316. O wunderbares, tiefes Schweigen. Eichendorff........................471
317. Oktober schüttelt das Laub. Löwenstein...............................386
318. Preis ihm, der nach sieben Tagen. Rückert............................647
319. Preisend mit viel schönen Reden. Kerner..............................177
320. Reiche Leute haben trotz ihrer. Hebel................................ 67
321. Reine Jungfrau, ewig schöne. Rückert.................................599
322. Rings wirbelt die Trommel. H. Besser.................................212
323. Saatengrün, Veilchenduft. Uh land....................................399
324. Schneeglöckchen tut läuten. G. Reinick...............................409
325. Schon entgegen ruft mir. A. Stöber...................................672
326. Sehnsucht hat mich früh geweckt. Dehmel..............................649
327. Seid eingedenk! O teure Kinderschar. K. Gerok........................673
328. Selig alle, die im Herrn entschliefen. Hölty.........................535
329. September, September. Löwen st ein...................................385
330. Sie saßen an Blüchers Tafel. Hesekiel................................238
331. Sie sollen ihn nicht haben. N. Becker................................610
332. Sie stieg herab wie ein Engelsbild. Bechstein........................121
333. Siehst du die Brigg dort auf den Wellen. Giesebrecht..............339
334 Singe, wem Gesang gegeben. Uh land................................562
335. So weich und warm hegt dich kein Arm. Heyse. . . .,..............300
336. So wenig für mein treues Volk. König Friedrich Wilhelm III. 64
337. Solang die Sonn' am Himmel. Rückert...............................482
338. Sprich, liebes Herz, in deines Tempels. Rückert......................646
839. Steh auf, steh auf! Es pocht. Kopisch................................131
340. Süßer, goldner Frühlingstag. Uhland..................................399
341. Tage der Wonne, kommt ihr. Goethe....................................405
342. Tief im Schoße des Kyffhäusers. Geibel.............................171
343. Tief in waldgrüner Nacht. Reinick...................................499
344. Tief, tief im Meere sprach. G. Herwegh...............................100
345. Tiefe Stille herrscht im Wasser. Goethe..............................502
346. Tier und Menschen schliefen. Licht wer............................ 83
347. Traute Heimat meiner Lieben. Salis..................'.............613
348. Treue Liebe bis zum Grabe. Hoffmann von Fallersleben. . . 601
349. Turner ziehn froh dahin. Maßmann.....................................436
350. Üb immer Treu und Redlichkeit. Hölty.................................536
351. Über allen Wipfeln ist Ruh'. Goethe .................................493
352. Und dräut der Winter noch, so sehr. Geibel...........................394
353. Unkraut seid ihr, sprachen Ähren. E. Fröhlich........................ 79
354. Unter allen Schlangen. Schiller.................................... 514
355. Unter allen Tieren. Hebel............................................ 45
356. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind. Schwab..........................305
357. Vater der Tiere und Menschen. Lessing................................ 11
358. Vater, ich rufe dich! Körner.........................................632
359. Veilchen, wie so schweigend. Hoffmann von Fallersleben ... 96
360. Verschwunden ist die finstre Nacht. Schiller.........................472
I. Inhaltsverzeichnis.
XIII
Seite
361. Vom Alter blind, fuhr Beda. Kosegarten.........................113
362. Von Erdenhall der junge Lord. Uhland.......................Hl- 307
363. Von einerlei Gattung Eisen. Meißner................................. 1
364. Von Jahren alt, an Gütern reich. Lichtwer........................ 105
365. Bon Perlen baut sich eine Brücke. Schiller.....................- 515
366. Von Wunden ganz bedecket. Mosen....................................626
367. Vor allein eins, mein Kind. Reinick................................602
368. Vor Dijon war's. Wolfs.............................................25i
369. Vor etlichen und dreißig Jahren. Schlez............................ 41
370. Vor Wonne zitternd. Lingg..........................................470
371. Wann der Frühling vorbei. R. Reinick...............................421
372. War einst ein Glockengießer. W. Müller...........................370
373. Was blasen die Trompetend Arndt..................................233
374. Was der Tan des Morgens. Ahlfeld ............................... 35
375. Was frag' ich viel nach. M. Miller...............................669
376. Was glänzt dort vom Walde. Körner..................................2i8
377. Was ist des Deutschen Vaterland? Arndt.............................589
378. Was nicht dein ist. Dittmar........................................ 49
379. Was singt ihr Vögel so mit Macht? Herder...........................454
380. Was steht der nord'schen Fechter Schar. Uhland.....................295
381. Was treibst du doch. Jul. Sturm....................................524
382. Was verkürzt die Zeit? Goethe...................................... 2i
383. Was zagst du, Herz, in solchen Tagen. Uhland.......................400
384. Weine nicht, wenn aus dem. Göhring.................................578
385. Weißt, wo der Weg zum Mehlfaß geht. Hebel..........................540
386. Weit in die Lande leuchtet. Hesekiel . ._..........................244
387. Wem Gott will rechte Gunst. Eichendorfs............................664
388. Wenn alles eben käme. Fouquo.......................................578
389. Wenn der Sonne letzter Strahl. I. Sturm............................480
390. Wenn du noch eine Mutter hast. Kaulisch............................518
391. Wenn jemand schlecht von deinem. Bodenstedt .......................547
392. Wenn noch die Sterne fröhlich. Tschudi.............................420
393. Wer hat dich, du schöner Wald. Eichendorff.........................569
394. Wer hat die Baumwoll' oben feil? Hebel.............................389
395. Wer hat die weißen Tücher. W. Müller...............................400
396. Wer hat doch alle Bäume nur. Dieffenbach...........................400
397. Wer ist der greise Siegesheld. Hoffmann von Fallersleben . . 246
398. Wer ist ein Mann? Arndt............................................630
399. Wer lehrt die Vöglein singen. Pocci und Gör res....................652
400. Wer öffnet leise Schloß und Tür. Halm..............................521
401. Wer recht in Freuden wandern will. Geibel..........................654
402. Wer reitet so spät in der. Gerok...................................221
403. Wer schlägt so rasch. W. Müller....................................407
404. Wer wollte sich mit Grillen plagen. Hölty..........................411
405. Wie ein Schifflein auf dem Meer. Rückert...........................354
406. Wie fern, wie fern, o Vaterland. Lenau.............................612
407. Wie heißt das Ding, das. Schiller..................................513
408. Wie ist der Abend so traulich. Spitta..............................482
409. Wie ist doch über Wald und Feld. H. Kletke.........................498
410. Wie könnt' ich dein vergessen. Hoffmann v. Fallersleben . . . 589
411. Wie lang ist wohl die Ewigkeit. R. Löwenstein..................' 678
412. Wie mancher hat schon gesagt. O. v. Horn........................... 38
413. Wie mir deine Freuden winken. Schenkendorf.........................620
414. Wie ruhest du so stille. Krummacher................................393
415. Wie schön leuchtet der Morgenstern. I. Sturm.......................330
XIV
I. Inhaltsverzeichnis.
Seite
416. Wie sehn' ich mich nach deinen Bergen. Hoffmann v. Fallersl. . 618
417. Wie viel schläft. Trojan............................................388
418. Wie war zu Köln es doch vordem. Kopisch.............................130
419. Wild rast der Sturm. Presber........................................256
420. Willst du immer weiter schweifen. Goethe............................667
421. Wir waren wohl oft in großer. Preuß und Vetter......................333
422 Wir zogen miteinander. Sche.urlin.....................................627
423. Wo aus hohen Tannenspitzen. Mosen.................................. 614
424. Wo ist Gott? Felix Dahn.............................................677
425. Wo kommst du her in dem roten. Arndt...............................228
426. Wohin nun willst du gehen. Rochholz.............................. . 462
427. Wohl blühet jedem Jahre. Uhland....................................390
428. Wohl dem, der mit der Welt zufrieden. M. Miller....................676
429. Wohlauf, es ruft der Sonnenschein. Tieck...........................568
430. Wohlauf, noch getrunken. Kerner....................................567
431. Wohltätig ist des Feuers Macht. Schiller........................445
432. Zu Aachen saßen die Fürsten. Zimmermann............................179
433. Zu Charlottenburg im Garten. Hesekiel..............................246
434. Zu der niedern Trauerweide. Fröhlich . . .......................... 94
435. Zu Hause find' ich meine Ruh' nie. Löwen stein.....................382
436. Zu Hirsau in den Trümmern. Uhland..................................134
437. Zu Lüttich im letzten Häuselein. M. v. Oer.........................177
438. Zu Mantua in Banden. Mosen.........................................203
439. Zu Solingen sprach ein Schmied. Simrock........................192
440. Zu Speier, der alten Kaiserstadt. M. v. Öer .......................177
441. Zu Straßburg auf der Schanz. Volkslied.............................581
442. Zum drittenmal schnitt ich den Span. Lingg ........................364
443. Zum Frühling sprach der liebe Gott. Hebel..........................429
444. Zur Schmiede ging ein junger Held. Uhland..........................320
445. Zween Wanderer zogen gemeinsam. Krummacher......................... 17
446. Zwei Eimer sieht man ab und auf. Schiller. ........................515
II. Inhaltsverzeichnis
nach alphabetischer Folge der Dichter geordnet.
(Die Zahlen weisen die Seiten nach.)
Ahlfeld, Joh. Friedrich.
Der Sonntag 20.
Der freundliche Herr 35.
Geiz ist die Wurzel alles
Übels 37.
Herbstpredigt 458.
Arndt, Ernst Moritz.
Das Lied vom Schill 206.
Kriegers Abschied 214.
Die Leipziger Schlacht 228.
D.Lied v.Feldinarschall 233.
D. DeutschenVaterland589.
Vaterlandslied 608.
Gotteskrieger 623.
Wer ist der Mann 630.
Arnold, Gottfried.
Herbstlied 460.
Auerbach, Berth.
D Posaune d. Gerichts 57.
Aurbacher.
Die Hausräte 20.
Avenarius, Ferd.
Kornrauschen 468.
Barth, A.
Wenn d. Not am größten5l.
Bechstein, Ludwig.
Elisabeths Rosen 120.
Becker, Nickolaus.
Der freie deutsche Rhein 609.
Bernhardt, Heinrich.
Der Löwe in Florenz 297.
Besser, Hermann.
D. Choral v Leuthen 188.
Die Trommel 211.
Badenstedt, Friedrich.
Freundschaft 547.
Böttger, Adolf.
Stavoren 340.
Brentano, Clemens.
Die Gottesmauer 285.
Brunold, Ferdinand.
D. Markaner b. Friedrich II.
191.
Bürger, Gottfr. August.
Die Kuh 273.
D. Lied v. brav. Mann 324.
Chamisso, Adelbert v.
Charakteristik 585.
Die Kreuzschau 122.
Das Riesenspielzeug 130.
D. Bettler u. s. H. 272.
D. Sonne bringt es an den
Tag 357.
Die alte Waschfrau 543.
Der Soldat 582.
Claudius, Matthias.
Frau Rebekka mit d. Kindern
an einem Maimorgen 414.
Morgenlied eines Bauers-
mannes 473.
Abendlied 487.
Bei d. Grabe meines Vaters
Christiane 535. [533.
s Dach, ©imtut.
Lob der Freundschaft 546.
Dahn, Felix.
Gotentreue 150.
Die letzten Goten 153.
Wo ist Gott 677.
Dehmel, Richard.
Morgenandacht 649.
Dieffenbach, Christian.
Blütenluft 400.
Waldkonzert 419.
Der Herbst 455.
Das junge Stürmchen 455.
Diepenbrock, Melchior v.
Der heilige Augustin 115.
Dittmar.
Feuriges Wasser 19.
Ebert, Karl Egon.
Der Morgen im Walde 452.
Ebner-Eschenbach, M. v.
Ein kleines Lied 409.
Eichendorff, Joseph v.
Charakteristik 714.
Reiselied 435.
Morgengebet 471.
Lorelei 561.
Der Jager Abschied 569.
Abschied vom Walde 571.
Sonntag 644.
Weihnachten 645.
D. froheWandersmaun 654.
Enslin, Karl.
Zu spät 539.
Ebers, Franz.
März 396.
Gütige Tage 396.
Falk, Johannes.
Schifferlied 658.
Falke, Gustav.
Fromm 529.
Feuchtersleben, Ernst v.
Scheiden 575.
Flemming, Paul.
Das getreue Herz 549.
Fliegende Blätter.
*Du sollst den Feiertag
heiligen 55.
Fontane, Theodor.
Der alte Derfflinger 183.
Der alte Zieten 194
I. Maynard 343.
Guter Rat 470.
Förster, Friedrich.
Blau-Veilchen 95.
Theodor Korner 224.
Fouque, Friedrich de la
Motte.
Gottes Zucht 578.
Franklin, Benjamin.
Die Pfeife 47.
Freiligrath, Ferdinand.
Rübezahl 278.
Die Tanne 508.
O lieb, solang du lieben
kannst 577.
Die Auswanderer 615.
Fröhlich, Emanuel.
Charakteristik 77.
Ellengröße 77.
Die Nützlichen 79.
Strenge Barmherzigkeit 79.
Zucht 81.
Wiederfinden 85
Niederes Los 94.
Fröhlich, Karl.
Der alte Fritz 197.
Geibel, Emanuel v.
Friedrich Rotbart 171.
Hoffnung 394.
Der Mai ist gekommen 415.
Herbstlied 461. [463.
Ich sah d. Wald sich färben
Wenn sich zwei Herzen schei-
den 574.
Dem siegreichen Heere 641.
Morgenwanderung 654.
I
XVI
II. Inhaltsverzeichnis.
Gellert, Christ. Fürcht eg.
Der Kuckuck 89.
Das Kutschpferd 92.
Zwei Rätsel 92.
Gerhardt, Paul.
Sommerlied 652.
Gerok, Karl v.
Wie Kaiser Karl Schulvisi-
tation hielt 159.
Die Geister der Helden 221.
D. Rosse v. Gravelotte 249.
Gewitter 443.
Abschiedsgruß 673.
Giesebrecht, Ludwig.
Der Lotse 339.
Göring, Hugo.
Wiedersehen 578.
Goethe, Joh. Wolfg. v.
Was verkürzt die Zeit 21.
Die Frösche 82.
Legende vom Hufeisen 106.
Johanna Sebus 348.
Frühzeitiger Frühling 405.
Wanderers Nachtlied 472.
Meeresstille 502. [495.
Glückliche Fahrt 503.
Beherzigung 667.
Erinnerung 667.
Greif, Martin.
Sternentrost 530.
Güll, Friedrich.
Am Abend 491.
Hagedorn, Friedr. v.
Johann, d.Seifensieder261.
Halm, Friedrich.
Das taube Mütterleiu 521.
Harms, Klaus.
Predigt der Garben 60.
Engellied 676.
Harries, Heinrich.
Heil dir im Siegerkranz 633.
Hartmann, Moritz.
Von Ihr 464.
Hauff, Wilhelm.
Reiters Morgenlied 623.
Hebbel, Friedrich.
DasKind amBrunnen 301.
Herbstbild 457.
Hebel, Johann Peter.
Charakteristik 76.
Belehrung über das Wetter-
glas 43.
Der Maulwurf 45.
Der geheilte Patient 67.
Kannitverstan 69.
König Friedrich uud sein
Nachbar 72.
Untreue schlägt den eigenen
Herrn 73.
Einer oder der andere 75.
Ein gutes Rezept 75.
Der kluge Richter 266.
Der Winter 388.
Mitleid im Winter 391.
Sommerlicd 423.
Liedlein v. Kirschbaum 429.
Das Spinnlein 431.
Das Gewitter 440.
Wächterruf 496. [525.
Die Mutter am Christabend
Der Wegweiser 540.
Heine, Heinrich.
Belsazar 141.
Die Grenadiere 241.
Frühlingsbotschaft 399.
Du bist wie eine Blume 468.
Lorelei 558.
Herder, Joh. Gottfr. v.
Alles zum Guten 17.
Lied v. Schmetterling 103.
Der geretteteJüngling 111.
Lied des Lebens 412.
Der liebende Schöpfer 454.
Herwegh, Georg.
Wunsch der Welle 100.
Hesekiel, Georg.
E. Wort v. alt. Blücher 238.
König Wilhelm in Ems 244.
König Wilhelm in der Gruft
zu Charlottenburg 246.
Heyse, Paul.
Heimweh 300.
Über ein Stündlein 665.
Hippel, Theod. Gottl. v.
König Friedr. Wilhelms III.
„Aufruf an mein Volk" 64.
Hoffmann, Heinr. Aug.
(von Fallersleben).
Veilchen 96.
Kaiser Wilhelm 246.
Erntefest 386.
Der Eislauf 392.
Ins grüne Feld 410.
i Vergißmeinnicht 462.
Frühlingsball 418.
Das Ährenfeld 428.
Das Lied der Deutschen 582.
Mein Lieben 589.
Heimwehm Frankreich 618.
Gruß an das Vaterland 619.
Sonntag 643.
Hölty, Ludwig Heinrich
Christoph. [411.
Aufmunterung zur Freude
Elegie beim Grabe meines
Vaters 535.
Der alte Landmann und sein
Sohn 536.
Honcamp, Friedr. Karl.
Nachbar Helm und seine
Linde 531.
Horn, W. O. v. Siehe unter
Oertel.
Jmmcrmann, K. Leb.
Der westfäl. Hofschulze 62.
Jacobs, Fr.
Die beherzten Knaben 50.
Jung, Frieda.
Der Mutter Heimgang 520.
Kaulisch, Wilhelm.
Wenn du noch eine Mutter-
hast 518.
Kerner, Justinus.
Kaiser Rudolfs Ritt zum
Grabe 174.
Der reichste Fürst 177.
Der Wanderer in der Säge-
mühle 310.
Preis der Tanne 314.
Wanderlied 567.
Kinkel, Gottfried.
Abendstille 483.
Ein geistlich Abendlied 485.
Kletke, Hermann.
Die Jahreszeiten 375.
Blumenball 158.
Der Mond 498.
Knapp, Albert.
Die Einladung 127.
Koltsch, E.
Rotbarts Testament 172.
Kopisch, August.
Heinzelmännchen 130.
Des kleinen Volkes Über-
fahrt 131.
Frankfurt am Main 157.
Willegis 164.
Blücher am Rhein 237.
Maley und Malone 265.
Körner, Theodor.
Lützows wilde Jagd 218.
Abschied vom Leben 222.
Harras der kühne Springer
354. [632.
Gebet während der Schlacht
Koscgarten, The obul.
Das Amen der Steine 118.
Krummacher, Friedr. Ad.
Das Samenkorn 17.
Die Schwalben 87.
Winterlieb 393.
Der blühende Flachs 426.
D. Lied v. Samenkorm 465.
Das Alpenlied 475.
D.untergehendeSonne479.
Kühne, Ferd. Gustav.
Der Knabe a. d. Berge 327.
Leander, Rich.
Der Wunschring 58.
Lenau, Nikolaus.
Der Schmetterling 98.
D.WurmlingerKapelle 316.
Der Eichwald 448.
Schilslied 449.
Der Postillon 551.
An mein Vaterland 611.
Lessing, Gotth. Ephraim.
Die Eiche 2.
Der Besitzer des Bogens 3.
Der Rabe und der Fuchs 7.
Zeus und das Pferd 11.
Rangstreit der Tiere t3.
Die Sperlinge 88.
Lichtwer, Gottfried.
D. Katzen u.d. Hausherr 81.
Der Hänfling 92.
Die drei Söhne 105.
Lilienrron, Detlev v.
Trutz, Blanke Haus 136.
Lingg, Hermann.
Die Feme 364.
Miltagszauber 470.
DeutscherSiegesgesang 642.
Loeben, Heinrich Otto
Graf von.
Lorelei, Sage v. Rhein 559.
Lohmeyer, Jul.
Ein kleines Nest 408.
Löwenstein, Rudolf.
Die Monate und was sie
bringen 376.
Die Ewigkeit 678.
Luden, H.
Deutschland 46.
Maßmann, Ferdinand.
Turnerwanderlied 436.
Gelübde 600.
Meißner, Aug. Gottlieb.
Die zwei Pflugscharen 1.
Meyer, Friedrich v.
Gottes Treue 660.
Miller, Johann Martin.
Zufriedenheit 669. 670.
AdL- n. 8. Aufl.
H. Inhaltsverzeichnis.
Minding, Julius.
Fehrbellin 185.
Mürike, Eduard.
Er ist's 400.
Mosen, Julius.
Der Kreuzschnabel 109.
Andreas Hofer 203.
Aus der Fremde 614.
D. Trompeter a. d. Katzbach
Müllenhoff, Karl. [626.
Das brave Mütterchen 50.
Müller, Wilhelm.
Ahnenwert 78.
Der kleine Hydriot 328.
Der Glockenguß zu Breslau
Frühlingsmahl 400. [370.
Frühlingseinzug 401.
Morgenlied im Frühl. 407.
Müller, Wolfgang, von
Königswinter.
D. Mönch v. Heisterbach 117.
Schwert und Pflug 140.
Nathusius, Phil. Engelh.
Der Herbst 454.
Nicolai, Ludw. Heinr. v.
.. D. Esel u. d. drei Herren 4.
Öer, Max v.
Die Glocken zu Speier 177.
Oertel, Wilh. (v. Horn).
Christoph Kolbheim 38.
Oldenburger Volksbote.
E. Ohrfeige z. recht Zeit 53.
Osterwald, Wilhelm.
Choral von Kaiserslautern
Otto, Ernst. [191.
Nis Räubers 346.
Pfeffel, Gottl. Konrad.
Die Stufenleiter 86.
Die Tabakspfeife 555.
Platen, August Graf v.
D. Grab im Busento 148.
D. Pilgrim v. St. Just 180.
Pocci, Franz Graf v.
Eine Frage 652.
Polack, Friedr.
Schmerzlicher Trost 127.
Presber, R.
Die Helden vom Iltis 256.
Pustkuchcn-Glanzow,Fr i e d-
rich Wilhelm.
Kindesliebe 22.
Ein guter Sohn 25.
Redwitz, Oskar v.
Verzage nicht! 657.
Reinick, Robert.
Frühlingsglocken 409.
XVII
Sommerlied 421.
Der Strom 499.
Deutscher Rat 602.
Im Vaterland 620.
Ringwaldt, Bartholom.
Beschreibung einerfrommen
Magd 554.
Rochholz, E. L.
Das Herbstblatt 462.
Rode, Chr.
O, hast du noch ein Mütter-
chen 520.
Rückert, Friedrich.
Ursprung der Rose 98.
Der Brunnen des Ver-
derbens 101.
D. Herr u. sein Knecht 104.
Die Espe 110.
D. Riesen u. d. Zwerge 128.
Bestr. Ungenügsamkeit 134.
Barbarossa 169.
Auf die Schlacht an der
Katzbach 227. [230.
Auf die Schlacht bei Leipzig
Blücher u. Wellington 240.
Die Gottesmauer 282.
Schiffahrt 354.
Bei Sonnenuntergang 480.
Abendheimgang 482.
Des fremden Kindes heil'ger
Christ 530.
An unsere Sprache 599.
Für die sieben Tage 646.
Rudolphi, Karoline.
Der Mond 490.
Salis, Joh. Gaudenz,
Freih.v.Salis-Seewis.
Herbstlied 456.
Lied eines Landmannes in
der Fremde 613.
Sollet, Friedrich v.
Der Derfflinger 184.
Zieten 196.
Schack, Adolf Friedrich
Graf v.
Das Bahrrecht 367.
Scheffel, Joseph Viktor.
Ausfahrt 405.
Schenkendorf, Max v.
Andreas Hofer 199.
Auf Scharnhorsts Tod 214.
Christ, ein Gärtner 466.
Muttersprache 696.
Frühlingsgruß an das Va-
terland 620.
Soldaten-Morgenlied 620.
b
XVIII
II. Inhaltsverzeichnis.
Scherenberg, Christian
Friedrich.
Fischerlied 503.
Scheurlin, Georg.
Der Fichtenbaum 123.
Treuer Tod 627.
Schiller, Friede, v.
Herzog Alba b.e. Frühst. 63.
Die Feuersbrunst 445.
Morgenlied 472.
Rätsel 512.
Hoffnung 661.
Schlez, Joh. Ferdinand.
Meister Hämmerlein 41.
Schmid, Christoph v.
Der Regen 16.
Schmidt, v.
Die Opfer zu Wesel 211.
Schmidt, G. Phil.(v. Lübeck).!
Unruhe bis in den Tod 124.
Schneckenburger, Max.
Die Wacht am Rhein 603.
Schnezler, August.
Mummelsees Rache 362.
Schubert, Gotth. v.
Redlichkeit das beste Ein-
kommen 19.
Schwab, Gustav.
Das Gewitter 305.
D. Reiter u.d.Bodensee 351.
Seidel, Heinr.
Bei Goldhähnchens 88.
Die Liebe höret nimmer auf
Seidl, Joh. Gabriel. [661.
Hans Euler 303.
Der König und der Land-
mann 667.
Sigismund, Berthold.
Am Sarge eines Tagelöh-
ners 546.
Simrock, Karl Joseph.
Der alte Löwe 5.
Wolf, Fuchs u. Kranich 10.
Drusus' Tod 145.
Schlacht bei Zülpich 154.
D.Schmied v.Solingen 192.
Das Pferd als Kläger 268.
Spitta, Karl Johann
Philipp.
Abcndfeier 482.
Sehet die Lilien 651.
Geduld 677.
Stern.
Wenn die Not am größten
51.
Stöber, Adolf.
Sonntagsfeier auf den
Alpen 478.
Der Dorfkirchhof 536.
Eins nur traf ich aller-
orten 672.
Stöber, Karl.
Vom Undank der Kinder 28.
Der kleine Friedensbote 30.
Stolberg, Friedrich Leo-
pold, Graf v. [322.
Lied e. deutschen Knaben
Storm, Theodor.
Abseits 438.
Strachwitz, Mor. Graf v.
Gebet auf den Wassern 503.
Sturm, Julius.
Belle-Alliance 239.
Ein Kunststück 241.
Wie schön leuchtet 330.
D. Winter a. d. Schub 404.
Frühlingslied 405.
Der Elfen Abendfeier 480.
Jungfer Margaret 555.
Der kl. Zimmermann 524.
Wenn ich erst groß bin 524.
Rat des Vaters an seinen
Sohn 675.
Thiersch, Bernhard.
Preußisches Volkslied 638.
Tieck, Ludwig.
Herbstlied 464.
Zuversicht 568.
Trojan, Joh.
Verschobene Arbeit 21.
Märztag 380.
Unter dem Schnee 388.
Hauszauber 523.
Warteinweilchen 668.
Tschudi.
Wie der Wald erwacht 424.
Uhland, Ludwig.
Eberhards Weißdorn 132.
Die Ulme zu Hirsau 134.
Glück v. Edenhall 144. 307.
Schwäbische Kunde 166.
Das Singental 259.
Lied eines Armen 270.
Das Schloß am Meer 292.
Der blinde König 294.
Die Kapelle 315.
Siegfrieds Schwert 318.
Das Schwert 319.
Des Knaben Berglied 324.
Die Rache 360.
Lob des Frühlings 382
Künftiger Frühling 396.
Frühlingsglaube 397.
Frühlingsahnung 399.
Frühlingsfeier 399.
Frühlingsruhe 399.
Frühlingstrost 400.
Freie Kunst 561.
Morgenlied 564.
Das Schifflein 565.
Das Vaterland 601.
Unbekannt.
Zwei Rätsel über Kuckuck
und Star 92.
Urner, Barbara.
Goldne Abendsonne 479.
Vierordt, H.
DieToten von Samoa 258
Vincke, Gisb. Freih. v.
Die drei Kreuze 362.
Vogelweide, Walther v. d.
Deutschlands Ehre 589.
Vogl, Joh. Nepomuk.
Heinrich d. Vogelsteller 161.
Das Erkennen 287.
Ein Friedhofsbesuch 290.
Volkslied.
Das Franzosenheer 224.
Die Macht der Tränen 299.
Jägerlied 450.
Reiselied im Walde 453.
Nachtwächterlied 497.
Lieb Heimatland, ade 572.
Sehnen und Scheiden 573.
Lebewohl 574.
Der unerbittliche Haupt-
mann 579.
Der Schweizer 580.
Wächter, Bernhard (Veit
Weber).
Unser Vaterland 595.
Wieland, Christ. Martin.
Prozeß u. d. Esels Schatten
267.
Wilhelm!!., Deutsch. Kais.
Sang an Ägir 505.
Wolff, Jul.
Kinder v. Hameln 119.
Die Fahne der 61er 254.
Zimmermann, Wilh.
Graf Eberhard im Bart 179.
Zoozmann, Rich.
Gebet 671.
Zschokke.
Jockli, zieh d. Käppli ab 54.
I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere
Ltücke in Prosa.
1. Die zwei Pflugscharen.
August Gottlieb Meißner. Sämtl. Werke, Bd. VI, Fabeln. Wien 1813. S. 163.
Von einerlei Gattung Eisen und aus ebenderselben Werkstätten wurden
zwei Pflugscharen verfertigt. Eine davon kam in die Hand eines Landmannes;
die andere ward in den Winkel eines Schuppens geworfen, lag allda ruhig
acht oder neun Monate lang und ward mit Rost 2) überdeckt. Jetzt erst er-
innerte man sich ihrer und zog sie auch wieder hervor. Wie staunte3) die-
selbe, als sie ihre ehemalige Schwester erblickte und mit sich selbst verglich;
denn sie fand sie hell und spiegelglatt, ja, fast glänzender noch, als sie an-
fangs war>) „Ist das möglich?" rief die Verrostete aus. „Einst waren wir
einander gleich. Was hat dich so herrlich erhalten, da ich in der glücklichsten
Ruhe so verunstaltet worden bin?" „„Eben diese Ruhe,"" erwiderte jene,
„„war dir verderblich. Mich hat Übung und Arbeit erhalten. Ihr nur ver-
dank' ich es, daß ich dich jetzt übertreffe.""
I. Vermittlung. 1. Die beiden Pflugscharen waren von ein und
demselben Stoffe, von demselben Meister und in derselben Schmiede ver-
fertigt. 2. Rost ist ein rötlicher Überzug, der durch die Verbindung des
Eisens mit Sauerstoff in feuchter Luft entsteht. 3. Wie wunderte sich
da die eine Pflugschar über die andere! 4. Der Fabeldichter nimmt irrtüm-
licherweise an, daß die Pflugscharen blank geschliffen aus der Schmiede
hervorgehen. Dies ist aber nirgends der Fall. Der Lehrer muß aber
die falsche Voraussetzung hier mit in den Kauf nehmen, weil sonst der
Schluß der Dichtung unverständlich bliebe.
II. Vertiefung. 1. Grundgedanke. Bei Arbeit, Fleiß, geselligem
Umgang und gemeinnützigem Handeln entfalten sich die Kräfte des Leibes
und der Seele, und der Mensch gelangt zu Ansehen, Ehre und Hochachtung
bei seinen Mitmenschen. Bei Müßiggang und träger Ruhe aber findet
das Gegenteil statt. 2. Kernfrage: Wie kann die rauhe, schwarze Pflug-
schar durch fleißigen Gebrauch so spiegelglatt und blank poliert werden?
Die kleinen Steinchen und Kiesel im Erdboden gleichen der Feile des
Schmiedes, welche das Eisen glättet, und die feinen Sandkörner der Acker-
krume dem Schleifsteine, welcher die Pflugschar spiegelblank poliert. Durch
den täglichen Gebrauch der Pflugschar und die fortgesetzte Reibung in
der Erde wird der Glanz der Pflugschar erzeugt.
III. Verwertung. Übertragung der Fabel auf menschliches
Tun und Treiben. Die beiden Brüder. Zwei Brüder glichen sich
völlig in allen Stücken. Als ihre Eltern starben, hinterließen diese ihnen
AdL. II. 8. Aufl. i
2 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
ein großes Landgut. Der eine Bruder verkaufte seine Hälfte an den
andern, zog in die Hauptstadt des Landes und lebte dort ohne Beschäf-
tigung von seinen Zinsen. Nach zehn Jahren, des trägen Lebens über-
drüssig, zog er wieder in seine alte Heimat. Wie erstaunte er aber, als er
mit seinem Bruder wieder zusammentraf und sich mit ihm verglich! Ihn
selbst kannte und beachtete niemand, während sein Bruder zu Reichtum
und Ansehen gekommen war. „Wie ist das möglich?" rief der erstere aus.
„Einst waren wir doch gleiche Brüder! Was hat dich so hoch empor ge-
bracht, während ich ruhig, aber unbeachtet und unbefriedigt dahin lebte?"
„Eben diese Ruhe oder vielmehr der Müßiggang, — daß du nichts
weiter tatest als essen, trinken, spielen und schlafen, — war dir ver-
derblich," erwiderte der Bruder. „Mich haben Fleiß und Arbeit, Mühe
und Anstrengung, Verkehr und Umgang mit Menschen, rege Beteiligung
an allen Bestrebungen für Gemeinwohl und Milderung menschlichen
Elends zu der ehrenvollen Stellung gebracht, deren ich mich jetzt erfreue."
R. D,
2. Die Giche.
Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Berlin 1853. I, S. 170.
Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen Nacht an
einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt, und eine Menge nie-
driger Sträucher lag unter ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine Grube nicht
weit davon hatte, sah sie des Morgens darauf. „Was für ein Baum!" rief
er. „Hätte doch nimmermehr gedacht, daß er so groß gewesen wäre!"
1. Vermittlung. Synonyme: 1. rasender = fürchterlicher,
schrecklicher, entsetzlicher, furchtbarer, gewaltiger. 2. Stärke = Kraft,
Macht, Gewalt. 3. gestreckt = gefällt, zur Erde gestürzt ihrer ganzen
Länge nach. 4. Menge = Anzahl, Summe, Masse, Fülle, Unmenge,
Unmasse, Schar. 5. zerschmettert---zertrümmert, zerknickt, zerschlagen,
zerbrochen, zermalmt, zerquetscht, vernichtet. 6. G r u b e = Graben, Röhre,
Höhle, Bau, Wohnung, 7. gedacht = gemeint, geglaubt, es für mög-
lich gehalten.
II. Vertiefung. 1. Grundgedanke: Oft erst nach dem Ende
großartiger Ereignisse und nach dem Tode hervorragender Menschen sind
wir imstande, uns ein richtiges Urteil über ihre Bedeutung zu bilden.
2. Bekanntes undVerwan dies. a) „Seht, welch ein Mensch!"
Erst nach seinem Tode wurde Christus als der Welt Heiland anerkannt,
b) Bei Lebzeiten verkennt man sehr oft große Männer, und erst Jahr-
hunderte nach ihrem Tode setzt man ihnen Denkmäler: Kopernikus, Chri-
stoph Kolumbus, Gutenberg, Böttiger, Freiherr vom Stein, E. M. Arndt,
Turnvater Jahn, James Watt, Pestalozzi, Lessing, Schiller, Friedr. Fröbel
und hundert andere mehr.
III. Verwertung. 1. Mahnung, a) Urteile nicht über Personen
und Dinge, die für dich zu hoch stehen, und die du nicht übersehen kannst!
b) Erkenne neidlos das Große und Erhabene an! e) Reiche dem Ver-
dienste seine Krone! 8uum euigus!
Lessing: Der Besitzer des Bogens.
3
2. Rede-und Stilübung, a) Wiedergab e der Fabel mit v e r-
ändertenAusdrücken: Ein furchtbarer Sturm hatte in einer schauer-
lichen Novembernacht seine Gewalt an einem Jahrhunderte alten, maje-
stätischen Eichbaume bewiesen. Da lag er entwurzelt und hingestreckt
am Boden und eine große Anzahl kleinerer Bäume zerknickt unter ihm
— Ein Fuchs, dessen Bau ganz in der Nähe war, erblickte die gefallene *
Eiche, als der Tag nach dem Sturme graute. „Seht, welch ein Baum!"
rief er aus. „Hätte ich doch nimmermehr geglaubt, daß er ein solcher
Riese wäre!" b) Beweise, daß wie hier so auch beim Sturze großer
Menschen viele kleinere Personen mit vernichtet werden! R. D.
3. Der Besitzer des Bogens.
Gotthold Ephraim Lesstng. Fabeln. Berlin 1759. S. 75.
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz^), mit dem er
sehr weit mtb sehr sicher schoß, und den er ungemein wert hielt. Einst aber,
als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig zu plumps) bist
du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte.3) Schade!" — „Doch dem ist abzu-
helfen!"^) fiel ihm ein. „Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in
den Bogen schnitzen lassen." — Er ging hin, und der Künstler schnitzte eine,
ganze Jagd in den Bogens — und was hätte sich besser auf einen Bogen
geschickt als eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. „Du verdienst diese Zieraten, mein lieber
Bogen." Indem will er ihn versuchen: er spannt, und der Bogen — zerbricht.
I. Vorbereitung. 1. Zeit der Handlung: Vor Berthold Schwarz,
ehe das Schießpulver erfunden war, als noch Bogen und Pfeil, Armbrust
und Bolzen die unvollkommenen Schußwaffen der Jäger waren. 2. Ort
der Handlung: Auf einem Edelhofe in der Nähe einer großen, kunst-
reichen Stadt, in welcher geschickte Holzschnitzer wohnten. 3. Beschrei-
bung des Bogens, des Pfeils und des Köchers unter Zuhilfenahme eines
von den Kindern selbst gefertigten Bogens.
II. Erläuterung. 1. Ebenholz ist ein fast schwarzes, sehr elastisches
Holz von dem Ebenholzbaume, der namentlich in Ostindien und Afrika
einheimisch ist. 2. plump — einfach. 3. Glätte — das glatte, blanke
Ebenholz ist deine einzige Zierde. 4. Dem Mangel kann noch nachträg-
lich abgeholfen werden. 5. Entweder mußte der Künstler das Bild in
den Bogen einschneiden und vertiefen, oder aber, um das Bild erhaben
zu gestalten, den Bogen schwächer machen. In beiden Fällen büßte er
also an Kraft und Festigkeit ein.
III. Vertiefung. 1. Grundgedanke: Einfachheit verleiht Dauer-
haftigkeit. 2. Gliederung des Inhalts, a) Eigenschaften des ein-
fachen, schlichten Bogens: Er schießt weit und sicher und ist daher
sehr schätzenswert, b) Mutmaßlicher Mangel des Bogens: Er
ist zu schmucklos und soll verziert werden, o) Der geschnitzte Bogen:
aa) Das Bildnis ist ein Kunstwerk, bb) Es schickt sich vornehmlich für
einen Jagdbogen, cc) Es erfreut den Jägersmann, ää) Beim ersten
Spannen bricht der Bogen, d. h. er bekam einen Bruch, wurde also un-
brauchbar. 3. Sprichwörter. Einfach, aber fest. Einfalt hat schöne
4
I. Fabeln, Parabeln,"Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Gestalt. Schöner, aber nicht besser. Der Schönheit ist nicht zu trauen.
Von der Schönheit kann man nicht leben. Was hilft die schöne Schüssel,
wenn nichts drin ist!
IV. Verwertung. Stil-und Redeübung. Vergleichung der
Lessingschen Fabel mit der Erzählung von Karl dem Großen, wie er,
schlicht gekleidet, mit seinen aufgeputzten Hofleuten auf die Jagd reitet.
Als die fränkischen Hofleute Karls des Großen in Italien einmal an
einem kalten Regentage mit kostbaren Gewändern bunt geschmückt zu einer
Jagd kamen, führte er, in einen Schafpelz gekleidet, sie während eines argen
Unwetters durch Dornen und Dickicht, wobei ihnen die dünnen Kleider arg
zerfetzt wurden und im Regen zusammenschrumpften. Dann befahl er, daß
jeder am nächsten Tage in demselben Rocke wieder vor ihm erscheine, und da
nun alle wie Vogelscheuchen aussahen, ließ er seinen Schafpelz hereinbringen,
zeigte ihnen, wie weiß und unzerrissen die Hülle sei, die er am Regentage
getragen hatte, hielt ihnen eine wirksame Strafpredigt und fragte sie:„Welche
Kleidung war nun besser, der einfache Schafpelz oder die herrlichen Gewänder
von Samt und Seide?" R. D.
4. Der Esel und die drei Herren.
L. H. v. Nicolai. Vermischte Gedichte. Berlin 1788. I. Bd. S. 52.
Ein armer Bauer wollte sterben; drei Söhne standen um ihn her. „Ach,
meine Kinder!" seufzte er, „ichhinterlass' euch nichts zu erben als meinen Esel;
und mein ganzes TestamentH ist dies: Besitzt ihn ungetrennt2); dem dien' er
heute, jenem morgen, und wer ihn braucht, mag ihn versorgen!" Der Vater
stirbt; der ält'ste muß den Esel wohl am ersten haben. Von früh bis in die
Nacht läßt er den Schimmel3) traben, an Futter nichts, an Schlägen Über-
fluß.^) „Mein Bruder", denkt er. „hat ihn morgen zu ernähren, heut kann
er wohl die Kost entbehren." Der zweite holt den matten Gaules und über-
ladet ihn mit Säcken. „Ha! Ha! das Schmausen macht dich faul; man wird
dich mit dem Knüttel wecken."6) Der Esel keucht mit dürrem Gaurn Z und
schleppt sich bis zum Stalle kaum. Beim dritten Sohn die alte Plage! „Es
gibt nicht lauter Feiertage; ein wenig Fasten ist gesund. Ich merke schon, du
wirst zu rund."8) Der Esel fällt vor Schwäche nieder, schnappt noch zum letzten-
mal und regt sich niemals wieder. „Nun teilt euch in die Haut3), ihr Brüder!"
I. Vermittlung. 1. Testament — der letzte Wille eines Ster-
benden betreffs Verteilung seiner irdischen Güter nach seinem Tode.
2. Besser: besitzt ihn ung et eilt. 3. Schimmel, eigentlich Grauschimmel.
4. Hier fehlt Subjekt und Prädikat: Der Esel bekam oder empfing
5. Eigentlich wird mit dem Worte Gaul nur das Pferd bezeichnet. 6. Man
wird dich durch Schlagen mit einem Knüttel fleißiger machen. 7. mit
dürrem Gaum, will hier sagen: mit leerem Magen. 8. Der erste Bruder
zwingt den Esel durch Schläge zu fortwährendem Traben von früh bis
in die Nacht; der zweite durch Knüttelhiebe zum Tragen schwerer Lasten,
die seine Kräfte weit übersteigen; der dritte endlich fügt zu Quälerei
und Schlägen noch Hohn und Spott. Dem armen Tier sein verdientes
Futter zu geben, daran denkt keiner der Unbarmherzigen. 9. Eine Esels-
haut mag wohl 6 Mark wert sein, macht also für jeden Bruder 2 Mark.
Bei gutem Futter hingegen brachte der Esel als Zug- oder Lasttier jedem
Bruder wöchentlich zweimal 2 Mark, also jährlich 200 Mark. Die waren
nun dahin! So geht's oft den Kurzsichtigen und Hartherzigen.
Äsop: Der alte Löwe.
5
II. Vertiefung. 1. Charakter der drei Brüder. 3) Sie waren
arm, denn der Vater hinterließ jedem nur ein Drittel von einem Esel,
b) Sie waren gewissenlos und ungehorsam, denn sie erfüllten
nicht den letzten Willen ihres verstorbenen Vaters, e) Sie waren eigen-
nützig und ungerecht. Den Nutzen wollten sie wohl haben, aber ihren
Verpflichtungen kamen sie nicht nach, ä) Sie waren geizig itnb hart-
herzig, denn sie gaben dem Esel nicht das wohlverdiente Futter, e) Sie
waren roh und unbarmherzig. Sie zwangen das arme Tier zum
fortwährenden Traben, luden ihm zu schwere Lasten auf, gönnten ihm
nicht die nötige Ruhe, schlugen ihn mit Knütteln und versagten ihm jeg-
liche Nahrung, k) Sie waren kurzsichtig und töricht; denn hätten
sie den Esel gehörig gefüttert, so hätten sie einen hundertfach größeren
Nutzen davon gehabt, als ihnen nun das abgezogene "Fell einbrachte.
2. Grundgedanke: Wer Rechte übernimmt, muß auch die
Pflichten erfüllen.
3. Verwandtes. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Wie die
Arbeit, so das Futter. Der Unbarmherzige verlangt Elefantenarbeit und
gibt Mückenfutter. Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul
verbinden. — Mit Füttern wird keine Zeit verloren.
4. Übertragung auf menschlicheVerhältnisse. Herren, die
ihre Mitmenschen in Dienst nehmen, sollen nicht nur deren Kräfte zu
ihrem Nutzen anwenden, sondern ihnen auch einen solchen Lohn geben,
der zu ihres Lebens Nahrung und Notdurft ausreichend ist. Jak. 5, 4:
Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben, und der von
euch abgebrochen ist, schreiet usw.
III. Verwertung. Rede- und Stilübung. 1. Zeichne ein Cha-
rakterbild der drei Brüder (s. unter II)! 2. Weise nach, daß der sterbende
Vater ein armer Erblasser, die harten Söhne aber habgierige Erben
und bestrafte Tierquäler waren! R. D.
3. Der alte Löwe.
Nach Äsop. Vgl. K. Simrock, Äsops Fabeln. Frankfurt a. M. S. 70.
Ein alter Löwe, der von jeher sehr grausam gewesen war7), lag kraftlos
vor seiner Höhle und erwartete den Tod. Die Tiere, welche sonst in Schrecken
gerieten, bedauerten ihn nicht; denn wer betrübt sich wohl über den Tod eines
Friedensstörers, vor dem man nie ruhig und sicher sein kann? Sie freuten sich
vielmehr, daß sie nun bald seiner los sein würden.2) Einige von ihnen, die
noch immer das Unrecht schmerzte, welches er ihnen ehedem3) angetan hatte,
wollten nun ihren Haß an ihm auslassen. 4) Der arglistige Fuchs kränkte ihn
mit beißenden Reden; der Wolf sagte ihm die ärgsten Schimpfwortes; der
Ochs stieß ihn mit seinen Hörnern; das wilde Schwein verwundete ihn mit
seinen Hauern, und selbst der träge Esel gab ihm einen Schlag mit seinem
Hufe. ch Das edle Pferd allein stand dabei und tat ihm nichts, obgleich der
Löwe seine Mutter zerrissen hatte.7) „Willst du nicht," fragte der Esel, „dem
Löwen auch eins hinter die Ohren geben?" Das Pferd antwortete: „Ich halte
es für niederträchtig, mich an einem Feinde zu rächen, der mir nicht mehr
schaden kann."ch
6
I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
1. Vermittlung. 1. Ein bejahrter Löwe, der vielen Tieren den
Garaus gemacht hatte, lag im Sterben. Er hatte mit den pflanzen-
fressenden Tieren in einem berechtigten Kriege gelebt, denn er ist von der
Natur angewiesen, sich von solchen Tieren zu nähren, sie also zu töten.
2. Seiner los, alter Genetiv statt des jetzt gebräuchlichen Akkusativs
„ihn los". 3. ehedem = früher. 4. Haß an ihm aus lassen, d. h.
den lange im Innern verschlossenen Haß herauslassen, um ihn als Rache
zu betätigen. 5. Das konnte nicht fehlen, daß die gemeine und niedrige
Handlungsiveise von denen ausging, die im Tierreich von jeher am übelsten
beleumundet waren, vom Fuchs und Wolf; diesen hatte er nicht einmal
etwas zuleide getan, wohl aber oft Gutes erzeigt, indem er ihnen die
Überreste seiner Mahlzeit überließ. 6. Dahingegen hatten Rind, Wild-
schwein und Esel'Ursache zur Klage, denn viele der Ihrigen waren von
dem Löwen getötet und verzehrt worden. Ihr Rachegefühl trieb sie zu
ihrer niedrigen Handlungsweise an, während Wolf und Fuchs sich nur
von Neid und Mißgunst leiten ließen. 7. Obschon das Pferd denselben
Grund zum Hasse gegen den Löwen hatte wie Rind, Schwein und Esel,
so tat es doch dem sterbenden Löwen kein Leid. 8. Durch seine Antwort
und seine großmütige Handlungsweise bekundet das Pferd einen vor-
nehmen, ritterlichen Sinn.
II. Vertiefung. 1. Grundgedanke: Nur der Niederträchtige rächt
sich an einem Feinde, der ihm nicht mehr schaden kann.
2. Sprüche der Hl. Schrift. Röm 12, 19—21: Rächet euch
selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes; denn
es stehet geschrieben: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der
Herr." Matth. 5, 44: Liebet eure Feinde' usw.
3. Nennet Beispiele von Rache aus der bibl. Geschichte,
a) Kain. 1. Mos. 4. b) Ahab. 1. Könige 21. c) Die Brüder Josephs.
1. Mos. 37. ä) Pharao. 2. Mos. 1, 11—22 usw.
4. Verwandtes, a) Der Derwisch, der seinem Feinde einen
Stein in der Tasche nachtrug, b) Geßler wollte sich an Tell rächen,
e) Johann Parricidas Rache an seinem Oheim Kaiser Albrecht, ä) Kunz
von Kaufungen und der Prinzenraub.
5. Beispiele zu dem edelmütigen Verhalten des Pfer-
des: a) David in der Höhle schneidet den Zipfel von König Sauls Rocke
und nimmt von dem schlafenden Könige in der Wagenburg nur Spieß
und Wasserbecher, b) Die „halbgefüllte Flasche" von Müllenhof.
Ein Soldat auf Feldwache will einem zum Tode verwundeten Feinde auf
dessen Hilferuf zu trinken geben. Heimtückisch drückt der Sterbende sein
Pistol auf den Nahenden ab Und — fehlt ihn. Der Soldat trinkt nun
seine Flasche Wein selbst halb aus und gibt trotz der Tücke die andere
Hälfte dem Verschmachtenden mit den Worten: „Da, du Elender, nun
erhältst du nur die Hälfte des Weines." e) Liebet eure Feinde! Er-
zählung von Sluymer: Die Cholera in Rußland. 6) Hocherhaben über
allem: Das Beispiel unseres Heilandes!
Lessing: Der Rabe und der Fuchs.
7
III. Verwertung. 1. Mahnung für Herz und Leben. Da Äsop
von der Feindesliebe nichts wußte, so fehlt auch in der ursprünglichen
Fassung der Fabel das Pferd und sein edelmütiges Verhalten. Äsop will
nur darlegen, daß dem Löwen recht geschehen sei, denn er beginnt die
Erzählung der Fabel mit der Lehre: „Wer die Gewalt verloren
hat, der soll auch seinen Hochmut einlegen, damit er nicht
allmänniglich beschädigt werde", und schließt mit den Worten:
Diese Fabel warnt und lehrt die Gewaltigen, daß sie ihre
Macht mit Sanftmut und Güte gebrauchen, damit nicht
einst, wenn ihre Gewalt dahin ist, Rache über sie ergehe.
Beweis: Die Klage des Löwen in der ursprünglichen Fassung der
Äsopschen Fabel: „Dieweil ich bei Kräften war, lebte ich in hohen Ehren;
alle Tiere fürchteten sich vor mir; jedermann erschrak, wenn er mein
gedachte. Ich bin auch gegen viele gütig gewesen, die ich nicht verletzt,
sondern ihnen Hilfe erzeigt habe. Doch sind, nun alle wider mich er-
bittert, und wie meine Kraft und Gewalt dahin ist, so ist auch zugleich
meine Ehre vergangen." (K. Simrock. Äsops Leben und Fabeln. Frank-
furt a. M. S. 70.) Lehre und Mahnung nach der vorliegenden
Fassung der Fabel: a) Rächet euch nicht an eurem Feinde, der An-
sehen, Macht und Gewalt verloren hat! b) Liebet eure Feinde!
2. Rede- und Stil Übung. 1) Vergleich: Der Löwe einst und
jetzt. (Kräftig — kraftlos; gefürchtet und gemieden — zum Spott be-
sucht und beschimpft; grausam — ohnmächtig, sich auch nur zu wehren.)
2) Vergleichung mit der Erzählung Sluymers: „Liebet eure
Feinde." Nach einer wahren Begebenheit (Dietleins Lesebuch. Ausg. A.
Nr. 35): „In einem Walde des westlichen Rußlands lebten" usw. *).
An dieser Dichtung ist den Schülern recht klar darzulegen: a) Die mensch-
liche Rache in ihrer gräßlichen Gestalt. Grund der Rache. Ausführung
derselben usw. b) Die Feindesliebe in ihrer herrlichsten, echt christlichen
Entfaltung, o) Die Frucht der Feindesliebe: aa) Reue und Buße, db) Ver-
söhnung und Liebe, eo) Rückkehr zu Gott. R. D.
6. Der Rabe und der Fuchs.
Gotthold Ephraim Lessing. Fabeln. Berlin (Voß) 1759. S. 53.
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes 4) Fleisch, das der erzürnte2) Gärtner
für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hattet), in seinen Klauen fort.4)
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs
herbeischlichb) und ihm zurieft): „Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!"?)
„„ Für wen siehst du mich an?"" fragte der Rabe. „Für wen ich dich ansehe?"
erwiderte der Fuchs. „Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der
Rechten des Zeus auf diese Eiche herabkommt,mich Armen zu speisen? Warum
verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte
Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"8)
*) Eine sehr ausführliche Behandlung dieses Lesestücks gibt Rektor Fr.
Otto in seiner Anleitung: „Das Lesebuch als Grundlage und Mittelpunkt des
deutschen Sprachunterrichts." Erfurt und Langensalza 1846. S. 129—161.
8
I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu
werden. „Ich muß", dachte er, „den Fuchs aus diesem Irrtum nicht bringen."
Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz
davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude.
Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl: das Gift
fing an zu wirken und — er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte^)
Schmeichler!
I. Vorbereitung und Vermittlung. Es war einer jener kalten Winter-
tage, wo der Schnee mit seiner weißen Decke alles eingehüllt hatte und
die armen Vögel in Feld und Wald kein Würmlein und kein Körnlein
fanden und daher gar argen Hunger erleiden mußten, und wo die Krähen,
Raben, Haubenlerchen und andere Vögel, aller Scheu und Furcht vor
den Menschen bar, bis in deren Gärten und Höfe kamen, nur ein Körn-
lein, einen Knochen oder sonst etwas Eßbares zu ergattern. Da kam auch
unser Rabe in den Garten eines Gärtners, und was sich daselbst zu-
getragen, das erzählt uns Lessing in folgender Fabel. (Vorlesen.) 1. Das
Fleisch war nicht an sich giftig, sondern zu einem bestimmten Zwecke
mit Gift versehen worden. 2. Nicht zornig, leidenschaftlich auf-
brausend, war der Gärtner, sondern erzürnt, unwillig, aufgebracht,
entrüstet, weshalb er auch das Fleisch nicht hingelegt, sondern hin-
geworfen hatte. 3. Warum hatte er dies getan? Wahrscheinlich ver-
ursachten ihm die Katzen großen Schaden. Im Sommer zerkratzten sie
ihm seine Blumenbeete, wälzten sich in den Pflanzeubüschen umher,
nahmen die Nester der Singvögel aus, und im Winter gerieten sie nicht
selten in seine Gewächshäuser, stießen ihm die Blumentöpfe um und
knickten ihm seltene Pflanzen ab. 4. Warum trug der Rabe das Fleisch
fort? Weil er im Garten, wo er jeden Augenblick Störung und Ver-
folgung zu befürchten hatte, es nicht in Ruhe verzehren konnte. Ein Dieb
flüchtet stets, sobald er das unrechte Gut erbeutet hat. Warum trug er's
mit den Klauen und nicht mit dem Schnabel fort? Weil es nicht
in der Absicht des Fabeldichters lag, den Raben zu vergiften, was sonst
geschehen wäre. 5. Warum schlich sich der Fuchs herbei? Um den
Raben, der ihn fürchtet, nicht zu verscheuchen. 6. Warum floh der Rabe
nicht bei der Ansprache des Fuchses? Weil der freundliche, schmeichelnde
Ton ihm alle Furcht benahm und die Schmeichelreden ihm gefielen.
7. I u p i t e r war der oberste Gott der Römer. Er wurde von den Griechen
Zeus genannt. Der symbolische Vogel des Jupiter war der Adler, der
König der Vögel. 8. Diese Worte wollen sagen: Ich halte dich für einen
Götterboten und für meinen besonderen Wohltäter. 9. Der Dichter Lessing,
zu dessen eigentümlichem Wesen deutsche Gradheit und eine gewisse Derb-
heit gehörte, nennt die Dinge beim richtigen Namen: v e r r e ckt e statt starb,
und 10. verdammte statt: ihr verächtlichen, nichtswürdigen Schmeichler.
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts, a) Der unred-
liche Erwerb des Fleisches durch den Raben, b) Die groben Schmeicheleien
des Fuchses, e) Das Erstaunen und die Freude des Raben über die
Lessing: Der Rabe und der Fuchs.
9
Schmeicheleien des Fuchses, ä) Des Raben Dummheit und Großmut,
e) Der Genuß des erschmeichelten Fleisches und seine Wirkung, f) Wunsch
des Fabeldichters.
2. Kernfragen, a) Warum nennt der Fabeldichter den Jupiter
oder Zeus in seiner Dichtung? Weil es im vorigen Jahrhundert,all-
gemeine Sitte der Dichter war, die alten Götter der Griechen und Römer-
in ihre Dichtungen zu verweben, b) Worin bestand die Schmeichelei des
Fuchses? aa) Er legt dem Raben eine viel höhere Würde bei, gibt ihm
einen höheren Titel, als ihm gebührt, bb) Er spricht von Vorzügen des
Raben, die dieser nicht hat, und spricht ihm edle Gesinnungen und Hand-
lungen zu, die der Rabe nie gekannt und geübt, cc) Er spricht ganz anders,
als er denkt, o) Warum schmeichelt der Fuchs dem Raben? d) Worüber
freute sich der Rabe? s) Welchen Entschluß bewirkten die Schmeicheleien
des Fuchses in dein Raben? f) Auf wessen Seite war der Irrtum?
g) Weise nach, daß der Rabe dumm war! Er hielt die groben Schmeiche-
leien für Wahrheit und merkte nicht, daß der Fuchs ihn täuschen und
betrügen wollte, h) Weise nach, daß er großmütig war! Er spendete
dem Fuchse, der sein natürlicher Feind war, die Gabe, die für ihn selbst
von hohem Werte war. i) Wovon zeugte das stolze Davonfliegen des
Raben? Von seiner Dummheit, daß er wähnte, den Fuchs täuschen zu
können, und von seiner Empfänglichkeit für grobe Schmeicheleien, k) War-
. um nennt der Dichter die Freude des Fuchses eine boshafte? Weil
sie eine Schadenfreude war und diese immer etwas Böses ist. I) Welches
waren die Wirkungen des Giftes? Verkehrung der Freude in Leid, große
Schmerzen und der Tod.
3. Verwandtes. Nenne Personen in der Hl. Schrift, die andere
täuschen wollten! a) Jakob seinen Vater, um seinen Segen zu erschleichen,
b) Laban den Jakob, c) Simson die Delila und ci) Judas Jschariot
den Herrn durch einen Kuß.
4. Grundgedanke: Jeder Schmeichler will andere täuschen,
um sie sich geneigt und willfährig zu machen, von ihnen Vorteile zu er-
ringen und sie schließlich zu betrügen.
III. Verwertung. 1. Mahnung: a) Sei kein Schmeichler und
Heuchler! Sei wahr und aufrichtig! b) Schadenfreude sei deinem Herzen
stets fern und fremd! c) Die groben Schmeicheleien anderer
anzunehmen und ihnen gar Glauben beizumessen, ist eben-
so lächerlich und töricht, als es verwerflich ist, solche an-
dern zu sagen.
2. Mündliche und schriftliche Aufgaben. (Nach Fr. Otto,
Das Lesebuch als Grundlage und Mittelpunkt des Unterrichts in der
Muttersprache. 2. Ausl. Erfurt 1846. S. 44.) a) Schildere das Ver-
fahren des Schmeichlers und gib dabei zunächst dessen Absicht an! Der
Schmeichler sucht die Gunst eines andern zu gewinnen oder sich selbst in
ein günstiges Licht zu stellen, um zu täuschen, und zugleich, um daraus
Vorteil zu ziehen. In solcher Absicht begrüßt er den andern stets mit
außerordentlicher Freundlichkeit, wählt den mildesten Klang seiner Stimme
10 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
und legt ihm dabei höhere Titel und Würden bei. Er spricht von Emp-
findungen gegen den anderen, von denen sein Herz nichts weiß. Er lobt
Vorzüge an ihm, die jener nicht hat. Er schreibt ihm Rechte zu, auf die
der andere keinen Anspruch hat. Er wirft sich zum Bewunderer des
andern auf und stellt ihn hoch über sich.
b) Vergleichung dieser Fabel mit der von dem Fuchs und den
Weintrauben aus Band I, Nr. 119. (Eine ausführliche Vergleichung
siehe ebenfalls in dem genannten Werke von Fr. Otto, S. 45!)
o) Wofür und wie wurde 1. der Rabe, 2. der Fuchs bestraft?
R. D.
7. Der Wolf, der Fuchs und der Kranich.
Nach Äsop. Äsops Fabeln. K. Simrock. Frankfurt a. M. o. I. S. 46.
Der Wolf verzehrte ein geraubtes Kalb mit großer Begierde. Da sagte
zu ihm der Fuchs, der dazu kam: „Oheim, du schlingst zu gierig; du wirst dir
den Magen verderben." Der Wolf aber kehrte sich nicht daran und fraß, was
er konnte. Auf einmal blieb ihm ein Knochen im Halse stecken; da konnte er
nicht weiter und fing an zu schreien und zu bitten: „Vetter Fuchs, schaffe mir
Hilfe, oder ich sterbe!" Der Fuchs dachte zwar: „Warum frißt du so viel!"
Er ging aber doch hin und holte den Kranich, der weit und breit als geschickter
Wundarzt bekannt war. Der Kranich kam, setzte sich die Brille aus und schaute
dem Wolfe in den Rachen. Dann steckte er den langen Schnabel tief hinein,
zog den Knochen geschickt heraus und verordnete, wie der Wolf sich weiter
verhalten sollte. Nach etlichen Monaten, als der Wolf wieder besser war, ver-
langte der Kranich von ihm den Lohn für seine Bemühung. Der Wolf rief: ,
„Das ist ja unverschämt von dir, daß du noch eine Belohnung verlangst. Dein
Schnabel steckte tief in meinem Nachen, und ich konnte dich damals töten; ich
schenkte dir aber das Leben, und du bist noch nicht zufrieden? Ich werde dich
noch jetzt auffressen, wenn du nicht machst, daß du fortkommst!" — „Ist das
wohl recht?" sagte der Kranich zu dem Fuchse, der ihn gerufen hatte. „Ja!"
sagte der Fuchs, „Undank ist der Welt Lohn."
1. Vermittlung. Gliederung des Inhalts: 1. Das gierige
Fressen des Wolfes. 2. Die Warnung des Fuchses. 3. Verachtung der
freundschaftlichen Mahnung. 4. Das Unglück des Wolfes tritt ein. 5. Klage
und Bitte des Wolfes um Hilfe. 6. Der Fuchs ruft den Kranich als
Wundarzt herbei. 7. Der Kranich rettet durch seine Geschicklichkeit den
Wolf vom Tode. 8. Der Kranich mahnt den Wolf um seinen Lohn.
9. Verweigerung des Lohnes und schnöde Abweisung. 10. Der Wolf stellt
sich sogar als größerer Wohltäter des Kranichs dar. 11. Drohung
des Wolfes, seinen Wohltäter nachträglich noch zu töten. 12. Der
Kranich klagt dem Fuchse seine Not. 13. Zustimmung des Fuchses und
Begründung des Unrechts durch ein Sprichwort.
Andere Gliederung: 1. Der gierige Fresser. 2. Der wohlmeinende
Warner. 3. Der geschickte Arzt. 4. Der undankbare Patient.
II. Vertiefung. 1. Hauptgedanke: Undank ist der Welt
Lohn.
2. Nachweis im allgemeinen: a) Gott selbst klagt über den
Undank Israels Jes. 1, V. 2 und 3. b) Der Heiland klagt über den
Undank der Neun, die er von dem schrecklichen Aussatze geheilt hatte,
c) Tausende von Eltern klagen über den Undank ihrer Kinder, ä) Hunderte
Lessing: Zeus und das Pferd.
11
von Lehrern über undankbare Schüler, s) Wohltäter über den Undank
der Armen und Unglücklichen, die sie vom Hunger und Kummer errettet
haben.
3. Die Wahrheit dieses Sprichworts haben erfahren: a) Ar-
min, der Befreier Deutschlands, b) Belisar und Narses. e) Kolumbus,
der Entdecker Amerikas, ä) Dankelmann, Minister des Kurfürsten Fried-
richs III. von Brandenburg, e) Friedrich der Große von Voltaire.
I) Wallenstein vom Kaiser Ferdinand von Österreich, g) Gutenberg, der
Erfinder der Buchdruckerkunst, von Fust und Schösser u. v. a.
4. In welchen zwei andern Punkten verdient das Verhalten
des Wolfes harten Tadel? a) Dr. M. Luther erzählt die Fabel
so: „Der Wolf erbot sich, groß Lohn und Geschenk zu geben, wer ihm
hülfe." Der Kranich half — und vergessen war Versprechen und Ge-
lübde. Nicht besser handeln gar viele Menschen. In Not und Unglück
hinken sie zu Gott, bitten, flehen und schreien um Hilfe; danach im Glücke
aber laufen sie von Gott dem Herrn gar bald wieder davon, d) Die
ärgste Verstellung des Wolfes ist die: E r st e l l t si ch so g a r a l s W o h l-
täter des Kranichs dar und meint, daß die dem Kranich erwiesene
Wohltat, Schenkung des Lebens, größer sei als die von ihm empfangene
Befreiung von dem Knochen.
III. Verwertung. 1. Lehre und Mahnung, a) Ein jeder Mensch
prüfe sich, ob das Sprichwort: „Undank ist der Welt Lohn!" nicht auch
auf ihn Anwendung findet, b) Härlin sagt in seinem: „Sprichwort
und Gottes Wort" unter anderm folgendes: „Wie nun, mein Freund,
der du über den Undank der Welt klagst und die Hände sinken lassen
willst und dein Herz verschließen gegen die Not des Nächsten: trifft dich
nicht vielleicht auch die Klage des Herrn? Bist du nicht auch schon an
den Werken des Herrn vorübergegangen, ohne sie zu preisen? Hast du
nicht seine Wohltaten an Leib und Seele genossen, ohne ihm zu danken?
Und doch lässet er alle Tage seine Sonne über dir aufgehen und gibt
dir die tägliche Nahrung des Leibes und lässet dir das Brot des Lebens
in seinem Worte anbieten. Wohlan denn, beweise dich als ein Kind
deines himmlischen Vaters, sei dankbar gegen ihn und laß dich durch
den Undank der Welt nicht abhalten, Gutes zu tun, wo dir der
Herr eine Gelegenheit dazu anbietet!"
2. Rede- und Stil Übungen, a) Der Kranich erzählt die Ge-
schichte. b) Inhaltsangabe in vollständigen Sätzen nach I! e) Weise die
Wahrheit des Sprichwortes aus der biblischen und vaterländischen Ge-
schichte nach! R. D.
8. Zeus und das Pferd.
Gotthold Ephraim Lessing. Fabeln, Berlin 1759. S. 8.
„Vater der Tiere und Menschen," so sprach das Pferd und nahte sich dem
Throne des Zeus4), „man will?), ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit
du die Welt geziert hast, und meine Eigenliebe heißt mich es glauben?) Aber
sollte gleichwohl nicht noch verschiedenes an mir zu bessern fein?"4) — „Und
was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede, ich nehme Lehre an!"
12 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
sprach der gute Gott und lächelte.5) „Vielleicht ch," sprach das Pferd weiter,
„würde ich flüchtiger fein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären;
ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; eine breite Brust würde
meine Stärke vermehren, und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen
Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel aner-
schaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt."
„Gut," versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblick!" Zeus mit ernstem
Gesicht sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub; da
verband sich organisierter Stoff, und plötzlich stand vor dem Throne — das
häßliche Kamel. Z — Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem
Abscheu, s) — „Hier sind höhere und schmächtigere Beine", sprach Zeus; „hier
ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der aner-
schafsene Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll?" — Das
Pferd zitterte noch. — „Geh!" fuhr Zeus fort; „diesmal sei belehrt, ohne be-
straft zu werden. Dich aber deiner Vermessenheit dann und wann reuend zu
erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf!" — Zeus warf einen erhaltenden
Blick auf das Kamel, — „und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern!"^)
I. Vermittlung. 1. Lessing liebt es, die Stoffe zu seinen Fabeln
ans Schriftstellern des klassischen Altertums zu entlehnen. So auch hier.
Zeus, der oberste Gott der Griechen (bei den Römern Jupiter), ist von
den Schülern hier überall mit Schöpfer zu übersetzen. 2. Man sagt,
meint, behauptet usw. 3. Meiner Eigenliebe zufolge glaube ich es selbst.
4. Obgleich das Pferd selbstgefällig sich für eins der schönsten Geschöpfe
hält, so ist es dennoch nicht ganz zufrieden. Es stellt in Frage, ob nicht
doch so manches an ihm zu verbessern, zu verschönern wäre. So kommt's
gar oft; das Geschöpf meistert den Schöpfer, und Menschen wollen es
oft besser wissen, ja selbst besser machen können (Witterung; Schulze
Hoppe) als Gott der Herr. 5. Gott geht auf die Verbesserungsvorschläge
ein und lächelt, — weil er längst weiß, daß das Pferd Unsinniges er-
bitten wird. 6. Das Pferd scheint dies im voraus zu fühlen, denn sss
spricht seine Verfchönerungsvorschläge nur in der bedingten Rede-
weise aus. 7. Das Zwiegespräch zwischen Schöpfer und Pferd wird hier
durch eine Handlung, durch eine Schöpfertat des ersteren, unterbrochen.
Das Wort der Schöpfung heißt: Werde! Und das nach der eigenen An-
gabe verschönerte Pferd stand da — als häßliches Kamel. 8. Das Partizip
„entsetzend" ist nicht von dem Verbum „sich entsetzen", sondern von
dem Transitivum „entsetzen" gebildet, und das bedeutet „aus dem Sitz,
der Ruhe in Unruhe setzen, in Furcht und Schrecken jagen". 9. Als Strafe
für die Vermessenheit des Pferdes: „es besser als der Schöpfer wissen
und machen zu können", gebot der Herr die Fortdauer des Kamels zur
reuenden Erinnerung des Pferdes und schuf in dem Pferde einen fort-
dauernden Abscheu (Antipathie) gegen das Kamel.
II. Vertiefung. Gliederung des Inhalts.
A. Das eitle Geschöpf ist nicht zufrieden:
1. Es meint, daß noch verschiedenes an ihm zu bessern sei.
2. Es wird deshalb bei dem Schöpfer vorstellig.
3. Bedingungsweise spricht es vier Bitten aus:
a) Mit höheren und schmächtigeren Beinen würde ich flüchtiger sein.
Lessing: Der Rangstreit der Tiere.
13
b) Ein Langer Schwanenhals würde mir zur Zierde gereichen, c) Eine
breitere Brust würde meine Stärke vermehren, d) Ein Sattel könnte
anerschaffen werden. +
B. Der geduldige Schöpfer zeigt sich den Vorstellungen
des Pferdes geneigt.
1. Frage nach den Verbesserungen. 2. Anhörung der vier Wünsche.
3. Verwirklichung derselben durch Erschaffung eines danach verbesserten
Pferdes — des häßlichen Kamels.
C. Das bestrafte Geschöpf bereut seine Bitten.
1. Das Pferd schaudert und zittert vor Entsetzen und Abscheu. 2. Es
ist verstummt und kann die noch einmal wiederholte Frage des Schöpfers:
„Willst du, daß ich dich also umbilden soll?" nicht beantworten. 3. Das
Kamel dauert fort zur Erinnerung des Pferdes an seine Vermessenheit.
4. Das Pferd empfindet für alle Zeiten Schauder und Entsetzen beim An-
blick des Kamels.
III. Verwertung. 1. Mahnung für Herz und Leben.
1. Sei stets mit den erhaltenen Gaben deines Schöpfers zufrieden!
2. Wolle nie etwas besser wissen oder gar besser machen können als dein
Schöpfer! 3. Meistere nie das Tun oder Werk deines Gottes! 4. Wisse,
daß du gleich dem Pferde oft mit Entsetzen und Abscheu erfüllt sein
würdest, falls Gott deine Bitten um irdische Güter immer erhörte!
2. Rede-und Stilübung: a) Warum hat das Pferd Abscheu
vor dem Kamel? b) Wie meistert das Geschöpf den Schöpfer? o) Wie
zeigt sich die Torheit des Geschöpfs und die Weisheit des Schöpfers?
R. D.
9. Der Rangstreit der Tiere.
Gotthold Ephraim Lessing. Fabeln. Berlin 1759. S. 83.
1. Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. „Ihn zu schlich-
ten," sprach das Pferd, „lasset uns den Menschen zu Rate ziehen; er ist keiner
von den streitenden Teilen und kann, deshalb unparteiischer sein." — „Aber
hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maulwurf hören. „Er braucht
wirklich den allerfeinsten, unsere oft tiefversteckten Vollkommenheiten zu er-
kennen." — „Das war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster. — „Ja
wohl!" rief auch der Igel. „Ich glaub' es nimmermehr, daß der Mensch
Scharfsichtigkeit genug besitzt." — „Schweigt ihr!" befahl das Pferd. „Wir
wissen es schon: wer sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen
hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen."
2. Der Mensch ward 'Richter. — „Noch ein Wort," rief ihm der ma-
jestätische Löwe zu, „bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch,
. willst du unsern Wert bestimmen?" — „Nach welcher Regel? Nach dem
Grade ohne Zweifel," antwortete der Mensch, „in welchem ihr mehr oder
weniger nützlich seid." — „Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. „Wie
weit würde ich da unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter
nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!"
3. Der Mensch entfernte sich. — „Nun?" sprach der höhnische Maul-
wurf — und ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder bei, — „siehst
du, Pferd, der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein
kann. Der Löwe denkt wie wir." — „Aber aus bessern Gründen als ihr!"
sagte der Löwe und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu.
14 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
4. Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es recht über-
lege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für
den Geringsten; es gilt mir gleich viel. Genug, ich kenne mich!" — Und so
ging er aus der Versammlung. Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger,
der ernsthafte Bär, der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz alle, die ihren Wert
fühlten oder zu fühlen glaubten. — Die sich am letzten wegbegaben und über
die zerrissene Versammlung am meisten murrten, waren — der Affe und
der Esel.
I. Vermittlung. 1. Rang = Reihe, Ordnung, Platz nach Stand,
Ansehen und Würde. Nach Dr. Weigand zuerst nhd. zum Ende des
17. Jahrh, ans dem Französischen: der rang, das wiederum aus dem
ahd. hrinc, ring — Kreis, Reihe sich gebildet hat. 2. hitziger — hef-
tiger, leidenschaftlicher. 3. schlichten — beilegen, ausgleichen. 4. oft
unsere tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen. Lessing
hat in glücklicher Vorahnung der fortschreitenden Erkenntnis diese Worte
dem Maulwurf in den Mund gelegt. Die Naturgeschichte jener Tage
erkannte in dem Maulwurfe nur ein schädliches Tier, das von den Wurzeln
der Pflanzen lebte und diese dadurch arg schädigte. Erst durch neuere
Naturforscher und durch Peter Hebels populäre Darstellung sind die
tiefversteckten Vollkommenheiten des Maulwurfs und sein
Nutzen als insektenfressender Feld- und Gartenhüter ans Licht gebracht.
Ähnlich verhält es sich mit dem Igel. Er galt damals für ein
ziemlich nutz-, aber auch schadloses Tier, während jetzt sein segensreiches
Schalten und Walten im Haushalte der Natur allgemein anerkannt wird.
5. Nur der Hamster gilt heute noch für denselben unersättlichen
Getreideräuber wie damals. 6. Ausspruch des Pferdes: Wir wissen es
schon, wer ein böses Gewissen hat, ist am fertigsten, am schnellsten
bei der Hand, das Urteil seines Richters in Zweifel zu ziehen =
zu bemängeln, zu verwerfen. 7. Nach dem Grade, in welchem ihr mehr
oder weniger nützlich seid. Lessing spricht hiermit nicht von dem Nutzen,
den die Tiere dem Menschen gewähren (sonst würde er das Wörtchen
„mir" hinzugefügt haben), sondern von dem Nutzen im allgemeinen,
den die Tiere im Haushalte der Natur bringen. Der Fabeldichter stellt
absichtlich nur einen einseitigen Maßstab für die Wertschätzung der Tiere
auf, damit die Tiere denselben verwerfen und die Versammlung unmög-
lich machen sollen. Hätte er zu dem einen Maßstabe noch folgende vier:
Größe, Stärke, Schönheit und Verstand hinzugefügt, so würde das
Schiedsgericht angenommen worden sein.
8. Der majestätische = königliche Löwe. 9. Nach welcher Regel
— Maßstab. 10. Aus bessern — triftigeren und edleren Gründen,
als ihr habt. 11. Nichtswürdiger Streit — unnützer der
nichts wert ist und sich um eine Sache dreht, die überhaupt nicht genau
bestimmt werden kann. 12. Die Fabel ist wie alle übrigen nicht um der
Tiere, sondern um der Menschen willen geschrieben worden. Die Eigen-
schaftswörter, welche den Tieren hier beigelegt werden: majestätischer
Löwe, kühner Tiger, kluger Fuchs usw. bezeichnen zugleich die Men-
schen, welche in der Fabel gemeint sind. 13. Der Affe und der Esel
Lessing: Der Rangstreit der Tiere.
15
murrten am meisten = wurden als die geringsten bezeichnet, der erstere
wegen seiner Gehässigkeit und Nachahmungssucht, der andere wegen seiner
Trägheit und — Dummheit.
II. Vertiefung. A. Gedanken gang (nach Dr. W. Berger) *).
1. Ernennung des Schiedsrichters.
a) Das Pferd schlägt den Menschen zum Schiedsrichter vor, weil er
nicht zu den streitenden Tieren gehört und daher unparteiisch ist.
d) Maulwurf, Igel und Hamster bezweifeln und bemängeln des Men-
schen Befähigung zur richtigen Entscheidung.
c) Das Pferd bekämpft diese Zweifel. Wer sich nicht auf die Güte
seiner Sache und sein wohlbegründetes Recht berufen kann, bestreitet die
Einsicht des Richters.
2. Maßstab des Schiedsrichters.
a) Der Löwe will wissen, nach welcher Regel, nach welchem Maß-
stabe der Mensch den Wert und Rang der Tiere bestimmen will.
b) Der Mensch will nach dem Grade des Nutzens urteilen, den ein
jedes Tier hat.
o) Der Löwe lehnt das Schiedsgericht des Menschen ab, weil er
fürchtet, dem Esel nachgestellt zu werden.
3. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es doch nicht iinmer
gleich.
a) Maulwurf, Hamster und Igel freuen sich der Übereinstimmung
des Löwen mit ihrer Ansicht.
b) Der Löwe, der sich dadurch beleidigt fühlt, weist die Gemeinschaft
mit solchen Tieren zurück.
4. Das eigene, wohlbegründete Betvußtsein bestimmt
unsern Wert.
a) Der Löwe, im Bewußtsein seines Wertes, erklärt, die Meinung
der Welt sei ihm gleichgültig.
b) Dieselbe Ansicht geben alle die Tiere kund, welche fühlten oder
zu fühlen glaubten, daß sie Anspruch auf eigene Wertschätzung hatten.
e) Nur der Affe und der Esel sind mit der hierdurch bewirkten Auf-
lösung der Versammlung unzufrieden.
B. Hauptgedanken: a) Der Rangstreit ist bei klarer Überlegung
ein ganz unnützer Streit, d) Nur Eitelkeit, Vorurteile und Dummheit
geben Veranlassung zu Rangstreitigkeiten, c) Die Menschen werden in
ihrer gegenseitigen Wertschätzung oftmals nur von selbstsüchtigen Gründen
geleitet und legen auf äußere, sehr zweifelhafte Güter hierbei das meiste
Gewicht, z. B. aus Reichtum, Geburt, Adel, Gelehrsamkeit usw. ä) Wer
sich selbst und seinen Wert ehrlich erkannt hat, mag unbekümmert das
Urteil der Welt über sich ergehen lassen.
III. Verwertung. 1. Erzähle die Fabel möglichst wortgetreu! 2. Jedes
der in der Fabel erwähnten Tiere soll seine Vorzüge nennen. R. D.
*) Siehe dessen vortreffliche Erläuterung zum Badenschen Volksschul-
lesebuche III. T., S. 249.
16 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
10. A. Der Regen.
Christoph v. Schmid. Kurze Erzählungen. München 1872. S. 5.
I. Vorbereitung und Vorlesen. Als der Kinderfreund Christoph
v. Schmid seine Erzählungen für die Jugend niederschrieb, du fuhren die
Kaufleute und insbesondere die Handlungsreisenden noch nicht wie heute
in eleganten Kutschen, sondern sie hielten sich ein Reitpferd und ritten
von Stadt zu Stadt zu ihren Kunden. Auch selbst die Kaufherren aus
ihren Geschäftsreisen nach und von den Messen und Jahrmärkten be-
dienten sich eines Reitpferdes. So hatte auch einst ein Kaufmann aus
einem Jahrmärkte sehr gute Geschäfte gemacht. Seine noch übrigen
Waren ließ er mit dem Frachtwagen zurückfahren, er aber setzte sich aus
sein schmuckes Roß und eilte mit dem erworbenen Gelde seiner Heimat
zu. Was ihm nun du unterwegs begegnete, das erzählt uns Christoph
v. Schmid. Hört zu!
Ein Kaufmann ritt einst vom Jahrmärkte nach Hause und hatte hinter
sich ein Felleisen mit vielem Gelde aufgepackt. Es regnete heftig, und der gute
Mann wurde durch und durch naß. Darüber war er unzufrieden und klagte
sehr, daß Gott ihm ein so schlechtes Wetter zur Reise gebe. Sein Weg führte
ihn durch einen dichten Wald. Hier sah er mit Entsetzen einen Räuber stehen,
der mit seiner Flinte nach ihm zielte und sie abdrückte. Er wäre ohne Ret-
tung verloren gewesen; allein von dem Regen war das Pulver feucht geworden,
und die Flinte ging nicht los. Der Kaufmann gab dem Pferde den Sporn und
entkam glücklich der Gefahr. Als er in Sicherheit war, sprach er bei sich selbst:
„Was für ein Tor bin ich gewesen, daß ich das schlechte Wetter verwünscht und
es nicht als eine Schickung Gottes geduldig angenommen habe! Wäre der
Himmel heiter und die Luft rein und trocken gewesen, so läge ich jetzt tot in
meinem Blute, und meine Kinder warteten vergebens auf meine Heimkunft.
Der Regen, über den ich murrte, rettete mir mein Gut und Leben; künftig
will ich nicht mehr vergessen, was das Sprüchlein sagt:
„Was Gott schickt, das ist wohlgemeint,
Obgleich es uns oft anders scheint."
II. Vermittlung. 1. Das Felleisen (vom franz. valiss, das durch
Volksetymologie zu Felleisen wurde) war ein Mantelsack, der hinten am
Sattel festgeschnallt wurde und zur Mitnahme der notwendigsten Reise-
kleidung, des Geldes und der Wertsachen diente. 2. Als Chr. v. Schmid
vor siebzig Jahren diese Erzählung niederschrieb, da gab's noch keine
Zündnadelgewehre und Hinterlader, ja noch nicht einmal (Perkussions-)
Flinten und Biichsen mit Zündhütchen, sondern die Gewehre ivaren noch
mit Feuerschloß versehen. (In Knabenklassen ist womöglich ein Feuer-
schloß vorzuzeigen!) Weise nach, warum der Schuß des Räubers nicht
losging! Verwandtes: Die Schlachten bei Großbeeren und an der
Katzbach. 3. Was ist der Sporn, und wie gibt der Reiter dem Pferde
den Sporn?
III. Vertiefung, a) Gliederung des Inhalts. 1. Die Heimreise
des Kaufmanns vom Jahrmärkte. 2. Sein Murren und Klagen über das
anhaltende Regenwetter. 3. Der Mordanschlag des Räubers. 4. Das
Mißlingen desselben. 5. Die Flucht und Rettung des Kaufmannes.
6. Sein Selbstgespräch, seine Selbstanklage und Reue. 7. Seine Erkennt-
Herder: Alles zum Guten. — Krummacher: Das Samenkorn. 17
nis, daß Gott der Herr Übel und Leiden oft in Segen verwandelt.
8. Sein Vorsatz: auch im Unglück das Gottvertrauen nicht zu verlieren,
b) Grundgedanke: Die Menschen halten'oft das für ein schweres Un-
gemach und Unglück, was doch zu ihrem wahren Heile dient.
IV. Verwertung. 1. Mahnung: Vertrau' auf Gott in Glück und
Not! 2. Rede - und Stil Übung: Vergleiche die Erzählung
8. Alles zum Guten.
Joh. Gottfried v. Herder. Sämtl. Werke. Tübingen. Bd. IX, S. 84.
Immer gewöhne sich der Mensch zu denken: „Was Gott schickt, ist gut,
es dünke mir gut oder böse." Ein frommer Weiser kam vor eine Stadt, deren
Tore geschlossen waren; niemand wollte sie ihm öffnen; hungrig und durstig
mußte er unter freiem Himmel übernachten. Er sprach : „Was Gott schickt, ist
gut", und legte sich nieder.
Neben ihm stand sein Esel, zu seiner Seite eine brennende Laterne, um
der Unsicherheit willen in derselben Gegend. Aher ein Sturm entstand und
löschte sein Licht aus; ein Löwe kam und zerriß seinen Esel. Er erwachte,
fand sich allein und sprach: „Was Gott schickt, ist gut." Er erwartete ruhig
die Morgenröte.
Als er ans Tor kam, fand er die Tore offen, die Stadt verwüstet, beraubt
und geplündert. Eine Schar Räuber war eingefallen und hatte eben in dieser
Stadt die Einwohner gefangen weggeführt oder getötet. Er war verschont.
„Sagte ich nicht," sprach er, „daß alles, was Gott schickt, gut sei!" Nur sehen
wir meistens am Morgen erst, warum er uns etwas des Abends versagte.
Vergleichung. 1. In beiden Erzählungen wird uns von Reisenden
berichtet, dort von einem Kaufmanne, hier von einem frommen, weisen
Pilger. 2. Beiden begegnet auf ihrer Reise Widerwärtiges, dem Kauf-
manne nur ein Unglück, dem Weisen hingegen ein dreifaches Miß-
geschick: er muß vor dem geschlossenen Tore der Stadt übernachten; der
Sturm verlöscht seine Laterne, und ein Löwe zerreißt seinen Esel. 3. Der
Kaufmann murrte und klagte über sein Mißgeschick, der fromme Weise
war mit der göttlichen Schickung zufrieden. 4. Jener kam erst durch sein
ferneres Geschick zur Erkenntnis, daß alles gut ist, was Gott tut,
während der Pilger hiervon schon zuvor überzeugt war. 5. In beiden
Erzählungen erscheinen Räuber. 6. Für den Kaufmann wurde der heftige
Regen während seiner Reise und für den frommen Pilger das Schlafen
unter freiem Himmel zur Rettung aus größerem Unglück. 7. Dem Kauf-
manne wurde Geld und Leben, dem Weisen nur das Leben gerettet.
R. D.
II a. Das Samenkorn.
Friedrich Adolf Krummacher. Parabeln. Essen und Duisburg 1817. III, S. 194.
Zween Wanderers zogen gemeinsam über Land, und als sie unterwegs
ausruhten in einer Herberge2), erscholl plötzlich ein Geschrei3), daß eine
Feuersbrünst im Dorfe sei. Da sprang der eine Wanderer auf, warf seinen
Stab und sein Bündel von sich, um eilends zu helfen; der andere aber hielt
ihn zurück und sprach: „Weshalb sollen wir hier verzögern?^) Sind nicht
Hände genug zum Helfen? Was kümmert uns die Fremde?"6) — Aber jener
hörte nicht.aus die Rede, sondern lief hinaus zu dem brennenden Hause;
nun folgte der andere langsam und stand und sah von ferne. Vor dem bren-
nenden Hause aber stand eine Mutter wie erstarrt7) und rief: „Meine Kinder!
Meine Kinder!" — Als der Fremdling solches hörte, sprang er in das bren-
nende Haus zwischen die krachenden Balken, und die Lohe ch schlug um ihn her
AdL. II. 8. Ausl. 2
18 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
und über ihm zusammen. Das Volk aber rief: „Der ist verloren!" — Als
man nun harrete eine Weile, stehe, da trat er hervor mit versengtem Haare
und trug zwei Kindlein auf den Armen und brachte sie der Mutter. Da um-
armte sie die Kinder und fiel dem Fremdlinge zu Füßen 9); dieser aber hob
sie auf und tröstete sie. Unterdessen stürzte das ganze Haus zusammen.
Als nun beide, der Fremdling und sein Gefährte, zur Herberge zurück-
kehrten, sagte dieser: „Wer hieß dich solch kühnes Wagestück beginnen?" Jener
antwortete und sprach: „Er, der mich heißet das Samenkorn in die Erde legen,
daß es verwese 10) und neue Frucht bringe!" — „Aber wie?" sagte der andere,
„wenn nun des Hauses Trümmer dich begraben hätten?" Da lächelte jener
und sprach: „So wäre ich selbst das Samenkorn gewesen."")
1. Vermittlung. 1. Zwei Handwerksburschen auf der Wanderschaft.
2. Herberge, ahd. heriberga — Heerlager, Ort, erst Feld, dann Haus,
wo das Heer, später überhaupt Fremde sich bergen oder unterkommen
konnten. 3. Der Schreckensruf: „Feuer! Feuer!" 4. Bündel, das
Bündel, seltener der Bündel. 5. Verzögern, noch länger warten, uns
aufhalten. 6. D. h. die Menschen in der Fremde. 7. Vor Schreck starr,
erstarrt, so daß sie keinen Schritt vorwärts oder rückwärts tun konnte.
8. Die Flamme des Feuers. Das Wort Lohe ist verwandt mit Licht
und leuchten, vgl. lichterloh (verkürzter Genetiv von l i ch t e L o h e)!
9. Sie erblickte in dem Retter ihrer Kinder gleichsam ein höheres Wesen,
vor dem sie niederfallen, das sie anbeten müsse. 10. Das Samenkorn
verweset, eigentlich es verwandelt sich nur, indem das Mehl desselben
als organisierter Stofs sich nach oben zu in den Keim und nach unten
zu in Wurzeln umgestaltet. 11. Hier begraben, aber dort zur himmlischen
Herrlichkeit erweckt worden.
II. Vertiefung. I.GliederungdesJnhalts. a) Zwei Wanderer
ruhen in einer Herberge, als der Ruf „Feuer!" erschallt, b) Der eine will
mitleidsvoll helfen, der andere selbstsüchtig den ersteren von seinem edlen
Vorhaben abhalten, doch vergeblich! e) Eine Mutter ruft vor einem
brennenden Hause verzweiflungsvoll nach ihren zwei Kindern, ä) Der
Fremdling stürzt todesmutig in das brennende Haus. e) Das Volk hält
ihn für verloren, f) Die Rettungstat gelingt, g) Die überglückliche
Mutter umfaßt voll Liebe ihre geretteten Kinder, b) Sie dankt inbrünstig
dem Retter. 1) Dieser tröstet sie. k) Das Haus stürzt zusammen.
1) Der Retter sagt, warum er die herrliche Rettungstat gewagt.
2. Charakteristik der drei handelnden Personen, a) Der
Fremdling. Er war m i t l e i d i g, b a r m h e r z i g, sofort zum Helfen
b e r e i t, der Versuchung gegenüber st a n d h a f t, kühn und todesmutig,
vom Feuer versengt, aber glücklich errettet, als Retter verehrt,
selb st los, großmütig, fromm und gottesfürchtig, vertrau-
ensvoll und ergeben in den Willen Gottes.
b) Sein Gefährte. Er war kalt und hartherzig, selbst-
süchtig und engherzig, untätig und neugierig, über das kühne
Wagstück seines Gefährten erstaunt und wißbegierig b.etreffs der
Triebfeder zu demselben.
e) Die Mutter. Sie war erschrocken, e r st a r r t, a n g st v o l l,
reich an Liebe zu ihren Kindern, nach todesbangen Minuten unaus-
Schubert: Redlichkeit ist das beste Einkommen. — Dittmar: Feuriges Wasser. 19
sprechlich glücklich, von Herzen dankbar gegen den Retter, ihn
verehrend wie einen Engel und von ihm getröstet.
3. Kernfragen, a) Warum reisten die beiden Wanderer damals
— ungefähr vor 60 Jahren — zu Fuß? b) Warum wagt cs keiner der
Einheimischen, sich in das brennende Haus zu stürzen, um die in Todes-
gefahr schwebenden Kinder zu erretten? „Ein jeder schrie und rang die
Hände, doch mochte niemand Retter sein." (Bürger.) Mangel an Tat-
kraft und Opfermut, c) Was mußte der Fremdling außer dem Notschrei:
„Meine Kinder! Meine Kinder!" gehört oder erfragt haben, bevor er sich
in das brennende Haus stürzte? (Wo sich die Kinder aufhielten.) 6) Was
heißt mit anderen Worten: „Der ist verloren!"? 6) Was wird die
glückliche Mutter außer dem, was hier erzählt wird, getan haben? (Sie
wird die versengten Hände des Retters erfaßt und ihm ihres Herzens
tiefsten Dank ausgesprochen haben.) k) Welcher Wanderer unserer Pa-
rabel gleicht dem Priester und Leviten, und welcher dem barmherzigen
Samariter?
4. Synonyme: a)Wa nd er er — Reisender, Pilger, Waller,
d) Herberge-^ Gasthaus, Gasthos, Schenke, Krug (Fremdnamen: Hotel,
Restauration), c) Verzögern, verziehen, warten, harren, bleiben,
ä) Lohe —Flamme, Glut, Feuergarbe.
5. Grundgedanke: Unsere Taten auf Erden sind die Samen-
körner zu unsrer dereinstigen Ernte.
III. Verwertung. 1. Mahnung: Seid nicht nur mitleidig in
Worten, sondern auch bereit zur opfermutigen Tat! Gehet hin und tut
desgleichen!
2. Rede - und Stilübung, a) Gib Verwandtes aus der biblischen
und vaterländischen Geschichte sowie aus dem Lesebuche und aus eigener
Erfahrung an! b) Ändere die Parabel so ab, als erzähle sie der Fremd-
ling oder sein Gefährte! o) Die Mutter erzählt das Erlebnis. R. D.
11b. Redlichkeit ist das beste Ginkommen.
Von Gotth. v. Schubert.
Dem Spitzenhändler Jakob Häuser fiel es einst schwer aufs Herz — (In
vielen Lesebüchern).
I. Gliederung. 1. Der gewissenhafte Spitzenhändler. 2. Seine hart
geprüfte Redlichkeit. 3. Ihr endlicher Sieg. 4. Der Dank.
II. Kernfragen: Warum hielt Jakob Häuser das Vorschlagen und
Feilschen für eine Sünde? — Warum fand er trotz der guten Ware keine
Käufer? — Wodurch wandte sich das Blatt? — Wie fand die Redlich-
keit ihren Lohn? — Warum konnte Häuser zweimal nichts essen? —
Wie ist „Redlichkeit das beste Einkommen"? P.
11 c. Feuriges Wasser.
Von Dittmar.
Was nicht dein ist, das rühre nicht an, denn es brennt — (In vielen
Lesebüchern).
I. Gliederung. 1. Unrecht Gut brennt wie Feuer. 2. Ein diebischer
Knabe stiehlt ungelöschten Kalk. 3. Er reitet ein Pferd in die Schwemme
2*
20 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stricke in Prosa.
und fällt ins Wasser. 4. Durch Schwimmen sucht er sich zu retten, doch
der Kalk wird brennend und tötet ihn.
II. Kernfragen: Warum heißt die Überschrift „Feuriges Wasser"?
— Von welchem dreifachen Brennen wird erzählt? — Warum konnte
sich der Knabe nicht durch Schwimmen retten? — Warum halfen ihm
die Leute nicht? — Welche Warnung prägt die Erzählung ein? P. »
11 d. Der Sonntag.
Von Fr. Ahlfeld. (Katechismuspredigten.)
Nicht menschliche Einrichtung ist der Sabbat; er ist Gottes heilige Stif-
tung. — (In vielen Lesebüchern.)
I. Gliederung. 1. Gott hat den Sabbat (den christlichen Sonntag)
als Ruhetag eingesetzt. 2. Die Ruhe ist ein Lebensbedürfnis alles Ge-
schaffenen. 3. Nicht nur der Leib, sondern auch der Geist soll ruhen
von seiner Arbeit. 4. In der Gemeinschaft mit Gott soll das Herz sein
Verlangen nach Gerechtigkeit und Seligkeit stillen. Kurz: Einsetzung des
Feiertags. Notwendigkeit der Ruhe für den Leib. Bedeutung für den
Geist. Speisung der Seele mit göttlicher Nahrung.
II. Der Charakter des Sonntags: Warum ist er ein Ruhetag?
Warum ist er eine göttliche Einrichtung? Warum heißt er Feiertag,
Sonntag, Sabbat (wöchentlicher Feiertag)? Was gibt er dem Leibe,
dem Geiste, dem Herzen? Warum heißt er „Perle der Tage", „Kraft
der Woche", „Quell der Wüste"? Wie wird nach dem 3. Gebot der
Sonntag recht gehalten und wodurch entheiligt? P.
12. Die Hausräte.
Ludwig Aurbacher.
I. Einleitung. Auf jedem Hofe pflegt man einen Hund, einen Hahn
und eine Katze zu finden. Was nützen sie? Der Hund bewacht das Haus
gegen Feinde. Der Hahn weckt zur Arbeit. Die Katze säubert das Ge-
höft von Ungeziefer. Wie diese drei aber auch Mahner zu rechtem Tun
sind und das Hauswesen beraten, also Hausräte sind, das zeigt das
folgende Lesestück.
II. Darbietung.
„Wie fangt Jhr's denn an, lieber Nachbar, daß Euer Hauswesen so
wohl bestellt ist, und man sieht doch nichts Besonderes an Euch und an dem,
was bei Euch vorgeht. Wir andern arbeiten doch auch und geben acht auf's
Unsrige und halten es zu Rat, so gut es gehen mag, und doch battet's
(bessert's, nützt's) nicht." Der Nachbar antwortete: „Ich wüßte nicht, was
schuld dran sein sollte, es wären denn nur meine drei Hausräte, denen ich
wohl das alles zu verdanken habe." „Eure drei Hausräte? Wer sind denn
die?" „Der Haushund, der Haushahn und die Hauskatze." „Ihr spottet!"
„Es ist mein wahrer Ernst; denn seht! der Haushund bellt, wenn ein Feind
herbei schleicht, und da heißt's denn: aufgeschaut! Der Haushahn kräht,
wenn der Tag anbricht, und da heißt's denn: aufgestanden! Und die Haus-
katz putzt sich, wenn ein werter Gast sich naht, und da heißt's denn: an-
gerichtet!" „Ich versteh', Nachbar, was Ihr damit sagen wollt! Ihr meinet,
daß drei Dinge notwendig seien, um dem Hauswesen aufzuhelfen: Fürsorge
gegen alles, was schaden kann, Tätigkeit in allem, was nützen kann, und
Aurbacher: Die Hausräte.
21
Freundlichkeit gegen alle, die uns wohlwollen und wohltun." „Wenn Jhr's
so nehmen wollt, so ist mir's recht; aber meine Hausräte lob ich doch darum,
daß sie mich jederzeit gemahnen, was zu tun ist; ich könnt's sonst leicht ver-
gessen."
III. Vertiefung. 1. Bild eines ordentlichen Bauernhofes.
Alle Gebäude sauber und in gutem Stande. Zwei Nachbarn im Gespräche.
Neben der Tür in seiner Hütte der Hund. Er schlügt an, da sich ein
Fremder dem Tore naht. Auf dem Düngerhausen mit seinen Hühnern
der Hahn. Er kräht. Im Hausflur, sich putzend, die Hauskatze.
2. Wie sind die drei Hausräte Sinnbilder der Wachsamkeit, ]be§
Fleißes, der Ordnung und der Gastlichkeit? Welche Eigenschaften zieren
den Bauern?
Z. Gedankengang, a) Ein Nachbar fragt den andern nach den
Ursachen seines wirtschaftlichen Gedeihens, b) Dieser nennt seine drei
Hausräte und ihre Mahnungen, o) Der erste Nachbar deutet richtig die
Sinnbilder.
Grundgedanke: Wir sind von Mahnern zu gedeihlichem Tun um-
geben, „so wir des wahrnehmen". „Offene Augen und williger Sinn
führen zu dem Rechten hin."
IV. Verwandtes. Fünf Dinge von Goethe.
Was verkürzt die Zeit? Was bringt in Schulden?
Tätigkeit! Harren und Dulden!
Was macht sie unerträglich lang? Was macht gewinnen?
Müßiggang! Nicht lange besinnen!
Was bringt zu Ehren?
Sich wehren!
1. Was verbürgt wirtschaftliches Gedeihen? Tätig die
Zeit ausnutzen und Müßiggang meiden, rechtzeitig ohne Murren und
Säumen bezahlen, ohne langes Besinnen zugreifen und alles abwehren,
was hindert und schädigt.
2. Vergleiche „Verschobene Arbeit" von Joh. Trojan mit
„Harren und Dulden bringt in Schulden"!
Es gibt einen Hauskobold (neckischen Geist) von sehr bösartigem Wesen,
der heißt: Verschobene Arbeit. Hat man ihn eingelassen, so ist er schwer
wieder fortzubannen.
Man weiß wohl, wo er sitzt, sei es im Garten oder in der Scheune oder im
Keller oder in einem Schranke, aber man scheut sich so sehr vor ihm, daß man
am liebsten sich gar nicht nach ihm umsieht, und fällt es einem ein, daß er
da ist, so Pfeift man wohl ein Liedchen, um sich auf andere Gedanken zu
bringen. Und doch ist dieser Kobold überaus schädlich, verdirbt den Hausrat,
zerfrißt die Kleider und nimmt dem Tagewerke den Segen. Mit Sprüchlein
und Kräutern ist nichts gegen ihn zu machen. (Damit suchte der Aberglaube
die bösen Geister zu bannen.) Abwarten, ob er vielleicht von selbst geht, ist
nicht ratsam; denn je länger er bleibt, um so größer und unangenehmer wird
er. Nur eins hilft: Man muß dreist auf ihn zugehen, ihn kräftig anpacken und
ihn eins, zwei, drei! aus dem Hause werfen.
3. Wie verdirbt dieser Säum-, Träum- und Aufschub-Teufel den
Hausrat, zerfrißt die Kleider und raubt dem Tagewerke den Segen? (Er
versäumt die rechtzeitige Ausbesserung kleiner Schäden und läßt nie frei
und freudig über eine vollendete Arbeit aufatmen.) P.
22 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
13. Kindesliebe.
Pustkuchen-Glanzow- Preuß. Kinderfreund. 179. Aufl. Königsberg 1869. S. 101.
Ein preußischer Offiziers, der sehr reich2) und aus vornehmer Familie2)
war, hielt sich eine Zeitlang als Werber in Ulm in Schwaben auf. _ Endlich
bekani er Befehl, zu seinem Negimente zurückzukehren, und machte sich reise-
fertig.
Anr Abend vor seiner Abreise meldete sich bei ihm ein junger Mann,
um sich anwerben ^) zu lassen. Ec war sehr schön gewachsen2), schien wohl-
erzogen und brav2); aber wie er vor den Offizier trat, zitterte er an allen
Gliedern. Der Offizier schrieb dies der jugendlichen Furchtsamkeit zu und
fragte, was er besorge. „Ich fürchte, daß Sie mich abweisen!" versetzte der
junge Mensch, und indem er dies sprach, rollte eine Träne über seine Wangen.
„Nicht doch!" antwortete der Offizier, „Sie sind mir vielmehr außerordent-
lich willkommen. Wie konnten Sie so etwas fürchten?"
„Weil Ihnen das Handgeld?), welches ich fordern muß, vermutlich zu
hoch vorkommen wird."
„Wieviel verlangen Sie denn?"
„Eine dringende Notwendigkeit zwingt mich, hundert Gulden2) zu for-
dern, und ich bin der unglücklichste Mensch2) auf der Welt, wenn Sie sich
weigern, mir so viel zu geben."
„Hundert Gulden ist freilich viel, aber Sie gefallen mir) ich glaube, daß
Sie Ihre Pflicht tun werden, und ich will nicht mit Ihnen handeln. 10) Hier
ist das Geld: morgen reisen wir von hier ab."
Er zahlte die hundert Gulden aus; der junge Mensch war entzückt.n)
Ec bat darauf den Offizier um Erlaubnis, noch einmal nach Hause zu gehen,
um eine heilige Pflicht?2) zu erfüllen; in einer Stunde versprach er wieder da
zu sein. Der Offizier traute seinem ehrlichen Gesichte?2) und ließ ihn gehen.
Weil er indes in dem Benehmen des jungen Mannes etwas Besonderes")
bemerkt hatte, so schlich er selbst ihm von ferne nach, um zu erfahren, wo er
hingehen würde. Ec sah ihn stracks15) nach dem Stadtgefängnisse?2) laufen,
wo er anklopfte und eingelassen wurde.
Der Offizier ging ebenfalls hinein und sah alles, was vorging, und was
den Jüngling bewogen hatte, sich anwerben zu lassen.
Der Vater des letzteren saß im Gefängnisse wegen einer Schuld von
hundert Gulden, die er nicht bezahlen konnte. Der Sohn.hatte sich deshalb
anwerben lassen, um mit dem Handgelde ihn zu befreien. Sobald er in das
Gefängnis trat, redete er mit dem Aufseher und gab ihm die hundert Gulden
in Verwahrung. Dann eilte er zu seinem Vater, fiel ihm um den Hals??) und
verkündete seine Freiheit.
Der Offizier war ihm nachgegangen und sah den ehrwürdigen?2) Greis,
der seinen braven?2) Sohn an sein Herz drückte und mit seinen Tränen be-
netzte^ ohne ein Wort zu reden. Er konnte es nicht übers Herz bringen22),
daß ein so guter Sohn seine Freiheit verkaufen sollte. 2?) Deswegen trat er
hervor und sagte zu dem Alten:
„Beruhigen Sie sich! ich will Sie eines so braven Sohnes nicht be-
rauben.22) Lassen Sie mich teilnehmen an seiner edlen Tat!22) Er ist frei"),
und es reuet22) mich die Summe nicht, die er so gut angewendet hat."
Vater und Sohn fielen ihm zu Füßen. Der Sohn bat zwar den Offizier,
ihn mitzunehmen, und sagte, er möchte einem so guten Herrn nicht gern
Schaden verursachen. Aber der großmütige22) Mann bestand darauf, daß er
bei seinem Vater bleiben sollte, führte beide au seiner Hand aus dem Ge-
fängnis und reiste fröhlich von Ulm ab, weil er sich bewußt war, zwei gute
Menschen glücklich gemacht zu haben.
Sir. 38. Wer den Herrn fürchtet, der ehret auch den Vater und dienet
seinen Eltern.
WWM"
23
Pustkuchen-Glanzow: Kiudesliebe.
I. Vorbereitung. Bevor in den einzelnen Staaten die allgemeine
Wehrpflicht eingeführt wurde (in Preußen den 3. August 1808), war es
Brauch, die Soldaten zum Dienste anzuwerben. Zu diesem Zwecke zog
gewöhnlich ein Offizier, oft von einigen Mannschaften begleitet, von Dorf
zu Dorf, von Stadt zu Stadt, häufig weit über die Grenzen des eigenen
Vaterlandes hinaus, und suchte durch eine nach gegenseitiger Vereinbarung
bestimmte und nach den jeweiligen Umständen sich richtende Geldsumme,
das Handgeld, geeignete Persönlichkeiten für den Soldatenstand zu ge-
winnen oder anzuwerben. Nicht immer ging es dabei „ehrlich und ordent-
lich" zu; oft wurden unerlaubte Mittel, selbst schändliche Gewalttätig-
keiten angewendet. (Seume; Baron Hompesch und der Tischlermeister in
Jülich; der preußische Major und der Mönch in einem italienischen Klo-
ster.) Solche Angeworbenen waren dann zeitlebens zum Soldatenstande
verpflichtet. Damals war der Soldatenstand noch nicht der ehrenvolle
Stand, der er jetzt ist; die Disziplin war streng, oft grausam; darum
kamen denn auch häufig Desertionen solcher Angeworbenen vor, die aber,
wenn sie unglücklich abliefen, mit den härtesten Strafen geahndet wur-
den. („Zu Straßburg auf der Schanz." „Die Exekution" von Scheren-
berg. „Der Soldat" von Chamisso.)
II. Erläuterungen.
1. Werbeosfizier. 2. Um anzudeuten, daß er die Mittel besaß, ohne
Unredlichkeit eine edle Tat zu vollbringen. 3. Mitglieder wahrhaft edler
Familien haben oft auch eine vornehme, edle Gesinnung. Leider ist es
nicht immer so! 4. Siehe Vorb. 5. Schlank, kräftig, ebenmäßig gebaut.
6. Die äußere Erscheinung und das äußere Benehmen lassen uns oft einen
richtigen Schluß auf den Charakter machen. 7. Siehe Vorb. 8. Frühere
Münze, ca. 2 Mark. 9. Weil er keine anderen Mittel und Wege wußte,
seinen unschuldigen Vater aus dem Gefängnisse zu befreien. 10. Aus welch
zweifachem Grunde? 11. Hoch erfreut. 12. Gottes Gebot und die Liebe
des Herzens befehlen sie uns. 13. Er glaubte seinem Worte, weil sein
Gesicht den Eindruck der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit machte. 14. Span-
nung, Freude, gemischt mit Traurigkeit, woraus er auf etwas anderes
als bloßes Abschiednehmen schloß. 15. Geraden Weges, ohne sich aufzu-
halten. 16. Wo besonders die der Stadt angehörenden Gefangenen saßen.
17. Aus großer Freude; warum? 18. Altes, schön geformtes Antlitz mit
dem Ausdruck der Ehrenhaftigkeit und Würde. 19. Warum? 20. Sein
edles Herz drängte ihn, hier helfend einzutreten. 21. Siehe Vorb. 22. Ich
will die augenblickliche Not nicht benutzen, Ihren Sohn anzuwerben und
ihn so vielleicht auf immer von Ihnen zu trennen. 23. Wieso? 24. Wieder
frei, ohne das Handgeld zu erstatten. 25. Es tut mir nicht leid, ihm das
Geld gegeben zu haben. 26. Weil er uneigennützig sein Geld verwandt
hatte, um andere zu beglücken.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Ulm, gegenüber der Mündung
der Iller in die Donau; Reichsfestung ersten Ranges, Hauptstadt des
Württembergischen Donaukreises, im Mittelalter berühmt durch seinen
Reichtum. (Reimspruch.) Wahrscheinlich in der Regierungszeit König
24 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Friedrich Wilhelms I. von Preußen (1713—1740), unter welchem das
Werbesystem besonders blühte.
2. Personen, n) DerSohn war jung,sehrschön ge wachsen,
wohlerzogen, brav. Unverschuldete Unglücksfälle hatten den Haus-
stand zerrüttet und den Vater wegen einer geringen Schuld ins Gefängnis
gebracht. Der treuliebende, aufopferungsfähige Sohn will, als
alle anderen Bemühungen fehlschlagen, seine Freiheit verkaufen, um den
Vater zu befreien. Sogleich begibt er sich zu dem Offizier, trägt ihm
freundlich und bescheiden seine Bitte vor und ist nur besorgt, daß
er um des hohen Handgeldes willen abgewiesen werden möchte. Als ihm
dennoch der Offizier die Summe auszahlt, ist er hocherfreut und
bittet nur noch um eine Stunde Zeit, eine heilige Pflicht zu erfüllen.
Schnell eilt er nach dem Gefängnisse, übergibt dein Aufseher das
Geld und verkündet unter Freuden tränen dem Vater die Frei-
heit. Dankbar fällt er dem hinzutretenden Menschenfreunde zu Füßen,
hochherzig und edel denkend will er das angebotene, großmütige
Geschenk nicht annehmen.
b) Der Offizier ist ein Preuße, reich, aus vornehmer Familie,
freundlich, teilnehmend, freigebig, vertrauensvoll, vorsichtig, edel denkend,
großmütig, glückselig. (Aus der Erzählung nachzuweisen.)
6) Der Vater war alt, ehrwürdig, saß unverschuldet im Gefäng-
nisse, liebte seinen braven Sohn, weinte Freudentränen, fiel den: Offizier
zu Füßen und dankte ihm.
3. Gliederung: 1. Der reiche Werber und der arme Rekrut.
2. Die flehentliche Bitte und die vertrauensvolle Gewährung. 3. Der
einsame Gefangene und der liebevolle Befreier. 4. Der großmütige Retter
und die glücklichen Geretteten.
4. Tendenz. Sirach 3, 8—11. Wer den Herrn fürchtet, der ehret
auch den Vater und dienet seinen Eltern und hält sie für seine Herren.
Ehre Vater und Mutter mit der Tat, mit Worten und Geduld, auf daß
ihr Segen über dich komme; denn des Vaters Segen bauet den Kindern
Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Das 4. Gebot.
2. Anklänge anBekanntesun dVerw an dtes: Joseph, Ruth,
Salomo. „Kindesdank" von Hebel. „Kindliche und brüderliche Liebe"
von Schubert. „Das gottselige Kind" von Scriver. „Ein guter Sohn,
der im Glücke sich seiner geringen Eltern nicht schämt" von Pustkuchen-
Glanzow usw. — Absalom. Die Söhne Eli. „Vom Undank der Kinder"
von Stöber usw.
3. Stilübungen:
a) Charakteristik des Sohnes nach III, 2. b) Der Sohn erzählt dem
Vater in ausführlicher Darstellung die Geschichte seiner Befreiung, c) Dank-
schreiben des Sohnes an den Offizier. (Das Bekanntwerden der Geschichte
hat die Herzen und Hände anderer Menschenfreunde geöffnet; reiche Gaben
sind ihm von vielen Seiten geworden; die auf dem elterlichen Grund-
Pustkuchen-Glanzow: Ein guter Sohn usw.
25
stücke ruhenden Schulden sind bezahlt; die im Gefängnisse angegriffene
Gesundheit des Vaters ist wiederhergestellt; das Geschäft in glücklichem
Aufschwünge. Dank.) ck) Weise aus den unter IV a aufgeführten Er-
zählungen nach, wie verschieden sich die Liebe der Kinder gegen die Eltern
offenbaren kann! Th- Roeser.
14. Gin guter Sohn, der im Glücke sich seiner geringen
Gltern nicht schämt.
Pustkuchen-Glanzow. Lesebuch für die preußischen Schulen. Berlin 1876. II, 81.
In dem Negimente des berühmten, von Friedrich dem Großen hoch ge-
geehrten Generals von Zieten stand auch ein Rittmeister, mit Namen Kurz-
hagen. i) Er war klug, tapfer und hatte ein kindliches Gemüt. 2) Seine Eltern
waren arme Landleute im Mecklenburgischen. Mit dem Verdienstordens auf
der Brust rückte er nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges in Par-
chim^) ein.
Die Eltern waren von ihrem Dörfchen nach der Stadt gekommen, um
ihren Sohn nach Jahren9) wiederzusehen, und erwarteten ihn auf dem Markte.
Wie er sie erkannte, sprang er rasch vom Pferde und umarmte sie unter
Freudentränen. Bald darauf mußten6) sie zu ihm ziehen und aßen allezeit
mit an seinem Tische, auch wenn er vornehme Gäste hatte. 7)
Einst spottete ein Offizier darüber, daß Bauern bei eineni Rittmeister
zu Tische saßen. „Wie sollte ich nicht die ersten Wohltäter meines Lebens
dankbar achten?" war seine Antwort. „Ehe ich des Königs Rittmeister wurde,
war ich ihr Kind."9)
Der brave General von Zieten hörte von diesem Vorfalle und bat sich
selbst nach einiger Zeit mit mehreren Vornehmen bei dein Rittmeister zu
Gaste.9) Die Eltern des letzteren wünschten dieses Mal selbst nicht, am Tische
zu erscheinen, weil sie sich verlegen fühlen würden. *9) Als man sich setzen
wollte, fragte der General: „Aber Kurzhagen, wo sind Ihre Eltern? Ich
denke, sie essen mit Ihnen an einem Tische?" Der Rittmeister lächelte und
wußte nicht sogleich zu antworten. u) Da stand Zieten auf und holte die Eltern
selbst herbei; sie mußten sich rechts und links an seine Seite setzen12), und er
unterhielt sich mit ihnen aufs freundlichste. Als man anfing, Gesundheiten
auszubringen 13), nahm er sein Glas, stand auf und sprach: „Meine Herren,
es gilt dem Wohlergehen dieser braven Eltern eines verdienstvollen Sohnes,
der es beweist, daß ein dankbarer Sohn mehr wert ist als ein hochmütiger
Rittmeister!"
Später fand der General Gelegenheit, dem Könige von der kindlichen
Achtung zu erzählen, welche der Rittmeister seinen Eltern erwies, und Fried-
rich II. freute sich sehr darüber. Als Kurzhagen einst nach Berlin kam, wurde
er zu der königlichen Tafel gezogen.") „Hör Ec, Rittmeister," fragte der
König, um seine Gesinnung zu erforschen, „von welchem Hause stammt Er
denn eigentlich?^9) Wer sind Seine Eltern?"") „Ew. Majestät"17), ant-
wortete Knrzhagen ohne Verlegenheit, „ich stamme aus einer Bauernhütte,
und meine Eltern sind Bauersleute, mit denen ich das Glück teile, das ich
Ew. Majestät verdanke." 18) „So ist's recht," sagte der König erfreut; „wer
seine Eltern achtet, der ist ein ehrenwerter Mann; wer sie gering schätzt, ver-
dient nicht geboren zu sein."79)
I. Erläuterungen.
1. Die preußischen Regimenter führen nicht bloß bestimmte Nummern,
sondern meist auch noch besondere Namen, welche sich teils nach ausge-
zeichneten Führern derselben, teils nach fürstlichen Personen richten, denen
26 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
von des Königs Majestät ehrenhalber die Führung „verliehen" ist. Zieten-
Husaren, Alexander-Regiment. Die Zieten- oder roten Husaren sind noch
jetzt eine beliebte Truppe. Rittmeister ist gewöhnlich Befehlshaber einer
Schwadron oder Eskadron, deren man jetzt 5 auf ein Reiterregiment
rechnet. 2. Offen, freundlich, bescheiden, vertrauend, hingebend, voll Liebe
gegen alle, denen er sich in seinem Herzen verpflichtet fühlte. 3. Der
Verdienstorden, pcmr le merite, wurde 1740 von Friedrich II. für Ver-
dienste in dem damals bevorstehenden Kriege gestiftet, am 18. Januar
1810 erweitert, am 31. Mai 1842 durch eine Friedensklasse vermehrt.
Das Ordenszeichen hat die Form eines Landwehrkreuzes, das durch Ein-
schnitte an den Enden achtspitzig gestaltet ist. Im Medaillon trägt er das
Bildnis Friedrichs, im oberen Arme den mit der Krone verzierten Na-
menszug, in den übrigen Armen die Inschrift: „?our 1s Nerits". 4. Par-
chim, kleine Stadt an der Elde in Mecklenburg-Schwerin, unweit der
preußischen Grenze. 5. Wahrscheinlich nach wieviel Jahren? 6. Durch
seine kindlichen Wünsche und, Bitten veranlaßt. 7. Viele Vornehme sehen
oft mit Stolz, wohl gar mit Verachtung herab auf die Geringen und
Armen. (1. Sam. 16, 7. Der brave Mann, Str. 18.) Besonders findet
man bei dem Offiziersstande oft Vorurteile im Benehmen gegen Personen
geringerer Stände. Kurzhagen, selbst aus geringem Stande entsprossen,
hat sich aber ein kindisches Herz bewahrt, so daß er a) jene Vorurteile nicht
teilt, b) aus seinen Gesinnungen kein Hehl macht, c) 8. einen darüber
spottenden Offizier in einer überzeugenden Weise abfertigt. Wieso? Seine
Eltern waren die ersten Wohltäter, ihnen gelten die ersten Pflichten;
später erst gelangte er zu einem höheren Stande, darum stehen die
Pflichten gegen diesen Stand auch erst in zweiter Linie. Gedanken des
Offiziers! 9. Der brave General von Zieten, der selbst ein frommes,
kindliches Gemüt besaß, freute sich über die Gesinnungsweise seines Ritt-
meisters und wünschte, selbst einmal Zeuge derselben zu sein; darum teilte
er Kurzhagen mit, daß er sein Gast sein werde. 10. Ziert die Großen
der Welt Freundlichkeit und Wohlwollen gegen Niedere, so gebührt diesen
wiederum aufrichtige Bescheidenheit gegen wahrhafte Größe. 11. Weil es
den Anschein gewinnen konnte, als sei Kurzhagen, dem berühmten General
gegenüber, seinen kindlichen Grundsätzen untreu geivorden. 12. Die
höchsten Ehrenerweisungen bei Tische. 13. Wünsche für das Wohlergehen
einer Person anszusprechen, wobei die Tischgenossen mit den Gläsern
gegenseitig anstoßen. 14. Eingeladen, an der königlichen Tafel mitzu-
speisen. 15. Aus welcher gewiß vornehmen, hochgestellten Familie? 16.
Für eitle Toren eine Versuchung, die Wahrheit zu umgehen. 17. Anrede
an Kaiser und Könige. 18. Gesinnungstreue, auch dem Könige gegenüber,
und Bescheidenheit. 19. Königliche Anerkennung ehrenwerter Gesinnung.
II. Vertiefung. 1. Ort: Parchim; Rathenow, wo die Zieten-Husaren
in Garnison stehen; Berlin königl. Schloß. Zeit: unmittelbar nach dem
Siebenjährigen Kriege und einige Jahre später.
2. Personen, a) Rittmeister Kurzhagen stammt aus einer
Bauernfamilie, ist der S o h n a r m e r L a n d l e u t e im Mecklenburgischen,
Pustkuchen-Glanzow: Ein guter Sohn usw. 27
zeigt eine große Vorliebe für den Soldatenstand, tritt bei Beginn des
Siebenjährigen Krieges freiwillig in das Zietensche Husaren-Regiment,
nimmt an allen wichtigen Ereignissen des Krieges teil, zeichnet sich stets
durch Treue, Gewissenhaftigkeit, Klugheit und Tapferkeit aus, wird Ritt-
meister, erhält den Orden pour le merite, bewahrt sich trotz des rauhen
Kriegerhandwerks, in seiner hohen Stellung ein kindlich-frommes Gemüt,
besonders gedenkt er stets mit inniger Liebe seiner armen und geringen
Eltern, besucht sie sofort nach Beendigung des Krieges und umarmt sie
mit Freudentränen auf offenem Markte, nimmt sie in sein Haus und
an seinen Tisch, rechtfertigt seine Handlungsweise gegen einen spottenden
Offizier, schämt sich hohen Vorgesetzten, selbst dem Könige gegenüber nicht
seiner geringen Eltern, wird dafür von ersteren belobt.
d) Zielen ist ein berühmter General, hört von der Gcsinnungs-
und Handlungsweise Kurzhagens, freut sich darüber, will sich selbst über-
zeugen, ladet sich zu Gaste, befragt Kurzhagen, holt die Eltern selbst her-
bei, setzt sie neben sich, unterhält sich mit ihnen, bringt ihre Gesundheit
aus, erzählt dem Könige.
o) Der König und die Eltern sind nur kurz gezeichnet.
3. Gedanken gang und Gliederung: 1. K.'s Persönlichkeit.
2. Kurzhagen und seine Eltern. 3. Kurzhagen und der Offizier. 4. Kurz-
hagen und der General Zieten. 5. Kurzhagen und der König Friedrich II.
4. Grundgedanke: Wer seine Eltern, die ersten und größten
Wohltäter seines Lebens, achtet, der ist ein ehrenwerter Mann; wer sie
gering schätzt, verdient nicht geboren zu sein. (Friedrich II.)
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Ein dankbarer Sohn ist
mehr wert als ein hochmütiger Rittmeister. (Zieten.) „Nennen Sie mich
immer Sohn! Dieser Titel ist köstlicher für mich als die Königswürde!
Die Erkenntlichkeit gegen Eltern hat keine Grenzen; man wird getadelt,
wenn man zu wenig darin tut, niemals, wenn man zu viel tut."
(Friedrich II.)
2. Vergleichung (I) mit „Kindesliebe" Nr. 13.
A. Ähnlichkeiten: Beide erzählen Beispiele kindlicher Liebe und
Dankbarkeit; Eltern sind arm. Freudentränen beim Wiedersehen. Kind-
liche Gesinnung findet Anerkennung und Belohnung.
8. Verschiedenheiten: I Ein angesehener Rittmeister, II ein
armer junger Mensch; I Eltern, II nur Vater; lärm, aber frei, II ver-
schuldet und gefangen; I Ehrenerweisung, II Befreiung aus Gefangen-
schaft; I Mitgenuß an irdischen Gütern, II Verkauf eigener Freiheit;
I General und König, II Offizier; I Anerkennung, II Belohnung; II All-
gemeine innige Teilnahme, I auch Spott.
3. Stilübung: a) Beschreibe den Einzug der zurückkehrenden
Krieger in Parchim! b) Zieten erzählt dem Könige, was er im Hause
Kurzhagens erlebt hat. o) Parallele zwischen Joseph und Knrzhagen.
Th. Roeser.
28 I Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
18. Vom Undank der Kinder.
(Nach Karl Stöber.)
Es gibt ein Sprichwort, das hat einen gar schlimmen Klang und
wird auch euch nicht sonderlich gefallen. Da es aber die Erfahrung und
der Volksmund erst zu einem Sprichwort gemacht haben, so kann es leider
nicht ohne wahren Hintergrund sein. Das Sprichwort heißt: „Ein Vater
kann leichter sechs Kinder ernähren, denn sechs Kinder einen Vater." Es
klingt fast unglaublich, aber doch liefert die nachfolgende Geschichte hierzu
einen Beleg. Die Geschichte selbst trug sich in Nürnberg zu. Nürnberg
liegt im Königreiche Bayern, und zwar im nördlichen Teile desselben, in
Mittelfranken, an der Pegnitz. Die Stadt ist weithin bekannt und genannt
wegen des Kunst- und Gewerbefleißes ihrer Bewohner und zählt jetzt
über 300000 Einwohner. Nürnberger Spielwaren. „Nürnberger Tand
geht durch alle Land." Wenngleich nun alles das, was man von dieser
Stadt noch sonst erzählen könnte, recht anmutig und erfreulich sich anhört,
so ist dies doch keineswegs der Fall mit unserer Erzählung, wie ihr so-
gleich hören werdet.
I. Unmittelbare Darbietung. Vorlesen von seiten des Lehrers.
Es ist recht und wohlgesagt von alten weisen Leuten: „Gott, den Eltern
und den Lehrern kann man nimmer vergelten." Leider aber wird gar oft er-
füllt das gemeine Sprichwort: Ein Vater kann leichter sechs Kinder ernähren,
denn sechs Kinder einen Vater. So erzählt man ein Beispiel von einem Vater
in Nürnberg; der hatte sechs Kinder und übergab ihnen alle seine Güter, Haus,
Hof, Äcker und alle Barschaft und versah sich dessen zu seinen Kindern, sie
würden ihn ernähren. Da er nun bei seinem ältesten Sohne eine Zeitlang
war, wurde der Sohn sein überdrüssig und sprach: „Vater, mir ist diese Nacht
ein Knäblein geboren, — und wo jetzt euer Armstuhl ist, soll seine Wiege
stehen; wollt ihr nicht zu meinem Bruder ziehen, der eine größere Stube hat?"
Da er nuu eine Zeitlang bei dem andern Sohne gewesen war, wurde
auch der seiner müde und sprach: „Vater, Er hat gern eine warme Stube, und
mir tut der Kopf davon weh; will Er nicht zu meinem Bruder gehen, der ein
Bäcker ist?" > !
Der Vater ging, und da er eine Zeitlang bei seinem dritten Sohne ge-
wesen war, wurde er auch diesem zur Last, daß er sprach: „Vater, bei mir geht
es aus und ein wie in einem Taubenschlage, und du kannst dein Mittags-
schläflein nicht machen; willst du nicht zu meiner Schwester, der Käthe, gehen?
Die wohnt an der Stadtmauer." Und der Alte merkte, wieviel es geschlagen
hatte, und sprach bei sich selbst: „Wohlan, das will ich tun! — Ich will mich
aufmachen und es bei meinen Töchtern versuchen! Die Weiber haben ein
weicheres Herz."
Da er aber eine Zeitlang bei seiner Tochter gewesen war, wurde auch sie
sein überdrüssig und meinte, es sei ihr immer Höllenangst, wenn der Vater
in die Kirche oder sonst wohin gehe und die hohe Treppe herunter müsse. Bei
der Schwester Elisabeth brauche er keine Treppe zu steigen, die wohne zu
ebener Erde.
Damit er in Frieden wegkam, gab ihr der Alte zum Schein recht und
zog zu seiner andern Tochter. Und da er eine kurze Zeit bei ihr gewesen war,
wurde sie auch sein müde und ließ ihm durch einen Dritten zu Ohren kommen,
ihr Quartier an der Pegnitz wäre zu feucht für einen Mann, der mit der Gicht
geplagt sei, dagegen ihre Schwester, die Totengräberin bei St. Johannes,
hätte eine überaus trockene Wohnung. Der Alte glaubte selbst, sie könne
recht haben, und begab sich vor das Tor zu seiner jüngsten Tochter Lene.
Stöber: Vom Undank der Kinder.
29
Und als er zwei Tage bei ihr gewesen war, sagte ihr Söhnlein zu ihm:
„Großvater, die Mutter sprach gestern zur Base Elisabeth, für dich gebe es
kein besseres Quartier als in einer Kammer, wie sie der Vater grabe." über
diese Rede brach dem guten Alten das Herz, daß er in seinen Armstuhl zurück-
sank und starb.
St. Johannes nahm ihn auf und ist barmherziger gegen ihn als seine
sechs Kinder: denn er läßt ihn in seiner Kammer immer ungehindert schlafen
seit dieser Zeit. Darum sagt man im Sprichwort, daß ein Vater leichter kann
sechs Kinder ernähren, denn sechs Kinder einen Vater, und gibt dem Alten den
Rat: „Tue dich nicht aus, ehe du dich schlafen legst!"
II. Vermittlung des Verständnisses, a) Den Eingang zu dieser Er-
zählung bildet ein Ausspruch des Alters und der Weisheit; wie lautet
er? Wer erzeigt allen Menschen Gutes? Welcher Sünde machen sich
aber viele Menschen schuldig? Durch wen erzeigt euch Kindern Gott un-
zählige Wohltaten? Was verdankt ihr den Eltern? Was können auch
die Kinder nimmer tun? Welches Sprichwort leitet uns nun zu der
eigentlichen Erzählung? b) Was wird darin vom Vater und was im
Gegenteil von den Kindern behauptet? Was tut ein Vater (eine Mutter),
ob es ihm auch schwer wird? Was tun aber manche Kinder nicht, be-
sonders wenn's ihnen schwer fällt? Womit lohnen solche Kinder die elter-
liche Liebe? Unsre eigentliche Erzählung geht bis zu den Worten:
und starb". Was wird zuerst von dem Vater erzählt? Welche
Hoffnung setzte er in seine sechs Kinder? Wie haben sie sein Vertrauen
gerechtfertigt? Was geschah beim ältesten Sohne? Warum gebraucht er
diese leere Ausrede? Was erfahren wir über den Aufenthalt beim zweiten
Sohne? Mit welchen Entschuldigungen bemäntelt dieser seinen Undank?
Als was sogar sah der dritte Sohn den alten Vater an? Hinter welche
lügnerischen, süßlichen Worte verkriecht sich sein undankbares Herz? Bei
wem hofft der Alte mehr Teilnahme zu finden? Aus welchen Worten
schließen wir das? Doch was muß er schon bei der ältesten Tochter er-
fahren? Was tat der Vater zum Schein, und wohin wendet er sich nun?
Was wird uns aber auch von dieser berichtet? Was ließ sie dem Vatev
zu Ohren bringen, d. h. durch jemand sagen? Aus welchen zwei Gründen
sagte sie es ihrem Vater nicht selbst? Was glaubt jetzt sogar der Vater?
Welches war sein letzter Schritt? Was erzählte ihm schon nach zwei
Tagen sein kleiner Enkel? Welches ist der Sinn dieser Rede? Was wünsch-
ten also die Töchter sogar? Der alte Vater sah sich von seinen sämtlichen
Kindern verstoßen; er war am Ende und wußte nicht, wo er fernerhin
Aufnahme und Pflege finden sollte. Sein Kummer und Herzeleid war
mit jedem Umzuge gestiegen, und wie wirkte nun dieser letzte harte Schlag
auf den alten, geängsteten Mann? o) Was berichtet nun der Schluß
zuerst noch über den verstorbenen Vater? Welches Sprichwort hat also
hier leider seine Bestätigung gefunden? Welcher Rat folgt aus dieser
Geschichte für die Alten? „Tue dich — legst!"-^Behalte einen Zehr-
pfennig für das Alter, damit es dir nicht ähnlich ergehe!
III. Gliederung. 1. Der Vater vererbt seine Güter 6 Kindern und
sucht dafür Ruhe und Pflege bei ihnen. 2. Er findet sie nicht, denn
a) dem ersten Sohne fehlt's an Raum, b) dem zweiten an Wärme, c) dem
30 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
dritten an häuslicher Ruhe; 6) der ersten Tochter ist die Treppe zu steil,
6) der zweiten die Kammer zu feucht, f) der dritten das — Grab eine
passende Wohnung für den Vater. — Endlich findet er Ruhe auf dem
Gottesacker.
IV. Verwertung. 1. Für Herz und Leben: 4. Gebot. Verhei-
ßung desselben. Durch Erfüllung dieses Gebotes, das nicht inehr in
dem Katechismus dieser Kinder zu stehen schien, verdienst du dir der
Eltern Segen. Sir. 3, 11. Des Vaters Segen usw. Sir. 3, 14. Liebes
Kind usw. Sage nicht: „Vater und Mutter sind doch gar zu Kindern
geworden, hat's Not, sie an- und auszukleiden!" Bist auch einmal Kind
— hilfloser denn sie — gewesen; Elternliebe hat dich sorglich gepflegt;
du weißt kaum noch von ihren Sorgen und Mühen um dich. Sprich-
wort: „Undankbaren Kindern wächst die Hand zum Grabe heraus!"
Sinn: Solche Kinder werden auch im Grabe noch nicht Ruhe finden, sie
werden vielmehr die Hand noch herausstrecken nach Verzeihung ihrer
Sünde des Undanks. Solch Fünffingerkraut wächst leider auf so manchem
Gottesacker!
2. Verwandtes: Absalom. Elis Söhne. Der Großvater und der
Enkel. Entgegengesetzte Beispiele zur Nachahmung: Ruth. Gustav III.
und das arme Bauernmädchen. Kindesdank. Kurzhagen. Kindesliebe.
Joseph.
3. Rede- und Stilübungen: Gib an, was der Vater an seinen
sechs Kindern getan hat! Erzähle vom Herzeleid des Vaters! Erweise
die Wahrheit des angezogenen Sprichwortes an der Hand der Geschichte!
Inwiefern gleichen diese Kinder dem Absalom? Stelle dem Undank dieser
Kinder die Handlungsweise der Ruth gegenüber! Welche Wohltaten ver-
dankt ein Kind seinen Eltern? L. Wolf.
16. Der kleine Friedensbote.
Karl Stöber. Erzählungen. Gesamtausgabe. I.Bd. 3.Aufl. Leipzig u. Dresden 1861. S.192.
Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die gelbe und
die weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber ein Kind ge-
boren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe. Wenn der Bäcker in seinem
Obstgarten an Stelle eines ausgedienten Invaliden eines Rekruten bedurfte,
ging der Gerber in seine Baumschule und hob den schönsten Mann aus, den
er darin hatte, eine Pflaume oder einen Apfel oder eine Birne oder eine
Kirsche, je nachdem er auf diesen oder jenen Posten, auf einen fetten oder
magern Platze gestellt werden sollte. Zu Ostern, zu Martini oder am heiligen
Abend kam die Bäckerin, welche keine Kinder hatte, immer mit einem großen
Korbe zu den Nachbarsleuten herüber und teilte unter die kleinen Paten aus,
was ihr der Hase oder der gute Märtel oder gar das Christkindlein selbst
unter die schneeweiße Serviette gelegt hatte. Je mehr sich die Kindlein über die
reichen Spenden freuten, desto näher rückten sich die Herzen der beiden Weiber.
Aber ihre Männer hatten ein jeder einen Hund, der Gerber als Jagd-
liebhaber einen großen braunen, Feldmann, und der Bäcker einen kleinen
schneeweißen, Mordax. Beide meinten, die besten und schönsten Tiere in ihrem
Geschlechte zu haben. Da geschah es eines Tages, daß der Mordax ein Kalbs-
knöchlein gegen den Feldmann behauptete. Vom Knurren kam es zum Beißen,
und ehe sich der Bäcker von seiner grünen Bank vor dem Hause erheben konnte,
Stöber: Der kleine Friedensbote.
31
lag sein Hündlein mit zermalmtem Genick vor ihm, und der Feldmann lief
mit dem eroberten Knochen und mit eingezogenem Schweife davon. — Sehr
ergrimmt und entrüstet warf der Herr des Ermordeten dem Raubmörder
einen gewaltigen Stein nach. Aber was half's? Die Handgranate flog nicht
dem Hunde an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das Fenster. Ohne, zu
fragen, woher der Schuß gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten
Fensterflügel auf und fing an zu schimpfen. Der Nachbar mit der weißen
Schürze blieb nichts schuldig; Kinder und Leute liefen zusammen, und —
hätten sie ihn nur sehen können! — Satan stand gewiß in einer Ecke der
Gasse und blies mit vollen Backen ins Feuer. — Der Bäcker verließ den
Kampfplatz zuerst, aber nur, um seinen Nachbar beim Gericht zu belangen.
Die Sonne ging über dem Zorn der beiden Männer unter, und den Tag
darauf wurden sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den
totgebissenen Mordax mit einem Reichstaler zu büßen. Der Bäcker mußte
für deu zertrümmerten Fensterflügel nicht viel weniger bezahlen und sich
mit seinem Widerpart in die angelaufenen Sporteln teilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft be-
festigt. Hinüber und herüber flog kein freundliches Wort mehr. Ging die
Gerberin ihren Weg links zur Kirche, so nahm die Nachbarin ihren Weg rechts.
Saß der Bäcker im Posthause in der Stube beim Barbier, so nahm der Gerber
seinen Platz im Kabinett. Für die Kinder des Gerbers gaben weder der Oster-
hase, noch der Märtel, noch das heilige Kind durch die Frau Patin mehr
etwas ab.
So ging es fast drei Jahre. Einmal am Ende des dritten, setzten sich
der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, um ihren Kaffee zu
trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade herauszog, war kein Wecken zum
Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der neben ihr auf den Zehen stand und
auch hinein schaute, rief sogleich: „Mutter, einen Groschen! ich hole das
Brot." Dann sagte er zum Vater: „Heute laufe ich aber nicht lange herum;
wenn es beim Torbäcker kein Brot gibt, gehe ich wieder einmal zu dem Herrn
Paten hinüber." Der Gerber sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den
Knaben ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre
Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Tor herein, laut singend, daß
es die ganze Gasse hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn Paten! heut' geh'
ich zum Herrn Paten!" Ungehalten über den argen Schreihals, wollte sein
Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das verquollene Fenster aufbringen
konnte, war der kleine Sänger schon zum Tempel hinein und — kehrte nach
einigen Augenblicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des Ölzweiges
hatte er einen geschenkten Eierring in der Hand und rief, über die Schwelle
in die Stube hineinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater und Mutter recht
schön grüßen, und ich soll bald wiederkommen."
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute einige
freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die weiße und die
gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen; an: dritten zeigten die
Weiber einander die Leinwand, zu der sie in den bösen drei Jähren oft mit
Tränen über den unseligen Zwist den Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr deu Friedensboten erweckt hatte;
denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet schnell in ein Nerven-
fieber und aus diesem, nach wenigen lichten Augenblicken, in den Todes-
schlummer. Gott gebe ihm eine fröhliche Urständ!
I. Wort- und Sacherklärung. Die gelbe und die weiße Schürzen-
der Gerber, weil er eine gelbe, und der Bäcker, weil er eine weiße Schürze
trägt. Aus der Taufe heben---Pate sein. Ausgedienter Invalide---ver-
trockneter Baum. Im eigentlichen Sinne ist ein Invalide ein durch
Wunden oder Alter kriegsuntüchtig gewordener Soldat; mit einem solchen
ist der abständige Baum verglichen. Rekrut (in eigentlicher Bedeutung)
32 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
— der zum Kriegsdienste neugeworbene Soldat, der an die Stelle des
ausgedienten tritt; hier in uneigentlicher Bedeutung: der junge Baum.
Baumschule = ein Platz, auf welchem viele junge Bäumchen stehen, die
veredelt werden sollen. Hob den schönsten Mann aus = bildlich für „den
schönsten Baum", ein Vergleich mit der Aushebung beim Militär. Eine
Pflaume oder ein Apfel —ein Pflaumen- oder Apfelbaum. Posten —
Platz. Fetter oder magerer Platz ^fruchtbarer oder unfruchtbarer Boden.
Martini —der 11. November, der Gedächtnistag des 402 gestorbenen
Bischofs Martin. Die kleinen Patent die Kinder, welche die Bäckerin
aus der Taufe gehoben hatte. Der Hase: daß der Hase den Kindern
Ostereier bringt, hängt mit der Göttin Ostara, die bei den alten Ger-
manen die Göttin des Frühlings war, zusammen. Das ist ein Sym-
bol des keimenden Lebens; daß man den Hasen dazu erwählt hat, die
Eier, und zwar recht viele, zu bringen, kommt daher, weil das Weibchen
viermal im Jahre und im ganzen 8—12 Junge wirft und deshalb das
Symbol der Fruchtbarkeit ist. Rot sind die Ostereier vielleicht deshalb,
weil Ostara auch die Göttin der Morgenröte ist und diese dadurch ver-
sinnbildlicht werden soll. Der gute Märtel = Martin. Der oben genannte
Bischof gilt in Süddeutschland als Bote des Christkindleins, der zusieht,
ob die Kinder auch so brav waren, daß sie schöne Weihnachtsgeschenke
erhalten können. Am Vorabend des Martini stellen die Kinder einen
Teller auf, und am andern Morgen liegt Backwerk darauf. In Nord-
deutschland geschieht das am Nikolaustag, Sankt Nikolaus, plattdeutsch
„Sünteklas". Serviette ^ Tellertuch, kleines Tischtuch. Spenden ^Ge-
schenke. Die Herzen der beiden Weiber rückten sich näher e die beiden
Frauen wurden immer befreundeter miteinander. Feldmann — Bezeich-
nung für eineil großen Jagdhund. Mordax---ein lateinisches Wort, wel-
ches beißend, scharf bedeutete; also ein kleiner, bissiger Hund. Behauptete
ein Kalbsknöchlein — er suchte einen Kalbsknochen, als ihm gehörend,
gegen den Feldmann zu verteidigen. Mit zermalmtem Genick = mit
in kleine Teile zerbissenem Genick. Mit eingezogenem Schweife = aus
Angst vor den bevorstehenden Schlägen. Raubmörder = derjenige, wel-
cher bei einer Beraubung zugleich einen Mord begeht. Die Handgranate
= der schwere Stein, als Wurfgeschoß mit der Hand. Schuß — Wurf.
Blieb nichts schuldig — er schimpfte wieder. Satan stand gewiß in einer
Ecke, d. h. unbemerkt im Hinterhalte, und suchte den Streit dadurch,
daß er den Zankenden böse Eingebungen machte, zu vergrößern, gleich-
sam wie der Blasebalg das Feuer anfacht. Kampfplatz — Straße. Die
Sonne ging über dem Zorn der beiden Männer unter — als der Abend
hereinbrach, hatten sie sich noch nicht wieder miteinander versöhnt. Wider-
part — Gegner. Sporteln — Gerichtsgebühren. Es war zwischen ihnen
eine große Kluft = wie eine große Kluft zwischen dem reichen Manne
in der Hölle und dem armen Lazarus in Abrahams Schoß befestigt war,
so daß nicht der eine zum andern kommen konnte, so war auch zwischen
den beiden Familien eine so große Feindschaft, daß sie nicht mehr zu-
sammen kamen. Kabinett — ein kleines, abgesondertes Nebenzimmer.
Stöber: Der kleine Friedensbote.
33
Der Wecken — ein keilförmiges Weizenbrötchen. Helm = Abkürzung
für Wilhelm. Torbäcker = der Bäcker, der am Tore wohnt. Daß es
die ganze Gasse hören konnte — die Bewohner der Straße. Das ver-
quollene Fenster --- das Fenster hatte sich durch die Feuchtigkeit so aus-
gedehnt, daß es schwer zu öffnen war. Zum Tempel hinein = zum
Hause hinein. Statt des Ölzweiges hatte er einen geschenkten Eierring =
Noah entsandte eine Taube, die um die Abendzeit mit einem Olblatt,
einem Bilde des Friedens, zurückkehrte. Der Eierring, ein ringförmiges,
aus Eiern und Mehl zubereitetes Gebäck, vertritt in unserer Erzählung
die Stelle des Olblatts. Die Herzensreinheit und Unschuld (die Taube,
der kleine Helm) ist ein treuer Bote, der nicht unverrichteter Sache
wiederkehrt. Unseliger Zwist — höchst unglücklicher Streit. Ein lichter
Augenblick --- ein Augenblick, in dem ihm der Verstand klar wird. Ur-
ständ — Auferstehung.
II. Fragen über den Inhalt. Weshalb heißt die Überschrift „Der
kleine Friedensbote"? Was sind Nachbarn? Worüber mögen sie sich
wohl in der ersten Zeit ihres Bekanntwerdens miteinander unterhalten
haben? (über allgemeine Stadtneuigkeiten.) Worüber wohl, als sie
befreundeter miteinander wurden? (Über ihre eigenen Angelegenheiten.)
Welche Gefälligkeiten erwiesen sie sich gegenseitig? Wodurch bewies die
Bäckerin ihre Freundschaft? Wie kam es, daß der Mordax totgebissen
wurde? Weshalb warf der Bäcker dem Feldmann einen Stein nach?
Welche Folgen hatte der unglückliche Wurf? Wie entstand der Prozeß
zwischen Bäcker und Gerber? Wie lautete das Urteil? Wodurch bewiesen
die Frauen ihre gegenseitige Feindschaft? Wodurch die Männer? Was
war die Folge davon für die Kinder des Gerbers? Wie lange dauerte die
Feindschaft? Was war die Veranlassung dazu, daß der kleine Helm wieder
einmal vom Paten Wecken holte? Wie wurde er zum Friedensboten?
Was geschah noch an demselben Abend? Was am folgenden? Weshalb
war es hohe Zeit, daß sie sich wieder miteinander ausgesöhnt hatten?
III. Vertiefung in den geistigen Gehalt. 1. Schilderung des
Kampfplatzes der beiden Hunde: Wir denken uns in die Straße eines
Städtchens versetzt. Auf der grünen Bank, die vor dem Hause des Bäckers
steht, sitzt ein Mann mit weißer Schürze; hinter dem geschlossenen Fenster
des gegenüberliegenden Hauses steht ein Mann mit gelber Schürze. Beide
sehen dem Kampfe eines großen, braunen Jagdhundes mit einem kleinen,
weißen Hunde zu. Jener will dem kleineren einen Kalbsknochen, mit dem
dieser soeben aus dem Hause gekommen war, entreißen. Der kleine wehrt
sich heftig, bis ihn plötzlich der größere ins Genick beißt. Das Hündchen
stürzt tot hin; der Jagdhund schleicht mit dem eroberten Knochen und mit
eingezogenem Schweife davon. Der Bäcker springt von der Bank aus,
nimmt einen bei der Bank liegenden dicken Stein und wirft ihn dem
Hunde nach. Der Stein fliegt ins gegenüberliegende Fenster und hätte
beinahe den Gerber, der rasch zur Seite springt, getroffen. Der Gerber
reißt das Fenster auf; die Männer geraten in einen heftigen Wortwechsel.
Ihre Frauen und Kinder sehen auch zum Fenster hinaus, mischen sich
AdL. II. 8. Aufl. 3
34 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa»
jedoch nicht in den Streit. Die Bewohner der anderen Häuser kommen
auf die Straße und hören neugierig zu. Der Bäcker geht endlich ins
Haus, der Gerber eine Weile danach auch, nachdem er noch einige Worte
mit einem Nachbar gewechselt hat, und nach und nach ziehen sich die
Gaffer wieder in ihre Häuser zurück.
2. Charakteristik der P ersonen: Beweise, daß der Bäcker
wie der Gerber gefällig, ein Obstfreund, Hundeliebhaber, leicht auf-
brausend war, ohne Überlegung handelte, sich vor dem andern nicht beugen
wollte, endlich aber sich versöhnlich zeigte!
Gib Beweise dafür an, daß die Bäckerin freigebig und eine Kinder-
freundin war! Beweise, daß beide Frauen sorgsame und fleißige Haus-
frauen und weichherzig waren! Beweise, daß der kleine Helm neugierig,
dienstfertig, anhänglich an seinen Paten und lustig war, den ihn vom
Paten gegebenen Auftrag pünktlich ausführte!
3. Übersichtliche Darstellung des Inhalts: a) Das freund-
schaftliche Verhältnis zwischen Bäcker und Gerber, b) die Entstehung und
die Folgen des feindlichen Verhältnisses, e) die Aussöhnung der beiden
Familien.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung: Halt's mit den Nachbarn,
soviel an dir ist! Guter Nachbar an der Wand ist besser als Bruder
über Land. Halte den Nachbar, er hält dich wieder! Friede ernährt,
Unfriede verzehrt. Röm 12, 18: Jst's möglich, soviel an euch ist, so
habt mit allen Menschen Frieden! — Eph. 4, 26: Lasset die Sonne nicht
über eurem Zorn untergehen! Vergl. Sprüche 27, 10 u. 18, 24!
2. Rede- und Stilübungen, a) Gib Ursachen an, durch welche
gute Freunde oft die erbittertsten Feinde werden können! b) Gib Sprich-
wörter an, die vom Frieden handeln! e) Beweise aus der Erzählung
die Wahrheit des Sprichworts: „Halte den Nachbar, er hält dich wieder!"
ck) Kürzung der Erzählung, e) Nenne Geschichten aus deinem Lesebuche,
in denen jemand den Frieden vermittelt! I) Erzähle von dem freund-
schaftlichen Verhältnisse zwischen dem Gerber und dem Bäcker! g) Be-
schreibe die Szene auf der Straße nach dem Tode des Hundes! h) Der
Knabe des Gerbers erzählt einem Schulkameraden die Versöhnung seines
Vaters mit dem Bäcker, i) Eine Nachbildung. (Ein Tischler und ein
Metzger sind gute Freunde, verfeinden sich aber durch eine unvorsichtige
Äußerung des Metzgers im Wirtshause. Der Sohn des Metzgers ladet
den des Tischlers zum Geburtstage ein, der Knabe bringt als Geschenk
eine Wurst mit nach Hause. Aussöhnung.) Ir) Suche aus dem Lesestücke
alle Wörter, zu denen du ein gleich oder ähnlich lautendes Wort setzen
kannst, z. B. waren (die Waren, wahren); einmal (ein Mal, ein Mahl);
sich (siech, der Sieg); wenn (wen); Stelle (stelle, die Ställe, stehle, stähle);
Mann (man, mahn'); er (die Ehr', das Ohr); ferner zu folgenden Wör-
tern: den, oder, kam, Tiere, daß, ehe, Bank, lag, Herr, Hunde, an, riß,
fing, ihn, Ecke, Gasse, verließ, Sonne, viel, im, in, für, weder, fast,
drei, Ende, war, Wecken, auch, rief, hole, sagte, heute, wieder, ließ,
Ahlfeld: Der freundliche Herr.
35
singend, statt, bald, sie, Faden, Zeit! 1) Stelle die biblischen Ausdrücke
aus dem Lesestücke zusammen! m) Suche in dem Lesestücke alle Bilder
und bildlichen Ausdrücke auf, und erkläre sie! J. Gossel.
17. Der freundliche Herr.
Joh. Friedrich Ahlfeld.
1. Vorbereitung. Als ich einst den Harz, das nördlichste Gebirge
Deutschlands, durchwanderte, fand ich inmitten eines dichten Waldes einen
großen, freien Platz. Aus demselben erblickte ich einen hohen, mit Rasen
belegten, rauchenden Holzhaufen. Nicht weit davon stand eine Reisighütte.
Darin lagerten einige Männer. Ihr Aussehen verriet mir, daß es
Köhler oder Kohlenbrenner waren, die in ihren Meilern oder bedeckten
Holzstößen durch langsames Verbrennen das gespaltene Holz in Kohlen
verwandelten. Ich trat zu ihnen und bat sie, mir die Vorgänge beim
Kohlenbrennen zu zeigen. Bereitwillig erfüllte einer der Männer meinen
Wunsch. Unter den Dingen, die er mir zeigte, war ein alter Karren
(zweirädriger Wagen), auf den er geheimnisvoll und mit sichtlicher Rüh-
rung blickte. Ich fragte nach der Bedeutung des Karrens und erfuhr
folgende Geschichte:
II. Unmittelbare Darbietung. 1. Vorlesen mit eingeschalteten
kurzen Erläuterungen.
Was der Stern des Morgens für die Pflanzen ist (eine Erquickung), das
ist das herzliche Wort (das vom Herzen kommt), der freundliche Blick für die
Arbeiter in ihren sauren (mühe- und arbeitsvollen) Stunden. An einer Stätte
im Harzgebirge bewahren die Kohlenbrenner noch heute einen Karren mit
großer Sorgfalt (Schonung) auf. — Sie baten nämlich in teurer Zeit (in
welcher alle Lebensbedürfnisse viel kosteten) ihren Grasen (den Besitzer der
Wälder), er möchte ihnen den Lohn erhöhen. Sein Oberaufseher meinte, es
sei nicht nötig, die Arbeit sei hinlänglich gelohnt (ausreichend bezahlt). Da
schlägt ihm der Graf vor, sie wollten einmal selbst prüfen (untersuchen),
wie schwer die Arbeit sei. Darauf spannte er sich selbst samt seinem Ober-
aufseher in einen beladenen Karren, und jeder fuhr den seinen hin bis an
die bestimmte Stätte. Als sie da waren, meinten beide, es sei doch eine recht
saure (schwere) Arbeit, und es könnte wohl den Leuten ein mehreres an
Lohn gegeben werden. So geschah es auch. —
Lange ruht der Graf in der Erde; aber so oft der Fremdling (der hier
nicht seine Heimat hat) an den Ort kommt, zeigen ihm die Arbeiter den Karren
und sagen ihm: „Den hat unser seliger Herr Graf gezogen!" Noch heute
erscheint'ihnen diese Teilnahme als ein Licht in den Mühen ihres Lebens.
2. Erläuterungsfragen. Womit wird das herzliche Wort, der
freundliche Blick des Herrn verglichen? Was denkst du dir unter herz-
lichen Worten? Wann wird der Blick freundlich genannt? Warum
sind herzliche Worte und freundliche Blicke für den müden Arbeiter gleich-
sam Tau? Wann erblickst du Tau aus den Pflanzen? Wie ist die
Pflanze, ehe sie der Tau benetzt? Wovon ist die Pflanze welk geworden?
Welches Aussehen erhält sie durch denselben? Wie wird der Arbeiter bei
unausgesetzter Arbeit? Was erquickt und erhebt ihn dann wieder? usw.
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Ich sehe mitten im Hochwalde
einen ebenen, von Bäumen entblößten Platz, den rings hohe Bäume um-
geben. Auf dem Platze stehen einige Reisighütten, liegen große Holz-
3*
36 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
stämme und erheben sich backofenförmige Meiler. In gewissen Entfer-
nungen sind auf dem Boden runde Plätze, von Kohlenstaub bedeckt, auf
denen früher Meiler gestanden haben. In der einen Hütte steht ein Mann
vor einem lustig flackernden Feuer. Er bereitet das Mittagsmahl. Andere
Männer zerschneiden die umherliegenden Holzstämme zu kleinen Stücken;
andere bilden daraus kunstgerechte Haufen mit regelmäßigen Zwischen-
räumen; wieder andere bedecken solche mit Reisern und Rasenstücken und
zünden unten, im Innern dieser Meiler, ein Feuer an. Da steigt nun
wohl ein starker Rauch aus dem Haufen, aber ich sehe keine Flamme.
Es muß sorgfältig darüber gewacht werden, daß das Feuer nur glimmt,
aber nicht durch den Zutritt von frischer Luft in helle Flammen auf-
schlägt, sonst würde alles zu Asche verbrennen. Viele Wege führen aus
dem Walde auf diesen Platz. Auf denselben kommen Männer und ziehen
Karren, die mit schweren Holzstämmen beladen sind. Die Arbeit muß
ihnen schwer werden, denn von ihren Gesichtern trieft der Schweiß. Auf
dem Platze angekommen, heben sie das Holz von den Karren. Sie eilen
nach der Reisighütte. Dort steht oder hängt in einer Ecke unbenutzt ein
alter Karren, der gleichsam der Ehrenschmuck der Hütte ist.
2. Personen, a) Der Graf hört die Arbeiter an; er macht dem
Oberaufseher einen Vorschlag; er will die Arbeit selbst prüfen; er
spannt sich an den Karren; er findet, daß die Arbeit sauer ist; er
erhöht den Lohn. b) Der Oberausseher erteilt schlimmen Rat,
muß sich mit an den Karren spannen, findet auch, daß die Arbeit
sauer ist, ändert seine Gesinnung, o) Die Arbeiter litten Not, baten
ihren Herrn, vertrauten ihm, ehrten ihn noch nach seinem Tode.
Eigenschaften: Der Graf war teilnahmvoll, einsichtig,
wohltätig. — Warum? — Der Oberaufseher war erst teil-
nahmslos, dann bekehrt. — Warum? — Die Arbeiter waren
fleißig, bescheiden, dankbar. — Wie zeigten sie dies?
3. Gliederung. 1. Einleitung. 2. Bitte der Arbeiter. 3. Vor-
schlag des Grafen. 4. Ausführung. 5. Lohnerhöhung. 6. Dankbarkeit
der Arbeiter. 7. Grundgedanke: Wie der Tau des Morgens usw.
Wer Liebe säet, wird Dank ernten.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Erleichtere die Bürden deines Nächsten durch freundliche Mienen, teil-
nehmende Worte und großmütige Unterstützungen! Ein jeder Arbeiter
ist seines Lohnes wert!
2. Anklänge an Verwandtes: Pharao drückt Israel mit schwe-
rer Arbeit. Jak. 5, 4: Siehe, der Arbeiter Lohn —. Die Freundlichkeit
des Boas (Boz) gegen seine Schnitter. — Das Rotkehlchen. — Wie du
hineinrufst in den Wald, so dir es auch entgegenschallt.
3. Rede -und Stilübungen, a) Erzähle von dem Grafen, von
den Arbeitern, von dem Oberaufseher! b) (Nach Drobe.) Erzählung mit
verändertem Ausgange: 1. Der Graf schlägt die Bitte ab; 2. die Arbeiter
verlassen ihr Werk, gehen müßig und geraten in Not; 3. auch der Graf
hat großen Nachteil. 8. Lsllnsr.
37
Ahlfeld: Geiz ist die Wurzel alles Übels.
18. Geiz ist die Wurzel alles Übels.
Friedrich Ahlfeld. Volksblatt für Stadt und Land. Halle 1847. S. 453. (Gekürzt.)
I. Vorbereitung. Was tat Judas Jschariot? Er verriet den Herrn.
Warum? Aus Geiz, da er 30 Silberlinge sich verdienen wollte. War
es wirklich Geiz? Es heißt: Er trug den Beutel und war ein Dieb.
Wovon ward der Geiz die Wurzel oder die Ursache? Vom Verrate, von
Judas' Selbstmord und des Herrn Jesu Tod. — Der Geiz ist die Wurzel
alles Übels. Das beweisen Hunderte von Beispielen. Ich will euch ein
solches vorlesen!
Die Jahre 1779, 80 und 81 waren Wasser- und Hungerjahre. H Damals
lebte in den Odergegenden ein Mann, dessen Feld war Höhenland2) und hatte
gut getragen. Und sein Feld war groß, so daß er eine gewaltige Masse von
Roggen in der Scheuer und endlich auf dem Boden hatte. Hoch waren die
Preise schon im Herbste. Mit dem Winter und dem Frühjahre stiegen sie
immer höher. Mancher Handelsmann klopfte an die Tür des Reichen; mancher
Handwerker bettelte, er möchte ihm doch für gutes Geld ein Scheffelchen ab-
lassend) Alle aber wurden abgewiesen mit der Antwort: „Ich habe mir einen
Satz gemacht H; der Boden wird nicht eher geöffnet5), bis der Scheffel 8Taler
kostet. Dabei bleibe ich!" Und zum Zeichen hatte er an die Bodentür eine
große schwarze 8 mit Kohle gemalt. Der Winter verging, der Mai kam heran,
und die Preise waren hoch gestiegen; denn die Fluten hatten großen Schaden
getan.5) Am 7. Mai kam ein armer Leinweber, ein ehrlicher Meister aus dem
Orte. Sein Gesicht sah vor Hunger und Grämen selber aus wie graue Lein-
wand.^) Er zählte ihm, damit der reiche Mann Geld sähe, für einen halben
Scheffel 3 Taler 22 Groschen auf den Tisch. Die 22 Groschen bestanden aus
Dreiern, Sechsern und Groschen, denn der Mann hatte alles zusammen-
gesucht.5) Aber der Bauer sprach: „Euer Aufzählen hilft euch nicht! der
Scheffel kostet 8 Taler; das ist mein Satz. Eher tue ich den Boden nicht auf.
Und dann muß es ordentlich Courant sein."5)
Des Bauern Söhnlein, ein Bürschchen von zehn Jahren, zupfte den
Alten am Rocke: „Vater, gebt's ihm doch!" Aber der Vater prägte ihm mit
einem Rippenstöße andere Grundsätze ins Herz.10) Der Weber mußte sein
Geld zusammenstreichen und heimwandern"). Den 8. Mai in der Abend-
dämmerung^5) kam die Zeitung an. Einen Blick hinein, und der Bauer fand,
was er finden wollte: Roggen 8 Taler"). Da zitterten ihm die Glieder vor
Freude. Er nahm ein Licht, ging auf den Boden und wollte übersehen, wieviel
er wohl verfahren könne, und überschlagen, wie groß seine Einnahme wäre").
Indem er so durch die Haufen und gefüllten Säcke hinschreitet, strauchelt er
an einem umgefallenen Sacke, fällt selber, das Licht fliegt ihm aus der Hand
und in einen Haufen Stroh, der daneben liegt. Ehe er sich aber aufraffen
konnte, steht das Stroh in hellen Flammen. Mitternacht an demselben Tage,
wo der Scheffel Roggen 8 Taler galt, wo er auf seinen Satz gekommen war
und seinen Boden geöffnet hatte, stand er am Schutthaufen seines ganzen
Gutes als ein armer Mann.
II. Erläuterungen. 1. Regen und Überschwemmungen vernichteten die
Feldfrüchte. Die Preise gingen in die Höhe, und es ward eine Teurung.
Die Armen hatten kein Geld zum Kausen und mußten hungern. 2. Das
Land auf den Höhen, die das Odertal einfassen, war nicht über-
schwemmt worden. 3. Warum klopfte mancher Handelsmann an die Tür?
Warum bettelte mancher Handwerker? 4. Preis festgesetzt. 5. Nicht eher
wird Roggen verkauft. 6. Warum stiegen dadurch die Preise? 7. Toten-
bleich und abgemagert. Wovon? 8. Warum bestanden die 22 Groschen
38
I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
aus Dreiern, Sechsern und Groschen? 9. Was ist ordentlich Courant?
10. Brachte ihn durch einen Rippenstoß zum Schweigen. 11. Wegnehmen
und fortgehen. 12. Es war schon dunkel, und man brannte Licht an.
13. In der Zeitung stand die Nachricht, daß der Scheffel Roggen 8 Taler
kostete. 14. Er wollte mit dem Lichte in der Hand auf dem Roggenboden
sehen, wieviel er etwa Getreide zu verkaufen hatte, und danach, seine
Einnahmen überschlagen (berechnen).
III. Vertiefung. 1. Gedankengang. Der Bauer hat in teurer
Zeit eine gute Ernte gemacht und die Böden voll Getreide. Er verstockt
sein Herz. Alle, die Getreide von ihm kaufen wollen, weist er mit den
Worten ab: „Nicht eher wird der Boden geöffnet, bis der Scheffel 8 Taler
kostet. Das ist mein Satz!" An die Bodentür malt er eine 8.
Ein armer Leineweber bringt am 7. Mai seine schwer erworbenen
letzten Taler; aber es fehlen 2 Groschen. Der Bauer weist den armen
Mann hartherzig ab. Als des Bauern Söhnlein für den Armen bittet,
erhält er einen Rippenstoß.
Am 8. Mai kostet der Scheffel 8 Taler. Der Bauer bekommt die
Nachricht in der Abenddämmerung und läuft aus den Boden, mm seine Ein-
nahmen zu überschlagen. Da fällt er mit dem Lichte; dieses fliegt ins
Stroh und setzt das ganze Haus in Brand. Um Mitternacht ist er ein
Bettler.
2. Grundgedanken. Worin der Mensch sündigt, darin wird er
gestraft. Allzu stark gespannt, zerspringt der Bogen. 1. Tim. 6, 9: Und
die da reich werden wollen usw.
IV. Verwertung. Aufgaben: a) Schildere den geizigen Bauer!
(Der Bauer ist unbarmherzig, roh. Wieso? Er gibt dem Knaben
einen Rippenstoß. Der Bauer ist unbesonnen, geht mit dem Lichte auf
den Boden, wo Stroh liegt. Der Bauer ist undankbar gegen Gott,
der ihm das Getreide geschenkt, damit er seinen Brüdern helfe.) b) Zeige
dasWaltenGottes! Bibelspruch: Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht
spotten. Was der Mensch säet, das wird er ernten, e) Beherzige folgende
Sprichwörter und Sprüche, und erkläre sie! Der Geizige hat den Schlüssel
zum Geldkasten verloren. — Der Geizige macht sich seine Höllenfahrt
sauer. — Wer sich des Armen erbarmt, der leihet dem Herrn. — Brich
dem Hungrigen dein Brot, und die, so im Elend sind, führe in dein Haus!
— Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! — „Wird der
Arme zu mir schreien, daß du so unbarmherzig bist, so werde ich ihn
erhören," spricht der Herr. Eduard Wiessner.
19* Christoph Kolbheim.
W O. v. Horn. Spinnstube 1848. S- 49. (Leise geändert.)
Wie mancher hat sich schon gesagt: „Was mich nicht brennt, das blas' ich
nicht!" und ist vorüber gegangen, wo er hätte helfen sollen. Das ist so ein
Sprichwort, womit sich die Geizigen, Hartherzigen und andere Leute dieser
Art beruhigen, wenn der Geist nicht willig und das Fleisch schwach ist. So
dachte auch der Priester und Levit, als sie den Armen in seinem Blute liegen
ließen und sich aus dem Staube machten.
39
Horn: Christoph Kolbheim.
Dochte auch der Samariter so? Dachte auch der brave Christoph Kolb-
heim in einem Dörfchen bei Duderstadt so? Der war ein blutarmer Schelm
und ein Witwer dazu und hatte drei Kinder, die gar so oft sagten: „Vater,
wir sind hungrig!" Das hört ein Vaterherz gern, wenn er Brot genug hat
und noch etwas dazu, aber wie schneidet das ins Herz, wenn keins da ist!
Und just so ging's dem armen Kolbheim oft genug. Das Betteln verstand er
nicht; aber er verstand Schuhe zu flicken, Kochlöffel zu schnitzen und Besen zu
binden und solcher kleinen Künste mehr, was er auch so fleißig tat, daß er sich
kümmerlich mit seinen Kindern durchbrachte, — aber es kam doch mancher
„lange Tag".
Der Kolbheim hatte einen recht guten Freund, der hieß Volkmann, war
auch ein Witwer, wie er, und hatte sieben unerzogene Kinder. „Gleich und
gleich gesellt sich gern," heißt's im Sprichworts, und „Das Unglück ist der
beste Leim". Der Volkmann und seine Kinder hatten auch der Fasttage so
viele, daß sie schier die schwere Kunst bald gelernt hätten, wenn nicht das Lehr-
geld gar zu schwer wäre. Beide Leidensbrüder waren ein Herz und eine Seele.
Da sagte einmal der Volkmann zu seinem Busenfreund Kolbheim: „Ich ziehe
nach Lauterberg ins Hannöversche; dort ist mehr Verdienst." Gesagt, getan.
— und der Hausrat kostete nicht viel Fracht. Der Kolbheim wünschte ihm
alles, was ihm heilbringend sein kann; aber der Arme fand's in Lauterberg
nicht, — denn er erkrankte und starb, und die hungernden Kinder schickten die
von Lauterberg hin, wo sie hergekommen. Die Bauern im Dorfe dachten:
„Was mich nicht brennt, das blas ich nicht!" und ließen die hungernden Waisen
laufen. Dachte auch der blutarme Kolbheim so? Nein, lieber Leser, der nahm
die sieben Waisen seines Freundes iu seine Hütte zu seinen Kindern, sah mit
einer heißen Träne gen Himmel und seufzte: „Herr, der du mit wenigen
Broten Tausende gespeiset hast, hilf! und verlaß mich nicht!"
Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten! — denn das, was Kolb-
heim getan, wurde der preußischen Regierung in Erfurt bekannt, und diese
sandte ihm 40 Taler zur ersten Hilfe; auch sandte ihm ein frommer Mann
heimlich 10 Taler. Und als es der fromme Preußenkönig Friedrich Wil-
helm III. hörte, so sandte dieser dem guten Kolbheim ein Kapitälchen, daß er
sich konnte ein Feldgütchen kaufen. Eines der Volkmannschen Kinder kam
ins Waisenhaus nach Halle, welches der fromme Francke gestiftet hat, der auch
nicht sagte: „Was mich nicht brennt, das blas' ich nicht!"
Saget ihr auch nie so, wenn ihr hadern höret, wenn chr Zeugen fauler
Geschwätze, sündhafter Flüche, schändlicher Handlungen oder menschlichen
Jammers seid! Das brennt euch wohl, und wenn ihr nicht blaset, — wie
steht's dann lim euer Gewissen?
I. Vorbereitung. Die Erzählung von Christoph Kolbheim versetzt
uns auf das untere Eichsseld und auf den südlichen Oberharz. Die Haupt-
person unserer Geschichte wohnte in dem Dorfe Silkerode bei Duderstadt.
Duderstadt ist eine altertümliche Stadt in der Provinz Hannover und
liegt auf dem unteren Eichsfelde in der fruchtbaren „goldnen Mark".
Die kleine hannoversche Stadt Lauterberg liegt auf dem südlichen Teile
des Oberharzes, südlich von Klausthal und Andreasberg, und hat eine
besuchte Kaltwasser-Heilanstalt. Unsere Erzählung fällt in den Anfang
des vorigen Jahrhunderts. Höret sie!
II. Unmittelbare Darbietung. Gliederung der Geschichte:
a) Ein böses Sprichwort, b) Seine Widerlegung durch einen braven
Mann: 1. Der arme Witwer. 2. Der barmherzige Freund. 3. Der ge-
segnete Wohltäter, o) Mahnung der Geschichte.
III. Vermittlung des Verständnisses, a) Mit welchem Sprichwort
beginnt die Einleitung? Die Ausdrücke „brennen, blasen" sind bild-
40 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
lich gebraucht; sie bedeuten: Schmerzen, Kummer, Not u. dergl. und
Linderung derselben. Was will das Sprichwort sagen in bezug auf fremde
Schmerzen, fremde Not? Was tut der auch nicht, der die Not anderer
nicht mitfühlt? Welche Leute entschuldigen sich mit diesem Sprichworte?
Geizig = nur nach irdischem Gute trachten und streben; hartherzig —
für Schmerz und Not anderer Menschen kein Herz, kein Mitgefühl haben.
Wozu ist der Geist nicht willig? Was gilt von ihrem Fleisch? Von welchen
Männern im Gleichnis muß das leider auch gesagt werden? Bon welchen
zwei Männern gilt es aber nicht?
b) Unsere eigentliche Erzählung enthält drei Abschnitte. 1. Kolb-
heim, ein blutarmer Schelm = sehr arm, besaß nichts als sein Blut.
Wo wohnte er? Womit suchte er seinen Unterhalt (tägliches Brot) zu
verdienen? Wie klagten die Kinder oft? Warum schnitten diese Worte
ihm ins Herz? (= taten ihm wehe.) Was heißt das: Er verstand das
Betteln nicht? Was sagen die Worte: ,,Er brachte sich und seine Kinder
kümmerlich durch"? Was bedeutet der Ausdruck: Es kam mancher lange
Tag? 2. Wer verkehrte oft bei Kolbheim, und was wissen wir von ihm?
Was führte beide Männer zusammen? (Stand, Armut, Unglück.) Was
schließen sie in der Not miteinander? Wann sind Freunde selten zu
finden? Sprichwort: „Freunde in der Not gehen fünfzehn auf ein Lot."
Wann zeigt sich also erst der rechte, wahre Freund? Womit wird im
Sprichwort das Unglück verglichen? Aus welchen Worten geht hervor,
daß es auch dieser Familie recht schlimm erging? Warum kann man
die Kunst des Hungerns nicht auslernen? LeidensbruderSchicksals-
genosse; ein Herz und eine Seele — innigste Gemeinschaft; Busenfreund
= bester Freund. Was trieb den Volkmann nach Lauterberg? Warum
kostete der Hausrat nicht viel Fracht? Welches Schicksal traf Volkmann
und seine Kinder daselbst? Was sind hungernde Waisen? Welche Auf-
nahme fanden sie in der Heimat? Wie entschuldigten sich die hartherzigen
Leute? Wer stimmte ihnen nicht bei, und was tat er? Es könnte dies
leichtfertig erscheinen, da er selbst arm war und nun 10 Kinder zu er-
nähren hatte; aber wen wußte er als Bundesgenossen? Wie wendet er
sich an den rechten Helfer? 3. Wie läßt ihm Gott Hilfe widerfahren?
Wie heißt der Sinnspruch? (Wenn die Not usw.) Welchem frommen
Manne hat Kolbheim nachgeeifert?
e) Welche Mahnung gibt uns der Schluß? Hadern — zanken;
faule Geschwätze — unnützes, unkeusches Gerede; menschlicher Jammer
= Not, Elend. Welchen Leuten gleichen wir, wenn wir solches hören und
sehen und wir hindern, lindern und helfen nicht? Was wird aber dann
unser Gewissen tun? Jak. 4, 17: Wer da weiß Gutes zu tun nsw.
IV. Verwertung. 1. Für Herz und Leben: Bewahre dein Herz
vor Geiz und Habsucht, denn das macht dich lieblos und hartherzig!
Liedervers: Ein unbarmherziges Gericht usw. In Armut und Not sollst
du nicht betteln und stehlen, sondern beten uüd arbeiten! Sir. 41, 29:
Mein Kind, gib dich nicht usw. 2. Thess. 3, 10—12. 4. Bitte. Not-
leidenden laß deine Hilfe widerfahren, der Herr vergilt es. Spr. 19, 17.
■i
Schlez: Meister Hämmerlein.
41
Wer sich des Armen erbarmet usw. Matth. 18, 5. spricht unser Heiland:
Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen usw. Matth. 25, 40. Jüngstes
Gericht: Was ihr getan habt usw.
2. Verwandtes. Die zwei Wanderer bei der Feuersbrunst. Der
arme Meinrad. Ehrlich währt am längsten. Das fremde Kind. Die sieben
Kindlein. Johannes Falk.
3. Rede- und Stilübungen, a) Beschreibe das Leben Kolb-
heims! b) Erzähle von der Wanderschaft und dem Tode Volkmanns!
c) Weise an Kolbheims Leben die Wahrheit des Sprichwortes nach:
„Geben ist Aussäen"! ä) Brief Kolbheims an seinen Bruder über das
Erlebte. L. Wolf.
20 a. Meister Hämmerlein.
Joh. Ferd. Schlez. Der Denkfreund. 4. Aufl. Gießen 1817. S. 37. Gekürzt.
Vor etlichen und dreißig Jahren starb in meinem Geburtsorte der Ge-
meindeschmied Jakob Horn. Im gemeinen Leben hieß er nicht anders als
Meister Hämmerlein. „Meister Hämmerlein? Ei, warum denn Meister Häm-
merlein?" Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er ging und stand,
sein Hämmerlein und ein paar Nägel in der Tasche zu führen und an allen
Toren, Türen und Zäunen zu hämmern, wo er etwas los und ledig fand.
Vielleicht auch, weil er durch sein Hämmerlein Gemeindeschmied des Dorfes
geworden war. „Wie wäre denn das zugegangen?" Ganz natürlich, wie ihr
sogleich hören sollt. Sein Vorfahr war gestorben. Vier wackre Burschen hatten
sich um den Dienst gemeldet und dem und jenem allerlei versprochen. Meister
Hämmerlein hatte sich nicht gemeldet und nichts versprochen, er hämmerte
bloß ein wenig an einer Gartentür und erhielt dafür den Dienst. „Und bloß
für ein bißchen Hämmern?" Usw. (Das Stück findet sich in jedem Lesebuche.)
I. Vorbereitung. „Sprichwort, wahr Wort", heißt es, aber manch-
mal mit Unrecht; denn nicht jedes Sprichwort ist auch ein wahres Wort.
Da heißt z. B. eins: „Wer ungebeten zur Arbeit kommt, geht ungedankt
davon." Das mag wohl im Leben vielfach so sein und so kommen, wie
das Sprichwort behauptet; denn Undank ist ja der Welt Lohn. Aber
dennoch, wahr, unbedingt wahr ist es nicht. Und daß das Sprichwort
nicht immer recht hat, sollt ihr aus einer hübschen Geschichte hören, die
ich euch vorlesen will.
II. Vermittlung, a) Vorlesen der Erzählung, b) Kern- und
Erläuternngssragen: Was für einen Schmied verstehen wir unter
einem Gemeindeschmied? (Einen Schmied, der das alleinige Recht hat,
in einer Gemeinde die Schmiedearbeiten anzufertigen.) Warum wurde
I. Horn Meister Hämmerlein genannt? (Einmal weil — sodann usw.)
Wodurch erlangte er die Stelle als Gemeindeschmied? Auf welche Weise
suchten vier andere Schmiedegesellen, die sich um die Stelle bewarben,
diese zu erlangen? Was für Mittel wandten sie an, um ihren Zweck zu
erreichen? (Verwerfliche, schlechte.) Warum werden sie wohl dennoch
wackere Burschen genannt? (Weil sie tüchtig in ihrem Handwerke
waren.) Erzähle, wie I. Horn die Gartentür ausbesserte! Was ist ein
Felleisen, mit dem Horn des Wegs daher kam? (Lederner Tragsack, in
welchem Handwerksburschen ihre Kleider, Wäsche usw. tragen, Tornister.)
42 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Wer hatte das Ausbessern der Gartentür bemerkt? Was ist ein Dorf-
schulze? (Vorsteher eines Dorfes, wie der Bürgermeister der einer Stadt.)
Weshalb kam dem Schulzen Horns Arbeit an der Gartentür sonderbar
vor? Warum nennt er den Handwerksburschen einen landfremden
Menschen? Erzähle, wie der Schulze in der Dorfschenke mit ihm zu-
sammentrifft ! Warum machte der Schulze seinen Nachbar Hans mit Horn
bekannt? Wie drückt Hans dem I. Horn seinen Dank aus? Worüber
unterhielten sich nun die drei? Warum lauschten wohl alle Gäste auf
ihr Gespräch? Woraus hatten sie seine Tüchtigkeit in seinem Handwerke
erkannt? Welche Tatsache erregte besonders in allen den Wunsch, ihn
zum Gemeindeschmied zu haben? Was hatten sie aus Hämmerleins Tun
richtig erkannt? Wodurch bewies er am andern Morgen noch mehr, daß
er würdig war, Gemeindeschmied zu werden? Zu welchem Sprichwort
liefert seine Wahl als Gemeindeschmied den Gegenbeweis? Erzähle, wie
Hämmerlein auch als Gemeindeschmied seine gemeinnützige Denkart be-
tätigte !
III. Vertiefung. 1. Nachweis aus der Erzählung, daß das Sprich-
wort kein wahr Wort ist: „Wer ungebeten zur Arbeit kommt, geht un-
gedankt davon." a) Horn sieht die zerbrochene Gartentür und bessert
sie aus, ohne dazu aufgefordert zu sein: er kommt ungebeten zur
Arbeit; b) der Schulze redet ihn wegen seines uneigennützigen Tuns
freundlich an, Nachbar Hans dankt ihm öffentlich dafür, er wird Ge-
meindeschmied: er geht nicht ungedankt davon.
2. Charakteristik des Gemeindeschmiedes. Weise aus der Erzäh-
lung nach, daß I. Horn ein junger Wanderer, ein rechter, echter Wander-
bursch war (er kam mit seinem Felleisen des Wegs daher); daß er die
Augen offen hatte und mit gesunden Sinnen umherschaute; daß er in
seinem Handwerk was Tüchtiges gelernt hatte, bescheiden, verständig in
seinen Reden und einnehmenden Wesens war; daß er gemeinnützige Denk-
art hegte und auch anderen den Sinn dafür zu eröffnen suchte; daß er
in der Gemeinde in Achtung und Ansehen gestanden!
3. Gedanken gang. A. Warum I. Horn Meister Hämmerlein ge-
nannt wurde, und welchen Nutzen ihm sein Hämmerlein gebracht hat.
B. Wie er Gemeindeschmied wurde: a) Er bessert eine Gartentür aus;
b) er trifft mit dem Schulzen in der Dorfschenke zusammen und kommt
mit ihm und anderen in ein Gespräch; c) er liefert Beweise seiner Tüch-
tigkeit und wird Gemeindeschmied. 0. Wie er auch als Gemeindeschmied
bei seiner gemeinnützigen Denkart bleibt und sie übt.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben, a) Tue,
was des Lohnes wert ist, und begehre keinen!" (Claudius.) b) „Tue das
Gute, wirf es ins Meer; weiß es der Fisch nicht, weiß es der Herr!"
2. Rede- und Stilübungen, a) Hämmerlein berichtet in Kürze
seinen Eltern, wie er plötzlich Gemeindeschmied eines großen Dorfes ge-
worden. (Liebe Eltern! Heute kann ich Euch ein recht erfreuliches Er-
eignis mitteilen. Vorgestern kam ich in die Nähe des großen Dorfes N.;
und als ich dort an einem der Gärten, die das Dorf umgeben, eine Tür
Hebel: Belehrung über das Wetterglas.
43
sah, von der ein Brett losgerissen war, holte ich schnell ein paar Nägel
und meinen Hammer aus der Tasche und nagelte es fest. Darauf ging
ich in die Dorfschenke, um mein Abendbrot zu verzehren. Kaum hatte
ich mich gesetzt, als ein Mann eintrat, der Dorfschulze, der gesehen, wie
ich die Gartentür ausgebessert hatte, und der es den anwesenden Gästen
erzählte. — Alle freuten sich, daß ich das getan und so uneigennützig ge-
handelt hatte. Ich mußte bleiben und von meiner Wanderschaft und
meinem Handwerke berichten. Als wir uns am späten Abend trennten,
sprachen sie den Wunsch aus, ich möchte der Nachfolger des vor kurzem
gestorbenen Gemeindeschmiedes werden. Am andern Morgen legte ich
einige Proben von der Geschicklichkeit in meinem Handwerke ab, und noch
an demselben Tage wurde ich einstimmig zum Gemeindeschmied erwählt.
Nun, liebe Eltern, macht Euch nur auf, kommt zu mir und teilt mein
Glück mit mir!) b) Gliederung von Hämmerleins Brief an seine Eltern:
1. Einleitung: Hinweis auf das erfreuliche Ereignis. 2. Seine Tat.
3. Der Besuch in der Dorfschenke. 4. Die Probe. 5. Seine Wahl zum
Gemeindeschmied. 6. Aufforderung an seine Eltern, zu ihm zu ziehen,
c) Mein erster Abend in der Dorfschenke. Bon Jakob Horn geschildert.
(Als ich zum erstenmal in unsere Dorfschenke eintrat, war das Gast-
zimmer noch ganz leer. Ich setzte mich an einen Tisch in der Ecke, um
mein Abendbrot zu verzehren. Ein Gast nach dem andern trat ein, ohne
auf mich Fremdling zu achten usw. Der Schulze tritt ein; er fordert
seinen Nachbar Hans auf, mir für das Ausbessern der Gartentür Dank
zu sagen; die Unterhaltung mit dem Schulzen und Hans; die Teilnahme
der Gäste am Gespräch; Aufbruch und Verabschiedung der Gäste.)
A. Hentschel.
20b. Belehrung über das Wetterglas.
Joh. Peter Hebel.
Mancher geneigte Leser hat auch sein Wetterglas im kleinen Stüblein hängen,
nicht erst seit gestern, denn die Fliegen haben auch schon daran geschaut, was der
Himmel für Wetter im Sinne hat usw. (Das Lesestück findet sich in vielen
Lesebüchern.)
1. Vorbemerkung. Das Stück wird zur Beleuchtung und Befesti-
gung gelesen, wenn in der Naturlehre vom Luftdruck gehandelt und das
Barometer beschrieben worden ist. Vor dem Lesen ist noch einmal kurz
alles zusammenzufassen, was die Schüler vom Barometer und den Er-
scheinungen daran gelernt haben. Selbstverständlich kann und darf sich
die Belehrung nur auf die Anschauung gründen; es muß also ein wirk-
liches Barometer zur Stelle sein.
II. Unmittelbare Darbietung. 1. Kurze Erläuterung der Aus-
drücke: Matten, lupfen, Quecksilber, Kölblein, 27 Zoll =
72 cm, klauben, lindes Brot, fallieren — fehlen oder versagen,
Hausmittel, Wettergelehrte.
2. Zusammenfassung des Stoffes unter die drei Fragen:
a) Was sehe ich alles an dem Barometer? (Beschreibung desselben.)
44 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
b) Was geschieht alles? (Beschreibung der Vorgänge.) e) Warum ge-
schieht das alles? (Begründung der Erscheinungen.)
III Vertiefung. 1. Gesamtbild: Der Vater am Barometer (I. Ab-
schnitt). 2. Eigen-scha ftenundBorgängeam Barometer (II. Ab-
schnitt. Merke 1—4!). a) Das Kölblein unten mit dem Quecksilber hat
eine Öffnung, b) Über dem Quecksilber ist die Röhre luftleer, c) Die
Lust drückt durch die Öffnung des Kölbleins und treibt das Quecksilber
in der luftleeren Röhre 27—28 Zoll in die Höhe. d) Der Luftdruck ist
nicht immer gleich, sondern wechselt. Darum steigt oder fällt das Queck-
silber mit der wechselnden Luftbeschaffenheit.
3. Gedankenunterlage oder Begründung (II.Abschn.Merke
5—6!). a) Beweis durch den Augenschein: Verstopfst du die Öffnung im
Kölblein oder brichst die obere Röhre ab, so hört jedes Steigen und Fallen
des Quecksilbers auf.
b) Erfahrungsbeweis: Nimmt die Spannung der Luft zu, so steigt
das Barometer und das Wetter wird heiter. Nimmt die Luftspannung
ab, so fällt das Quecksilber, und es droht Regen oder Wind.
c) Manchmal lügen alle Zeichen, denn Gott hat seiner Macht noch
allerlei vorbehalten.
4. Eigentümlichkeit in der Form. Ein heiterer Humor und
eine köstliche Belebung der toten Dinge leuchtet wie ein freundliches Licht
durch die meisterhafte Darstellung. Solche humorvollen Züge sind: Die
Fliegen schauen so fleißig nach dem Wetter am Glase, daß der Mensch
nicht viel mehr erkennen kann. — Der Vater klopft ans Brettlein, weckt
das Quecksilber aus dem Schlafe oder tiefen Gedanken und redet mit ihm,
ob sich's nicht bald lupfen und heiteres Wetter bringen will. — Reines,
klares, offenbares, nie dagewesenes Nichts. — Die Luft würde sagen:
Ich bin auch noch da, ich muß Platz haben. — Luft und Quecksilber
sprechen gar drollig miteinander. — Der geneigte Leser wird vorsichtig
und glaubt nicht alles aufs Wort. — Das Büblein klaubt ein Krümlein
lindes Brot herab und stopft die Öffnung im Kölblein zu. — Der Vater
hätte die beste Lust, dem Büblein eine Ohrfeige zu geben. — Lustig steigt
und fällt das Quecksilber. — Vermöge seiner Schwere sinkt es hinunter.
— Der liebe Gott hat mancherlei kleine Hausmittel, welche bis jetzt noch
niemand erraten hat. — Die Wettergelehrten ärgern sich schon lange
darüber.
IV. Verwertung. 1. Nützliche Lehren. Die Fliegenspuren sind
durch ein nasses Tüchlein von Zeit zu Zeit zu tilgen. — Richte dich mit
deinen Arbeiten nach der Zeit und dem Wetter. — Der verständige Mensch
muß wissen, wie eine Sache zugeht. — Die Luft ist Gottes lebendiger
Atem und allüberall wie er selbst. — Kinder sollen nicht Frevel und Mut-
willen mit den Sachen treiben. — Wolle nicht alles erklügeln, denn Gott
sitzt im obersten Regiment und hat seiner Macht manches vorbehalten.
— Brauchst du fremde Namen — nötig tät's nicht! — z. B. Barometer
statt Wetterglas, so brauche sie richtig, sonst machst du dich lächerlich.
Hebel: Der Maulwurf.
45
2. Mündliche und schriftliche Aufgaben: a) Beschreibe ein
Barometer! b) Begründe das Steigen und Fallen des Quecksilbers!
c) Vergleiche das Barometer mit dem Thermometer oder Wärme-
messer! k-
20c. Der Maulwurf.
Joh. Peter Hebel.
Unter allen Tieren, die ihre Jungen säugen, ist der Maulwurf das einzige,
das seiner Nahrung allein in dunkeln Gängen unter der Erde nachgeht usw.
(In den meisten Lesebüchern.)
I. Vorbemerkung. Es ist kurz zu wiederholen, was in der Natur-
kunde über den Namen, die Körperbesch affen heit (Größe, Be-
deckung, Kopf, Rumps, Gliedmaßen), die Wohnung, die Nahrung,
den Nutzen oder Schaden, die Eigentümlichkeiten des Maulwurfs
dagewesen ist!
II. Erlüuterungs- und Beziehungsfragen: Welches sind die Kenn-
zeichen der Säugetiere? Wo und wie ist die Wohnung des Maulwurfs?
Warum wäre es an dem einen unterirdischen Wühler zu viel? War-
um wird der Maulwurf heimtückisch genannt? Worin besteht das
Gerichthalten? (Anklagen hören, untersuchen und einen Spruch
fällen.) Welche Anschuldigungen sind wahr? Welche Beschuldigung ist
falsch? Womit will man sie beweisen? Warum hinkt dieser Beweis, ist
ein Irrtum, wie der mit den Fröschen, die im Frühling das Laub heraus-
quaken sollen? (Die Wirkung wird mit der Ursache verwechselt.) Was
ist Ursache und was Wirkung in beiden Fällen? (Ursache: Warme
Frühlingsluft treibt das Laub heraus. Wirkung: Da wachen auch die
Frösche aus dem Winterschlafe auf und quaken. Ursache: Engerlinge
und andere Insektenlarven (Quatten) fressen die Wurzeln von Gras und
Kraut ab und bringen die Pflanzen zum Absterben. Wirkung: Ihnen
zieht der Maulwurf als seiner Nahrung nach, und darum findet er sich
an solchen Stellen, wo die Pflanzen absterben.) Wodurch ist der er-
fahrene Landwirt zum Advokaten oder Verteidiger des Maulwurfs ge-
worden? (Durch Beobachtung und Erfahrung.) Warum kann der Maul-
wurf nicht der Missetäter sein, der die Pflanzenwurzeln abfrißt? (a) Er
hat das Gebiß eines Fleischfressers und nicht eines Pflanzenfressers;
b) in seinem Magen finden sich nicht Pflanzen, sondern allerlei Insekten
und Gewürm.) Was für Folgen hat die Verfolgung und Ausrottung
des Maulwurfs? Was ist des Kuckucks Dank? (Schaden und Spott.)
Wie dankt der Kuckuck den Brutvögeln seiner Eier? (Die eigenen Kinder
der Brutvögel gehen zugrunde, verhungern oder werden aus dem Neste
geworfen.) Wie sieht's nun aus? (Den Maulwurf verfolgen, heißt
uns schädigen; ihn schonen, heißt uns nützen.)
III. Vertiefung. 1. ZeichnungundBeschreibungderMaul-
wurfswohnung. 2. Weise nach, daß der Maulwurf ein Säugetier,
ein Raubtier, ein unterirdischer Wiesen- und Gartenhüter,
kein Feind, sondern ein Freund, ein unschuldig verklagter, aber
46 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
gerechtfertigter Wohltäter des Landwirts ist! 3. Gedankengang:
a) Wo findet sich der Maulwurf? b) Wodurch wird er lästig? c) Was
gibt man ihm schuld? ä) Was behauptet sein Advokat? e) Wie beweist
er's? k) Was folgt daraus für uns? 4. Eigentümlichkeit der
Form. Die fesselnde Beschreibung des Maulwurfs ist in die Form einer
Gerichtsverhandlung gekleidet. Angeklagter ist der Maulwurf. Ver-
kläger sind urteilslose Gärtner und Landwirte. Verteidiger ist ein
erfahrener Landwirt oder Naturforscher. Der Beweis wird durch den
Augenschein geführt. Es erfolgt Freisprechung.
IV. Anwendung in Aufgaben. Sucht andere verkannte Freunde der
Land- und Gartenwirtschaft! — Zeigt, wie der Schein trügt! — Haltet
eine kurze Verteidigungsrede für den Maulwurf! — Wie hat die Natur
überall Wächter bestellt, die einen Ausgleich zwischen den zerstörenden
und schaffenden Kräften in der Natur herstellen helfen? (Insektenplage
— Singvögel. Mäuse und Ratten — Katzen. Insektenbrut — Spechte,
Meisen, Kuckuck usw.)'. P.
20 d. Deutschland.
Heinrich Luden.
Deutschland gehört zu den schönsten Ländern, welche die Sonne begrüßt in
ihrem ewigen Laufe usw. (Das Stück findet sich in vielen Lesebüchern.)
I. Vorbemerkung. Das Lesestück bildet die Einleitung zur deut-
sch e n G e s ch i ch t e und ist die Zusammenfassung eines geographischen
Überblicks von Deutschland. Als poetische Belebung der deutschen
Geographie oder Geschichte wird es gelesen, nicht vor, sondern nach dem
Gebrauch der deutschen Karte.
II. Inhalts- und Sinnfragen. Worin besteht die Schönheit des
deutschen Landes? Warum heißt der Lauf der Sonne ewig, der Himmel
gemäßigt, die südliche Glut sengend, das nördliche Klima erstar-
rend, der Anblick einer reichen Mannigfaltigkeit köstlich, erheiternd
und erhebend, die Alpenweiden herrlich, die Felswand kahl, das
Tal üppig, die Binse in Moor und Heide bleich, der Buchweizen
mager, die Fluren kräftig, die Fruchtbäume prangend, der Holz-
apfel sauer, die Pfirsische lieblich, die Eiche gewaltig, der Wein
köstlich, das Vieh nützlich, das Ungeziefer häßlich, das Gespinst
aus Wolle fein, der Gang des Pferdes prächtig, die Heilquelle un-
erschöpflich, der Bergmann fleißig, das Salz das edelste Ge-
würz, die wichtige Bestimmung Deutschlands unverkennbar? Was
wird von dem Klima gerühmt? Was vom Boden? Was von den
Früchten des Feldes und den Bäumen des Gartens und Waldes?
Was von den Tieren Deutschlands? Was von dem Mineralreich-
tum? Was von den Bewohnern? Was von den Grenzen? Was
von der Bewässerung?
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild von Deutschland, in dem die
hervorstechendsten Züge des Lesestücks gruppiert sind. (Alpen — Meer —
mm'"
Die Pfeife von Benjamin Franklin.
47
Flußnetz — Grenzen — Himmel und Sonne — Felder, Wälder, Wiesen,
Gärten, Weinberge, Heiden und Moore — Belebung der Landschaft durch
unsere Haustiere und die verschiedenartigen Arbeiter.)
2. Eigenartiger Charakter Deutschlands durch seine Lage in
der Mitte Europas, sein gemäßigtes Klima, seine mannigfal-
tigen Bodenerzeugnisse, seine nutzbringenden Tiere, seine
reichen Metallschätze, seine zahlreiche, starke und tätige
Bevölkerung, seine meist offenen und bedrohten und deshalb
geschützten Grenzen, seine zahlreichen, gut verteilten Was-
serwege, das erreichbare, aber nicht allzu verlockende Meer,
das starke deutsche Heimatgefühl.
Z. Gliederung des Lesestücks. Deutschland gehört zu den
schönsten Ländern der Erde, denn a) es liegt in einem gemäßigten Klima,
b) erzeugt mannigfaltige Bodenprodukte, c) hat allerlei Frucht- und
Waldbäume, ä) viele nützliche Haustiere, e) birgt reiche Mineralschätze
im Boden, f) nährt ein großes, starkes und gebildetes Volk, g) mahnt
durch seine offenen Grenzen zur Wachsamkeit, h) erleichtert durch viele
Wasserstraßen den Verkehr, i) entfremdet seine Kinder aber nicht durch
allzu verführerische Nähe des Meeres dem Boden der Heimat.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Warum ist ein gemäßigtes Klima
für die Entwicklung eines Landes am günstigsten? 2. Welche Abwechselung
in der Bodengestaltung findet sich in Deutschland? 3. Welche eigentüm-
lichen Bodenerzeugnisse finden sich in den einzelnen Gegenden? 4. Worin
besteht die Mannigfaltigkeit des Baumwuchses? 5. Warum zeugt auch
die deutsche Tierwelt von einem glücklichen Mittelmaße? 6. Welche Schätze
liegen unter der Erde, und wie werden sie nutzbar gemacht? 7. Warum
kann die Bevölkerung Deutschlands zahlreich, stark und gebildet genannt
werden? 8. Wie sind die gefährdeten offenen Grenzen im Osten und
Westen zu einem nationalen Erziehungsmittel geworden? 9. Welche
Wasserstraßen führen aus dem Innern nach dem Meere? 10. Wie haben
wir Anteil an dem Meere? 11. Vergleiche das Lesestück „Der Rhein-
strom" von Mendelssohn mit Ludens „Deutschland"! („Der Deutsche
mag wohl auf seinen Rhein ström stolz sein usw."). Was Deutschland
unter den europäischen Ländern, das ist der Rheinstrom unter den euro-
päischen Strömen. Ein glückliches Mittelmaß von Gaben zeichnet beide
aus. Zeige das aus beiden Lesestücken a) an den Alpen, b) an den Frucht-
feldern und Rebenhügeln, c) an den Wäldern, ck) an den Bewohnern,
e) an den Grenzen im Norden und Süden, 1) an den Wasserstraßen,
g) an dem Meere, h) an dem Verhältnis zu andern Staaten! ?.
21. Die Pfeife von Benjamin Franklin.
Als ich ein Knabe von sieben Jahren war, füllten mir einst an einem
Feiertage meine Verwandten die Tasche mit Kupfermünzen. Ich wußte nun
nichts eiliger zu tun, als damit nach einem Kaufladen zu gehen, wo man
Kinderspielzeug verkaufte. Schon auf dem Wege dahin begegnete ich aber
einem andern Knaben mit einer Pfeife, deren Ton mir so wohl gefiel, daß ich
ihm freiwillig all mein Geld dafür anbot. Vergnügt über meinen Handel,
48 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
eilte ich wieder heim und durchzog pfeifend das ganze Haus, denn meine
Pfeife machte mir ebensoviel Freude, als ich damit die ganze Familie be-
lästigte. Als meine Brüder, Schwestern, Vettern, Basen von meinem Handel
hörten, sagten sie mir, daß ich viermal mehr für meine Pfeife gegeben hätte,
als sie wert sei. Dies machte mich nun erst aufmerksam darauf, wieviel schöne
Sachen ich für das übrige Geld hätte kaufen können, und da sie sich auch noch
über mich lustig machten, so fing ich vor Ärger an zu weinen. Jetzt machte mir
die Reue mehr Verdruß, als mir die Pfeife Vergnügen gemacht hatte. Der
Vorfall hatte aber das Gute, daß er einen bleibenden Eindruck auf mich zurück-
ließ, der mir in der Folge sehr nützlich wurde; denn fo oft ich in Versuchung
geriet, etwas Unnötiges zu kaufen, sagte ich mir immer selbst: „Gib nicht zu
viel für die Pfeife!" und so sparte ich mein Geld.
Als ich herangewachsen war und in die Welt eintrat, wo ich Gelegenheit
hatte, die Handlungen der Menschen zu beobachten, glaubte ich viele, ja sogar
sehr viele Leute zu bemerken, welche zu viel für ihre Pfeife gaben. — Sah ich
einen Ehrgeizigen ängstlich nach Hofgunst streben und seine Zeit in Vor-
zimmern verschwenden, seine Ruhe, seine Freiheit, seine Tugend und wohl
auch seine Freunde opfern, um jene zu erlangen, so sagte ich zu mir selbst:
„Der gibt zu viel für seine Pfeife!" — Sah ich einen andern um Volksgunst
buhlen, sich beständig in politische Händel mischen, seine eigenen Angelegen-
heiten darüber vernachlässigen und sich dadurch zugrunde richten, so sagte
ich: „Er zahlt wahrlich zu viel für seine Pfeife!" — Wenn ich einen Geizhals
traf, der sich jede Art von Bequemlichkeit versagte, sich um das Vergnügen,
andern Gutes zu tun, betrog, die Achtung seiner Mitbürger verscherzte und
auf die Genüsse zärtlicher Freundschaft verzichtete, nur um Schätze aufzu-,
häufen, so dachte ich: „Armer Mann, du bezahlst in der Tat zu viel für deine
Pfeife!" — Fand ich einen Mann des Vergnügens, der jede Geistesfreude, jede
Gelegenheit, sein Vermögen zu mehren, bloß sinnlichen Genüssen hintenan-
setzte, so sagte ich: „Betrogener Mann, du schaffst dir Leiden statt Lust, du
gibst zu viel für deine Pfeife!" — Sah ich einen in schöne Kleider, schönes
Hausgerät und schöne Equipagen, die all fein Vermögen überstiegen, vernarrt,
dafür Schulden machen und seine Laufbahn im Gefängnisse beschließen, so
sagte ich: „O weh! der hat seine Pfeife teuer, sehr teuer bezahlt!" Kurz, wo
ich hinsah, bemerkte ich, daß die Menschen sich den größten Teil ihres Elends
dadurch selbst zuziehen, daß sie den Wert der Dinge nicht richtig zu schätzen
wissen, und daß sie zu viel für ihre Pfeife bezahlen.
I. Vorbereitung. Zunächst ist die Aufmerksamkeit der Schüler auf
den Erzähler der „Pfeife" zu richten, auf Benjamin Franklin (geb.
27. Jan. 1706, f 17. April 1790), den vielgenannten und berühmten
Nordamerikaner, der es durch eigene Kraft vom armen Buchdruckerlehrling
bis zum höchsten Staatsbeamten gebracht hat, und dem wir die Erfindung
des Blitzableiters, der künstlichen Düngung durch Gips u. a. m. verdanken.
Sein Lieblingsspruch war: „Mensch, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!"
Bei der großen Berühmtheit Franklins gewinnt die hier stehende Er-
zählung bedeutend an Wert.
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts, a) Ein Knabe,
dem Geld geschenkt worden war, kauft sich eine Pfeife, b) Er hat seine
Lust daran, e) Er belästigt mit seinem Pfeifen die Seinigen. ä) Er wird
zur Erkenntnis gebracht, daß er viermal zu viel für seine Pfeife ge-
geben hat, und o) daß er für das übrige Geld sich hätte noch sehr viele
schöne Sachen kaufen können, k) Er wird von den Seinigen verlacht,
g) Er bereut seinen Kauf und empfindet Verdruß über seine Pfeife
statt des früheren Vergnügens, h) Er zieht zwei Lehren aus der Ge-
Die Pfeife von Benjamin Franklin.
49
schichte: 1. Kaufe nichts Unnötiges! 2. Gib nicht zu viel für deine Pfeife
aus! i) Er wendet die Lehre auf bestimmte Fälle an. Zu teuer haben
ihre Pfeife bezahlt: die aa) nach Fürstengunst, bb) nach Volksgunst,
cc) nach dem Mammon, ää) nach Vergnügen, 66) nach äußerem Glanz
und Tand, nach schönen Kleidern, schönem Hausgerät und schönen Equi-
pagen streben, k) Erfahrung und Lehre.
2. Kernfragen: a) Welche niederschlagende Erkenntnis brachte
dem Knaben Franklin Reue und Verdruß? Daß er sich hätte für das
übrige Geld noch gar viele schöne Sachen außer der Pfeife kaufen können,
b) Weise diese Erfahrung 1. bei dem Ehrgeizigen und Ehrsüch-
tigen nach! Man kann die Gunst der Menschen über und unter uns
(Fürsten — Volk) bis zu einem bestimmten Grade erstreben, ohne dabei
seine Ruhe, Freiheit und Tugend zu opfern und seine eigenen Angelegen-
heiten zu vernachlässigen; 2. bei dem Geiz halse! Er könnte sich Reich-
tum (Mammon) erwerben und doch auch erlaubte Vergnügen, Bequem-
lichkeit, Genüsse der Freundschaft haben; 3. bei dem Vergnügungs-
süchtigen! — geistige Freuden bereiten, Vermögen erwerben; 4. bei
denen, die nach äußerem Glanz und Tand trachten! — Vermögen
opfern, Schulden machen, Freiheit verwirken (Gefängnis). — c) Nenne
noch andere Menschen als die hier geschilderten, welche auch zu viel für
ihre Pfeife (d. h. Lieblingsneigung) bezahlt haben! 1. Der Spieler,
Lotteriespieler. Nachweis durch das Sprichwort: Lotterielose sind
Eingangszettel in das Armenhaus. 2. Der Branntwein trinke r.
Nachweis: Er legt den Keim zu unheilbarer Krankheit, umnebelt den
Geist, stürzt die Seinen ins Unglück usw. 3. Der leidenschaftliche
Jäger. Nachweis: Die kostbarsten Gewehre, teuere Jagdhunde, eigene
Wirtschaft versäumen, Unlust zur Arbeit, Verarmung usw.
3. Verwandtes in der Heiligen Schrift. „Du sollst nicht
andere Götter haben neben mir!" Die Pfeife, für welche die
Menschen ihr Alles dahin geben und opfern, ist oder wird für sie zum
Abgott, zum Götzen: a) Denen der Bauch ihr Gott ist. b) Der
Mammon, e) Ehre und Ruhm, ä) Glanz und Pracht. 6) Fürsten
und Gewaltige, f) Spiel und Vergnügen.
III. Verwertung. 1. Lehre und Mahnung, a) Lerne frühzeitig
den Wert der Dinge richtig schätzen! b) Kaufe niemals etwas Unnötiges!
(Wer da kauft, was er nicht braucht, wird bald verkaufen, was er braucht.)
e) Opfere für deine Lieblingsneigung, deine Liebhaberei, nie mehr, als
du mit gutem Gewissen verantworten kannst!
2. Rede- und Stilübung. Fischefangen und Vogelstellen ver-
dirbt so manchen Junggesellen. (Eine Nachbildung.) Als ich noch ein
Knabe war, opferte ich alle meine Zeit dem Fisch- und Vogelfänge. Angeln,
Sprenkel stellen, Leimruten legen usw. Im Sommer kam ich nie zur
Schule. Freude und Vergnügen daran. Einstmals Besuch von meinen
Vettern aus der Stadt, die sehr klug waren und in der Schule viel
gelernt hatten. Reue, Verdruß. Anwendung aus andere menschliche Be-
strebungen. R. D.
AdL. II. 8. Stuft.
4
50 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
22. Das brave Mütterchen.
Von Karl Möllenhoff.
Es war im Winter, und das Eis stand. Da beschlossen die Husum er,
ein großes Fest zu feiern rc. (Die Erzählung findet sich in den meisten Lese-
büchern.)
1. Vorbereitung. Husum ist eine Kreisstadt in Schleswig-Holstein,
unweit der Nordsee. Bei strenger Kälte friert diese an der Küste zu.
Durch Sturmfluten hat die Stadt oft schwer gelitten. Mächtige Deiche
oder Dämme sollen sie gegen die anprallenden Wogen schützen.
II. Gutes Vorlesen der Erzählung.
III. Vertiefung. 1. Lagebild. (Weite Eisfläche. Schlittschuhläufer.
Schlittenfahrer. Tänzer. Musikanten. Zelte mit fröhlichen Zechern. Der
helle Vollmond am Himmel. — Der Deich als Uferschutz. Ein Häus-
chen darauf. Ein gelähmtes Mütterchen im Bette. Angstvoll schaut sie
durch das Fenster nach dem Himmel, an dem eine Wolle in der Ferne
aufsteigt, und nach den fröhlichen Gästen, die nichts davon merken.)
2. Gliederung, a) Das fröhliche Eisfest, b) Das einsame, ge-
brechliche Mütterchen, e) Die drohende Gefahr, d) Die rettende Tat.
3. Gedanken gang, a) Ein fröhliches Fest wird bei Husum auf
der Eisfläche der Nordsee gefeiert, b) Eine alte, gelähmte Frau sieht
in ihrem Häuschen auf dem Deiche durch das Fenster den Himmel und
das Festgetümmel, e) Als Schifferwitwe erkennt sie an den Zeichen des
Himmels die drohende Gefahr eines baldigen Eisbruches, d) Durch An-
zünden ihres Hauses ruft sie die Festgäste vom Eise zurück und rettet
sie dadurch vom Untergange.
4. Charakter des Mütterleins. a)Die arme, einsame Witwe,
b) Die gelähmte Kranke, o) Die wetterkundige Schifferfrau, d) Das be-
sorgte Mütterchen, s) Die mutige Retterin.
5. Grundgedanken. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." —
Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. — Vertrau' auf Gott, uud
rette den Bedrängten! — Mitten wir im Leben sind von dem Tod um-
fangen. — Heute rot, morgen tot.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
(Siehe Grundgedanken!) 2. Verwandtes. (Lied vom braven Mann.
— Froben in der Schlacht bei Fehrbellin. — Johanna Sebus. — Herzog
Leopold von Vraunschweig u. a.).
3. Rede-und Stilübungen, a) Zeichne ein Lagebild! b) Be-
weise die Charakterzüge des Mütterchens aus der Erzählung! c) Suche
verwandte Beispiele von Aufopferung für andere! d) Was weißt du
von Ebbe und Flut? e) Was vom Deichbau? P.
23. Die beherzten Knaben.
Von Friedr. Jacobs.
Nicht weit von Bist ritz wohnte in einem Dorfe eine arme Witwe rc.
(Die Erzählung findet sich vielfach in Lesebüchern.)
I. Vorbemerkung uud Vorlesen. Bi st ritz ist eine Stadt im nord-
östlichen Siebenbürgen. Sie liegt in einem schönen Tale der Bistritza.
Stern: Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten.
Der ganze Bezirk führt denselben Namen. Er wird von waldigen Aus-
läufern des Karpathengebirges durchzogen. Hier sind die Wölfe noch
nicht ausgerottet und streifen in kalten Wintern bis dicht an Dörfer und
Städte heran. Einen Kampf zweier beherzten (d. i. mutigen) Knaben mit
diesen gierigen Raubtieren erzählt die folgende Geschichte.
II. Vertiefung. 1. Lagebild. (Buschwald. Bäume und Sträucher
entlaubt. Die Erde hoch mit Schnee bedeckt. Darauf Blutlachen. Ein
umgestürzter Schlitten. Umhergeworfenes Holz. Am Boden zwei tote
Wölfe mit tiefen Axtwunden, stieren Augen und heraushängender Zunge.
Zwei Knaben von 12 und 8 Jahren in ärmlicher Kleidung haben ihre
Hände gefaltet und blicken erst erstaunt auf die toten Feinde, dann dank-
bar zum Himmel.)
2. Gliederung, a) Die Knaben als fromme Beter, b) als fleißige
Arbeiter, e) als liebevolle Brüder, d) als mutige Helden, e) als glück-
liche Sieger.
3. Gedankengang. a) Als fromme Beter fangen die Knaben
ihre Arbeit mit Gebet an. b) Als fleißige Arbeiter sammeln sie dürres
Holz und beladen ihren Schlitten, c) Als liebevolle Brüder wollen sie
sich, einer dem andern, das Leben retten und lieber das eigene opfern,
ä) Als mutige Helden erlegen sie zwei grimmige Wölfe mit der Axt.
e) Als glückliche Sieger danken sie Gott und werden von allen Leuten
gelobt und beschenkt.
4. Grundgedanke. Gottvertrauen und Liebe machen mutig, stark
und sieghaft.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben,
a) Fang jede Arbeit mit Gebet an! Kirchengehen säumet nicht! b) Tu
deine Pflicht gehorsam und fleißig! e) Liebe deine Brüder! Wir sollen
auch das Leben für die Brüder lassen, ä) Verzage nicht in Gefahr,
sondern geh mutig auf Feinde und Hindernisse! Den Mutigen gehört
die Welt. e) Gott hilft in Not; vergiß den Dank nicht! Jede wachere
Tat findet ihren Lohn.
2. Verwandtes. „Rufe mich an in der Not —" (Pf. 50, 15).
— David im Kampfe gegen Goliath. — Schwerin in der Schlacht bei
Prag. — Die Mutter in Florenz rettete ihr Kind aus dem Rachen des
Löwen usw.
3. Rede- und Stilübungen. Beweise nach Pf. 50, 15 aus der
Erzählung Not, Anrufung, Rettung und Dank der Knaben! —
Warum fand sich so viel dürres Holz im Walde? — Warum ist es un-
wahrscheinlich, daß die Knaben verloren gewesen wären, wenn sie sich
auf einen Baum hätten retten können? ?.
24. Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten.
Von Joh. Wilhelm Stern nach A. Barth.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Anfange des 17. Jahr-
hunderts eines der angesehensten und reichsten in Hamburg rc. (Die Erzählung
findet sich in vielen Lesebüchern.)
-
52 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
1. Zielangabe und Lesen. Große Not und unerwartete Hilfe: das
ist nach der Überschrift der Inhalt der Erzählung. Der Schauplatz ist
die große Hafen- und Handelsstadt Hamburg, die Zeit der Handlung der
Dreißigjährige Krieg.
II. Vertiefung. 1. Lagebilder: a) Das einst so lebhafte und nun
verödete Handelshaus Gruit van Steen in einer Straße Hamburgs, b) Die
Beratung in der Schreibstube, o) Die Abfahrt des Schiffes aus dem
Hafen, ä) Die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit auf dem Rathause.
6) Die Versteigerung in der Schreibstube, k) Der Retter am offenen
Fenster.
2. Gliederung und Gedankengang. Der 30jährige Krieg hat
dem reichen Handelshause Gruit van Steen in Hamburg schwere Verluste
gebracht. Der alte, treue Buchhalter Jansen berät mit seinem Herrn die
Maßregeln zur Rettung und erbietet sich, auf dem großen Segelschiffe,
das müßig im Hafen lag, mit Nürnberger Waren eine Handelsfahrt in
die neue Welt zu unternehmen. Trotz freundschaftlicher Warnungen wird
das Schiff ausgerüstet und segelt unter dem Gaffen der Menge, dem
Donner der Kanonen und des treuen Jansen Führung aus dem Hafen
ab dem Meere zu. Immer neue Verluste treffen Herrn Hermann und
zwingen ihn nach drei Vierteljahren, auf dem Rathause seine Zahlungs-
unfähigkeit zu erklären und die Ehrenzeichen seiner Ratsherrnwürde ab-
zulegen. Als die ihm bewilligte Zahlungsfrist den alten Jansen nicht
zurückbringt, da wird all sein Hab und Gut unter Siegel gelegt und dann
öffentlich versteigert. Unter- dem Jammer der Familie soll eben der Lehn-
sessel, ein wertes Erbstück, für 4 Mark verkauft werden, da bietet eine
starke Baßstimme durchs offene Fenster 400 Mark. Jansen ist mit dem
Schiff voll Gold und Waren heimgekehrt, und alle Not hat ein Ende.
3. Charakter der Personen. Hermann van Steen ist der
Erbe eines reichen und geachteten Handelshauses, ein freundlicher, leut-
seliger Vorgesetzter, ein geehrter Ratsherr, ein glücklicher Familienvater,
ein rühriger und umsichtiger Kaufmann, aber unglücklich in seinen Ge-
schäften infolge des Krieges und endlich verarmt; doch auch im Unglück
bleibt er redlich und ehrliebend. Niemand soll durch seine Schuld einen
Verlust haben.
Der alte Buchhalter Jansen ist mehr Freund als Bediensteter
seines Herrn und dessen Hauses. Er ist klug im Rat und entschlossen
zur Tat. Die Warnungen der Freunde beängstigen ihn nicht. Den
Gefahren geht er mutig und mit offenen Augen entgegen. „Gott verläßt
keinen Deutschen!" ist sein Wahlspruch. Geschickt und erfolgreich weiß
er die Geschäfte zu führen. Treu wie Gold, liefert er den gesamten
reichen Gewinn ab. Mit gutem Humor macht er der Versteigerung ein
Ende. Mit inniger Herzlichkeit begrüßt er feinen Herrn, dessen Gattin
und die Heimat. Er ist das Muster eines treuen, aufopfernden Dieners
und Freundes.
III. Verwertung in Aufgaben. 1. Wo liegen die erwähnten Orte:
Hamburg, Nürnberg, Braunschweig, Augsburg, Ulm, Holland, West-
Oldenburger Volksbote: Eine Ohrfeige zur rechten Zeit. 53
indien? — Was weißt du von ihnen? — 2. Suche Beispiele von großer
Not und wunderbarer Rettung! — 3. Führe Sprichwörter, Sprüche und
Liederstrophen vom Gottvertrauen an! — 4. Zeichne Lagebilder von
der „Abfahrt des Schiffes aus den: Hafen" und von der „Versteigerung
im Hause"! — 5. Beweise die Richtigkeit der Überschrift aus der Er-
zählung ! — 6. Welche Mahnungen aus der Erzählung willst du dir zu
Herzen nehmen? (Friede ernährt, Krieg verheert. — Das Glück ist
wandelbar. — Guter Rat ist Goldes wert. — Ein treuer Freund ist
ein köstlicher Schatz. — Gut verloren, etwas verloren; Ehre verloren,
viel verloren; Gott verloren, alles verloren. — Gott verläßt keinen
Deutschen, der ihn nicht verläßt. — Unverhofft kommt oft. — Trau' auf
Gott, er hilft in Not. — „Rufe mich an in der Not —".) P-
23. Eine Ohrfeige zur rechten Zeit.
Aus dem Oldenburger Volksboten.
In einer Handelsstadt Norddeutschlands lebte ein Kaufmann namens
Müller. Ihm begegnete oft ein junger, wohlgekleideter Mensch, der ihn immer
sehr freundlich begrüßte rc. (Das Lesestück findet sich in mehreren Lese-
büchern.)
1. Vorbereitung und Vortrag.
Ein gutes Wort zur rechten Zeit kann Wunder wirken. Es kann
zu einem: Halt! auf falscher und zu einem: Vorwärts! auf rechter
Bahn werden. Am nachhaltigsten wird die Wirkung sein, wenn ein rich-
tiger Denkzettel, und sei das eine Ohrfeige, das gute Wort einprägt.
Wie einst ein solches Wort, durch eine Ohrfeige eingeprägt, einen jungen
Menschen gerettet und zu seinem Glücke geführt hat, das erzählt die
folgende Geschichte.
II. Vertiefung. 1. Lagebild: Marktplatz. Menschengedränge.
Körbe voll Obst; die Obstfrau spricht mit einer Nachbarin. Hinter ihrem
Rücken streckt ein Knabe die Hand nach einem Apfel aus. Ein Mann,
den er nicht gesehen hat, gibt ihm eine derbe Ohrfeige und hält ihm
eine kurze Strafrede. Das Gesicht des Knaben ist schamrot, das des
Mannes ernst und unwillig.
2. Gliederung: a) Der höfliche Grüßer. b) Der unbekannte
Bekannte, o) Der diebische Knabe, d) Der ehrliche Jüngling, e) Der
glückliche und dankbare Mann.
3. Gedankengang: Ein junger Mann grüßte immer höflich einen
alten Herrn, der ihn nicht kannte. In einer Gesellschaft sollte der junge
Mann dem alten vorgestellt werden, sagte aber: „Wir kennen uns schon
viele Jahre! Ich freue mich, Ihnen heute danken zu können!" Ver-
wundert sagte der alte Herr: „Sie grüßen mich seit einiger Zeit, aber
sonst sind Sie mir fremd. Und wofür wollen Sie mir danken?" Da
erzählte der junge Mann eine alte Geschichte aus seiner Jugend. Er
hatte auf dem Markte einer Obstfran einen Apfel entwenden wollen, aber
unversehens von dem Manne eine derbe Ohrfeige erhalten und die Worte
gehört: „Junge, wie heißt das 7. Gebot? Laß dies das erste und zugleich
54 1. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
das letzte Mal sein, daß du dagegen sündigest!" Dies Wort „Laß es
das letzte Mal sein!" und die Erinnerung an die Ohrfeige machten
den Knaben zu einem ehrlichen Lehrling und den Jüngling zu einem
redlichen, wohlhabenden Kaufmann. Dankbar drückte er am Schlüsse seiner
Erzählung dem alten Herrn die Hand für die Wohltat jener Ohrfeige
und jenes Warnwortes.
4. Grundgedanke: Wer uns die Wahrheit sagt und den rechten
Weg zeigt, ist unser Wohltäter, dem wir Dank schulden.
III. Verwertung in Ausgaben. 1. Welche Mahnungen gibt uns
die Erzählung? (Laß dich nicht gelüsten! — Du sollst nicht stehlen. —
Erzittere vor dem ersten Schritte; mit ihm sind schon die andern Tritte
zu deinem nahen Fall getan. — Ein Wort zur rechten Zeit erspart oft
vieles Leid. — „Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr —." — „Es
ist nichts so fein gesponnen —." Was ein Häkchen werden will, krümmt
sich beizeiten. — An Riemchen lernen Hunde Leder fressen. — Zucht
bringt Frucht. — Ehrlich währt am längsten usw.) 2. Wie zeigte sich
im Charakter des jungen Mannes: Dankbarkeit, Höflichkeit,
Redlichkeit, Willensstärke? 3. Erzähle den Lebenslauf des jungen
Mannes nach unserer Geschichte! ?.
26. Jockli, zieh das Käppli ab!
Zschokke.
„Jockli, zieh das Käppli ab!" sagte allemal des Schneiders Balz er
Witwe zn'lhrem kleinen Sohne Jakob, wenn ein Fremder durchs Dorf ging rc.
(Die Erzählung findet sich in vielen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung. Vom Herrn Jesu heißt es Luk. 2, 52: Er nahm
zu an . . . Gnade bei Gott und den Menschen. Ein jedes Kind, das
den Herrn Jesus lieb hat, muß sich bemühen, ihm auch in diesem Stücke
ähnlich zu werden. Um Gnade bei den Menschen zu erlangen, dazu ist
ein gutes und einfaches Mittel die Höflichkeit. Wir wollen heute eine
Geschichte von einem höflichen Knaben hören. Der hieß Jockli, d. i. in
der Sprache der Süddeutschen so viel wie unser „Jaköblein" oder kleiner
Jakob (Koseform); seine Mutter ermahnte ihn immer, vor den Leuten
seine Mütze oder, wie man in Süddeutschland sagt, sein Käppli, d. i.
Käpplein oder kleine Kappe, abzunehmen.
II. Darbietung. Abschnittweises Lesen und kurze Erläuterungen.
1. Dienstfertig ^ fertig oder bereit zu allerlei Diensten und
Arbeiten. — Grob wie Bohnenstroh: Die Stengel und Blätter der Bohne,
besonders der Saubohne, sind grob im Vergleich mit dem glatten Stroh
des Getreides; mit dieser Grobheit des Bohnenstrohs vergleicht man die
Grobheit des ungebildeten Menschen. — Flegel: Der Dreschflegel ist das
Handwerkszeug des Bauern; dann wird es Scheltwort für den Bauer,
der den Flegel schwingt, und auch für andere ungebildete, grobe Menschen.
— Sie standen wie die Baumpfähle (ursprüngl. Brunnenstöcke), also steif
und unbeweglich. — Angepicht: als wären die Kappen und Hüte mit
Pech an den Kopf geklebt, so daß man sie nicht abnehmen konnte. —
Fliegende Blätter: Du sollst den Feiertag heiligen. 55
Almosen: milde Gaben an Arme. — Tagelohn = Lohn für die Arbeit
eines Tages, hier tageweises Arbeiten.
2. Trunkenbold = ein gewohnheitsmäßiger Trinker. (Die Wörter
auf — bold wie Rauf-, Sauf-, Trunkenbold sind den Eigennamen auf
— bold wie Diebold, Leopold usw. nachgebildet, in denen — bold =
bald, mhd. halt, d. i. kühn steht.) — Karosse = Kutsche. — Der Ober-
herr ist der im Dorfe ansässige adelige Gutsherr. — Deckel — das, was
den Kopf bedeckt; verächtliche Bezeichnung für Hut. — gaffen = den
Mund aufsperren, neugierig schauen.
3. Grobian, Grobianus: im 15. Jahrh, scherzhaft mit lateinischer
Endung gebildete Ableitung aus grob (Paul, Deutsches Wörterbuch).
III. Vertiefung, a) Gliederung: 1. Der höfliche Jockli und die
groben Bauern. 2. Der gewalttätige Bauer und der hilfreiche Jockli.
3. Der belohnte Jockli und die bekehrten Bauern.
b) Grundgedanke: Sei höflich und dienstfertig, besonders gegen
fremde und ältere Leute!
e) Eigentümliches: Der Erzählung eigentümlich sind die volks-
tümlichen Redensarten: Die Bauern waren grob wie Bohnenstroh. Sie
standen da wie Baumpfähle und konnten die Kappen nicht vom Kopfe
bringen, als wären sie angepicht. Sie machten alberne Gesichter, wie
Gänse, wenn's donnert (vor Überraschung und Schrecken). Sie gafften
aus der Ferne wie die Schafe, wenn ein fremder Hund kommt (den sie
noch nicht kennen und darum neugierigdumm anstarren). Nutzt es nichts,
so schadet es nichts.
ck) Charakteristik Jocklis. Er war höflich und dienstfertig; erst arm,
später reich; ein guter Sohn, ein treuer Diener, ein sparsamer Haushalter.
IV. Verwertung, a) Verwandtes. Mit der Mütze in der Hand
kommt man durch das ganze Land. — Höflich mit dem Munde, hurtig
mit dem Hut kostet nicht viel und ist doch sehr gut. — Höflichkeit und
Treue bringen nimmer Reue. (Weise das nach an dem Beispiele Jocklis!)
— Hebels Mutter rief ihrem Sohne zu: „Peter, lang 's Chüppli abe,
's chummt e Herre!"
b) Übungen im Sprechen und Schreiben. Weise nach, daß
Jockli höflich und dienstfertig war! Weise die andern Eigenschaften
Jocklis aus der Geschichte nach! Wie zeigten sich die Bauern grob und
ungeschliffen? Wie kam es, daß die groben Bauern bekehrt wurden? Wem
und von wem ist in der Geschichte die Mahnung „Jockli, zieh usw."
gesagt? (1. Dem Jockli von seiner Mutter; 2. den Kindern in Jocklis
Dorfe von ihren Eltern; 3. allen Kindern, die die Geschichte lesen, von
dem, der sie erzählt.) Stelle die volkstümlichen Redensarten zusammen,
und erkläre sie! Dr. k. ?olack.
27. Du sollst den Feiertag heiligen!
Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause bei Hamburg.
Ein ehrlicher Grobschmiedgesell kam auf seiner Wanderschaft in eine Werk-
statt, wo es tapfer herging mit Hämmern und Feilen bis zum Abend rc. (Die
Erzählung findet sich in vielen Lesebüchern.)
56 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
1. Vorbereitung und Vortrag. Das 3. Gebot Gottes lautet: Du
sollst den Feiertag heiligen! Es wird oft aus der Reihe der Gebote ge-
stohlen, d. h. nicht gehalten. Statt gefeiert (= geruht) wird an dem
Tage wie an Werktagen gearbeitet. Statt den Tag durch Kirchengehen
heiligzuhalten, wird an ihm Gewinn und allerlei Lustbarkeit gesucht.
Wie ein redlicher Schmiedegesell trotz aller Hindernisse den Weg in die
Kirche und zur Sonntagsheiligung fand, das erzählt die folgende Geschichte.
II. Wort- und Sacherklärung. Was für Schmiede kennst du?
(Grob- oder Hufschmiede, Gold-, Kupfer-, Blech-, Nagel-, Messer- u. a.
Schmiede). Was hat jeder zu tun? Wie unterscheiden sich im Hand-
werk Lehrling, Gesell, Meister? Was bedeutet die Wanderschaft
der Gesellen? Warum heißt der Gesell ehrlich? Was wird gehämmert
und gefeilt? Wie kann der Blasebalg mit der Orgel verglichen
werden? Wie wollte der Meister aus Eisen Gold schmieden? Was heißt:
Handwerk hat goldenen Boden? Wie schmeckt eine Wassersuppe
ohne Salz? Wie paßt das Bild auf den Sonntag? Was heißt: Ohne
Gottes Wort verkomm' ich? Unter welcher Bedingung durfte der
Gesell in die Kirche? Wie mißbrauchte der Meister die gestellte Be-
dingung? Wodurch hat der Gesell den habgierigen Meister zu besserer
Einsicht gebracht und sich den Weg zur Kirche frei gemacht?
III. Vertiefung. 1. Lagebilder: a) Die Schmiede-Werkstatt, b) Die
Kirche am Sonntage.
2. Personen: a) Der ehrliche, fleißige, zuverlässige,
willige, fromme, uneigennützige und entschlossene Gesell,
b) Der habgierige, beschränkte und gebesserte Meister.
3. Gliederung: a) Der Gesell als tüchtiger Arbeiter, b) als
gewissenhafter Mahner, e) als frommer Kirchgänger, d) als glück-
licher Besieger seines Meisters.
4. Gedanken gang: a) Ein braver Schmiedegesell muß Sonntag
wie Werktag in der Werkstatt arbeiten, b) Er macht dem Meister Vor-
stellungen, wie er ohne Kirche und Gotteswort verkomme, und fordert
Freiheit für den Kirchenbesuch, c) Der Meister ist erst unwillig über das
Verlangen, gestattet aber dann den Kirchenbesuch, „wenn es die Arbeit
erlaubt", d) Der Gesell geht in die Kirche und feiert einen köstlichen
Sonntag. 6) Die drei folgenden Sonntage muß der Gesell in der Werk-
statt arbeiten, „weil es zuviel zu tun gibt", f) Bei der Lohnzahlung
weist er das Geld für die Sonntagsarbeit zurück, g) Der Meister ist be-
schämt und überwunden und läßt hinfort am Sonntage nicht mehr arbeiten.
5. Grundgedanke: Das Merke am Schluß.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Beschreibe eine Schmiedewerk-
statt! — 2. Was nützte den Gesellen die Wanderschaft? — 3. Suche
verwandte Beispiele von Sonntagsheiligung und -entheiligung? —
4. Das Innere einer Kirche am Sonntage! — 5. Zeichne den Charakter
des Gesellen und des Meisters nach dem Lesestücke! — 6. Wodurch hat
der Geselle den Meister besiegt? 7. Welche Mahnungen enthält die
Geschichte? ' P.
Auerbach: Die Posaune des Gerichts. 57
28. Die Posaune des Gerichts.
Berthold Auerbach.
Gerade dort, wo die Gemarkungen zweier Dörfer sich scheiden, mitten im
Walde, wurde in der Frühlingsnacht, zur Zeit des Vollmondes, eine schreck-
liche Tat vollbracht usw. (Die Erzählung findet sich in vielen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung. „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten!"
ruft die Heilige Schrift den Menschen zu, die Böses tun und meinen
nicht entdeckt zu werden, weil kein Mensch ihre Tat gesehen hat. Gott
ist allwissend; Gott ist auch allmächtig: das unbedeutendste Ding kann in
seiner Hand zum Mittel werden, daß eine Freveltat ans Licht kommt.
Wir wollen heute hören, wie ein Mörder durch ein Posthorn vor das
Gericht gekommen ist.
II. Darbietung. Abschnittweises Lesen und Nacherzählen seitens der
Schüler; Hilfssragen und Erläuterungen des Lehrers.
1. Gemarkung ist eine Nebenform zu Markung von Mark —
Grenze, also die Grenzen des Gemeindegebietes oder, wie hier, das von
diesen Grenzen eingeschlossene Gemeindegebiet. Was war dort ge-
schehen? Weshalb verhüllte der Mond sein Antlitz und verstummte die
Nachtigall? Auch die Natur empfindet Abscheu vor der Tat. — Was
tat der Mörder nach dem Morde? Woran erinnerte ihn die Weise des
Posthorns? — Alles flimmerte — bewegte sich glänzend vor ihm auf
und nieder, daß er nichts genau erkennen konnte. — Wie kam es, daß
dem Mörder alles vor den Augen flimmerte, daß ihm die Glieder so
schwer wie Blei waren, daß er in der Irre ging und den Leichnam nicht
fand? Wirkungen des bösen Gewissens auf Leib und Seele. Womit hat
der Mörder sich wohl getröstet, als er den Leichnam nicht fand? „Nie-
mand hat mich bei der Tat gesehen!"
2. Ein Wanderbuch führt der wandernde Handwerksbursche; darin
stehen sein Name, seine Heimat und sein Beruf. Der Entseelte ist der,
dem die Seele, das Leben weg genommen ist. — Jeder wollte seine
Unschuld bekunden, d. h. durch die Teilnahme am Begräbnis kund
oder bekannt machen, daß er unschuldig sei; der Mörder, meinten sie,
würde dazu den Mut nicht haben. Bahnen, die unser Auge nie
mißt: Wege, die unser leibliches Auge nicht abmessen, nicht sehen
kann, d. i. der Weg ins Jenseits. — Welche Bedeutung hat das Auf-
heben der Hände? Bekenntnis der Unschuld. — Wozu ermahnt der Geist-
liche den Mörder? Weshalb soll er umkehren, d. h. nicht weiter auf dem
Wege der Sünde gehen, sondern seine schwere Schuld gestehen und büßen?
— Durch die Posaune des Gerichts werden am jüngsten Tage alle
Menschen vor den Heiland gerufen, daß er sie richtet (Matth. 24, 31).
Wenn der Mörder nicht vorher, nicht schon heute Buße tut, dann, in
der Stunde des Gerichts) ist es zu spät. — Welche Wirkung hatte der
Klang des Posthorns auf die Versammelten? Weshalb? Warum nahm
der Mörder an dem Begräbnis teil? Wie wurde der Mörder durch das
Posthorn zu dem Bekenntnis seiner Schuld getrieben? Gerade als der
Geistliche von der Posaune des Gerichts spricht und ihn damit an die
58 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Schrecken des jüngsten Gerichts mahnt, erklingt unten von der Straße
das Posthorn mit demselben Liede, das ihm vorgestern schon Entsetzen
eingeflößt hat; das Posthorn erscheint ihm wie die Posaune des Gerichts
selbst. Dieses wunderbare Zusammentreffen bricht den letzten Trotz des
Mörders, der schon durch das Vorhergehende (Aufheben der Hände,
Mahnung des Geistlichen) innerlich erschüttert war. — Wodurch war
der Mörder zu der schrecklichen Tat verführt worden? Spielleidenschast,
Untreue gegen den Herrn, Angst vor Entdeckung, Verlangen nach dem
Gelde des Fremden, Niederwerfen desselben, Ermordung: schrittweise wird
der Sünder immer tiefer geführt, eine Sünde zieht die andere nach sich.
— Zwei Menschen waren auf ewig usw.: Der eine war ermordet
worden, den anderen erwartete das Todesurteil und der Tod auf dem
Schafott. — Weshalb hat die Geschichte die Überschrift „Die Posaune
des Gerichts"?
III. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Der Mord und des Mörders
Flucht vor dem Posthorn: a) Der Mord in der Frühlingsnacht und die
Beraubung des Ermordeten, b) Der Klang des Posthorns und des
Mörders Flucht, c) Die Verwirrung des bösen Gewissens. — B. Die
Entdeckung des Mörders durch das Posthorn und sein Geständnis: a) Die
Auffindung des Leichnams, b) Das Begräbnis des Unbekannten, c) Die
Worte des Geistlichen an den Ermordeten und seine Mahnung an den
Mörder, d) Der Klang des Posthorns und das Geständnis des Mörders,
e) Die Heimkehr der Versammelten.
2. Grundgedanken: Hüte dich vor dem ersten Schritt zur Sünde!
Jak. 1, 14 u. 15: Ein jeglicher wird versucht usw. — 5. Gebot. — Irret
euch nicht Gal. 6, 7.
3. Verwandtes. Weise die Ähnlichkeiten nach zwischen unserer
Geschichte und a) Uhlands „Rache"! (Mordplatz, Verhalten des
Mörders nach der Tat.) b) Chamissos „Die Sonne bringt es an den
Tag"! (Beweggrund zum Mord, Mittel der Entdeckung, Selbstbe-
kenntnis.)
IV. Verwertung. Schriftliche und mündlich e Übungen. Be-
schreibe den Ort der Mordtat! Den Kirchhof, auf dem der Ermordete
begraben wird! Was erfahren wir über den Ermordeten? Was über
den Mörder? Was veranlaßte den Mörder zur Tat? Wie wurde die
Entdeckung herbeigeführt? Was haben in der Geschichte Postillion, Post-
horn und Melodie zu tun? Der Postillion ein Werkzeug Gottes, ohne
daß er es weiß! Wie wurde das Posthorn dem Mörder zur Posaune
des Gerichts? Ein Teilnehmer am Begräbnis erzählt die Szene, die sich
am offenen Grabe abspielte (Schauplatz, Personen, Vorgänge).
vr. ?. Polack.
29. Der Wunschring.
Von Richard Leander (Professor v. Volkmann in Halle a. S.)
Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft nicht recht vorwärts
gehen wollte, saß auf seinem Pfluge und ruhte einen Augenblick aus, um sich
den Schweiß vom Angesichte zu wischen usw. (Das Märchen findet sich in
mehreren Lesebüchern.)
Leander: Der Wunschring.
59
1. Vorbereitung und Vortrag. Glück sucht jeder Mensch in seinem
Leben, der eine durch Wünsche und Wunder, der zweite durch Lug und
Trug, der dritte durch Arbeit und Mäßigkeit. Nur der dritte findet es,
wenn Glauben und Hoffen seine Kräfte stärken. Der Wunsch ring des
Märchens war ein Ring, der dem Besitzer die Erfüllung eines Wunsches
zusicherte. Das Märchen erzählt, wie der rechte Wunschring dem falschen
Besitzer Fluch und Verderben und der falsche Wunschring dem rechten
Besitzer Segen und Glück brachte. Nicht der Ring, sondern die Gesinnung
bringt Segen oder Fluch.
II. Vertiefung. 1. Lagebilder, a) Der Fund des Wunschringes.
(Im Walde. Eine hohe Tanne ist gefällt. Ein junger Bauer steht
staunend mit der Axt daneben. Zwei zerbrochene Eier liegen zwischen
den Ästen des Wipfels. Ein junger Adler hat sich erhoben. Ein goldner
Ring glänzt am Boden.) b) Der Talerregen. (Der Fußboden der Stube
im Goldschmiedhause ist von der Last der Taler eingebrochen. Im
Keller liegt der betrügerische Goldschmied zerschlagen und blutig unter
den Talern. Die Scheiben sind zertrümmert, und entsetzt starren die Nach-
barn in die verwüstete Stube und auf den toten Goldschmied.) o) Ein
glückliches Bauernhaus, d) Ein ehrenvolles Begräbnis.
2. Gliederung: a) Im Walde, b) im Goldschmiedhause, e) im
Bauernhause, ck) im Sarge. Oder: a) Der glückliche Finder, b) der be-
strafte Betrüger, o) die redlichen Arbeiter, ck) die seligen Toten. Oder:
a) Der geschenkte, b) der mißbrauchte, c) der aufgeschobene, d) der un-
getane und doch erfüllte Glückswunsch. Oder: a) Der Glücksring im Ei
(Hoffnung), b) in der Hand des Betrügers (Fluch), e) am Finger des
fleißigen Arbeiters (Vertrauen und Segen), d) an der Hand des toten
Großvaters (Ehre und Liebe seinem Andenken).
3. Gedankengang. Ein junger Bauer plagt sich im Schweiße
seines Angesichts. Auf den Rat eines alten Weibes fällt er eine hohe
Tanne im Walde. Aus dem Wipfel fallen zwei Eier und zerbrechen.
Aus einem kommt ein junger Adler, aus dem andern fällt ein goldner
Ring. Der Adler schenkt dem Bauer den Ring zum Danke für seine
Erlösung. Es ist ein Wunschring, der nur einen Wunsch gewährt.
„Überlege wohl, was du wünschest, aus daß dich's nachher nicht gereuet!"
mahnt der Adler, erhebt sich in die Lüfte und fliegt wie ein Pfeil gegen
Morgen.
Der Bauer macht sich auf den Heimweg, kehrt in der Stadt bei einem
Goldschmiede ein und fragt, was sein Ring wert sei. „Einen Pappenstiel
(d. h. nichts)!" meinte der Goldschmied. Da verrät der Bauer das Ge-
heimnis seines Ringes. Der Goldschmied behält ihn als Gast über Nacht,
zieht ihm heimlich den Wunschring ab und steckt ihm einen ganz gleich
geformten an. Kaum ist der Bauer weiter gewandert, so dreht der Gold-
schmied den Wunschring und wünscht sich 100000 Taler. Da hebt ein
entsetzlicher Talerregen an und erschlägt den törichten Wünscher. Lachende
Erben teilen das Geld.
60 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Der Bauer langt daheim an und erzählt seiner Frau von seinem
Glücke. Sie drängt ihn zu allerlei kleinen, törichten Wünschen, er aber
widersteht tapfer, um ja den einen großen Glückswunsch nicht zu ver-
scherzen. In fleißiger Arbeit erringt er alles, was die Frau wünscht.
Zufriedenheit und Glück wohnen in seinem Hause, Vertrauen und Hoff-
nung auf den großen, letzten Glückswunsch in seinem Herzen.
So kommt das Alter heran. Der Ring wird gedreht und gedreht,
der Wunsch aber nicht ausgesprochen. Er möchte verfrüht oder verfehlt
sein! Mann und Frau sind schneeweiß geworden, da läßt sie Gott beide
in einer Nacht selig sterben. Kinder und Enkel stehen um die Särge
und reden von dem Ringe, der wohl ein liebes Andenken müsse gewesen
sein. Der Vater wird mit dem Ringe begraben; wiewohl er kein Wunsch-
ring war, hat er doch Glauben und Hoffen in dem Herzen erhalten und
den Besitzer bei der Lebensarbeit gestärkt. Schlecht Ding in guter Hand
ist immer noch viel mehr wert als gut Ding in schlechter Hand.
4. Weise nach, daß der junge Bauer willig, offenherzig, leicht-
gläubig, standhaft, vorsichtig, fleißig, zufrieden, reich und
geehrt war!
5. Grundgedanke am Schluß des Märchens: „Es ist eine eigene
Sache mit dem, was richtig und was falsch ist, und schlecht Ding in guter
Hand ist immer noch sehr viel mehr wert als gut Ding in schlechter."
III. Verwertung in Ausgaben. 1. Wie ist das Märchen mit Lessings
„Drei Ringen" verwandt? (Welcher von den drei Ringen ist der echte,
rechte? Der die geheime Kraft in sich trug, vor Gott und Manschen an-
genehm zu machen, wenn er in dieser Zuversicht getragen wurde!) —
2. Worin lag der Segen des Wunschringes, obgleich er falsch war? —
3. Wie wäre es geworden, wenn der Bauer den Wunsch getan hätte?
— 4. Welche Mahnungen für Herz und Leben lernen wir aus dem
Märchen? — 5. Wie verrät das ewige Wünschen der Menschen Unzu-
friedenheit, Trägheit und Genußsucht? — 6. Wie könntest du das Gleichnis
christlich deuten? (Der hohe Baum ist die christliche Kirche. Ihre Heils-
schätze sind verhüllt wie in Eiern. Du mußt dir den Zugang durch Ge-
horsam erarbeiten. Dann neigt sich der hohe Wipfel zu dir nieder, und
dann öffnen sich die Hüllen. Du erkennst im Adler den Gottesboten aus
dem Osten, der dir frohe Botschaft des Heils verkündigt, und in dem
Ringe das Pfand deines Glückes, die Gabe und Aufgabe deines Lebens.
Wenn auch seine Form vertauscht und verwechselt wird, so behält er doch
seine Kraft, wenn du nur Glauben, Liebe und Hoffnung im Herzen be-
wahrst. Das und nicht die äußere Form macht dich weise im Wünschen,
treu und eifrig in der Pflichterfüllung, zufrieden und glücklich in Herz
und Haus und selig am Ende.) P.
30. Predigt der Garben.
Claus Harms.
Der heiße Erntetag war vorüber, eine schöne Sommernacht breitete sich
über die schweigenden Gefilde usw. (In vielen Lesebüchern!)
Harms: Predigt der Garben.
61
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der fromme Dichter
Fürchtegott Gellert singt in einem seiner bekanntesten Lieder:
Dich predigt Sonnenschein und Sturm,
dich preist der Sand am Meere usw.
Danach sind Sonnenschein und Sturm, der Sand am Meere, der
Wurm am Boden, der hohe Baum und die niedrige Saat ebensogut wie
der Geistliche auf der Kanzel Prediger, die von Gottes Güte und All-
macht reden. Am lautesten aber zeugt von Gottes Güte das Erntefeld
und die Garben auf ihm. Ein frommer Pastor namens Claus Harms
hat uns eine solche Predigt der Garben aufgezeichnet. Wir wollen sie
aufmerksam lesen und darauf achten, was uns die Garben als Prediger
Gottes lehren können.
II. Darbietung. Abschnittweises Lesen und Besprechung.
1. A b s ch n i t t. Wohin führt uns der Schriftsteller? Zu welcher Zeit?
Wer redet? Wozu fordert sie auf? Wer hört zu?
2. Abschnitt. Predigt der ersten Garbe: Über welches Bibelwort
predigt sie? (Ps. 96, 1. 106, 1.) Warum sollen wir dem Herrn Ehre
und Preis darbringen? Beweis aus Bibel (Matth. 5, 45; Ps. 145, 15),
Geschichte und Leben. Die Lerchen folgen der Aufforderung und stimmen
ein Danklied an.
3. Abschnitt. Predigt der 2. Garbe über das Sprichwort: An
Gottes Segen usw. Beweis: Was kann der Mensch zum Gelingen der
Ernte tun? Was muß Gott tun?
4. Abschnitt. Predigt der 3. Garbe über Ps. 126, 5f. Beweis:
Beispiel aus dem Leben.
5. Abschnitt. Predigt der 4. Garbe über Ebr. 13, 16. Erzähle,
wie Boas an der Ruth Barmherzigkeit geübt hat! Mahnruf des Wachtel-
chors an das Dorf: Danket Gott durch Barmherzigkeit, die ihr den Armen
erweist!
6. Abschnitt. Predigt der 5. Garbe über Gal. 6, 7f. Was lehrt
dieses Wort? a) Folgen der kärglichen, d. h. allzu sparsamen Aussaat;
b) Folgen der Aussaat nicht gereinigten Samens; c) Anwendung auf das
geistliche Leben.
7. Abschnitt. Das Amen aller Garben. Was bedeutet „Amen"?
Was wollen sie also sagen?
III. Vertiefung, a) Gliederung. Ein Gottesdienst der Garben
auf dem Erntefelde: 1. Aufforderung einer Garbe, dem Herrn ein Ernte-
dankfest zu feiern. 2. Die Predigt der 5 Garben. 3. Das Amen aller
Garben. — Zu a) 2. — Gedanken gang der Predigt: 1. Bringet her
dem Herrn Ehre und Preis für die Ernte! 2. Denn ohne Gottes Segen
wäre aus der Saat nichts geworden. 3. Er vermag auch die Traurigen
fröhlich zu machen. 4. Weil er euch durch die Ernte gesegnet hat, seid
barmherzig gegen die Armen! 5. Aus dem, was ihr erntet, lernt, wie
ihr künftig aussäen müßt — im natürlichen und geistlichen Sinne!
b) Grundgedanken. Aus der Predigt der Garben lerne, daß du
einen fürsorglichen Sinn (5. Garbe), ein demütiges und vertrauendes
62 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Herz (2. und 3. G.), einen fröhlichen Mund (1. G.) und eine milde
Hand (4. G.) haben sollst!
^Eigentümliches. Personifikation der Garben. Predigt im An-
schluß an Bibel- und Sprichwort: das Thema wird vorangestellt, be-
wiesen und zum Schluß nachdrücklich wiederholt.
IV. Verwertung, a) Verwandtes. Das Danklied der Lerche:
vgl. Hey, Wandersmann und Lerche, Bd. I, Nr. 298. — „Der Herr deckt
seinen Tisch": Hebel, Das Liedlein vom Kirschbaum (Bd. II, Nr. 182)
und: Der Winter (Bd. II, Nr. 160). — Das Mahnlied der Wachtel:
vgl. Sautter, Wachtellied, Bd. I, Nr. 208. (Was ruft die Wachtel dem
Menschen zu? Fürchte Gott! Liebe Gott! usw.) — Gal. 6, 9: Lasset
uns Gutes tun usw. Hebel, Mitleid im Winter, Bd. II, Nr. 160. —
Wie die Saat, so die Ernte. — Wo ist int Katechismus vom Loben und
Danken die Rede? Wo in der Bibel von Garben, vom Säen und Ernten
(im natürlichen und geistlichen Sinne)?
b) Mündliche und schriftliche Übungen. Wie deckt der Herr
dem Sperling, der Raupe usw. den Tisch? Was kann der Landmann zum
Gelingen der Ernte tun? Was tut Gott? Wie erweise ich mich dank-
bar für den Erntesegen? — Ein Erntedankfest auf dem Felde (Kirche,
Prediger, Zuhörer, Sängerchor; Predigttext). Dr. P. Polack.
31. Der westfälische Hofschulze.
Von Karl Leberecht Jmmermann.
Im Hofe zwischen den Scheuern und Wirtschaftsgebäuden stand mit aus-
gekrempten Hemdärmeln der alte Hofschulze und schaute achtsam in ein Feuer,
welches zwischen Steinen und Kloben am Boden lustig flackerte usw. (Das
Lesestück findet sich in den meisten Lesebüchern für Oberklassen.)
1. Zur Wort- und Sacherklärung. Hofschulze — Hof- und Guts-
besitzer in Westfalen mit dem erblichen Schultheißen-Rechte über die Hof-
angehörigen; ähnlich wie heute die Amtsvorsteher der Gutsbezirke. —
Aufgekrempt = aufgestreift, umgeschlagen wie eine Hutkrempe. —
Kloben = gespaltene Stöcke. — Geldkatze -- Geldgurt. — Pistole
— 15 Mark. — Posaunenengel = Engel, der die Posaune des Welt-
gerichts bläst. — Erbosen^ böse, zornig werden. — Racker: Schinder,
Schinderknecht. — Kamp = Feld. — Koppel = zusammengekoppelte
Pferde. — Unna — westfälische Stadt nördlich am Haar sträng im
Kreise Hamm, Regierungsbezirk Arnsberg. —
II. Vertiefung. 1. Lagebilder: Was berichtet die Erzählung von
dem Schmiederaum, dem Schuppen, der Hoflinde, dem Stalle,
den Roggenfeldern, dem Baumgarten, den Oberhöfen?
2. Personen. Weise nach, daß der Hofschulze fleißig, ge-
schickt, sparsam, ordnungliebend, gastfreundlich, gewis-
se n h a f t, z ä h und st a r r am Altenhängend,reich,selb st bewußt,
bedächtig, tierfreundlich war! — Wie zeigte sich der Pferde-
händler gewinnsüchtig, betrügerisch, hämisch und patzig?
— Wie erwies sich der Einnehmer als höflicher Sachse ziemlich un-
MWW'
Schiller: Herzog von Alba bei einem Frühstück usw.
63
höflich, als eifriger Beamter ziemlich ungeschickt, als Beurteiler
der westfälischen Volksart ziemlich ungerecht? —
3. Gliederung und Gedankengang. a) Als tätig er und ge-
schickter Landwirt besserte der alte Hofschulze ein Wagenrad aus.
b) Als gastfreundlicher Wirt erquickte er die Gäste unter der Haus-
linde mit einem guten Trünke, c) Als gewissenhafter Verkäufer
feilschte er nicht. 6) Als starrer, zäher Anhänger d es Herkömm-
lichen verweigerte er die Umwandlung der Korngefälle in Geld. e) Als
reicher, selbstbewußter Bauer bückte er sich auf seiner Scholle vor
keinem. I) Als vorsichtiger Geschäftsmann wog er die Goldstücke
aus der Goldwage und schob die zu leichten zurück, g) Als mildherzigen
Tierfreund stimmte ihn der Abschied seines Pfleglings, der braunen
Stute, wehmütig.
III. Verwertung in Ausgaben. 1. Welche Nutzanwendungen für Herz
und Leben ergeben sich aus dem Lesestücke? — 2. Welche verwandten
Stoffe — von rechten Bauern — kennst du? — 3. Zeichne ein
Charakterbild des H o f s ch u l z e n, des P f e r d e h ä n d l e r s und des E i n -
nehmers (Rezeptors)! — 4. Worin bestand der Reichtuin des Hof-
schulzen? — 5. Wodurch hat sich wohl der starre, selbstsichere Charakter
des Hosschulzen entwickelt? P.
32. Herzog von Alba bei einem Frühstück auf dem
Schlöffe zu Rudolstadt im Jahre 1347.
Friedr. v. Schiller.
Eine deutsche Dame aus einem Hause, das schon ehedem durch Helden-
mut geglänzt und dem Deutschen Reiche einen Kaiser gegeben hat, war es, die
den fürchterlichen Herzog von Alba durch ihr entschlossenes Betragen beinahe
zum Zittern gebracht hätte usw. (Die Erzählung findet sich in vielen Lese-
büchern.)
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Nachdem Kaiser Karl V.
seiner auswärtigen Feinde Herr geworden war, wollte er die evange-
lischen Fürsten, die den Schmalkaldischen Bund geschlossen hatten, unter-
werfen und die lutherische Ketzerei ausrotten. Er besiegte die unent-
schlossenen und uneinigen süddeutschen Bundesgenossen und wandte sich
dann gegen den Kurfürsten Joh. Friedrich von Sachsen, das Haupt
des Schmalkaldischen Bundes, besiegte ihn bei Mühlberg an der Elbe
1547 und nahm ihn gefangen. Des Kaisers Feldherr war der grausame
Herzog von Alba. Auf dem Rückzüge von der Elbe nach Franken und
Schwaben kam Alba mit seinen spanischen Heerhaufen über die Saale
nach Rudolstadt. Hier erlebte der eiserne, erbarmungslose Kriegsmann
von dem Mute einer edlen deutschen Fürstin etwas Niedagewesenes: er
wurde beinahe zum Zittern gebracht! Unser großer Schiller erzählt
das Begebnis in folgender Weise. (Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Lagebild: Saal im Schlosse. Bogenfenster mit
dem Blicke nach der Saale. Über die Brücke zieht Kriegsvolk. Seitwärts
treiben Soldaten den Bauern Vieh weg. Die Tafel ist mit Schüsseln
64 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
und Flaschen reich besetzt. Alba und seine Generale sitzen beim Frühstück.
Hinter den Stühlen stehen bewaffnete Diener. Die Fürstin steht mit er-
hobener Hand vor Alba. Die Flügeltür des Saales ist geschlossen.
2. Gliederung, a) Die vor- und umsichtige Regentin. b) Die
gastfreundliche Wirtin, e) Die erzürnte Landesmutter, ä) Die kühne
Heldin. 6) Die belohnte Siegerin.
3. Gedankengang: a) Als vorsichtige Regentin erwirkte Gräfin
Katharina einen Schutzbrief, verlegte den Saalübergang und verabfolgte
den Soldaten Speise und Trank, b) Als gastfreundliche Wirtin gab sie
Alba und seinen Generalen in ihrem Schlosse ein reichliches Frühstück,
c) Die Nachricht von der Beraubung ihrer Untertanen machte sie zur
erzürnten Landesmutter, ä) Als kühne Heldin hielt sie Alba den Wort-
bruch vor und drohte, Fürstenblut für Ochsenblut zu fordern, e) Als
glückliche Siegerin ging sie aus diesem Kampfe hervor, denn das ge-
raubte Vieh wurde erstattet und der Mut der Gräfin gepriesen.
4. Charakterbild der Gräfin. Wie zeigte sie ihre Vorsicht,
ihre Umsicht, ihre Gastfreundlichkeit, ihre landesmütterliche Liebe, ihre
Klugheit, ihren Mut, ihre Ausdauer?
5. Grundgedanke: Klugheit und Entschlossenheit machen auch ein
Weib zur sieghaften Heldin.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Vorsicht beizeit erspart spätres Leid. — Mut bewahrt Gut und Blut.
— Stärker als das Schwert ist das Recht. — Mut ist stärker als Über-
mut. —
2. Rede- und Stilübungen. Suche verwandte Stoffe, wo der
Mut über Unrecht und Übermut siegt! (David und Goliath. — Der
Müller von Sanssouci usw.) — Was weißt du von Alba sonst noch?
— Was vom Schmalkaldischen Kriege? — Was von einem Schwarz-
burgischen Fürsten, der deutscher Kaiser war? — Wie ist das Wort:
„Fürstenblut für Ochsenblut" zu verstehen? — Was hat Katharina als
gute Landesmutter für ihre Untertanen getan? — P.
33. König Friedrich Wilhelms III. „Aufruf an mein
Volk".
Theod. Gottlieb von Hippel.
An mein Volk! So wenig für mein treues Volk als für Deutsche bedarf
es einer Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt beginnt usw.
(Allgemein bekannt!)
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Um das historische und
psychologische Verständnis des Aufrufs vorzubereiten, werden kurz die
Tatsachen, die ihm vorausgingen, wiederholt: Preußens Demütigung im
Kriege 1806/1807 und im Frieden zu Tilsit; französische Besatzungen
im Lande; das erzwungene Bündnis mit Napoleon gegen Rußland; das
wunderbare Gottesgericht über Napoleons Heer in Rußland; General
Jorks Konvention in Tauroggen (30. Dezember 1812); die Einberufung
Hippel: König Friedrich Wilhelms III. „Aufruf an mein Volk". 65
der Landwehr in der Provinz Preußen durch Beschluß des Generalland-
tags vom 7. Februar 1813 — ohne Ermächtigung des Königs; endlich
die langersehnte Abreise des Königs ans Berlin und damit aus der Nähe
des Feindes nach Breslau. Am 20. März las man in der „Schlesischen
Privilegierten Zeitung" den kurzen, inhaltschweren Satz: „Seine Majestät
der König haben mit Seiner Majestät dem Kaiser aller Reußen ein Of-
und Defensivbündnis abgeschlossen." So hatte sich der König für den
Krieg entschieden, in dem es sich um Sein und Nichtsein Preußens han-
delte. Dazu bedurfte er aber der Kraft und hingebenden Begeisterung
des ganzen Volkes. Diese zu wecken und zu gewinnen, dazu war die
Friedenszeit vom König eifrig benutzt worden. „In einem Volk, das
ein erbarmungsloser Sieger mitten im Frieden mit der brutalen Willkür
des Kriegsrechts behandelte, schuf der Staat eine neue Rechtsordnung
für den Bauer, der ein freier Mensch und ein freier Eigentümer ward,
für den Bürger, dem sie Gewerbefreiheit und städtische Selbstverwal-
tung spendete, und für den Adel, den sie befreite von gehässigen Vor-
rechten und beschenkte mit der Wohltat gleicher Pflicht." (Oncken, Das
Zeitalter der Revolution, des Kaiserreichs und der Befreiungskriege II,
575.) Damit erst hatte der König einen preußischen Staat als ein-
heitlichen Körper geschaffen, „und in diesem neuen Rechts- und Staats-
gebilde hatte zuerst ein preußisches Volk als Persönlichkeit sich selbst
entdeckt." An dieses sein Volk durste der König in der Stunde der Ent-
scheidung sich mit vollem Vertrauen wenden; er tat es in dem be-
rühmten Aufruf „An mein Volk", der vom 17. März datiert war und
am 20. März zugleich mit jener Nachricht vom russischen Bündnis im
Druck erschien.
II. Darbietung. Abschnittweises Lesen.
III. Gedankengang und Gliederung mit Erläuterungen.
A. Ursachen des Krieges: 1. Preußens Unglück: a) Preußens
Niederlage imKriege 1806/1807; b) die Aussaugung des Landes durch
den Feind im Frieden (Besetzung der Festungen, Lähmung des Acker-
baus und Kunstfleißes in den Städten, Hemmung des Handels). 2. Na-
poleons Treulosigkeit.
Erläuterungen zu A, lb). Die Hauptfestungen waren in
den Händen des Feindes, und zwar: in P r e u ß e n Danzig, Pillau, Thorn;
an der Oder Stettin, Küstrin, Glogau; in der Mark Spandau, die
„Citadelle von Berlin". Die Besatzung der Oderfestungen betrug °z. B.
23 000 Mann, deren Verpflegung'dem Lande monatlich 250000 Taler
kostete (Beitzke, Geschichte der deutschen Freiheitskriege). — Ackerbau:
Durch den Krieg und die fortwährenden Durchzüge der Franzosen hatte
das Land, besonders die Provinz Preußen, schwer gelitten; ein großer
Teil der Landwirte giyg zugrunde oder verließ Haus und Hof; 1809
fand man Ortschaften im Ermelande, in denen noch kein Gebäude wieder
aufgeführt und die Feldmark seit drei Jahren unbestellt war. — Handel:
Die „Kontinentalsperre" mußte der König auch auf Preußen ausdehnen.
Die englischen Waren wurden mit Beschlag belegt, nach einer Verordnung
AdL. II. 8. Aufl. 5
66 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
vom 19. Oktober 1810 sogar verbrannt, und vergebens beriefen sich die
Kaufleute auf ihr Eigentumsrecht.
Zu A, 2: Vertragswidrig behielt Napoleon auch nach Abzahlung der
Kriegskosten preußische Festungen; vertragswidrig vermehrte er die Zahl
der Besatzungstruppen bedeutend. Er bereute, daß er des Königs Macht
nicht n o ch m e h r vermindert, und soll mehr als einmal ausgerufen haben:
„Ist es möglich, daß ich diesem Manne noch so viel Land gelassen habe!"
Darum mußte man von seiner Seite das Schlimmste gewärtigen, und
tatsächlich war 1811 alles bereit, mitten im Frieden Preußen von vier
Seiten her zu überfallen und zu erwürgen, wenn es nicht alle seine
Waffenrüstungen einstellte. Das ganze Land überzog Napoleon mit einem
Netz heimlicher Späher, da er dem König mißtraute, der dem Rhein-
bünde nicht beitrat.
L. Aufruf zum Krieg e. 1. Was mahnt uns zum Kriege? a) Die
Heldengestalten aus der preußischen Geschichte und die unter ihnen
erkämpften Güter und Lebenswerte. (Der König wendet sich an die ein-
zelnen Stämme seines Reichs, um den Ausruf noch eindringlicher zu ge-
stalten.) b) Das Beispiel fremder Völker, die für ihre Freiheit
kämpften (Russen 1812, Spanier und Portugiesen 1808, Schweizer 1315
Schlacht bei Morgarten, 1386 Sempach, 1476 Granson, Murten; Nieder-
länder 1572—1648). — 2. Was fordert der Krieg von uns? (Deutsche
Soldaten mußten an den Kriegen gegen Spanien und Rußland teil-
nehmen.) — 3. Welche Hilfe haben wir in dem Kriege? Gotteshilfe,
Selbsthilfe, Bundeshilfe. Aus dieser Reihenfolge spricht echt männliche
Gesinnung: in erster Linie muß Gott helfen; dazu nimmt man die eigene
Kraft; erst in letzter Reihe steht die Hilfe anderer Menschen. — 4. Welches
ist der Siegespreis des Krieges? Existenz, Unabhängigkeit, Wohlstand
des Vaterlandes — in aufsteigender Reihe! Bis jetzt hatte Preußen
wohl eine Existenz, aber keine Unabhängigkeit und erst recht keinen Wohl-
stand; und die Existenz war schon im Frieden durch Napoleon bedroht
und wurde durch den Krieg ganz in Frage gestellt. — 5. Ausblick auf
Sieg und glorreichen Frieden im Vertrauen auf Gott und den eigenen
festen Willen.
IV. Vertiefung. 1. Charakteristik des „Aufrufs". Ein absoluter
König wendet sich an das Volk, nicht an einen einzelnen, bevorzugten
Stand, und fordert es zu einem Volkskriege auf. Er nennt es sein
Volk; denn durch die Geschichte des Landes und des Herrscherhauses, durch
gemeinsam getragene Leiden und gemeinsame Hoffnungen ist es aufs engste
mit ihm verbunden. Er zeigt ihm das große Ziel, das für alle er-
strebenswert ist, den Weg, den alle gehen müssen, und die Hilfsmittel,
die für alle bereit sind.
Der „Aufruf" ist seinem Wortlaut nach verfaßt von dem Staatsrat
Theod. Gottlieb von Hippel, entspricht aber so vollständig der Eigenart
und den Empfindungen des Königs, daß man ihn als des Königs eigenes
Wort betrachten kann: a) Der Inhalt ist wahr und schafft Wahrheit.
Der „Aufruf" macht dem unwahren Scheinverhältnis zwischen Preußen
Hebel: Der geheilte Patient.
67
und Napoleon ein Ende, setzt somit Wahrheit und Klarheit an die Stelle
der Unwahrheit und Unklarheit. Der „Aufruf" bringt nur Tatsachen,
die jeder kannte, und spricht Empfindungen aus, die jedes Herz er-
füllten. Der „Aufruf" wendet sich endlich nicht an den Fanatismus
einer leidenschaftlich erregbaren Menge, sondern an die Einsicht und das
politische Verständnis, an die Königstreue und den Opfermut eines sonst
ruhigen, jetzt aber in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten und darum
tief erregten Volkes, b) Die Sprache ist kurz und schlicht, aber herzlich;
Phrasen und langwierige Erörterungen fehlen ganz.
Der König wendet sich in dem „Aufruf" nur an das preußische
Volk. Dreimal aber spricht er von Deutschen: im Anfang, da er be-
züglich der Ursachen des Krieges alle Deutschen zu Zeugen aufruft, und
am Schluß, wo er an das Nationalgefühl und das Ehrgefühl der Preußen
als Glieder Deutschlands appelliert.
2. Die Wirkung des „Aufrufs" übertraf noch die Erwartungen,
die man gehegt: das ganze Volk stand aus, der Sturm brach los.
V. Verwertung. Warum 1. muß, 2. darf, 3. kann der König
den Krieg eröffnen? 1. Preußens doppeltes Unglück; 2. Napoleons Treu-
losigkeit, des Königs Gewissenhaftigkeit; 3. Gott mit der gerechten Sache;
Begeisterung und Opferfreudigkeit des Volkes, treuer Bundesgenosse. —
Welche Eigenschaften zeigt der König in dem „Ausruf"? Welche Eigen-
schaften setzt er bei seinem Volke voraus? Vergleiche dieses politische
Schriftstück mit seinem poetischen Gegenstück, dem „Aufruf" von Theod.
Körner, nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten! vr.?.Polack.
34. Der geheilte Patient.
Joh. Peter Hebels Werke. Bd.I, S. 318. Berlin 1869. G. Grote.
(Die Erzählung findet sich in jedem Lesebuche und wird darum hier nicht
abgedruckt.)
I. Gedankengang und Erläuterungen.
1. Einleitung. Reiche Leute besitzen zwar viele gelbe Vögel,
d. h. Goldstücke, leiden aber oft auch schwer an den Folgen des Über-
flusses und der Bequemlichkeit.
2. Der Patient (Leidender, Kranker). Ein reicher Mann in
Amsterdam, der Hauptstadt Hollands, wurde durch Trägheit und un-
mäßiges Essen und Trinken krank.
Am Fenster hielt er Maulaffen feil, d. h. gaffte viel müßig mit
offenem Maule hinaus. Der Volksmund hat Affe wohl von offen,
feil von viel umgeformt, indem der offene Mund als Zeichen der Dumm-
heit galt und auch der Affe für ein dummes Tier gehalten wurde.
Er bekam einen dicken Leib, so unbeholfen wie ein Maltersack;
das ist ein großer Sack, der ein Malter, das größte Getreidemaß, etwa
200 Pfd., faßte; so viel trug etwa ein Mann auf einmal zum Mahlen
in die Mühle.
3. Die Heilversuche. Alle Ärzte zog er zu Rate, aber keiner
konnte ihm helfen, weil er ihre Vorschriften nicht befolgte.
68 I. Fabeln, Parabeln,^Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Er verschluckte allerlei Arzneien in flüssigen Mixturen (Mischun-
gen), staubförmigen Pulvern und erbsenförmig gedrehten Pillen aus
Teig, und zwar so viel, daß der Erzähler die spaßhaften Übertreibungen
(Hyperbeln) Feuereimer, Schaufeln, Enteneier, zweibeinige
Apotheke (Heilmittelladen) gebraucht.
4. Die Verhandlung mit dem fernen Wunderdoktor. Da
hörte der Patient von einem fernen, berühmten Arzte, faßte Vertrauen
zu ihm und schrieb ihm seinen Umstand, d. h. seine Krankheitsnmstände.
Der Arzt erkannte die Art und Ursache seiner Krankheiten und forderte,
kurz angebunden (barsch, scharf wie das Bellen eines bissigen Hundes,
der kurz angebunden wird), in einem Briese, daß der Patient zu Fuß
zu ihm kommen und auf der Reise äußerst mäßig leben solle.
Der Arzt will ihn kurieren, d. h. heilen (von cura = Sorge).
Als Ursache der Krankheit nennt er einen Lindwurm im Leibe, d. h.
ein schlangenartiges Ungeheuer (von lint — Schlange). Der Patient soll
auf Schuhmachers Rappen kommen, d. h. auf den schwarzen Stiefel-
sohlen. Der Schreiner oder Tischler nimmt an einem Menschen das
letzte Maß, das nämlich zu seinem Sarge.
5. Die Reise zu dem fremden Doktor. Die energische Sprache
des berühmten Arztes machte einen tiefen Eindruck auf den Kranken. Er
begab sich auf den Weg und befolgte pünktlich alle Vorschriften. Anfäng-
lich bewegte er sich so langsam, daß das langsamste aller Tiere, die Schnecke,
hätte sein V o r r e i t e r fein, also schneller reisen können. Die V o r r e i t e r
reisten früher vor den Fürsten her, um frische Postpferde zu bestellen;
sie mußten also schneller reiten, als der Wagen fuhr.
In seinem Verdruß erwiderte der Patient keinen Gruß freundlicher
Menschen und zertrat jedes unschuldige Würmchen im Wege. Aber bald
fingen Bewegung und Mäßigkeit an, heilkräftig zu wirken. Freude an
der Natur und Teilnahme für die Menschen erwachten wieder; gesund
und froh langte er nach 18 Tagen beim Arzte an. Noch nicht einmal
das kleinste Übel, Ohrenbrausen und Herzwasserlaufen (reichliche
Speichelabsonderung), spürte er.
6. Zwiegespräch zwischen Doktor und Patient. Der Pa-
tient sollte seine Krankheiten noch einmal aufzählen, erklärte sich aber für
gesund. Der Arzt sagte ihm darauf, wie er seine Gesundheit weiter er-
halten könne. Er sollte zu Fuß heimreisen, nicht über den Hunger essen
und Holz sägen, d. h. sich Bewegung schaffen, damit die Säfte nicht
wieder stockten und das Fett nicht überhand nehme.
Der geheilte Kranke nannte den Doktor wegen seiner witzigen und
doch so wirksamen Kurart einen feinen Kauz, d. h. einen klugen, aber
drolligen und sonderbaren Mann. Der Ausdruck „drolliger Kauz"
stammt von dem Kauz, der kleinsten Eule, die im Sonnenschein allerlei
komische Gebärden macht.
7. Der Dank des Patienten. Der Geheilte befolgte den Ral
des Arztes, erreichte ein hohes Alter und schickte dem klugen Arzte jedes
Hebel: Kannitverstan. 69
Neujahr 20 Dublonen (Doppel-Dukaten zu etwa 20 Mark) zum Gruß
und Dank.
II. Rede- und Stilübungen. 1. Welche Vorzüge haben arme Leute
vor den Reichen? — 2. Wo stecken die Krankheitsursachen? — 3. Wo-
durch erhält das Leben seine Würze, und wodurch wird es langweilig,
reizlos und lästig? — 4. Wann helfen Arzneimittel nichts? — 5. War-
um faßte der Patient zu dem'fremden Doktor ein Vertrauen? (Er war
berühmt; das Gerücht übertrieb seine Kunst: die Kranken sollten vom
Anschauen gesund werden und der Tod ihm aus dem Wege gehen; er
wohnte in weiter Ferne, und das Fremde reizt; er führte eine kurze,
derbe Sprache und schien sich aus einem solchen Patienten gar nichts zu
machen; so lächerlich seine Erklärung der Krankheitsursache, so anschaulich
und überzeugend war sie für den Kranken.),— 6. Vergleiche einen ge-
funden und glücklichen mit einem mürrischen und unglücklichen Reisenden!
— 7. Suche die humoristischen Vergleiche und spaßhaften Übertreibungen
in der Geschichte auf, und weise nach, worin das Treffende und worin
das Erheiternde liegt! (Die Goldstücke heißen gelbe Vögel, weil
sie gelb aussehen und wie Vögel ab- und zufliegen. Das Rollen der Gold-
stücke und ihre Beweglichkeit im Verkehr erinnert an den Flug der Vögel.
„Windet's draußen, oder schnauft der Nachbar?" fragen die
Nachbarn. Der schwer und geräuschvoll gehende Atem des fetten Mannes
wird mit dem Winde verglichen. Die Krankheitsstoffe stecken in
der ungesunden Luft, aber auch in vollen Schüsseln und Gläsern,
in weichen Sesseln und seidenen Betten, wenn man übermäßig
ißt und trinkt und sich träge auf weichen Sesseln und in feinen Betten
dehnt und streckt usw.) — 8. Suche verwandte Geschichten, Gedichte und
Sprüche! (Der reiche Prasser und der arme Lazarus. — Goethes Schatz-
gräber: Tages Arbeit, Abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste. — Was
frag' ich viel nach Geld und Gut. — Johann, der muntere Seifensieder.
— Die beiden Mägde. Bd. I, Nr. 66 u. 216. — 1. Tim. 6, 6—9: Es
ist ein großer Gewinn —. Der 38 jährige Kranke am Teich Bethesda.
— Arbeit, Mäßigkeit und Ruh' schließt dem Arzt die Türe zu usw.). P.
35a. Kannitverstan.
Joh. Peter Hebels Werke. Bd.I, S. 275. Berlin 1869. G. Grote.
(Die Erzählung findet sich in allen Lesebüchern und wird deshalb hier
nicht abgedruckt.)
I. Gedankengang und Erläuterungen.
1. Einleitung. Alles Irdische ist unbeständig und vergänglich,
und nur der Zufriedene ist glücklich. Diese Wahrheit kann man überall
lernen, in Emmendingen, einer badischen Stadt am Schwarzwald bei
Freiburg, so gut wie in Gund elfin gen, einer bayerischen Stadt zwi-
schen Dillingen und Ulm, und in Amsterdam, der Hauptstadt Hol-
lands. Auf einem seltsamen Umwege kam ein Handwerksbursche aus
Tuttlingen, einer Württembergischen Stadt an der oberen Donau,
70 I- Kabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
durch einen Irrtum, durch das Mißverständnis des holländischen Wortes
Kannitv er st an, d. h. kann nicht verstehen, zur Erkenntnis dieser
Wahrheit.
2. Das große Haus Kannitverstans. Der Handwerks-
bursche sah in der großen Handels- und Seestadt Amsterdam ein
herrliches Haus, wie er auf der ganzen Wanderschaft rheinabwärts noch
keins gesehen (erlebt) hatte. Sechs Kamine oder Schornsteine ragten
über das Dach und ließen eine große Zahl heizbarer Zimmer im Hanse
vermuten. Die Gesimse oder vorspringenden Ränder am Dache und an
den Säulen waren schön verziert, die Fenster größer als die Tür einer
armen Hütte und ausgeschmückt mit herrlichen Blumen in vergoldeten
Töpfen oder Scherben. Der Handwerksbursche konnte sich nicht ent-
brechen (den Drang oder Wunsch nicht unterdrücken, nicht ab- oder
unterbrechen), einen Vorübergehenden nach dem Namen des glücklichen
Hausbesitzers zu fragen. Dieser, der Eile hatte oder die deutsche Sprache
nicht verstand, antwortete kurz und grob (schnauzig, anschnauzen):
Kannitverstan! und schnurrte — rasch und geräuschvoll — vor-
über. Der Handwerksbursche hielt dies Wort irrtümlich für den Namen
des Hausbesitzers und pries ihn glücklich wegen seines Reichtums.
3. Das reiche Schiff Kannitverstans. Auf seiner Wanderung
durch die Stadt kam er an den Meerbusen und Hafen Jpsilon, so
genannt von seiner Form, und wunderte sich über das Gewirr von ein-
und aussegelnden und ruhenden Schiffen. Es gab so viel Neues zu sehen,
daß er erst nicht wußte, wie er das alles mit seinen zwei Augen durch-
fechten, d. h. betrachten und sich einprägen sollte. Ein großer Ostindien-
fahrer, d. h. ein Schiff, das Kolonialwaren aus den Kolonien Indiens
brachte, wurde gerade ausgeladen. Biele Kisten (von Holz), Fässer
(mit Reifen) und Ballen (in Packleinwand) voll Kaffee, Zucker usw.
wurden an das Land gewälzt. (Der Erzähler schaltet hier ein, daß die
vielen Mäuse im Schiff wohl auch die Waren während der langen Fahrt
verunreinigt haben könnten. Doch entschuldigt er sich wegen dieses un-
appetitlichen Gedankens mit „salveni“ (abgekürzt aus salva venia, d. h.
mit Erlaubnis!).) Der Handwerksbursche fragte einen Lastträger, wem
das Meer diese Reichtümer an das Land schwemme, d. h. schwimmen
mache. Die Antwort war wieder: Kannitverstan! Der Handwerks-
burschc hielt nun Kannitverstan auch für den Besitzer des Schiffes, be-
neidete ihn um seinen Reichtum und beklagte seine Armut.
4. Das enge Grab Kannitverstans. Ein großer Leichenzug
kam daher. Von Wehmut ergriffen, schloß sich ihm der Handwerksbursche
an. Den Letzten im Zuge fragte er mit einem „Exküse", d. h. Ent-
schuldigung ! nach dem Namen des Toten. Weil er den Gefragten aber
in einer Rechnung störte, so wurde er kurz mit „Kannitverstan" abge-
fertigt. Zum dritten Mal dieser Name! und wie jetzt! Der Besitzer des'
großen Hauses und des reichen Schiffes wurde nach der Meinung des
Handwerksburschen jetzt in das enge Grab gesenkt. Was half ihm nun
aller Reichtum! Tiefergriffen wohnte der Handwerksbursche dem Begräb-
Hebel: Kannitverstan.
71
nis bis ans Ende bei, ging dann in die Herberge (das Wirtshaus für
Handwerksburschen) und murrte fortan nicht mehr über seine Armut.
5. Die Wahrheit aus dem Irrtum. Der Irrtum des Hand-
werksburschen bestand darin, daß er das Wort Kannitverstan für
einen Namen und den Besitzer des großen Hauses, den Eigentümer des
reichen Schiffes und den Toten auf dem Leichenwagen für eine und die-
selbe Person hielt. Dieser Irrtum predigte ihm recht eindringlich folgende
Wahrheiten: Nichts auf der Erde hat Bestand, alles ist vergänglich!
Reichtum macht nicht glücklich; wie bald müssen seine Besitzer von hinnen!
Blicke nicht über, sondern unter dich; vergleiche dich nicht mit den ver-
meintlichen Glücklichen, sondern mit denen, die unglücklicher als du sind!
Wohl dem, der gesund, zufrieden und auf seinen Tod gerüstet ist!
II. Rede- und Stilübungen. 1. Beschreibe das große Haus in
Amsterdam! — 2. Schildere das Leben und Treiben im Hafen! (Die
wogende Meerflut und die wiegenden Schiffe. Der Blick in die Ferne.
Das Kommen und Gehen der Schiffe. Die großen und kleinen Schiffe
mit ihren Masten, verschiedenartigen Flaggen, Tauen und Segeln. Die
geruderten Kähne dazwischen. Die Seeleute mit ihren kurzen Jacken,
weiten Hosen, großen Hüten und weitspurigen Schritten. Schwarze, braune
und gelbe Gesichter. Der Hafendamm. Die Landungsbrücken. Die Waren-
ballen, Kisten und Fässer. Die Lastträger. Das Ein- und Ausladen. Die
Zuschauer.) — 3. Beschreibe den Leichenzug am Grabe! (Der Friedhof
mit vielen Kreuzen, Leichensteinen, Blumen und dem vergoldeten Gitter-
tore. Ein offenes Grab, ein schwarzer Erdhügel und ein Geistlicher da-
neben. Rings viele Leidtragende in schwarzen Kleidern. Fernab ein
schlichter Handwerksbursche mit einem Ränzchen auf dem Rücken und dem
Knotenstock in der Hand. Ein schwarzer Leichenwagen, vor dem vier
schwarze Pferde mit gesenkten Köpfen sind, und auf dem ein kostbarer
Sarg zwischen Palmzweigen und Blumenkränzen steht. In der Ferne
läutet vom Turme ein einsames Glöckchen.) — 4. Weise nach, daß der
Handwerksbursche arm, wanderlustig, wißbegierig, sprachun-
kundig, betrübt, neidisch, teilnehmend und mitleidig, höf-
lich, aufmerksam und empfänglich, getröstet und zufrieden
war! — 5. Suche und erläutere treffende Bilder und Vergleiche und
heitere Wendungen in der Erzählung! (Die gebratenen Tauben
fliegen in der Luft herum, d. h. eine köstliche Speise erhalte ich mühelos.
— Wogende Schiffe! Das Meer ist in beständiger Bewegung, wiegt
und schaukelt auf seinen Wogen unablässig die Schiffe hin und her. —
Die Größe der Fenster ist treffend durch den Vergleich mit der Tür
an der väterlichen Hütte bezeichnet. — Betrachtungen über den Unbestand
aller irdischen Dinge kann jeder anstellen, wenn er will, d. h. offene
Augen, klare Gedanken und den guten Willen dazu hat usw.) — 6. Suche
verwandte Stoffe, und gib die Verwandtschaft an! (Der reiche Mann
und der arme Lazarus. — Der reiche Narr, Luk. 12, 16—21: „Du Narr,
diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wes wird's sein,
das du bereitet hast?" — Droben stehet die Kapelle — von Uhland. —
72 I Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
Der Prediger Salomonis über die Eitelkeit, Pred. 1,2: Es ist alles
eitel! — Der geheilte Patient — von Hebel — und die dort angeführten
Stoffe. — Zufriedenheit ist Reichtum!) ?.
33 b. König Friedrich und sein Nachbar.
Joh. Peter Hebel.
Der König Friedrich II. von Preußen hatte acht Stunden von Berlin
ein schönes Lustschloß und war gern darin, wenn nur usw. (Die Erzählung
findet sich in den meisten Lesebüchern.)
I. Einführung in Stoss und Stimmung. Der Lieblingsaufenthalt
Friedrichs des Großen war das Schloß Sanssouci, ein stilles, weltfernes
Heim ans einem 20 m hohen Hügel bei Potsdam, das 1745—47 erbaut
wurde. Es ist von herrlichen Parkanlagen umgeben, in denen viele Stand-
bilder von Marmor stehen. Überall öffnen sich herrliche Fernsichten nach
Potsdam und den umgebenden Havelseen und Wäldern. Vor der Schloß-
terrasse steigt der Wasserstrahl eines Springbrunnens 37 m hoch. West-
lich von dem einstöckigen Schlöffe liegt etwas höher eine alte Wind-
mühle. Nahe dem Schlosse ist eine Gruft, die ein Stein bedeckt, auf dem
sich eine Bildsäule der Blumengöttin Flora erhebt. Darauf deutend, sagte
einst der große König französisch zu einem seiner Freunde: „Wenn ich
dort erst ruhe, werde ich ohne Sorge (saus 8ouci) sein." Seitdem hieß
das Schloß Sanssouci, d. h. Sorgenfrei.
Friedrich II. war nicht nur ein großer Kriegsheld, sondern auch ein
Vater seiner Untertanen und ein gerechter Fürst. Aufs strengste wies
er die Richter an, „allen Menschen ohne Ansehen der Person, Großen
und Kleinen, Reichen und Armen, gleiche und unparteiische Gerechtigkeit
zu gewähren, sowie sie gedächten, solches vor dem gerechten Richterstuhle
Gottes zu verantworten, damit die Seufzer der Witwen und Waisen und
anderer Bedrängten nicht auf ihr und ihrer Kinder Haupt kommen möch-
ten." Ja, der König schärfte ihnen sogar ein, „sich durch keine Verord-
nungen, und wenn sie aus dem Königlichen Kabinett herrührten, im ge-
ringsten beeinflussen zu lassen".
Die letzte Entscheidung in Streitfragen hatte damals als oberster
Gerichtshof das Kammergericht in Berlin. Joachim I. hatte es ge-
gründet, um auch die vornehmen Stände, die bis dahin keinem Gerichte
unterstanden, unter die staatliche Gerichtsbarkeit zu stellen. Wie nun der
große König sich selbst dem Gesetze unterwarf, nicht aber wie Ahab bei
Naboths Weinberg das Recht willkürlich beugte, dessen ist die Windmühle
bei Sanssouci eine Zeugin. Hört die Hebelsche Erzählung darüber! (Vor-
und Nachlesen.)
II. Vertiefung. 1. Erläuternngs-undVcrtiefungsfragen.
Wer ist der König und wer der Nachbar? Warum heißt die Mühle
unruhig? Warum passen Mühle und Königsschloß zusammen,
und warum nicht? Welcher Unterschied ist zwischen dem Räderwerk
der Mühle und den Gedanken des Königs? Warum will der König
die Mühle kaufen, der Müller aber sie nicht hergeben? Welche Mittel
Hebel: Untreue schlägt den eigenen Herrn.
73
wendete der König an, um zum Ziele zu kommen? (Freundliches Zureden,
drei Geldgebote, Drohungen.) Warum wirkte keins? Wie zeigte sich das
Vertrauen des Müllers in die Rechtspflege des Königs? Wie zeigte sich
der König gerecht und gütig?
2. Ein Charakterbild des Königs zu zeichnen nach folgenden
Sätzen: Friedrich liebt die Einsamkeit und stilles, fleißiges Nachdenken. Er
ist leutselig und liebt freimütige Rede. Fortgesetzter Widerstand erbittert
ihn. Sein Gerechtigkeitssinn siegt über den Unwillen, seine Güte über den
Zorn. Er hält sich für den ersten Diener des Staates. Er freut sich
über das Vertrauen der Untertanen zu seiner Rechtspflege.
Wie zeigt der Müller seinen Fleiß, seine Einfalt, seine Höflich-
keit, seinen Familiensinn, seinen Mut, sein Vertrauen in den
Schutz des Gesetzes?
3. Gedankengang. Friedrich II. weilt gern in Schloß Sanssouci.
Das Klappern der nahen Mühle stört seine Gedanken. Er will dem Müller
die Mühle abkaufen. Diesem' ist das Erbe seiner Väter nicht feil. Der
König droht mit gewaltsamem Abbruch. Der Müller beruft sich aus das
Kammergericht in Berlin. Der König freut sich über den Mut und das
Vertrauen des Müllers. Er läßt ihn hinfort unangetastet.
4. Eigentümlichkeiten in der Form. Was ist scherzhaft in
der Erzählung? — Die Gegensätze Schloß und Mühle, Mehl und Ge-
bäck, Räderwerk und Königsgedanken, Nachbar und Herr Nachbar. —
Die Gegenfrage: Wie hoch haltet ihr euer Schlößlein? — Das Lächeln
des Müllers und sein: Gut gesagt!
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Das 9. Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. — Ge-
rechtigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben. —
Wohl dem Lande und Volke, wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen.
2. Verwandtes: Ahab und Naboths Weinberg. — David und
Urias Weib. — Geibels Gedicht „Sans souci“. Curtmans: „Es wohnt
ein Müller sorgenfrei —". Friedr. Wilh. III. hals dem Müller aus
schwerer Geldverlegenheit, „weil sich gute Nachbarn beistehen müßten."
3- Rede- und Stil Übungen: Was ist an dem Könige und was
an dem Müller zu loben und zu tadeln? Der Müller erzählt sein Ge-
spräch mit dem Könige daheim! Vergleichung mit „Naboths Weinberg"
nach Zeit, Ort, Personen, Gegenstand, Verlauf, Ausgang!
?.
33c. Untreue schlägt den eigenen Herrn.
Joh. Peter Hebel.
Als in dem Kriege zwischen Frankreich und Preußen (1813) ein Teil
der französischen Armee nach Schlesien einrückte usw. (Die Erzählung steht
in vielen Lesebüchern.)
I. Entwicklung des Inhalts. Was berichtet die mit „Untreue"
überschriebene Fabel von der Maus und dem Frosch? Wie zeigte der
Frosch seine Untreue? Wie wurde dieselbe bestraft? Welches Sprich-
wort paßte da? Eine Erzählung Hebels hat dies Sprichwort als Über-
74 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
schrift; was wird sie berichten? (Jemand übt Untreue und erhält dafür
die wohlverdiente Strafe.) Die Erzählung versetzt uns in das Jahr 1813;
welcher Krieg tobte da? Welche deutschen Staaten mußten Napoleon Hilfs-
truppen stellen? (Die Rheinbundstaaten.) Womit endete die Schlacht bei
Bautzen am 20. und 21. Mai 1813? (Mit dem Rückzüge der Preußen
und Russen nach Schlesien.) Eine französische Heeresabteilung folgte ihnen
und bezog Quartiere bei Bürgern und Bauern. Bei wem wurden die
Offiziere einquartiert? (Bei wohlhabenden Bürgern und Edelleuten.)
So kam ein Offizier von der Rheinbundarmee zu einem schlesischen Edel-
manne und erhielt eine eigene schöne Stube. Besondere Freude hatte
er an den schönen Gemälden. Nach einem freundlichen Verkehr zwischen
Wirt und Gast nahte der Abmarsch. Was wird sich der Gast beim Ab-
schiede wohl wünschen? (Ein Andenken.) Was wohl? (Eins der schönen
Gemälde.) Was wird der Wirt auf die Bitte erwidern? (Gern! Wählen
Sie nach Ihrem Gefallen.) Aus Artigkeit scheint der Gast das geringste
Gemälde zu wählen. Warum gerät der Wirt darüber in sichtliche Un-
ruhe? (Hat es besonderen Wert? Knüpfen sich daran teure Erinnerungen?
Verdeckt es ein Geheimnis?) Der Gast scheint die Unruhe des Wirtes nicht
zu merken und auf seine Worte nicht zu hören; er tritt auf einen Stuhl
und nimmt das Bild von der Wand. Dahinter erscheint ein feuchter Fleck,
und auf einen kräftigen Stoß fallen frische Backsteine in eine geöffnete
Nische. Was wird das zu bedeuten haben? (In der Nische wird Geld,
Kostbarkeiten, Wertpapiere u. dgl. liegen.) Wie ist das dahin gekommen?
(In Kriegszeiten vermauerte oder vergrub man bei Annäherung der
Feinde seine Kostbarkeiten.) Was wird nun der Edelmann von dem feind-
lichen Offizier erwarten? (Eine Wegnahme oder namhafte Teilung der
Schätze ohne Inventariums, h. Verzeichnis, und Kommissarius,
d. h. Gerichtsbeamten.) Was wird er nun zu erfahren wünschen? (Den
Verräter.) Wer könnte es sein? (Ein Bedienter; ein Lauscher; der
Maurer.) Wie wird der Offizier seine Bravheit zeigen? (Er behält nichts,
läßt den Maurer holen, der das Versteck gemacht und verraten hat, und
ihm statt der erwarteten 100 Taler Judaslohn hundert Prügel auf-
zählen.) Warum ist der Verrat besonders schurkisch? (Weil er ein Bruch
des Vertrauens ist, weil der Maurer für seine Arbeit bezahlt worden
war, und weil jeder bezahlte Handwerker seinem Arbeitgeber Treue und
Verschwiegenheit schuldig ist.)
II. Lesen der Geschichte. Kurze Wiedererzählung.
III. Vertiefung. 1. Lagebild: Der Offizier bei Herabnahme des
Gemäldes. (Stube. Möbel. Fenster. Gemälde an den Wänden. Dunkler
Fleck- an der Wand. Offizier auf dem Stuhle, ein Gemälde in der Hand,
blickt fragend auf den Hauswirt. Dieser starrt blaß nach der feuchten
Stelle an der Wand.)
2. Charakterbild des Hauswirts (reich, gastfreundlich, kunst-
liebend, höflich, beunruhigt und gefaßt), des Offiziers (höflich, kunst-
liebend, rechtschaffen, dankbar und streng) und des Maurers (treulos,
gewinnsüchtig, nach Verdienst bestraft)!
Hebel: Einer oder der andere. Ein gutes Rezept. 75
3. Gliederung. 1. Die Einquartierung. 2. Die Bitte beim Ab-
schiede um ein Gemälde. 3. Die Wahl. 4. Die Entdeckung. 5. Die Be-
strafung des Verräters.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Beweise die Richtigkeit der Über-
schrift aus der Erzählung! 2. Gib den Inhalt in kurzen Sätzen an!
3. Suche Beispiele, Sprichwörter und Sprüche über Verrat und Ver-
räter aus Bibel, Geschichte und Lesebuch! P-
36. A. Gin er oder der andere.
Joh. Peter Hebels Werke. Bd. II. S. 131. Berlin 1869. G. Grote.
„Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter" usw.
» Gin gutes Rezept.
Joh. Peter Hebels Werke. Bd.II, S. 131. Berlin 1869. G. Grote.
„In Wien der Kaiser Joseph war ein weiser und wohltätiger Monarch"
usw. (Beide Erzählungen finden sich in den meisten Lesebüchern.)
Vergleichung der beiden Erzählungen.
1. Ähnlichkeiten. Zwei gekrönte Häupter (Monarchen) lassen sich
in ihrer Leutseligkeit unerkannt mit geringen Untertanen in ein Gespräch
ein, erfreuen und beglücken dieselben, werden endlich erkannt und ernten
Dank und Liebe.
II. Verschiedenheiten: 1. Ort und Zeit. A i)at fid) fast zwei-
hundert Jahre früher als 6 ereignet. A trug sich vor den Toren und
dann in pen Straßen von Paris zu und endete in dem königlichen Schlosse,
6 in den Straßen von Wien und endete in einer armen Hütte.
2. Personen. In A treffen wir den leutseligen König Heinrich IV.
von Frankreich und einen patriotischen, wohlhabenden Bauern; erwähnt
wird außerdem das Gefolge des Königs, das grüßende Volk und des
Königs Söhnlein Ludwig. In B sehen wir den menschenfreundlichen
Kaiser Joseph II. von Österreich und eine arme, kranke Witwe; erwähnt
wird außerdem ein Söhnlein der Witwe und ein Doktor. König Heinrich
reitet; Kaiser Joseph fährt. Der König trifft den Bauern zufällig; der
Kaiser wird von dem Büblein gebeten. Der Bauer reitet; die arme Frau
liegt im Bette. Der Bauer begleitet den König; der Kaiser besucht die
kranke Frau. Der Bauer erzählt von seiner Familie und seiner Lebens-
weise, die arme Frau von ihrer Not und Krankheit. Heinrich IV. sagt
dem Bauern, woran er den König erkennt; Joseph II. läßt sich von dem
Knaben den Namen und die Wohnung seiner Mutter sagen. Der Bauer
erkennt den König an seinem Hute aus dem Kopfe, der Doktor den Kaiser
an seiner Unterschrift. Der Bauer wird von dem König zur Tafel einge-
laden; die Frau erhält ein Geschenk von 25 Dublonen (etwa 500 Mark).
3. Gedanken gang. I. In A erscheint Heinrich IV. als leutseliger
Fürst und gutmütiger Spaßmacher, in B Joseph II. als wohltätiger Arzt.
II. In A trifft ein Bauer auf dem Wege nach Paris den König, in B
ein Büblein auf der Suche nach einem Doktor den Kaiser. III. In A
76 I. Fabeln, Parabeln, Erzählungen und andere Stücke in Prosa.
unterhält sich der König mit dem Bauern über den Zustand des Landes,
in B der Kaiser mit dem Büblein über sein Anliegen. IV. In A reiten
König und Bauer in Paris ein; in B besucht der Kaiser die ärmliche
Wohnung der Witwe. V. In A wird der König von dem Bauern an
dem Hute auf dem Kopfe erkannt, in B der Kaiser von dem Arzte an
der Handschrift. VI. In A wird der Bauer zur königlichen Tafel ein-
geladen, in B die arme Frau mit einer Anweisung auf das Zahlamt (die
Staatskasse) beschenkt.
4. Grundgedanke. Jn A soll durch einen heitern Scherz der
Ursprung des Sprichwortes: „Seid ihr der König oder der Bauer?"
erklärt werden. Die Überschrift will sagen: Einer oder der andere muß
König sein! In B erscheint Kaiser Joseph als wohltätiger und geschickter
Arzt, der gute Rezepte schreiben kann.
5. Eigentümlichkeiten. A ist ein gutmütiger Spaß des leut-
seligen Königs Heinrich IV. von Frankreich, B ein rührender Zug von
der Güte Kaiser Josephs II. von Österreich. Das Ergötzliche liegt bei A
in den Worten des Bauern: „Herr, entweder seid ihr der König, oder ich
bin's!" bei B in der Verwechslung des Kaisers mit einem Arzte und
der Geldanweisung mit einem Rezepte.
Joh. Peter Hebels dichterische Eigenart.
Auf allem liegt der Sonnenschein heiteren Humors und kindlicher
Schalkhaftigkeit. (Seid ihr der König oder der Bauer? —) In allem
klopft der Puls eines innigen deutschen Gemütes. (Das fremde Kind.
Herr Charles. Der Schneider in Pensa.)
Durch genaue Kenntnis von des Volkes Seele und Sprache und
innige Anpassung an dieselben gelingt's Hebel, den volkstümlichen Stil
zu schreiben. Die Darstellung ist klar und übersichtlich durch kurze
Sätze. Treffende Vergleiche und Hervorhebung der Gegensätze
machen Neues und Fremdes klar. (Belehrungen über das Wetterglas,
das Weltgebäude usw.)
Drollige Übertreibungen geben der Darstellung einen besonderen
Reiz. (Der geheilte Patient.) Vertrauliche Anreden (Guter Freund!)
und gemütliche Zwiegespräche (Kannitverstan) schaffen einen behag-
lichen Ton und eine gemütliche Stimmung.
Spaßhafte Irrtümer, komische Namenverdrehungen und
widersinnige Deutungen erregen die Heiterkeit. (Einer Schildwache
lächerlicher Irrtum. Die Schlafkameraden.) Durch V erpersönlichung
(Personifikation) leben und weben, reden und handeln die toten Dinge
wie Menschen. (Der Kirschbaum. Die Spinne.)
Fremdes und Fernes erscheint im heimatlichen Gewände und wird
mit heimatlichem Maße gemessen. (Die Weltbegebenheiten. König Friedrich
und sein Nachbar. Unverhofftes Wiedersehen.) B.
II. Epische Dichtungen.
1. Fabeln, Parabeln, Legenden, Sagen und Mären
in gebundener Rede.
37. A. Ellengröße.
Abr. Emanuel Fröhlich. Fabeln. Frauenfeld 1853. S. 23.
I. Vorbereitung und Vortrag. Wie nach Hesekiel 37 der Odem des
Herrn über ein Feld voll verdorrter Gebeine fuhr und sie belebte, so hat
der Schweizer Emanuel Fröhlich einen schier vertrockneten Zweig der
poetischen Literatur neu belebt: die Fabel! Er macht nicht, wie die
früheren Fabeldichter, die Tiere zu verkappten Professoren der Moral, er-
findet nicht die Fabel der Moral zuliebe, reckt und streckt die Tiere nicht,
um ihnen eine Moral an- oder abzuquälen, sondern malt mit tiefem Ver-
ständnis und in anziehender Sprache ein Stück, einen einzelnen Zug wirk-
lichen Naturlebens — als treuen Spiegel des Menschenlebens. Er be-
schränkt sich dabei nicht aus Tiere, sondern führt uns in die Pflanzen-
und Mineralwelt, ja in das gesamte Universum. Er findet dort dieselben
Gedanken walten — freilich unbewußt —, die das Menschenleben bewußt
regieren. Er zeigt in dem unbewußten Leben und Streben in der Natur
einen wunderbaren Parallelismus zu dem bewußten Leben und Streben
der Menschen. So ergibt sich die Lehre von selbst, als ob man in einem
Spiegel sich selbst sähe. Meist ist sie indessen durch eine sehr treffende
kurze Überschrift angedeutet. Aber auch ohne Lehre, ohne Anwendung
aus das Menschenleben würden die Fröhlichschen Fabeln knapp einge-
rahmte, kostbare Bilder aus dem reichen Leben der Natur sein.
„Ellengröße" führt uns auf die Landstraße, an deren beiden
Seiten stolze Pyramidenpappeln wie Riesengardisten Spalier bilden. Da-
zwischen hat man an Stelle abgängiger Pappeln bescheidene Pflaumen-
bäume eingepflanzt. Mehr und mehr hat man sich nämlich davon über-
zeugt, daß die stolzen Pappeln den angrenzenden Feldern schaden, die be-
scheidenen Pslaumenbäume aber den Gemeindesäckel füllen helfen.
Die Pappel spricht zum Bäumchen: nicht eine leere Stange!'"
„Was machst du dich so breit „Was!" ruft die Pappel stolz,
mit den geringen Pfläumchen?" „ich bin zwar eine Stange,
Es sagt: ,„Jch bin erfreut, doch eine lange, lange!"
daß ich nicht bloß ein Holz,
78
II. Epische Dichtungen.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Die Fabel führt uns auf eine
Landstraße im Herbst. Zu beiden Seiten des Weges stehen abwechselnd
in gleichen Entfernungen hohe Pappeln und niedrige Pflaumenbäume.
Die Pappeln gleichen riesigen Stangen, weil sie gerade in die Höhe steigen
und die senkrechten Äste sich an den Stamm schmiegen. Die jungen Pflau-
menbäume sind niedrig, haben breite Kronen und sind mit blauen Früchten
beladen.
2. Gedankengang. Die hohe Pappel spöttelt hochmütig über das
niedrige Bäumchen und seine geringen Früchte. Das Bäumchen freut
sich seiner Nützlichkeit und vergleicht die Pappel mit einer leeren Stange.
Da brüstet sich diese wenigstens mit ihrer Länge.
Grundgedanke: Der wahre Wert liegt nicht in äußeren, sondern
in innern Vorzügen; er läßt sich nicht mit der Elle messen. Soviel ich
nütze, so viel bin ich wert!
3. Eigentümliches. Die knappe Sprache, die treffende Verglei-
chung der Pappel mit einer langen Stange, der Kontrast zwischen der
hohen, aber leeren Pappel und dem niedrigen, aber früchtereichen Pflau-
menbaum, der hämische Stolz der Pappel und der heitere Witz des Bäum-
chens, das entrüstete „Was!" und das klägliche „aber eine lange, lange!"
(endlos lange) der Pappel sind vorzüglich gelungen.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Prahle nicht mit deinen Vorzügen, am wenigsten mit äußeren oder ein-
gebildeten ! Trachte nach inneren Vorzügen und nütze sie im Dienste deiner
Mitmenschen! Geistesgröße und Herzensgüte mißt man nicht mit der Elle!
Je weniger wahren Wert der Mensch hat, desto mehr prahlt er mit
eingebildetem!
2. Verwandtes. Die Kornähren Bd. I, Nr. 25. — Löwe und
Maus Bd. I., Nr. 234. — 1. Samuel 16,6.7: Samuel sollte in Bethlehem
von Jsais sieben Söhnen einen zum König salben. Er sah den stattlichen
ältesten Sohn Eliab an und gedachte, ob der vor dem Herrn sei sein Ge-
salbter. Aber der Herr sprach zu Samuel: Siehe nicht an seine Ge-
stalt, noch seine große Person; ich habe ihn verworfen. Denn es gehet
nicht, wie ein Mensch siehet; ein Mensch siehet, was vor Augen ist, aber
der Herr siehet das Herz an. — Es ist nicht alles Gold, was.glänzt.
Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Eigenlob stinkt, fremdes
Lob klingt.
3. Rede-undStilübungen. a) Womit brüsten sich die Menschen
gern? (Mit schönen Kleidern, Schmucksachen, wohlriechenden Dingen,
vornehmen Verwandten, hohen Ahnen, schönen Häusern, Geld und Gut,
Ehre und Ruhm, hohen Ämtern, klugen Kindern usw.) — b) Worin soll
der innere Wert eines Menschen bestehen? (Gal. 5, 22: Die Frucht
aber des Geistes ist Liebe —.) — c) Suche aus Bibel, Lesebuch, Ge-
schichte usw. ähnliche Wettkämpfe wie in der Fabel! — d) Vergleiche von
Wilhelm Müller „Ahnenwert"!
„Ahnen sind für den nur Nullen, der als Null zu ihnen tritt.
Steh als Zahl an ihrer Spitze, und die Nullen zählen mit."
Fröhlich: Die Nützlichen. Strenge Barmherzigkeit.
79
s) Vergleiche:
B. Die Nützlichen.
Abr. Emanuel Fröhlich. Fabeln. S. 9.
„Unkraut seid ihr," sprachen Ähren wenn das einzig hilft zum Ruhme/"
zu der Korn- und Feuerblume; sagten diese Wohlgemuten;
„und ihr dürfet euch, vermessen, ,„aber wir erblühn hienieden,
selbst von unserm Boden nähren?" euer Einerlei, ihr Guten,
,„Wir sind freilich nicht zum Essen, mannigfarbig zu beleben!'"
1. Hauptinhalt und Ähnlichkeit. In beiden Fabeln wird ein
Vorwurf Hochmütiger durch die Verachteten witzig und treffend zurück-
gewiesen.
2. Ort und Zeit. A im Herbste an der Landstraße, B im Sommer
auf einem Getreidefelde.
3. P e r s o n e n. In A die lange, hochmütige Pappel und das niedrige,
fruchtbare Bäumchen; in B die nützlichen, aber neidischen Ähren und die
nutzlosen, aber farbenreichen und wohlgemuten blauen Kornblumen und
roten Feuermohne.
4. Gedankengang. Jn A spöttelt die nutzlose Pappel über das
nützliche Bäumchen, wird mit scharfem Witz zurückgewiesen, brüstet sich aber
mit ihrer Ellenlünge. In B schelten die nützlichen, aber gar zu selbst?
bewußten Ähren die Korn- und Feuerblume Unkraut und Schmarotzer,
werden aber heiter und witzig daran erinnert, daß nicht alles in der Welt
zum Essen da sei, und daß gerade sie das Einerlei des Ährenfeldes mit
schönen Farben schmücken und beleben müßten.
5. Nutzanwendung. Nach A besteht der wahre Wert nicht in
stolzer, schöner Gestalt und leerer Prahlerei, sondern in der Nützlichkeit.
Nach B soll sich die Nützlichkeit nicht überheben; denn Anmut, Schmuck
und Kunst erhöhen den Wert und das Glück des Lebens. B.
38. A. Strenge Barmherzigkeit. (Allvergütung.)
Abr. Emanuel Fröhlich. Fabeln. Frauenfeld 1853. S. 66.
I. Vorbereitung und Vortrag. Der Föhn ist in der Schweiz der
warme Süd- oder Regenwind, der nach dem Winter plötzlich Tauwetter
bringt. Er braust über die Alpen daher, heult und stöhnt in den Schluch-
ten, schmelzt rasch den Schnee, rollt Lawinen (Schneestürze) die Höhen
hinab, überschüttet die Matten (Bergweiden) mit Geröll und staut die
Bäche, daß sie empört über ihre Ufer treten und alles verheeren.
Über dem Tale hängen noch graue Schneewolken, und in demselben
wehen kalte Nordwinde, wenn der Föhn anstürmt und der Kamps mit
den Widerstrebenden beginnt. Die Menschen in den Tälern aber rennen
angstvoll hin und her und blicken bange nach den Berghöhen, über die
der Föhn im Siegerschritt geht, und schreien den strengen Regenten um
Erbarmen an. (Vortrag.)
80
II. Epische Dichtungert.
Das Tal schreit auf zum Föhn:
„Was wirft dein wild Gestöhn
Lawinen ab den Höhn,
die Bäche zu empören,
die Matten zu zerstören?
Kannst du denn nicht gelind
den Winterschnee zertauen?
„Nein!" ruft der Frühlingswiud,
„tief liegen noch die grauen
Schneeflocken in dem Land;
groß ist der Widerstand,
mit dem die Norde kämpfen.
LVollt' ich sie gütlich dämpfen,
und sollte nur gemach,
tropfweise nach und nach
der Schnee geschmolzen werden,
wird's Maien nicht aus Erden.
Des Kampfgetümmels Spuren
deck' ich mit grünen Fluren."
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist in der Schweiz auf der
Grenze zwischen Winter und Frühling. Die Berghänge sind mit Schnee,
die Berggipfel mit Gletschern bedeckt. Von Süden braust der warme Föhn
heran und bringt plötzlich Tauwetter. In den Bergklüften heult, pfeift
und stöhnt der Sturm. Von den Bergwänden rasen die Lawinen (von
Schiller Löwinnen, von anderen Lauwinen genannt) in die Täler
herab, fegen Häuser hinweg, verschütten Matten, begraben Menschen und
schwellen die Bäche zu reißenden Strömen an.
2. Personifikation. Der Föhn ist als starker Krieger, weiser
Stratege oder Kriegsführer, zäher Kämpfer, schneller Sieger und
gütiger Regent geschildert. Weise dies nach!
3. Gedankengang. Das Tal mit seinen geängsteten Bewohnern
fleht den Föhn um Schonung und um ein allmähliches Vertreiben
des Winters an. Er schlägt die Bitte ab und beweist, daß die starken
Gegner nur durch Kraft und Schnelligkeit, nicht durch Güte und langsame
Bohrarbeit zu vertreiben sind. Um dem Tale bald einen blütenreichen
Mai schenken zu können, muß der Feind rasch und nachdrücklich aus dem
Felde geschlagen werden. Die Spuren des Kampfgetümmels verspricht er
mit grünen Fluren und mit neuem Frühlingssegen zu bedecken. Erst muß
die Strenge walten, ehe Liebe und Barmherzigkeit ihr Füllhorn öffnen
können.
Grundgedanken. In weiser Strenge auch zeigt sich Liebe und
Erbarmen. Jede Verwüstung in der Natur wird durch neuen Segen ver-
gütet. Der Kampf reinigt die Luft und gibt der Erde neue Kraft zum
Tragen. Ohne Kampf kein Sieg, ohne Krieg kein Frieden, ohne Fleiß
kein Preis!
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes.
Murre nicht, wenn die Liebe mit Strenge gepaart ist! Verzweifle nicht
bei Verlusten; die Segenskraft der Erde ist unerschöpflich! Wer nichts
verlieren will, kann nichts gewinnen! Wer besitzt, der lerne verlieren! Geh
stark und schnell auf den Feind, bekämpfe ihn zäh, desto eher wirst du
Frieden und Gedeihen haben! — Schiller in Wilhelm Tell: Zum letzten
Mittel, wenn kein anders mehr verfangen will, ist ihm das Schwert ge-
geben. — Die Befreiungskriege 1813—15 forderten große Opfer, aber
auf dem Schlachtfelde wuchs und läuterte sich der Geist der Nation. —
Der weitschauende Bismarck äußerte: „Deutschland kann nur durch Blut
und Eisen geeinigt werden!" Der Sturm brach 1866 und 1870 los und
Fröhlich: Zucht.
81
forderte schwere Opfer, aber die Herrlichkeit und Einigung Deutschlands
wuchs aus dem Blute der gefallenen Helden auf. — Bei der Kinder-;
erziehung können nur frühe Strenge und Stetigkeit die Feinde der Seele
vertreiben und das Gute zur Entfaltung bringen. Wer sein Kind lieb hat, der
spart die Rute nicht, der übt auch strenge Barmherzigkeit.
2. Rede- und Stilübungen, a) Suche in der Bibel, dem Lese-
buche und in der Geschichte Beispiele davon, daß in der Strenge sich
wahre Liebe zeigte, die Nachsicht aber verderbliche Früchte trug! —
b) Vergleiche die Fröhlichsche Fabel „Zucht" (Fabeln S. 18) mit der
ersten!
». Zucht.
„Nicht lass' ich mich zäumen!"
Schäumt wütend das Pferd.
„Ich werde mich bäumen,
mich wälzen zur Erd';
und wenn sie mich schlagen,
zerreiß' ich den Wagen
und stürze feldein
durch Klüft' und Gestein;
denn besser zu sterben
als knechtisch verderben."
„Gern ließ ich mich zügeln/
entgegnet der Springer,
„und Schläge und Stich
verschonten mich.
So ward ich ein Ringer
und lernte beflügeln
mich selber zum Ziel.
Viel besser gefiel
mir Zucht zu erwerben,
denn zuchtlos verderben."
1. Hauptinhalt und Ähnliches. In beiden Fabeln wird aus
Weisheit und Liebe strenge, schmerzliche Zucht geübt, aus der dann Glück
und Segen sprießt.
2. Ort und Zeit. In A ein Alpental im Beginn des Frühlings,
in B ein Gutshof im Sommer.
3. Charakter. In ist der Föhn streng, aber weise und gütig,
das Tal in Angst und Not. Der Föhn verfolgt zäh sein Ziel und läßt
sich von törichten Bitten nicht irre machen. Auf die Strenge des Winters
folgt die Wärme des Maien; aus Schutt und Trümmern wächst Segen
und Gedeihen. In B ist der Mensch einsichtig und weise bei der Zähmung
und Gewöhnung des Pferdes, das Roß aber wütend und unsinnig. An
einem zweiten Renn- oder Reitpferde (Springer) wird der Segen strenger
Zucht gezeigt. Es bedarf keiner Schläge und Spornstöße mehr, wird wie
auf Flügeln zum Ziele getragen, siegt im Wett- oder Ringkampse, erntet
Ehre und freut sich seines Glückes.
4. Gedankengang. In übt der Föhn ein strenges Regiment,
bekämpft die Feinde des Frühlings, verwüstet dabei vieles im Tal, weist
die Bitten um Schonung und Milde ab, belehrt das Tal über seine Ab-
sichten, schlägt den Feind rasch und vollständig aus dem Felde, führt den
Mai heran und bedeckt die Spuren des Kampfes mit grünen Fluren. In
B will der Mensch das wilde Roß zähmen und zäumen; wütend wehrt
es sich dagegen, will eher alles verheeren und verderben als sich in ein
knechtisches Joch begeben. Ein anderes Roß belehrt den unbändigen Bru-
der und zeigt ihm Segen und Glück einer rechten Zucht und das Unglück
der Zuchtlosigkeit. Auf Schmerz und Zwang folgt Lust und Freude, Ehre
und Gewinn.
AdL. II. 8. Aufl.
6
II. Epische Dichtungen.
82
5. Nutzanwendung. Nach A zeigt sich Liebe im Versagen, Barm-
herzigkeit und Weisheit in der Strenge; nach B bringt Zucht auch Frucht,
Zuchtlosigkeit Verderben und Leid. B.
39. Die Frösche.
Joh. Wolfg. v. Goethe. Werke. Bd.U, S. 242. Leipzig, Bibliogr. Institut.
Ein großer Teich war zugefroren; wie Nachtigallen wollten sie singen,
die Fröschlein, in der Tiefe verloren, Der Tauwind kam; das Eis zer-
durften nicht ferner quaken und sprin- schmolz;
gen; nun ruderten sie und landeten stolz
versprachen sich aber im halbenTraum, und saßen am Ufer weit und breit
fänden sie nur da oben Raum, und quakten wie vor alter Zeit.
1. Erlänterungssragen. Welche zwei Jahreszeiten erwähnt die Fabel?
Was für ein Bett haben die Frösche in der Tiefe des Teiches gefunden?
(Ein Bett von Schlamm.) Wie entsteht der Winterschlaf vieler Tiere?
(Durch die Kälte wird der Blutumlauf immer langsamer und die Beweg-
lichkeit immer geringer, bis eine Art Erstarrung eintritt.) Warum sind die
Frösche „in d er Tiefe v erloren"? (Man sieht und hört sie oben nicht
mehr, weil sie erstarrt und machtlos im Schlamme liegen.) Wodurch ist
ihnen das Springen und Quaken unmöglich gemacht? (Durch das Eis
und die Erstarrung ihres Körpers.) Was heißt: sie versprachen sich?
(Sie gelobten sich, nahmen sich vor.) Was für ein Zustand ist „im hal-
ben Traum"? (Zwischen Wachen und Schlafen, mit Bewußtsein, aber
ohne die Fähigkeit, sich zu rühren.) Was ist oben? Wann fänden sie
dort Raum? (Wenn das Eis und ihre Erstarrung nicht wären.) Wozu
fühlten sie Lust und Kraft? Worin waren sie also stark? (In Vorsätzen.)
Wie meldete sich der Frühling an? Wie wurden sie frei? Wie unterschei-
den sich „rudern" und „landen"? (Im Wasser schwammen sie stoß-
weise fort, wobei ihnen die Füße als Ruder dienten; dann kamen sie
hüpfend ans Land.) Warum stolz? (Sie sind frei und voll hoher Vor-
sätze.) Wodurch ist angedeutet, daß sehr viele Frösche im Teiche geruht
haben? Warum wurde ihr Gesang doch wieder ein Quaken? (Weil ihnen
die Natur keine andere Stimme gegeben hat und sie sich auch keine Mühe
gaben, es schöner zu machen.) Stark waren sie in Vorsätzen, worin aber
schwach? (In der Ausführung.)
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Schildere den Teich und das
Leben darin und daran im Winter und im Frühling!
2. Gedankengang. Die starken Vorsätze der Frösche im Winter
und die schwache Ausführung im Frühling.
Grundgedanke. Die Natur ist stärker als die Kunst. Es kann
niemand seiner Haut, seiner Natur entfliehen.
3. Schönheiten. Die Gegensätze: zugefroren — das Eis zer-
schmolz ; in der Tiefe verloren — ruderten und landeten stolz; versprachen
unten — hielten es nicht oben; Nachtigallengesang — Froschgequak; fän-
den sie nur Raum — saßen am Ufer weit und breit; durften nicht quaken
Lichtwer: Die Katzen und der Hausherr.
83
— quakten wie vor alter Zeit. „Fröschlein" nennt sie der Dichter
spottweise, weil die Vorsätze so groß, die Taten so klein waren.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung.Versprich nicht mehr, als
du halten kannst! Lebe und wirke deiner Natur und deinem Stande
gemäß!
2. Verwandtes. Vergleiche „Frosch und Ochse" (Bd. I, Nr. 155)
und „Der Hase" (Bd. I, Nr. 8)!
3. Ausgaben: a) Beschreibe das Treiben der Frösche im Früh-
jahr ! b) Swche Beispiele von „großen Worten und kleinen Taten"! P.
40. Die Katzen und der Hausherr.
Magnus Gottfr. Lichtwer. Bibl. deutscher Klassiker. Hildburghausen 1861. Bd.IV, S. 430.
I. Vorbereitung. Der Dichter Lichtwer hat fein und scharf die
Natur beobachtet. Seine Tierfabeln sind voll treffender Züge. So hat
er auch das nächtliche Treiben einer Schar Katzen, ihre wilde Balgerei
und ihre entsetzliche Musik, ein Konzert von Mißklängen, in einer Fabel
scharf und witzig geschildert.
II. Vortrag.
1. Tier und Menschen schliefen feste,
selbst der Hausprophete *) schwieg,
als ein Schwarm geschwänzter Gäste
von den nächsten Dächern stieg.
2. In dem Vorsaal eines Reichen
stimmten sie ihr Liedchen an,
so ein Lied, das Stein erweichen,
Menschen rasend machen kann.
3. Hinz, des Murners Schwiegervater,
schlug den Takt erbärmlich schön,
und zwei abgelebte Kater
quälten sich, ihm beizustehn.
III. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Die tollsten Nachtkonzerte und
Bälle der Katzen finden meist im Februar und Juni statt. Es ist eine dunkle
Februarnacht. An einem großen Hause ist ein Saalfenster offen geblieben.
Von den Dächern und aus den Dachluken der benachbarten Häuser kommt
eine Katze nach der andern und klettert durch das offene Fenster in den
Saal. An der Wand desselben hängt ein Spiegel; darunter steht eine
Stutzuhr. Auf dem Tische stehen Tassen oder Schalen. In der Nähe des
Ofens sind einige Späne zum Feueranmachen verstreut. — In buntem
Knäuel stehen, liegen, wälzen und schlängeln sich die Katzen durcheinander.
Dabei erheben sie ein klägliches, ohrzerreißendes Kreischen, Heulen,
Miauen und Gaumen in allen denkbaren und undenkbaren Mißtönen.
Einige alte Kater sitzen auf den Hinterbeinen, heben die Vorderpfoten
und bewegen sie wie Taktstöcke, wobei sie nicht selten andern den Takt
4. Endlich tanzen alle Katzen,
poltern, lärmen, daß es kracht,
zischen, heulen, sprudeln, kratzen,
bis der Herr im Haus erwacht.
5. Dieser springt mit einem Prügel
in dem finstren Saal herum,
schlägt um sich, zerstößt den Spiegel,
wirft ein Dutzend Schalen um;
6. stolpert über ein'ge Späne,
stürzt im Fallen auf die Uhr
und zerbricht zwei Reihen Zähne:
Blinder Eifer schadet nur.
*) Der Haushahn, der den Tag verkündigt und vom leisesten Ge-
räusch geweckt wird.
84
II. Epische Dichtungen.
um die Ohren schlagen. Der Höllenlärm weckt den schlafenden Hausherrn.
Halbangekleidet nnd mit einem Stock bewaffnet, erscheint er in dem dun-
keln Saale, um die Störenfriede zu züchtigen und zu verjagen. In seinem
blinden Eifer richtet er allerlei Zerstörungen an, die Unholde aber ent-
fliehen ungestraft.
2. Charakteristik. Die Katzen sind langgeschwänzt,wach und
h e l l s i ch t i g bei Nacht, geschickt im Klettern, musikalisch und tanz-
lustig. Die beiden Kater Hinz und Murner sind die Vertreter der
ganzen Musikbande. Hinz ist ein Held des Tierepos „Reineke Fuchs".
Murner heißt der Kater nach dem lautmalenden Stimmtone. — Der
Hausherr wird im Schlafe gestört, ist noch schlaftrunken, wird wü-
tend, stürmt ohne Überlegung in den dunkeln Saal, straft sich und
nicht die Ruhestörer.
3. Gedanken gang. Str. 1. In der Stille der Nacht versammeln
sich die Katzen der Nachbarschaft. Str. 2. In einem Vorsaal stimmen
sie ihre höllische Musik an. Str. 3. Alte Kater spielen die Kapellmeister.
Str. 4. Das Katzenvolk führt einen lärmenden Tanz auf. Str. 5. Der
erboste Hausherr richtet mit einem Stocke allerlei Unheil an. Str. 6. Er
verletzt sich selbst ernstlich.
Als Moral und Grundgedanken setzt der Dichter an den Schluß:
Blinder Eifer schadet nur! Diese dürftige Moral steht nur in losem Zu-
sammenhange mit dem lebensvollen Gemälde des Katzenlebens in Str.
1—5 und stört darum den Eindruck der Fabel mehr, als sie ihn hebt.
Die Moral muß mit innerer Notwendigkeit aus dem Naturgemälde her-
vorwachsen, nicht aber wie hier künstlich herbeigezerrt werden.
4. Eigentümlichkeiten. Die Sprache der Fabel ist knapp und
poetisch, der Gang frisch und lebendig. Treffend und schön sind a) die
Ausdrücke: Hausprophet für Hahn, geschwänzte Gäste für
Katzen, ein Lied, das Stein erweichen, Menschen rasend machen kann,
für Katzenmusik; b) die Vergleichung der alten Kater mit Musik-
direktoren, das Spiel ihrer Vorderpfoten mit dem Taktschlagen, das Bal-
gen der Katzen mit einem Tanze; o) die Zeitwörter poltern, lär-
men, zischen (durch die Zähne), heulen, sprudeln (den Geifer),
kratzen für alle Seiten des Katzenmutwillens. Ergötzlich ist auch der
Fechter in der Dunkelheit, der au den Kampf des „Ritters von
der traurigen Gestalt" mit den Windmühlen erinnert.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Den alten Ägyptern war die
Katze das heiligste Tier. Ein Katzenmord wurde mit dem Tode bestraft.
Bei Feuersbrünsten wurden die Katzen früher als die Menschen gerettet.
Eine Göttin war mit einem Katzenkopfe abgebildet. Die alten Deutschen
dachten den Wagen der Göttin Freya mit zwei Katzen bespannt. Später
glaubte man, daß sich Hexen in Katzen, diese schleichenden, tückischen und
hinterlistigen Tiere, verwandelten. In Goethes Faust brauen die Hexen
als Meerkatzen den Zaubertrank im Hexenkessel. — Sprichwörter: Sie
sind wie die Katzen, die vorn schmeicheln und hinten kratzen. Er geht wie
Fröhlich: Wiederfinden.
85
die Katze um den heißen Brei herum. Wer den Schaden hat, braucht für
den Spott nicht zu sorgen. Vgl. Bd. I, Nr. 72, 171, 226!
2. Rede- und Stilüb ungen, a) Wie werden mißliebigen Per-
sonen Katzenmusiken gebracht? b) Wie schnurrt, spinnt, putzt, miaut,
faucht, heult, kreischt, prustet und kratzt die Katze?
41. Wiederfinden.
Abr. ernenntet Fröhlich. Fabeln. Frauenfeld 1853. S. 6.
„O, du lieblicher Geselle," weithin auf des Stromes Pfaden,
sprachen Blumen zu der Welle, mich im Meere jung zu baden;
„eile doch nicht von der Stelle!" aber dann will ich vom Blauen
Aber jene sagt dawider: wieder auf euch niedertauen."
„Ich muß in die Lande nieder,
1. Zur Vermittlung. An einem heiteren Sommertage spielten und
kosten die sich kräuselnden Wellen mit den lieblichen Blumen, die am
Rande des Baches standen. Letztere sprachen zu einer Welle: „Lieber
Spielkamerad, o bleibe doch hier und gehe nicht fort!" Allein die Welle
sprach dagegen: „Ihr lieben Blumen, das geht nicht an; ich nzuß noch
viele, viele Meilen weit durch viele Täler, Auen, Landschaften, Provinzen
und Länder wandern, muß mit dem Flusse mich verbinden, weithin die
Pfade des Stromes mitwallen, das heißt in seinem breiten Rinnsale mit-
fließen, um mich endlich im Meere jung zu baden, d. i. zu verdunsten
oder in Dünste mich aufzulösen, in die Lüfte aufzusteigen und als Wolke
mit dem Winde wieder nach der Quelle des Baches zurückzukehren. Dann,
liebe Blumen, will ich wieder zu euch kommen und vom blauen Himmel
herab im Tau oder Regen euch tränken." (Hört das als Gedicht!)
II. Zur Vertiefung. Welche Blumen blühen am Uferrande des
Baches? (Vergißnreinnicht, gelber Hahnenfuß, Sumpfdotterblume, Lö-
wenzahn.) Welche im Wasser? (Aaronstab, Wasserrose, Wasserlilie.)
Warum konnte denn die Welle nicht länger verweilen? Welchem Gesetze
mußte sie folgen? Warum liegt die Quelle aller fließenden Gewässer höher
als ihre Mündung? Welcher Fluß kann nicht nur sagen: „Ich muß in
die Lande nieder," sondern auch: „Ich muß in die Niederlande"? In die
Meere fließen stündlich Millionen von Kubikmeter Wasser aus den Strö-
men und Flüssen. Was müßte darum eigentlich geschehen? Warum ge-
schieht es nicht? Soviel Wasser da zufließt, so viel verdunstet auch
wieder. Wie ist der bildliche Ausdruck: „Mich im Meere jung zu baden"
zu verstehen? Wer ist mit den „Blumen" gemeint? Worin besteht das
Wiederfinden und Wiedersehen von Welle und Blume? Wie könnte darum
auch die Überschrift der Fabel lauten? (Der Kreislauf oder die Rundreise
des Wassers.)
III. Verwertung. 1. Lehre: Es gibt hienieden kein Aufhören, keine
Vernichtung, sondern nur ein ewiges Werden und Wandeln. Alles Ver-
gehen gleicht dem Kreisläufe des Wassers, der Rundreise der Welle.
2. Rede-und Stilübung: Weise den Kreislauf des Was-
sers nach an dem Rheine! (Eine biographische, humoristische Skizze.)
86
II. Epische Dichtungen.
„Ich bin ein echtes Schweizerkind; im Winter nähre ich mich von den Quel-
len der Alpen, im Sommer von den Wassern des tauenden Gotthardglet-
schers. Als echter Alpensohn springe ich von Berg zu Berg hernieder zu
Tale. Hierauf nehme ich ein langes Bad in dem herrlichen Bodensee,
besehe mir am Ufer die Besitzungen von fünf Staaten und trete dann wie-
der frei heraus. Ehe ich aber die Berge meiner lieben Schweiz verlasse,
stürze ich mich von einer Felswand bei Schafshausen herab, daß alles
brauset und schäumet." usw. usw.
Vergleichung der Fabel mit „Wassertröpflein". Siehe Bd. I
Nr. 258 und 305! R. D.
42. Die Stufenleiter.
Gottlieb Konrad Pfeffel. Poetische Versuche. Tübingen 1803. S. 28.
1. Ein Sperling fing auf einem Ast
einst eine Fliege. Weder Streben*)
noch Jammer half; sie ward ge-
faßt.
„Ach," rief sie flehend, „laß mich
leben!"
,„Nein/" sprach der Mörder, ,„du
bist mein!
Denn ich bin groß, und du bist
klein/"
„mich frei! Was hab' ich denn be-
gangen?"
,„Nein!'" sprach der Mörder usw.
3. Ein Adler sah den Schelm ^) und
, schoß
auf ihn herab und riß den Rücken
ihm auf. „Herr König, laß mich los!"
rief er; „du hackst mich ja in
Stücken."
,„Nein!'" sprach der Mörder usw.
2. Ein Sperber 2) fand ihn bei dem
Schmaus.
So leicht war nie ein Spatz ge-
fangen
als dieser Spatz. „Gib," rief er
aus,
4. Er schmauste noch, da kam im Nu
ein Pfeil ihm in die Brust geflogen.
„Tyrann"^), rief er dem Jäger
zu°),
„warum ermordet mich dein Bogen?"
„„Ei,"" sprach der Mörder usw.6)
I. Vermittlung. 1. — Widerstreben, Widerstand. 2. Sperber oder
Sperlingsfalke (M8U8 communis). 3. Hier Schelm im üblen Sinne des
Wortes: ehrloser Betrüger, verschmitzter Bösewicht. 4. Tyrann — ur-
sprünglich nur Herr, Herrscher, dann Alleinherrscher, später schon bei
den Griechen und Römern mit dem Nebenbegriff: Gewaltherrscher, Zwing-
herr, jetzt mit leiser Mischung des Begriffs von Grausamkeit, z. B. tyran-
nisieren. 5. Der Adler mußte demnach gesehen haben, daß der Jäger
ihm den Pfeil in die Brust geschossen hatte. 6. Der Refrain will sagen:
Du bist schwächer als ich und gänzlich in meine Macht gegeben; Macht
aber geht vor Recht.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit der Handlung. Dieselbe ist
im Sommer ein in der freien Natur auf dem Felde am Waldessäume
tägliches Vorkommnis.
2. Gliederung des Inhalts. Der Sperling fängt und frißt
Insekten, auf welche ihn die Natur angewiesen, desgleichen der Sperber
den Spatz, der Adler den Sperber, und der Mensch, der Herr der Schöpfung
auf Erden, tötet endlich zu eigennützigen Zwecken den Adler. D e r S t a r k e,
der andere überwältigt, findet in der Natur stets einen noch
Krummacher: Die Schwalben.
87
Stärkeren, a) Gefangennahme des Schwächeren, b) Dessen Bitte um
Freiheit und Schonung des Lebens, c) Nichtgewährung der Bitte unter
Berufung aus das Recht des Stärkeren.
3. Charakteristik der handelnden Personen in der Fabel. Sämt-
liche Personen treten zunächst als Angreifer, Räuber und Mörder ans.
Hierauf werden sie von einem Stärkeren gefaßt, und ihr Leben wird
bedroht. Fliege und Sperber wenden sich an die Gnade des Stärkeren
für ihr Leben. Sperling und Adler hingegen protestieren gegen den Ge-
waltakt und berufen sich auf ihre Unschuld und ihr gutes Recht: „Was
hab' ich denn begangen?" und „Warum ermordet mich dein Bogen?"
Entscheidung des Stärkeren: „Macht geht vor Recht."
III. Verwertung. 1. Für Herz und Leben: Sei nicht stolz, und
poche nicht ans deine Kraft und Stärke; denn es gibt eine Stufenleiter,
auf welcher immer ein noch Gewaltigerer über dir steht!
2. Verwandtes. Luk. 11, 21. 22: Wenn ein starker Gewappneter
seinen Palast bewahret, so bleibt das Seine mit Frieden. Wenn aber ein
Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn usw. — Luk. 14, 8. 9:
Setze dich nicht oben an, daß nicht etwa ein Ehrlicherer (Vornehmerer)
denn du von ihm geladen sei und dann komme, der dich und ihn geladen
hat, und spreche zu dir: Weiche diesem ! usw. — Leben und Treiben der
Raubritter in den.Zeiten des Faustrechts. R. D.
43a. A. Die Schwalben.
Fr. Krummacher. Apologen und Paramythien. Essen 1810. S. 225.
1. In eines Mannes Haus
kam lange Zeit, von Jahr zu Jahr,
im Lenzbeginn ein Schwalbenpaar.
Mit Freuden nahm der arme Mann
sie auf und schlug ein Brettchen an,
worauf sie sich ihr Nest erbauten
und frohen Muts herniederschau-
ten.
2. Sie zogen fort. Der arme Mann
wird unverhofft' durch Erbschaft
reich.
Nun ward das alte Haus sogleich
zerstöret und neu ausgeführt,
mit Marmorsäulen ausgeziert;
das Schwalbenbrettchen riß man
nieder.
Indessen kam das Pärchen wieder.
3. Sie zwitscherten ihr Morgenlied.
„Fort!" rief der reiche Mann voll
Wut,
„vertilget mir die schnöde Brut!"
Und Prognes zarte Kinder flohn
und sangen noch in frohem Ton:
„Wir gehn; wo Lieb und Frohsinn
weilen,
bedarf es keiner Marmorsäulen."
I. Vermittlung. Die kleine Fabel ist so einfach, daß ein gutes Vor-
lesen seitens des Lehrers genügt, um die Kinder ins Verständnis ein-
zuführen. Nur der Vers: „Und Prognes zarte Kinder flohen" bedarf
der Erklärung. Progne (eigentlich Prokne) war eine griechische Fürstin,
die der griechischen Sage nach in eine Nachtigall verwandelt wurde. Die
spätere (römische) Sage läßt sie in eine Schwalbe verwandelt werden,
während ihre Schwester, P h i l o m e l e, zur Nachtigall wird. Unser Dichter
läßt Prokne hier als Beschützerin der Schwalben auftreten.
II. Gliederung, a) Der arme Mann, der Freund der Schwalben;
b) der r e i ch g e w o r d e n e Mann, der Feind der Schwalben; e) der Abzug
der Schwalben und ihr Trost.
88
II. Epische Dichtungen.
III. Charakter der Personen. Der Mann ist arm, hat ein kleines
Häuschen, nimmt die Schwalben freundlich auf, sorgt für sie (schlug
ein Brettchen an). Der Mann wird reich, wird üppig (Haus mit Mar-
morsäulen), hartherzig („Vertilget mir die schnöde Brut"). Die
Schwalben, ebenfalls als Personen vorgeführt, sind frohen Mutes am
alten Hause; auch bei ihrer Wiederkunft sind sie fröhlich („Sie zwitscher-
ten ihr Morgenlied"). Sie fliehen vor der Wut des reichgewordenen
Mannes, gehen fröhlich fort und geben dem hartherzigen Manne noch
eine gute Lehre, in der sich ihre Zufriedenheit und Bescheiden-,
heit kundgibt.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
„Wo Lieb' und Frohsinn weilen, bedarf es nicht der Marmorsäulen."
Wer den Vögeln eine Wohltat erweist, hat Freude an ihnen. Wer da-
gegen die unschuldigen Tiere verfolgt, bei dem kehrt weder Liebe noch
Frohsinn ein. Die glücklichsten Menschen findet man nicht in Marmor-
palästen, sondern da, wo sie sich untereinander lieb haben.
2. Vergleichung mit:
B. Die Sperlinge.
Lessing. Werke. Leipzig 1853. I. 141.
Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige Nester gab, ward aus-
gebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze dastand, kamen die Sperlinge
wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert.
Zu was, schrieen sie, taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlasset den
unbrauchbaren Steinhaufen!
A. Ähnlichkeiten. Schwalben und Sperlinge hatten bisher im
alten Hause ihre Nester. Als sie wiederkehren, finden sie dieselben nicht
wieder und ziehen fort.
B. Verschiedenheiten. Die Schwalben waren vom armen Manne
am alten Hause gerne gesehen und zum Nestbau ermuntert. Die Sper-
linge hatten sich die Plätze zu ihren Nestern ohne Hilfe der Besitzer an-
geeignet. Das Schwalbenpaar baute nur ein Nest, die Sperlinge un-
zählige. Das Haus des armen Mannes wird vollständig niedergerissen,
die Kirche wird nur ausgebessert. Die Schwalben wollten nur als Gäste
am Hause weilen, die Sperlinge meinten, die Kirche hätte nur den Zweck,
ihre Nester aufzunehmen. Die Schwalben wollten in Liebe und Frohsinn
bei den Menschen wohnen, die Sperlinge wollten die Kirche für sich allein
haben. Die Schwalben zeigten sich als bescheidene und anspruchs-
lose, die Sperlinge dagegen als anspruchsvolle und freche Tiere.
W. D.
43b. Bei Goldhähnchens.
Von Heinr. Seidel. (Aus: Glockenspiel.)
1. Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast;
sie wohnen im grünen Fichtenpalast,
in einem Zimmerchen klein,
sehr niedlich und sehr fein.
Seidel: Bei Goldhähnchens. — Geliert: Der Kuckuck. 89
2. Was hat cs gegeben? Schmetterlingsei,
Mückensalat und Gnitzenbrei
und Käferbraten famos —
zwei Millimeter groß.
3. Dann sang uns Vater Goldhähnchen was;
so zierlich klang's wie gesponnenes Glas.
Dann wurden die Kinder besehn:
sehr niedlich alle zehn!
4. Dann sagt ich: „Adieu" und: „Danke sehr!"
Sie sprachen: „Bitte, wir hatten die Ehr,
und hat uns mächtig gefreut!"
Es sind doch reizende Leut'!
1. Einfühpung in Stoff und Stimmung. Im Tierleben hat manches
Ähnlichkeit mit dem Menschenleben. Gern suchen Kinder diese Ähnlich-
keiten aus; die Dichter helfen ihnen dabei und lassen die Tiere reden,
als ob sie Menschen wären. So hat der Dichter Heinr. Seidel einen Be-
such bei Goldhähnchens, unsern kleinsten Vögeln, beschrieben. Ein
Vogel, vielleicht ein Zaunkönig, erzählt, wie er bei seinem Besuche im
Haushalte des Goldhähnchens aufgenommen und bewirtet worden ist.
Hört seinen Bericht! (Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Haushalt desGoldhähnchens. Im grünen
Fichtenwalde zur Sommerzeit. Zierliches Nest am Ende eines Fichten-
zweiges. (Schutz gegen Feinde, z. B. Eichhörnchen.) Das Nest voll
junger Vögel. Mücken, Fliegen, Käfer und Schmetterlinge umschwärmen
es. Auf den Zweigen das Elternpaar und der Besuch. Sie verabschieden
sich mit höflichen Bücklingen und Redensarten voneinander.
2. Gedankengang: 1. Die Wohnung der Gastgeber. 2. Das Gast-
mahl. 3. Die Unterhaltung. 4. Der Dank des Gastes und der höfliche
Abschied.
III. Verwertung. 1. Mahnung. Seid gastfrei ohne Murmeln!
Seid dankbar, macht aber keine nichtssagenden Redensarten! Ahmt keine
leeren Höflichkeitsformen nach!
2. Aufgaben: a) Gedichtsinhalt in kurzen Sätzen! (Das zierliche
Nest des Goldhähnchens ist am Ende eines Fichtenzweiges. Der Gast
wird mit allerlei Jnsektengerichten gespeist. Durch Gesang des Haus-
herrn und Besichtigung der zehn Jungen wird er unterhalten. Gast und
Gastgeber verabschieden sich wie höfliche Menschen mit herkömmlichen
Redensarten.) b) Worin gleichen die Kindergesellschaften diesem
Besuche „Bei Goldhähnchens"? e) Was ist spaßhaft in dem Gedichte?
?.
M. A. Der Kuckuck.
Christian Fürchtegott Geliert. Sämtliche Fabeln und Erzählungen. Leipzig 1867. S-16.
I. Einführung. Es gibt wohl kein Kind, das nicht wüßte, wie der
Kuckuck schreit; es gibt aber recht viele, sehr erwachsene Leute, die noch
nie einen Kuckuck gesehen haben. Man kann nicht anders sagen: sein
Ruferl ist einförmig, und doch hören wir ihn gern, diesen Verkünder
90
II. Epische Dichtungen.
des Frühlings! Was für eigentümliche Dinge erzählt uns von ihm die
Naturgeschichte! Was Wunder daher, wenn noch weit Seltsameres die
Fabel und selbst der Aberglaube von ihm zu erzählen wissen!
Bekannt und den Kindern nicht weniger zur Lust als zur Lehre
dienend ist die Sage, welche sein scheues, unstätes Wesen daraus zu er-
klären sucht, daß er kein gutes Gewissen hat und seiner jetzigen Gestalt
sich schämt*). Ehedem war nämlich ein sehr reicher Bäcker, welcher zur
Zeit der Teuerung den armen Leuten, für welche er Brot buk, etwas
von deut Teige stahl. Wenn dieser im Ofen ausgegangen wap, so riß
er davon ab, betrachtete sich wohlgefällig das gestohlene Gut und rief
freudig aus: Guck, guck, d. h. ei sieh ! Eines Tages wurde aber der Dieb
erwischt und zur Strafe seines Eigennutzes in einen Vogel verwandelt,
der mehlbestäubtes Gefieder hat und nun für immer auf seinen einförmigen
Ruf angewiesen bleibt. Dies ist der Kuckuck der Vogelsage! Lernen wir
nun den Kuckuck in der Fabel kennen!
Der Kuckuck.
„Und von der Amsel?" fuhr er fort.
„„Auch diese lobt man hier und
dort." "5)
„Ich muß dich doch noch etwas fra-
gen«):
„Was," rief er, „spricht man denn
von mir?"
„ „Das," sprach der Star, „das weiß
ich nicht zu sagend);
denn keine Seele red't von dir.""
„So will ich," fuhr er fort, „mich an
dem Undank rächen«)
und ewig von mir selber sprechen."«)
II. Zum Verständnis des Einzelnen. 1. Stare und Papageien pflegt
man als die beredtesten Vögel anzusehen oder, richtiger gesagt, als die
schwatzhaftesten.
2. Seinem Herrn aus dem Bauer weggeflogen. In der Gefangen-
schaft mochte er nicht nur größere Übung in der Schwatzhaftigkeit erlangt
haben, sondern vor allem hatte er in der Stadt desto bessere Gelegenheit
gehabt, die verschiedenen Ansichten der Menschen kennen zu lernen. Daß
er aus der Stadt entflohen sei, mußte er dem Kuckuck erzählt haben.
3. Melodien. Melodie ist der Zusammenklang, auch Wohlklang der
Töne, hier aber so viel als: unser Gesang. „Unsere Melodeien" sind
die der Vögel überhaupt, nicht etwa nur die des Kuckucks und des Stars.
Dem Kuckuck ist es nur darum zu tun, vom Stare zu erfahren, was
man über seinen eigenen Gesang urteile. Er will aber den Star nicht
stutzig machen und stellt zunächst die Frage ganz allgemein: Was spricht
*) Brockhaus: „Doch braucht er sich seiner Gestalt nicht zu schämen; er ist
sogar ein schöner Vogel, von der Größe einer Turteltaube, von blaugrauer Grund-
farbe, mit langem, schwärzlichem Schwanz, dessen ^Federn weiße Flecken und
Spitzen tragen."
Der Kuckuck sprach mit einem Star*),
der aus der Stadt entflohen war?)
„Was spricht man," fing er an zu
schreien,
„was spricht mau in der Stadt von
unsern Melodeien?«)
Was spricht man von der Nachti-
gall?"^)
„„Die ganze Stadt lobt ihre Lie-
der." "
„Und von der Lerche?" rief er wieder.
„„Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme
Schall."
EM«»' •
Gellert: Der Kuckuck.
91
man über uns Vögel? Durch solche Umschweife erreicht er um so sicherer
seinen Zweck, besonders auch dadurch, daß er erst Nachfrage nach der
Nachtigall, der Lerche und der Amsel hält.
4. Am liebsten möchte er sich der Nachtigall gleichstellen; darum will
er zunächst über sie das Urteil hören. Er verlangt aber gar nicht nach
dem Lobe anderer, darum ist er genötigt, in der Stufenfolge herabzu-
steigen, von der Nachtigall zur Lerche und zur Amsel.
5. Die ganze Stadt (jedermann!) — die halbe Stadt — (keineswegs
ein jeder, doch immerhin noch viele!) — hier und dort (einige, etliche!),
— Unbefriedigt über die erste Antwort des Stars, das einstimmige Lob
der Nachtigall, hofft er nun wenigstens die gewünschte Antwort zu er-
halten; die Hast läßt ihn nicht viel Worte machen, sondern er fragt so
kurz als möglich. Aber auch die zweite und dritte Antwort fällt gegen
Wunsch und Erwartung aus.
6. Vergeblich hat bis jetzt der Kuckuck gehofft, wenn nicht mit Nach-
tigall und Lerche, so doch wenigstens mit der Amsel auf dieselbe Stufe
gestellt, ja allermindestens doch hinter dieser erwähnt zu werden. Der
Star schweigt aber vollständig von ihm. Da kann sich der Kuckuck nicht
länger halten; er muß nun mit der Sprache heraus und muß geradezu '
danach fragen, was schon längst ihn bewegt und gedrängt, was man
nämlich über ihn selbst urteile.
7. Der Star hat bis jetzt den Kuckuck mit Offenheit bedient; mit
derselben Offenheit bekennt er auch, außerstande zu sein, diese Frage zu
beantworten. Ja, um der weiteren Frage zu begegnen, warum er dies
nicht vermöge, kommt es ihm gar nicht darauf an, unumwunden alsbald
den Grund beizufügen: Niemand redet von dir! —
8. Die Menschen erscheinen ihm undankbar, weil sie den vermeintlich
so schönen Gesang des Kuckucks nicht nach Gebühr würdigen. —
9. Er will hinfort nur den eigenen Namen ausschreien.
Während, wie oben erwähnt, in der Volkssage der Kuckuck damit
bestraft wird, für alle Zeiten denselben Ruf erschallen zu lassen, hat
der Fabeldichter diesen einförmigen Ruf in höchst sinniger Weise dahin
gedeutet, daß er freiwillig den Kuckuck den Entschluß fassen läßt, sich
dadurch an dem Undank der Menschen zu rächen. Diese Deutung ist ihm
indessen keineswegs Hauptzweck, wohl aber
III. die Lehre der Fabel (die Moral): Findet die Eitelkeit nicht
die gewünschte Beachtung, so bleibt sie nur auf das Eigenlob angewiesen
(das ohne jeglichen Wert ist, da nur fremdes Lob den rechten Klang hat).
IV. Zum Verständnis des Ganzen beachte den höchst gelungenen
Gegensatz, der in „schreien" und dem mit ihm gereimten Worte „Melo-
deien" liegt. Melodeien werden gesungen, der Kuckuck kann nur schreien.
Beachte auch, wie sein Selbstgefühl nachläßt und er allmählich kleinlauter
wird. In der Folge wird nicht mehr gesagt, daß er geschrieen, sondern
zweimal heißt es nur von ihm „rief er" und zweimal — „fuhr er fort".
Einmal fuhr er zu fragen fort, das andere Mal fuhr er zu sprechen fort
— erwiderte er.
92
II. Epische Dichtungen.
V. Aufgaben. 1. Erkläre die Synonyme: sprechen, sagen, reden,
rufen, schreien (die sämtlich in dem Gedichte vorkommen)! 2. Nenne be-
rühmte Fabeldichter! (Bei den Griechen Äsop, bei den Römern Phä-
drus, bei den Deutschen außer Gellert noch Lichtwer, Gleim,
Pfeffel, Hagedorn, Lessing, Meißner, Fröhlich usw., bei den
Franzosen Lafontaine usw.)
VI. Zum Vergleich:
8. Das Kutschpferd.
Christian Fürchtegott Gellert. (Gekürzt.)
Ein Kutschpferd sah den Gaul den Pflug im Acker ziehn
und wieherte mit Stolz auf ihn.
„Wann," sprach es und fing an, die Schenkel schön zu heben,
„wann kannst du dir ein solches Ansetzn geben?
Und wann bewundert dich die Welt?"
„Schweig," rief der Gaul, „und laß mich ruhig pflügen!
Denn baute nicht mein Fleiß das Feld,
wo würdest du den Hafer kriegen,
der deiner Schenkel Stolz erhält?"
In I wird der Eitelkeit Beschämung zuteil, in II dem Stolze ge-
radezu die gebührende Abfertigung.
Auch in „Kuckuck und Esel" oder Wettstreit (Bd. I, Nr. 201) will
der Kuckuck ein guter Sänger sein. Sein unstätes Wesen behandelt die
Fabel von Curtmann: Der Kuckuck.
Zwei Rätsel über Kuckuck und Star.
1. Lies mich vorwärts, lies mich rück-
wärts !
Immer bleib' ich, was ich bin;
kommt der Frühling, komm' ich
mit ihm;
geht er, geh' ich mit ihm hin.
Denn ich lieb das Wanderleben,
musizier' in Feld und Wald;
in zwei hellen Tönen ruf' ich,
daß es weit und lustig schallt.
2. Man läßt ihn sprechen, man läßt ihn stechen;
es ist ein Vogel und ein Gebrechen.
Dr. Regent.
43. Der Hänfling.
Gottfried Lichtwer. Bibl. deutsch. Klassiker IV, S. 436. Hildburghausen 1863.
I. Einführung. Wer kennt nicht den Buchfink, der so gerne vonl
Obstbaume herab seine kernige Strophe schmettert? Zu seiner Familie
gehört auch der Flachsfink, wegen seines grauen Kleides auch Grauhäns-
ling genannt. Wie es einem solchen einst erging, als er zum erstenmal das
Nest der Eltern verließ, erzählt das folgende Gedichtchen.
II. Vortrag.
1. Ein Hänfling, den der erste Flug 9 ein edler Trieb!5) denn eigner
aus seiner Eltern Neste trug, Herd
hob an?), die Wälder3) zu be- ist, sagt das Sprichwort, Goldes
schauen, wert?)
und kriegte Lust 4) sich anzubauen;
Lichtwer: Der Hänfling. 93
2. Die stolze GluN) der jungen Brust
macht ihm zu einem Eichbaum
Lust.«)
„Hier' wohn' ich," sprach er, „wie
ein Königs),
dergleichen Nester gibt es wenig."
Kaum stand das Nest, so ward's
verheert
und durch den Donnerstrahl") ver-
zehrt.
3. Es war ein Glück bei der Ge-
fahr ii),
daß unser Hänfling auswärts")
war.
Er kam, nachdem es ausgewittert"),
und fand die Eiche halb zersplittert.
Da sah er mit Bestürzung") ein,
er könne hier 15) nicht sicher sein.
4. Mit uingekehrtem Eigensinn 16)
begab er sich zur Erde i)itt17)
und baut' in niedriges Gesträuche,
so scheu macht' ihn der Fall der
Eiche18);
doch Staub und Würmer") zwan-
gen ihn,
zum andernmal davon zu ziehn.
5. Da baut er sich das dritte Hans
und las ein dunkles Büschchen aus,
wo er den Wolken20) nicht so nahe,
auch nicht die Erde vor sich sahe,
ein Ort, der in der Ruhe27) liegt:
da lebt er noch und lebt vergnügt.
6. 22) Vergnügte £age23) findet man,
woferne man sie finden kann"),
nicht auf dem Thron und nicht in
Hütten;
kannst du vom Himmel^) es erbitten,
so sei dein eigner Herr und
Knecht23),
dies bleibt des Mittelstandes27)
Recht.
Vermittlung des Verständnisses im Anschluß an Wort und
Gang der Dichtung.
1. Ist von einem jungen oder einem alten Hänfling die Rede? —
2. Fing an, unternahm es, — 3-. Was konnte er bisher nur? — 4. Be-
kam, als er größer wurde, Lust, sein Nest zu bauen. — 5. Welcher Trieb
ist edel und warum? — 6. Ein eigenes Hauswesen, ein eigner Haus-
und Besitzstand ist von großem Vorteil und gewährt Freuden aller Art.
— 7. Das Bewußtsein der gewonnenen Kraft oder das Streben, höher
empor zu fliegen als seine Eltern. — 8. In der Eiche vereinigt sich
Schönheit mit Stärke. Letztere gibt dem Hänfling das Gefühl der Sicher-
heit, erstere ist das Geschäft des Brütens zu erleichtern wohl geeignet.
— 9. In königlicher Pracht und Herrlichkeit. — 10. Blitzstrahl. Wie
unterscheiden sich Blitz und Donner? — 11. Welche der Blitz für das
Nest gehabt. — 12. Nicht gerade im Neste. — 13. Als das Gewitter
vorüber war. — 14. Voll Schrecken. — 15. Wo? — 16. Nun gerade
das Entgegengesetzte wollend. — 17. Baute er sich dicht am Erdboden
an. Welches Wort im folgenden Verse bezeichnet das ebenfalls? — 18.
Dieser war also durch den Blitz zerschmettert und entwurzelt worden. —
19. Staub und Würmer verdarben das Nest und die Eier. Wie wohl? —
20. Nicht in so bedeutender Höhe. — 21. Ungestört. — 22. Von wem
ist in der 6. Strophe die Rede? — 23. Das Glück der Zufriedenheit. —
24. Wenn sie uns überhaupt vergönnt sind, wenn wir sie uns zu bereiten
verstehen. — 25. Gewährt dir Gott die Bitte. — 26. Sei frei und un-
abhängig. — 27. Was ist unter Mittelstand zu verstehen? — Grund-
gedanke des Gedichts: Der Mittelstand sichert ein ruhigeres Leben;
denn in ihm lebt man am unabhängigsten und daher am zufriedensten
nnd glücklichsten.
94
II. Epische Dichtungen.
III. Vergleichungen. Den verwandten Grundgedanken: Auch in nie-
derem Stande kann man bei bescheidenen Ansprüchen ans Leben glücklich
und zufrieden sein, spricht das Gedicht aus:
Niederes Los.
Abr. Emanuel Fröhlich. Fabeln. Frauenfeld 1853. S. 261.
Zu der niedern Trauerweide,
grünend an dem klaren Bach,
sagt die Pappel: „Wachs' mir nach
zu der Höhe stolzer Freude!"
Und die Weide sprach dawider:
„Pappel, neige dich hernieder
zu des Baches frischen Wellen,
wo mir solche Freuden quellen,
die du droben nicht genossen!
Schau, wie hier die Blumen sprossen
und die Sterne sich erhellen!"
Vergleiche sonst noch von Rückert:
In allem Leben ist ein Trieb In Hochmut überheb dich nicht,
nach unten und nach oben; und laß den Mut nicht sinken!
wer in der rechten Mitte blieb Mit deinem Wipfel reich' ins Licht,
von beiden, ist zu loben. und laß die Wurzel trinken!
IV. Poetische Ausdrucksweise.
Durch „erster Flug" und „junge Brust" kommt der Begriff „jung"
zu ausdrucksvoller Anschaulichkeit.
Erster Flug — trug: Metonymie (Ursache statt der Wirkung).
Beachte den Gegensatz zwischen dem gewählteren Ausdruck „anheben"
und dem volkstümlichen „kridgen" = bekommen!'
Bemerkenswert die geschickte Begründung durch das Sprichwort.
Glut — dichterisch starker, an Übertreibung (Hyperbel) streifender
Ausdruck. Brust für Herz: Synekdoche.
Eichbaum. Das vollere Wort ist so recht geeignet, das hohe Streben
zu versinnbilden: vom niedrigen Gesträuch soll es nicht nur auf einen
Baum, sondern bald auf die hohe, mächtige Eiche gehen.
Stand das Nest — dichterischer Ausdruck für: war fertig.
Verheert — verzehrt. Durch die doppelte Anwendung der sinnver-
wandten, an sich schon durch die lange Endsilbe ins Gehör fallenden Wör-
ter wird die gänzliche Vernichtung eindringlich bezeichnet.
Ausgewittert, dichterische Form für ausgewettert. Hier allerdings
wohl des Reims wegen gewählt (während man sonst sehr oft dem Reime
zuschreibt, was aus dem Wesen der Dichtung zu begründen ist).
Mit umgekehrtem Eigensiun: dichterische Kürze, die in Prosa kaum
möglich und auch nicht zu empfehlen wäre.
Der Fall der Eiche — geschieht mit Wucht, daher für den Hänfling
allerdings ein gewichtiger Grund, ihn mit Bestürzung zu erfüllen, ihn
scheu zu machen und zu dem Entschlüsse zu nötigen, seine Wohnung zu
wechseln.
Dunkles Büschchen — wirksamer Gegensatz besonders zu „Eichbaum",
an dessen Wipfel bald auch der Ausdruck
„Wolken" erinnert, letzterer in kräftigem Gegensatz zu „Erde".
Förster: Blau-Veilchen.
95
Die Wiederholung des „lebt" in demselben Verse beruhigt uns bei
dem Mitleid über die Unfälle, welche dem Vogel sein Leben Wechsel- und
mühevoll gemacht.
Durch die sofortige Wiederholung des Wortes „vergnügt" wird der
enge Anschluß der Lehre, welche aus der Fabel zu entnehmen, an letztere
selbst bewirkt.
Thron und Hütte, Herr und Knecht: wirksame Gegensätze.
V. Aufgaben zu mündlicher und schriftlicher Beantwortung.
Welche anderen Gedichte desselben Verfassers stehen in deinem Lesebuche?
Welche Eigenschaften des Hänflings sind auch oft den Kindern eigen?
(Streben hoch hinaus; Eigensinn, der stets mit Unüberlegtheit verbunden;
viele wollen erst durch Schaden klug werden. Älter geworden, sehnt auch
der Mensch sich nach ruhigem, ungestörtem Besitz des Erworbenen und
sieht oft zu spät seine frühere Torheit ein.) Gib den Inhalt der einzelnen
Strophen kurz an! Erzähle den Inhalt mit der Abänderung, daß statt
des Blitzes ein Raubvogel, statt des Gewürms ein böser Knabe das Nest
zerstörte! Sprich darüber, warum der Trieb, sich anzubauen, ein edler
Trieb sei! (Durch den Ackerbau kommen die herumziehenden Hirtenvölker
zu festen Wohnsitzen, durch sie zu Sitte und Bildung.)
Daß der Mensch zum Menschen werde,
stift' er einen ew'gen Bund
gläubig mit der frommen Erde,
seinem mütterlichen Grund.
(Schiller, Das Eleusische Fest.)
Der Herr hat zu befehlen, der Knecht zu dienen. Was heißt dem-
nach: Sei dein eigner Herr und Knecht? Wie dient man dem Mammon?
Vgl. den Wartburgspruch: Aller Sinn und Mut steht nach zeitlichem
Gut, und wenn sie das erwerben, — legen sie sich nieder und sterben. Das
größte Reich das ist: sein selbst König sein zu allen Frist. Dr. Regent.
46. A. Blau-Veilchen.
Fr. Förster. Romanzen, Erzählungen usw. Berlin 1838. S. 86.
Ein kleines Blau-Veilchen
stand eben erst ein Weilchen
unten im Tal am Bach,
da dachte es einmal nach
und sprach:
„Daß ich hier unten blüh',
lohnt sich kaum der Müh',
muß mich überall bücken
und drücken.
10 Bin so ins Niedre gestellt,
sehe gar nichts von der Welt.
Drum wär es ganz gescheit getan,
ich stieg' ein bißchen höher hin-
an."—
Usw. (Das Gedicht findet sich in allen Lesebüchern.)
I. Einführung in das Verständnis. Das Veilchen ist in dem Ge-
dichte denkend, sprechend und handelnd aufgeführt, wie eine
Person. Hierdurch ist es dem Dichter erleichtert, dem Blümchen Eigen-
schaften und Tätigkeiten beizulegen, die ihm eigentlich nicht zukommen,
wie dies ja in allen Fabeln und Märchen der Fall ist.
Vers 1—14. Das Blauveilchen nennt der Dichter absichtlich klein,
um uns den Gegensatz zu seinem anspruchsvollen Wesen recht deutlich
96
II. Epische Dichtungen.
zu machen. In der Regel gilt das Veilchen als das Sinnbild der Be-
scheidenheit; hier aber ist das Gegenteil der Fall. Das bescheidene
Veilchen blüht gern im Verborgenen („unten im Tal am Bach"); es
läßt es sich gern gefallen, wenn es unter den größeren Pflanzen steht und
von diesen überwuchert wird; es ist sein Los, von Tieren, die darüber
hinweglaufen, getreten zu werden usw. Diese Eigenschaften machen das
Veilchen zum Liebling der Menschen. Darum besingt Hoffmann von
Fallersleben die Selbstlosigkeit des Veilchens in folgenden Versen:
1. „Veilchen, wie so schweigend,
wie so still dich neigend
in das grüne Moos!
Veilchen, sag, was sinnest du,
sag' mir, was beginnest du,
scheinst so freudenlos?"
2. „Laß mich! Still und bange
lausch' ich dem Gesänge
jener Nachtigall.
Wenn sie singt, so schweig' ich,
wenn sie singt, so neig' ich
ihrem Sang und Schall."
Wegen dieser Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit besingt
es auch Goethe:
„Ein Veilchen auf der Wiese stand
gebückt in sich und unbekannt,
es war ein herzig's Veilchen."
Von diesen Eigenschaften besitzt unser Blau-Veilchen nichts. Es will
höher hinaus, um selbst mehr zu sehen, und vielleicht auch, um besser
gesehen zu werden.
Vers 15—37. Nun beginnt die Wanderschaft. Es zieht die Bein-
chen (Wurzeln) mit „eigener Hand aus dem Wiesenland". Das war schon
die erste Torheit; denn dort im Wiesenlande war sein ihm von der
Natur bestimmter Aufenthalt. Auf diese Torheit folgen noch mehrere, die
das Veilchen dem Verderben immer näher bringen. Nun steht es auf dem
Hügel „im schönsten Sonnenschein". Man sollte denken, nun wäre es
zufrieden. Mit Nichten! Es will die „weite Welt" sehm, darum sehnt
es sich vom Hügel nach dem Berge: „Und wie gesagt, so getan."
Vers 38—59. War die Wanderung nach dem Hügel leicht und ging
sie „behende" von statten, so sollte das Bergsteigen schon mehr An-
strengung kosten, „es muß sich verpusten, muß öfter ruhn". Ja natür-
lich ! denn das Veilchen kommt außer Atem bei der Bergwanderung und
kommt endlich „mit niedergetret'nen Schuh'n" an. Da hat es schon den
ersten Schaden zu erleiden; aber gewarnt ist das unverständige Veil-
chen noch nicht. Es wird ganz ungenügsam und möchte in den Himmel
hinein gucken, unr die Englein musizieren zu hören und den Herrgott
die Welt regieren zu sehen; drum will es aus die hohe Alp, wo es dem
Himmel nahe ist.
Vers 60—83. Die kleinen Beschwerlichkeiten und Nachteile, welche
das Ersteigen des Berges mit sich brachte, sind aber gering gegen die
Beschwerden, die es nun erleben soll. Es findet keinen Weg und Steg
zwischen den Felsen; es flimmert ihm vor dem Blick (die helle Sonne
scheint auf den weißen Schnee); es schwindelt auf den schmalen Fels-
graten und kann nicht wieder rückwärts. Endlich, als es die letzte Kraft
Förster: Blau-Veilchen.
97
daran gesetzt hat, kommt es „zum Tode ermattet" oben an. Noch würde
es sich erholt haben, wenn es sich (wie aus dem Hügel und dem Berge)
mit den Füßchen gleich hätte einpflanzen können. Aber das war in dem
Steinboden unmöglich. Und nun geht's rasch zu Ende mit dem armen
Veilchen; der harte Wind, der erstarrende Frost und das Eis gereichen
ihm zum Verderben. Es Hilst ihm sein Zappeln nichts, auch nicht das
Bedecken der Händchen und Beinchen mit dem grünen Schürzlein, auch
nicht das bitterliche Weinen und die aufrichtige Reue: „Ach, wär' ich
geblieben im Tale dort"; es sinkt um und stirbt. Wir bedauern das arme
Blau-Veilchen, aber retten können wir es nicht.
Vers 84 und 85. Die Lehre: „Hast du im Tal ein sichres Haus,
dann wolle nie zu hoch hinaus" bedarf weiter keiner Erklärung.
II. Gliederung des Gedichts. I. Abschnitt: B. 1—14. Dem Blau-
Veilchen gefällt sein Standort im Tale nicht, es will weiter sehen
und höher steigen. II. Abschnitt: Vers 15—37. Es wandert behende
nach dem Hügel und will da die weite Welt sehen. III. Abschnitt:
Vers 38—59. Es ersteigt in l a n g s a m e m L a u f auf beschwerlicher Bahn
den Berg und will nun in den Himmel gucken. IV. Abschnitt: Vers
60—83. Es steigt mit großer Mühe und vielen Beschwerden die
hohe Alp empor, wünscht sich in das Tal zurück und stirbt. V. Ab-
schnitt: Vers 84—85. Die Mahnung des Gedichts. —
Folgende mehr ins Einzelne gehende Gliederung gibt Kehr in seiner
„Anweisung zur Behandlung deutscher Lesestücke" (6. Ausl. S. 222):
1. Blau-Veilchens glücklicher Standort.
2. Blau-Veilchens Wünsche: a) Ein Stückchen weiter sehen,
d) In die weite Welt sehen, e) In den Himmel sehen, die Musik
der Engel hören, unsern Herrgott die Welt regieren sehen.
3. Seine Wanderungen: a) Aus dem Tal auf den Hügel mit
behendem Lauf. b) Auf den Berg nicht in so raschem Lauf — beschwer-
liche Bahn — muß verpusten — öfters ruhn — kommt endlich mit nieder-
getretenen Schuhen an. c) Auf der Alp viele Beschwerden, kein Weg,
kein Steg, der Boden von Stein, Wind und Frost.
4. Seine Täuschungen und sein Ende: a) Man sieht vom
Hügel aus nur ein kleines Stück, b) Auf dem Berge kann es doch nicht
alles sehen, e) Auf der Alp flimmerts ihm vor dem Blick — es schwindelt,
sinkt um und stirbt.
5. Moral: „Hochmut kommt vor dem Falle".
III. Sprachliche und poetische Darstellung, Die Sprache in unserm
Märchen ist durchaus einfach, leicht und kunstlos, für das Kindesalter
vorzüglich geeignet. Es dürfte kaum noch ein Ausdruck vorkommen, der
einer besonderen Erklärung bedürfte. Die Verse sind sehr verschieden,
einzelne kurz, andere lang, einige beginnen mit einer schweren, andere
mit einer leichten Silbe, wie es dem Inhalte gemäß sich schicken mag. —
IV. Schriftliche Aufgaben. 1. Eine Nachbildung des Märchens: z. B.
Ein kleines Mädchen geht Blumen pflücken, erst im Felde, dann im
Walde, endlich am Abgrunde. (Am Schlüsse wird es noch gerettet.)
AdL. II. 8. Aufl. 7
98
II. Epische Dichtungen,
2. Vergleichung des Gedichts mit:
B. Der Schmetterling.
Nikolaus Lenau. Gedichte. Stuttgart 1871. S. 232. (Gekürzt.)
1. Es irrt durch schwanke Wasserhügel
im weiten, windbewegten Meer
ein Schmetterling mit mattem
Flügel
und todesängstlich hin und her.
2. Ihn trieb's vom trauten Blüteu-
strande
zur Meeresfremde fern hinaus,
vom scherzend holden Frühlings-
tande
ins ernste, kalte Flutgebraus.
3. Auf glattgestreckte, sanfte Wogen
hatt' ihm das Meergras trügerisch
viel schönre Wiesen hingelogen,
wie westgeschaukelt, blumenfrisch.
4. Ihm war am Strand das leise
Flüstern
von West und Blüte nicht genug,
es trieb hinaus ihn, wählig lüstern
zu wagen einen weitern Flug.
5. Kaum aber war vom Strand ge-
flogen
des Frühlings ungeduld'ges Kind,
kam sausend hinter ihm gezogen
und riß ihn fort der böse Wind.
6. Stets weiter fort von seines Lebens
zu früh verlornem Heimatglück;
der schwache Flattrer ringt ver-
gebens
nach dem verschmähten Strand
zurück.
7. Von ihrem Schiffe Wandersleute
mit wehmutsvollem Lächeln sehn
die zierlich leichte Wellenbeute,
den armen Schmetterling, ver-
gehn. —
1. Ähnlichkeiten: Veilchen und Schmetterling sind mit ihrem
Aufenthaltsorte nicht zufrieden. Beide gehen an gefährliche Orte und
kommen in der selbstbereiteten Not um. Von beiden enipfangen wir die
Lehren: „Wer sich ohne Not in Gefahr begibt, kommt darin um" und
„Hast du es gut, fo wolle es nicht besser haben."
2. Verschiedenheiten. A führt uns eine Pflanze, B ein Tier
vor. A gibt uns zunächst den ersten Aufenthaltsort des Veilchens an,
B führt uns sofort die Gefahr, in welcher der Schmetterling schwebt, vor.
Für das Veilchen wird die Gefahr nach und nach größer, dem Schmetter-
linge tritt die Gefahr plötzlich nahe. Das Veilchen wird durch Frost und
Eis getötet, der Schmetterling durch Wind und Wasser. Das Veilchen
stirbt auf hoher Alp, der Schmetterling im Meere.
In bezug auf die Form sind auch einige leicht kenntliche Verschieden-
heiten vorhanden: A hat keine strophische Einleitung und sehr un-
regelmäßigen Versbau. B ist in vierzeiligen Strophen und reinen vier-
füßigen jambischen Versen abwechselnd mit weiblichen und männlichen
Reimen geschrieben.
Die Sprache in A ist einfach und kindlich, in B gewählt und reich usw.
(Die schönen Wort- und Lautverbindungen, die Vergleichungen usw. sind
leicht zu finden.) W. D.
47. Der Ursprung der Nose.
Fr. Rückert. Weisheit des Brahmanen. 9. Aufl. Leipzig 1875. S. 129.
1. Den Rosenzweig benagt ein Lämmchen auf der Weide;
es tut's nur sich zur Lust, es tut's nicht ihm zuleide.
2. Dafür hat Rosendorn dem Lämmchen abgezwackt
ein Flöckchen Wolle nur, es ward davon nicht nackt.
jRliefert: Der Ursprung der Rose. 99
3. Das Flöckchen hielt der Dorn mit scharfen Fingern fest;
da kam die Nachtigall und wollte bann ihr Nest.
4. Sie sprach : „Tu ans die Hand und gib das Flöckchen mir!
und ist mein Nest gebaut, sing' ich zum Danke dir."
5. Er gab, sie nahm und baut': und als sie nun gesungen,
da ist am Rosendorn vor Lust die Ros' entsprungen.
I. Erläuterung des Inhalts. Unser kleines Gedicht erzählt uns in
einfachen, schlichten Worten die Entstehung der Rose. Sie, die Rose, ist
das Bild der Liebe und zwar der verschwiegenen, selbstlosen Liebe.
Darum schenkt der Bräutigam seiner Braut eine Rose und will damit
anssprechen, daß er „sie so liebt, wie sich selbst, und dadurch Mut und
Freudigkeit gewinnt, sie überall zu schützen"; darum bringt die Sage die
Rose auch mit der Jungfrau Maria in Verbindung, die ja auch von
der selbstlosesten Liebe zu ihrem Sohne erfüllt war. So erzählt die Sage*);
„Im Kloster Doel sang Mönch Josbert alle Tage fünf Psalmen zu Ehren
der heiligen Jungfrau. Als er im Jahre 1186 bei der Nachtmesse des
Andreasfestes nicht zugegen ivar, suchte ihn der Prior, fand ihn tot in
der Zelle und sah aus seinen Augen, Mund und Ohren fünf Rosen her-
vorblühen." Unsere Vorfahren meinten, daß die Rose besonders gern da
wüchse, wo früher heilige Haine standen, oder an Plätzen, die einst zn
Opfer- und Begräbnisstätten gedient hatten. In der Zeit, da unsere Vor-
fahren noch Heiden waren, war die Rose, besonders die Heckenrose (Rosa
canina), der Göttin Freya oder Frigga, der Gemahlin Odins, geweihte
Sie heißt deshalb noch in manchen Gegenden, z. B. am Niederrhein,
Friggdorn (Friggadorn) und darf nur am Freitag (Tag der Frigga)
gepflückt werden. — Über die Entstehung der Rose gibt es außer der
von Rückert benutzten Sage, die ans dem Morgenlande stammt, noch
andere. So soll (nach Menzel) die Moos rose aus einem Tropfen von
Christi Blut, der vom Kreuze in das Moos niederfiel, entstanden sein.
Die ersten weißen Heckenrosen entstanden dadurch, daß die heilige Maria
die Windeln des Christkindes zum Trocknen über einen Strauch breitete,
was an einem Freitag geschah, an welchem sie stets die Wäsche wusch,
weshalb auch an jedem Freitag die Sonne scheinen muß, und wenn es
nur für einige Augenblicke iväre. Die weiße Rose ist daher besonders
geehrt; die Hexen fürchteten sich vor ihr usw. Auch der Dorn, der dem
Lämmchen (Str. 2) die Flöckchen Wolle abzwackt, ist in der Sage vielfach
erwähnt. Der Hagedorn hak die Art, daß er alles festhält, was ihm
nahe kommt. „Ein Mädchen ging einst mit seiner Mutter Kräuter sam-
meln. Da sah das Mädchen einen Hagebnsch (Heckenrose) mit wunder-
vollen Rosen. Als sie aber einige brechen wollte, rief eine Stimme aus
dem Busch: „Holt! Deif! Deif! Eck hef deck leis!" (Halt! Dieb! Dieb!
ich hab' dich lieb!) Das Mädchen war gefangen. Es wollte schreien und
konnte nicht. Es sah nichts als einen rosenroten Schein und roch den
lieblichsten Rosenduft. Bor den Angen der Mutter war es aber gänzlich,
*) Vgl. A. v. Perger, Deutsche Pflanzensagen. Stuttgart 1864. S. 230 ff.
100
II. Epische Dichtungen.
verschwunden. Diese rief und jammerte, und Leute kamen herbei und
schrien ebenso vergeblich. So verging längere Zeit. Die Tochter war
Rosenprinzessin geworden iinb lebte mit ihrem Gemahl in Freuden, konnte
aber ihre Mutter nicht vergessen. Endlich kamen Feinde- töteten den
Prinzen und zerstörten seinen Palast; da fand auch die Mutter ihre Tochter
wieder, und beide lebten so friedlich miteinander wie früher." (Seisart.) —
Auch die Nachtigall (Str. 3 und 4) gehört zur Rose, nicht nur
weil sie, als der lieblichste unserer Sänger, zur Rosenzeit ihre schönsten
Lieder ertönen läßt, sondern auch weil sie, der Sage nach, im Rosenstrauch
am liebsten singt. „In der Nähe von Meran befand sich einst der pracht-
volle Rosengarten des Königs Laurin. Die Rosen dufteten dort so herrlich,
daß Betrübte getröstet wurden und Kranke genasen. Der Garten wurde
nur durch eine seidene Schnur abgegrenzt. Die Nachtigallen sangen dort
so herrlich, wie sonst nirgends." (Alpensagen.) Wo also Nachtigallen
singen, da blühen Rosen, und wo Rosen blühen, singen die Nachtigallen
am schönsten. Das spricht auch das Ende des Gedichts aus. —
II. Vertiefung. Der Inhalt des Gedichts gibt noch zu folgender
Charakterisierung der Gegenstände Veranlassung.
Das Lämmchen benagt den Rosenzweig nur sich „zur Lust", ohne
die Absicht zu haben, dem Zweige wehe zu tun. Es ist also ein Kind,,
das weiter nicht überlegt. Für seine kleine Unvorsichtigkeit wird es mit.
einer geringen Strafe belegt. Der Rosendorn, der ja der Sage nach
alles, was ihm naht, festhält, zwackt dem Lämmchen ein Flöckchen Wolle
ab. Wie das Lämmchen uns als eine Person vorgeführt wird, so auch
der Rosendorn; er hat Finger, in denen er das Flöckchen festhält.
Die Nachtigall wird als ein so l i e b e n s w ü r d i g e r Vogel geschildert,
daß sogar der Dorn ihr nicht widerstehen kann und ihr die Wolle zum
Nestbau überläßt. Sie verspricht ihm zum Danke ein Lied zu singen.
Aber sie tut viel mehr, sie singt so schön, daß am Rosendorn die Rose
entspringt und dieser nun geschmückt und geziert dasteht.
III. Inhaltsangabe. Ein Lämmchen benagt (V. 1 und 2) den Rosen-
zweig und muß ihm (V. 3—4) ein Flöckchen Wolle lassen. Die Wolle
(V. 5 und 6) gibt der Rosendorn der Nachtigall zum Nestbau, und diese
verspricht (V. 7—8) dem Dorn ein Danklied zu singen. Das Lied ist
(V. 8—10) so wunderschön, daß an dem Rosendorn vor Lust die Rose
entspringt.
IV. Schriftliche Aufgabe: Vergleichung des Gedichts mit „Die
Espe" (Nr. 67B). H.. Ähnlichkeiten in bezug aus den Inhalt: Beide
Gedichte sind Pflanzensagen. In beiden geschieht ein Wunder. Welches?
usw. B. Verschiedenheiten. Wer tut das Wunder? Segen und Fluch
usw. W. D.
48. Wunsch der Welle.
Sonett von Georg Herwegh. Gedichte eines Lebendigen. Stuttgart 1877. S. 119.
1. Tief, tief im Meere sprach einst eine Welle:
„Wie glücklich müssen meine Schwestern leben,
die droben strahlend auf und nieder schweben Z!
O, dürft' ich einmal an des Tages Helle!"
Rückert: Der Brunnen des Verderbens.
101
2. Wie sie gebeten, so geschah ihr schnelle:
sie durfte aus dem dunkeln Schoß sich heben!
Doch kaum war ihr ein Sonnenstrahl gegeben,
lag sie schon sterbend an des Ufers Schwelle. 2)
3. O, mögen alle doch ihr Schicksal loben,
die still, geheim des Lebens Kreis beschreiben Z),
• o, nie die Wut der offnen See erproben!^)
4. O, mögen sie in tiefer Nachts verbleiben
und ihrer keiner streben je nach oben,
um mit den Winden auf den Sand zu treibe«!
1. Erläuterungen. 1. Die Oberfläche des Meeres ist in fortwährender
Bewegung; auf und nieder schwanken die Wellen und leuchten dabei im
Sonnenlichte, während das Wasser der Tiefe ruhig im Dämmerschein liegt.
2. Ein Sturm wühlt das Meer tiefer aus, reißt die unzufriedene Welle
empor und schleudert sie aus den Sand des Ufers, die Schwelle zwischen
Land und Wasser. Der Sonnenstrahl erleuchtet und verzehrt sie zugleich.
3. Der Kreislauf des Lebens von der Geburt bis zum Tode, von der
Wiege bis zum Sarge. 4. Während des Sturmes scheint das Meer wütend
und rasend geworden. 5. Unbekannt, aber auch unbeneidet und unversolgt.
II. Vertiefung. 1. Schauplatz. Das Meer: die oberen Wellen in
ruhiger Bewegung steigend und sich neigend, dabei leuchtend im Sonnen-
lichte; die Tiefe ruhig und dunkel. Ein Sturm peitscht das Meer, wühlt
es auf, türmt die Wellen zu Bergen auf und schleudert viele weithin auf
den Sand des Ufers; die Sonne tritt hinter Wolken hervor und ver-
wandelt das Wasser in Dunst.
2. Gedankengang. Str. 1. Wunsch der Welle. Str. 2. Erfül-
lung desselben. Str. 3. Das Glück der Stille. Str. 4. Die Gefahren im
Sturme.
Grundgedanke. In bescheidener Stille blüht das Glück; im Ge-
wühl des Lebens drohen allerlei Gefahren. Glücklich, wer sich bescheiden
und zufrieden zurückhält, unglücklich, wer sich ehrgeizig vordrängt!
3. Eigentümliches. Das Gedicht ist nach seiner dichterischen Form
ein Sonett (Klinggedicht — siehe Bd. II, Nr. 105), nach dem Inhalte
eine Parabel oder ein Gleichnis.
4. Aufgaben, a) Gib den Inhalt der Strophen in längeren Sätzen
an! (Str. 1: Eine Welle in der Tiefe des Meeres beneidet ihre Schwestern
an der Oberfläche und wünscht sich auch nach oben in die Tageshelle usw.)
b) Suche verwandte Gedichte! (Blau-Veilchen. Der Schmetterling. Vom
Büblein, das überall hat mitgenommen sein wollen. Vom Bäumlein,
das andere Blätter hat gewollt usw.) P.
49. A. Der Brunnen des Verderbens.
Parabel von Friedrich Rückert. Gedichte. Frankfurt 1872. S. 109.
Es ging ein Manu im Syrerland,
führt' ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
urplötzlich anfing scheu zu werden
und tat so ganz entsetzlich schnaufen,
der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
von ungefähr am Wege da.
102
II. Epische Dichtungen.
Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
Las mußt'ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
aus des geborstnen Brunnens Bauch;
daran der Mann sich fest tat klammern
nnd seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh' und sah
dort das Kamelhaupt furchtbar nah',
das ihn wollt' oben fassen wieder.
Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
da sah am Grund er einen Drachen
aufgähnen mit entsperrtem Rachen,
der drunten ihn verschlingen wollte,
wenn er hinunter fallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte —
da sah der Arme noch das Dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
des Sträuchleins Wurzel, dran er-
hing,
da sah er still ein Mäusepaar,
schwarz eine, weiß die andre war;
er sah die schwarze mit der weißen
abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
die Erd' ab von der Wurzel spülten;
nnd wie sie rieselnd niederrann,
der Drach' im Grund aufblickte dann,
zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und
Not,
umstellt, umlagert und umdroht,
im Stand des jammerhaften Schwe-
dens,
sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
sah er ein Zweiglein, welches nickte
vom Brombeerstrauch mit reifen
Beeren;
da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut
und nicht den Drachen in der Flut
und nicht der Mäuse Tückespiel,
als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen
und unter sich den Drachen tauschen
und neben sich die Mäuse nagen,
griff nach den Beerlein mit Behagen,
die beuchten ihm zu essen gut,
aß Beer' auf Beerlein wohlgemut.
Und durch die Süßigkeit im Essen
war alle seine Furcht vergessen. —
Du fragst: Wer ist der töricht' Mann,
der so die Furcht vergessen kann?
So wiss', o Freund, der Mann bist du!
Vernimm die Deutung auch dazu:
Es ist der Drach' im Brunnengrund
des Todes aufgesperrter Schlund;
und das Kamel, das oben droht,
es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
am grünen Strauch der Welt mußt
schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
dich samt den Zweigen, die dich
tragen,
zu liefern in des Todes Macht,
die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
vom Abend heimlich bis zum Morgen^
es nagt vom Morgen bis zum Abend
die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus uud Wust
lockt dich die Beere Sinnenlust,
daß du Kamel, die Lebensnot,
daß du im Grund den Drachen Tod,
daß du die Mäuse Tag und Nacht
vergissest und auf nichts hast acht,
als daß du recht viel Beerlein haschest,
aus Grabes Brunnenritzen naschest.
I. Gedankengang und Vermittlung des Inhalts. Das obige Gedicht
ist eine Parabel, d. i. eine Vergleichung. In derselben werden Hand-
lungen nnd Ereignisse aus dem menschlichen Leben dargestellt, um eine
höhere Vernunft- oder Religionswahrheit zu veranschaulichen.
Die schönsten Parabeln sind die Gleichnisse Jesu in den vier Evangelien.
DieParabelvom BrunnendesVerderbens. V. 1—58.
1. Des Mannes Not und vorläufige Rettung V. 1—16. 2. Seine drei-
fache Todesgefahr: oben das wütende Kamel, unten der wartende
Drache, seitwärts die nagenden Mäuse V. 17—42. 3. Sein Leicht-
sinn und seine Genußsucht trotz der Todesgefahr V. 43—58.
B. Die Deutung der Parabel: „Der törichte Mann bist du,
o Freund!" B. 59—84. 1. Der Drache —Tod; 2. das Kamel —des
Lebens Not; 3. der Strauche das Erdenleben; 4. die Mäuse an der
103
Herder: Das Lied vom Schmetterlinge.
Wurzel = Tag und Nacht; 5. die Beeren = Sinnenlust; 6. Grabes
Brunnenritzen— die Gefahren der sinnlichen Genüsse.
II. Mahnung. Der Dichter hält uns in der Parabel ein treffendes
und lehrreiches Bild unseres Herzens und Lebens vor. Wohl dem, der
über dem Genusse der sinnlichen Freuden es nicht vergißt, daß sie kaum
mehr sind als die wenigen Beeren am Zweigleiir des Strauches! Wohl
dem, der einen festen Anhalt und Anker findet in dem Worte Gottes,
welches durch den Mund des Heilandes geht, wenn er spricht: „Kommet
her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!"
III. Hauptgedanke. Der Mensch ist fort und fort von Not um-
geben und geht gewiß und sicher dem Tod entgegen, aber dennoch vergißt
er die ihn umgebende Not und richtet, wenn ihn die Sinneslnst reizt,
sein ganzes Streben danach, sie zu befriedigen, und vergißt dabei die Hin-
fälligkeit seines Lebens sowie die Sorge für seine Seele.
IV. Schriftliche Aufgabe: Vergleiche die Parabel mit der nach-
stehenden von Herder!
B. Das Lied vom Schmetterlinge.
Herder. Werke, herausgegeben von Kurz. Hildburghausen. I, S. 80.
1. Liebes, leichtes, luft'ges Ding,
Schmetterling,
das da über Blüten schwebet,
nur von Tau und Blumen lebet,
Blüte selbst, ein fliegend Blatt,
das mit weichem Rosenfinger
wer bepurpurt hat?
2. War's ein Sylphe, der dein Kleid
so bestreut,
dich aus Morgenduft gewebet,
uur auf Tage dich belebet?
Seelchen, und dein kleines Herz
pocht da unter meinem Finger,
fühlet Todesschmerz.
3. Fleuch dahin, o Seelchen, sei
froh und frei,
mir ein Bild, was ich sein werde,
wenn die Raupe dieser Erde
auch wie du ein Zephyr ist
und in Düst und Tau und Honig
jede Blüte küßt!
Worin besteht die Verwandtschaft beider Gedichte? a) Mehr in der
Form als in dem Inhalte, b) Beides sind Parabeln, die eine religiöse
Wahrheit an wirklichen Gegenständen und Ereignissen veranschaulichen,
e) Dadurch wirken beide auf das Gemüt und die Phantasie, d) Beide
haben Tiere und Menschen als Träger ihrer Gedanken, e) Beide Ge-
dichte wollen uns belehren und stellen deshalb ein Beispiel für viele
Fälle hin. k) Während Rückerts Gedichte die Idee zugrunde liegt: Der
Mensch ist fort und fort von Not umgeben, geht gewiß und sicher dem
Tode entgegen und vergißt dennoch die Not und den Tod, wenn ihn
die Sinneslust reizt, veranschaulicht Herder den Gedanken, daß der Mensch
nach den Mühen und Plagen des Erdenlebens ein schönes, freudenvolles
Leben führen wird, das in demselben Verhältnis zum Erdenleben steht
wie das Leben der häßlichen Raupe zu dem des Schmetterlings,
g) Rückert gibt uns eine Warnung, während Herder uns tröstet.
W. D.
104
II. Epische Dichtungen.
SO. Der Herr und sein Knecht.
Fr. Rttckert. Werke. 1866. Bd. IV, 306.
1. Es ritt ein Herr, das war sein
Recht,
zu Fuße ließ er gehn den Knecht.
Er reitet über Stock und Stein,
daß kaum der Knecht kann hinter-
drein;
die Treue schleppt sich hinterher
dem leichten Ritt und fürchtet sehr,
zu Falle komm' er schwer.
2. „Herr, Herr!" erschallt des Knech-
tes Ruf,
„ein Nagel ging euch los vom Huf;
und schlagt ihr nicht den Nagel ein,
so wird der Huf verloren sein."
„Ei, Nagel hin und Nagel her!
Der Huf hat ja der Nägel mehr
und hält noch ungefähr."
3. Und wieder schallt des Knechtes
Ruf:
„Herr! losgegangen ist ein Huf;
und schlagt ihr nicht das Eisen an,
so ist es um das Roß getan."
„Hufeisen hin, Hufeisen her!
Das Rößlein hat Hufeisen mehr
und geht noch wie vorher."
4. Und eh' der dritte Ruf erschallt,
da ist er an den Stein geprallt;
das Rößlein liegt und steht nicht
auf,
geendet ist des Herren Lauf;
er spricht nicht mehr: „Roß hin,
Roß her!"
Er rafft sich auf und schreitet schwer
mit seinem Knecht einher.
1. Vermittlung. 1. Wort-undSacherklärungen. Str. 1. „Das
war sein Recht" = Er war dazu berechtigt. „Über Stock und Stein" ist
eine vielgebrauchte Redensart für: über alle Hindernisse und Unebenheiten
auf dem Wege. „Die Treue" = der treue Knecht. — Str. 2. „Ein
Nagel ging euch los vom Huf." Dieser Satz ist in dichterischer Freiheit
gebaut und muß in Prosa heißen: „Eurem Pferde ging ein Nagel vom
Hufe los" usw. — „Und hält noch ungefähr" = „Ungefähr" heißt eigent-
lich zufällig, hier so viel als wahrscheinlich. — Str. 4. „Geendet
ist des Herren Lauf" — eigentlich: des „Pferdes Lauf", hier als
Gegensatz zu den folgenden Worten: „und schreitet schwer".
2. Die Grundlage des Gedichts ist wahrscheinlich das Märchen
von Grimm: Der Nagel (s. Band I, Nr. 253), obgleich das Gedicht
von Rückert in vielen Punkten von dem Märchen abweicht.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. Str. 1. Der Herr reitet über
Stock und Stein. Str. 2. Ein Nagel löst sich vom Pferdehnfe. Str. 3.
Das Hufeisen geht verloren. Str. 4. Das Roß stürzt und ist tot.
2. Die Personen. Der Herr reitet unvorsichtig, ist leicht-
sinnig, bedenkt nicht das Ende, kommt in Ungemach, wird durch
Schaden klug. (Beweise!) Der Kn echt ist treu, vorsichtig, ermahnt
seinen Herrn, aber ohne Erfolg. (Beweise!)
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung: Bei allem, was du tust,
bedenke das Ende! Kleine Ursachen haben oft große Wirkungen. Durch
Schaden wird man klug. Bessere, wenn es Zeit ist! Kleine Sünden haben
oft große Folgen. Eile mit Weile!
2. Nachbildung: Anstatt Knecht und Herr, Vater und Sohn; an-
statt des Hufnagels ein Nagel am Wagenrade usw.
Lichtiver: Die drei Söhne.
105
3. Vergleichung mit der Grimmschen Erzählung: Der Nagel.
„Ein Kaufmann hatte auf der Messe gute Geschäfte gemacht" usw. (Siehe
Bd. I, Nr. 253II.)
31. Die drei Söhne.
M. G. Lichtwcr. Fabeln. Hildburghausen 1839. S. 53.
denn ehrlich sein heißt uns die
Pflicht;
die Tat ist gut, doch edel nicht."
Der andre sprach: „Aus meiner
Reise
fiel einst ganz unachtsamer Weise
25 ein armes Kind in einen See,
ich aber zog es in die Höh'
und rettete dem Kind das Leben,
ein Dorf kann Zeugnis davon
geben."
„Du tatest," sprach der Greis,
„mein Kind,
30 was wir als Menschen schuldig
sind."
Der jüngste sprach: „Bei seinen
Schafen
war einst mein Feind fest einge-
schlafen
an eines tiefen Abgrunds Rand;
sein Leben stand in meiner Hand.
35 Ich weckt' ihn und zog ihn zu-
rücke."
„O!" rief der Greis mit holdem
Blicke,
„der Ring ist dein; welch edler Mut,
wenn man dem Feinde Gutes tut!"
1 Von Jahren alt, an Gütern reich,
teilt' einst ein Vater sein Vermögen
und den mit Müh' erworbnen
Segen
selbst unter die drei Söhne gleich.
5 „Ein Diamant ist's," sprach der
Alte,
„den ich für den von euch behalte,
der mittels einer edlen Tat
dazu den größten Anspruch hat."
Um diesen Anspruch zu erlangen,
10 sieht man die Söhne sich zerstreun.
Drei Monden waren schon vergan-
gen,
da stellten sie sich wieder ein.
Drauf sprach der älteste der Brüder:
„Hört! es vertraut' ein fremder
Mann
15 sein Gut ohn' einen Schein mir an,
dem gab ich es getreulich wieder;
sagt, war die Tat nicht lobens-
wert?"
„Du tatest, Sohn! wie's sich ge-
hört,"
ließ sich der Vater hier vernehmen,
20 „wer anders tut, der muß sich
schämen;
1. Vermittlung. Vers 3. „Den mit Müh' erworbnen Segen" er-
innert zunächst daran, daß der Mann fleißig gewesen ist, und daß Gottes
Segen auf seiner Arbeit ruhete. V. 10. „Sieht man die Söhne sich zer-
streun", d. h. jeder derselben nahm einen andern Weg und ging an einen
andern Ort. V. 11. „Monden" poet. Ausdruck für Monate. V. 36.
„Holder Blick" = liebevoller, freundlicher, wohlwollender Blick. V.37.
„edler Mut" = edler Sinn.
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. I. Die Teilung
des Vermögens (V. 1—4). II. Der kostbare Stein und die Bedingung
zu seinem Erwerb (V. 5—8). III. Die Abreise der Söhne und ihre Wieder-
kehr (V. 9—12). IV. Der Bericht der drei Söhne über ihre Taten und
das Urteil des Vaters (V. 13—38).
2. Charakter des Vaters. Er war alt, reich, fleißig
(erwarb mit Mühe sein Vermögen), gottesfürchtig (Gottes Segen
ruhte auf seiner Arbeit), verständig und weise (in seinein Urteile über
die Taten der Söhne).
106
II. Epische Dichtungen.
3. Die Taten der drei Brüder und des Vaters Urteil:
Der älteste Sohn war ehrlich, indem er dem, der ihm sein Gut und
Geld anvertraute, dasselbe wiedergab. Hätte er es behalten, so wäre er
ein Verbrecher geworden. Seine Tat war also, wie der Vater sagt,
nur Pflicht jedes ehrlichen Menschen. Der zweite Sohn zeigte bei
der Rettung des ins Wasser gefallenen Kindes viel Mut und Men-
schenliebe. Die Tat >var aber auch nicht mehr als das, was Menschen
zu tun verpflichtet sind. Hätte er das Kind, das er mit leichter Mühe
retten konnte, ertrinken lassen, so würde er gegen das Gebot: „Du
sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst" — gesündigt haben. Durch
seine Prahlerei nahm er selbst der an sich guten Tat ihren Wert. Die Tat
des dritten Sohnes war die edelste, weil er dein, der ihm Böses
zugefügt hatte, das Böse mit Gutem vergalt. Er konnte ihn in den
Abgrund stürzen lassen und sich so für das Böse, was ihm widerfahren,
rächen, aber daß er es nicht tat, zeugt von großer Selbstüberwin-
dung, deren nur edle Herzen fähig sind. Darum sprechen wir auch mit
dem Vater:
„Welch edler Mut, wenn man dem Feinde Gutes tut!"
III. Verwertung. 1. Anlvendnng für Herz und Leben. Die
schönste Tat besteht darin, daß man seinem Feinde Gutes tut. — Liebet
eure Feinde, segnet, die euch fluchen usw/— Christus: Vater, vergib
ihnen usw. — Wer mit seinen guten Taten prahlt, hat seinen Lohn dahin.
— Tapfer ist der Löwensieger, tapfer ist der Weltbezwinger, tapfrer, wer
sich selbst bezwang (Herder).
2. Rede- und Stilübung. Nachbildung: Anstatt des Vaters
und der Söhne eine Mutter und drei Töchter. Die älteste dient in frem-
dem Hause und hat die Kasse der Hausfrau unter sich; die zweite wacht
bei einem schwerkranken Kinde lange Nächte hindurch; die dritte pflegt
ihre Feindin, die an einer gefährlichen, ansteckenden Krankheit leidet.
W. D.
32* Legende vom Hufeisen.
. I. W. v. Goethe. Werke. Berlin 1868. II, S. 38.
(Für die Oberstufe der einklassigen Volksschule.)
Als noch verkannt und sehr gering unser Herr auf der Erde ging und
viele Jünger sich zu ihm fanden, die sehr selten sein Wort verstanden, liebt'
er gar über die Maßen, seinen Hof zu halten auf der Straßen, weil unter
des Himmels Angesicht man immer besser und freier spricht usw. (Die Legende
findet sich in den meisten Lesebüchern.).
I. Erläuterung. Die einfache Darstellung bedarf keiner weiteren Er-
klärungen. Nach dem Vorlesen durch den Lehrer kann das Gedicht sofort
von den Kindern nacherzählt werden. Statt der sachlichen Erläuterungen
könnte aber gerade an dieser Musterlegende auf das Wesen der Legende
als einer erdichteten Erzählung aus dem Leben der Heiligen mit ethischer
Nutzanwendung hingewiesen und die Legelnde auch im Gegensatz zu der
Ballade und Romanze und zur Fabel gekennzeichnet werden. Das ist
Goethe: Legende vom Hufeisen.
107
um so nötiger, als es durchaus geboten erscheint, die Legende als eine
Erfindung darzustellen, damit dieselbe die rechte Stellung zu den biblischen
Erzählungen erhalte. Der Lehrer weise dabei auch auf andere Legenden
hin, namentlich auch auf solche, welche katholischen Charakter tragen. Eine
solche Behandlung wird zugleich beitragen zur
II. Vertiefung. 1. Die Charakteristik des Herrn wie des Pe-
trus ist der geschichtlichen Darstellung entsprechend: Christus in seiner
Demut und Bescheidenheit, wie er selbst sich bückt nach dem unscheinbaren
Hufeisen, ohne dem Petrus auch nur ein tadelndes Wort zu sagen; sein
weiter Blick, der schon sieht, wie er den Petrus durch die Tat und Wahr-
heit belehren kann, und die sinnige Art und Weise, wie er diese Lehre ins
Werk setzt, und wie heiter der Herr dabei erscheint, endlich diese Lehre
selbst, die auf so feine Weise den Hochmut des Petrus straft und ver-
treibt und die doch auch nicht bloß eine irdische, sondern auch eine himm-
lische Wahrheit enthält, das alles ist dem Charakter des erbarmenden
Heilands vollständig angemessen. Auf der andern Seite aber wird auch
Petrus, der mit dem Anfluge einer seinen Ironie „Sankt" Petrus ge-
nannt wird, treu geschildert. Wir wissen, daß die Jünger wohl solche
Gedanken hegten, daß sie einst zu Herrschern berufen werden würden.
Der Lehrer lasse sich solche Beispiele aufzählen. Die Mutter von Jo-
hannes und Jakobus wollte ihren Söhnen die nächsten Plätze am Throne
des Herrn angewiesen wissen; die Jünger wollen eine Belohnung haben,
daß sie dem Herrn nachgefolgt sind und alles verlassen haben, worauf der
Heiland ihnen das Kind als Vorbild aufstellt; bei der Fußwaschung will
sich keiner erniedrigen, bis der Herr selbst den Jüngern die Füße wäscht
u. a. m. Diese Erfindung verletzt also nicht den evangelischen Geist, wie
es manche anderen Legenden mit ihren Wundern tun, in denen man oft
gar keinen ethischen Zweck erkennen kann. Aus dieser Besprechung ergibt
sich dann wie von selbst die Idee des Stückes, die der Lehrer die Kinder
selbst finden lassen kann, und die sich mit dem Worte des Herrn einfach
bezeichnen läßt: „Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedrigt werden."
Es läßt sich das sehr leicht aus dem späteren öfteren Bücken des Petrus
herauskatechisieren, während der Petrus vorher in seinen hochmütigen
Gedanken anch den Kopf sehr hoch trug.
2. Noch ein anderes formelles Moment kann zur Vertiefung viel bei-
tragen: Die Klarlegung der poetischen Sprechweise. Die läßt
sich am besten gerade an dieses Gedicht anknüpfen. Die Legende an sich be-
wegt sich in den einfachsten poetischen Formen, sie steht der prosaischen
Sprechweise am nächsten, die meisten Legenden treten ja auch in ungebun-
dener Redeweise auf. Darum ist die Legende und vor allem die vorliegende
vorzüglich geeignet, die Kinder einzuführen in das Verständnis der poe-
tischen Formen und zu zeigen, wie diese poetischen Formen einen an sich
prosaischen Vorgang verklären. Von Reim und Rhythmus wollen wir hier
absehen, wir wenden unsere Betrachtung bloß der Sprache zu. Der
Lehrer fängt damit an, das einfache Gedicht nacherzählen zu lassen; das
Kind wird die poetische Sprechweise in seine Worte übersetzen, und der
108
II. Epische Dichtungen.
Lehrer hat dann nur zu fragen und darauf hinzuweisen, welche Unter-
schiede sich zwischen der Erzählung des Kindes und dem Gedichte finden,
um daran seine Bemerkungen zu knüpfen. Damit ergibt sich von selbst
eine tiefere Erfassung des Inhalts. Wir können hier nicht aus alle sprach-
lichen Erscheinungen Rücksicht nehmen, welche von der gewöhnlichen Rede-
weise abweichen, aber auf einige wollen wir hinweisen. Im ersten Satze
ist zunächst die Versetzung der Worte zu bemerken (Inversion): „Als
unser Herr noch in Niedrigkeit auf der Erden wandelte und die Menschen
seine Erscheinung, seine Worte und seine Taten noch nicht verstanden, wie
dies auch bei vielen seiner Jünger der Fall war, da machte er es nicht
wie die jüdischen Rabbiner, die in den Schulen lehrten, sondern er lehrte
meist unter freiem Himmel." Abweichende Redeweise: „verkannt und
sehr gering. unser Herr" — er liebte es „über die Maßen" — „Hof
halten", er wird gewissermaßen als großer Herrscher dargestellt — auf
der „Straßen", altertümliche Redeweise, ebenso wie später „was" statt
„war", das wir auch noch in alten Bibeln finden — „unter des Himmels
Angesicht", „unter" gewissermaßen „im Schutze"; dem Himmel wird ein
Angesicht zugeschrieben, also eine menschliche Seite, dadurch erhält ein Ge-
dicht mehr Leben. Seine Rede war aus dem Leben gegriffen, „Gleichnis
und Exempel", er „machte jeden Markt zum Tempel"; können wir Gott
nur verehren im Tempel? Nein, sondern, wo wir ihn anbeten im Geist
und in der Wahrheit, da ist der Tempel des Herrn, im engen Kämmer-
lein wie unter dem weiten Himmelsdom. „Er also sich zur Seite kehrt",
wie würden wir in gewöhnlicher Rede sagen? — „Er tut auch weiter
nicht dergleichen", er macht kein Aufheben davon, tut, als wenn nichts
vorgefallen wäre — „nimmt von dem Manne drei Pfennige dafür", wie
haben wir das auszudrücken? usw. Es mag noch auf die überaus ein-
fache Satzbildung und Satzverbindung hingewiesen werden, die fast gar
keine Nebensätze aufweist. Auch das ist eine poetische Form, die im ge-
wöhnlichen Leben nur in lebhafter und erregter Erzählung vorkommt.
Man lasse die Kinder ähnliche Beispiele zu allen obigen Erörterungen und
neue Gedichte aufsuchen und führe sie auf diese Weise ungezwungen und
leicht in die wesentlichen Momente der Poesie ein.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Hierbei sei man sehr vor-
sichtig, weil man leicht durch ein Hineinziehen trivialer Gedanken den
poetischen Duft, der über dem Ganzen liegt, abstreift und die herrliche
Idee des Gedichts verdunkeln oder gar ganz vernichten kann. Nur kein
Moralisieren! Gewiß enthält das Gedicht auch Vorschriften für das All-
tagsleben, aber diese Vorschriften müssen immer in schöner, möglichst
poetischer Form und im Lichte höherer Ideen auftreten, wie dies der Herr
anr Schlüsse meisterhaft tut- Man kann hier auf andere Vorkommnisse, auch
auf Sprichwörter hinweisen, z. B. „Spare in der Zeit, so hast du in der
Not!" — „Träume sind Schäume" u. dgl. m. Neben den Vorschriften
fürs Alltagsleben enthält das Gedicht aber auch Gedanken des ewigen
Lebens, die wir oben schon angedeutet haben, und die dann durch ähnliche
Erzählungen noch näher beleuchtet werden können.
Mosen: Der Kreuzschnabel.
109
2. Schriftliche Aufgaben, a) Nacherzählung in ungebundener
Redeweise, b) Charakteristik des Herrn und des Petrus nach der Legende;
dazu die Lehrweise des Herrn, o) Legende, Sage, Märchen, Fabel, Pa-
rabel: Unterschiede und Vergleichungen. L- W. Seyffarth.
33. A. Der Kreuzschnabel.
Jul. Mosen. Sämtliche Werke. Oldenburg 1863. I, 33.
1. Als der Heiland litt am Kreuze,
himmelwärts den Blick gewandt,
fühlt' er heimlich sanftes Zucken
an der stahldurchbohrten Hand.
2. Hier, von allen ganz verlassen,
sieht er eifrig mit Bemühn
an dem einen starken Nagel
ein barmherzig Vöglein ziehn.
3. Blutbeträuft und ohne Rasten
mit dem Schnabel zart und klein
möcht' den Heiland es vonl Kreuze,
seines Schöpfers Sohn, befrein.
4. Und der Heiland spricht in Milde:
„Sei gesegnet für und für!
Trag das Zeichen dieser Stunde,
ewig Blut und Kreuzeszier!"
5. Kreuzesschnabel heißt das Vöglein;
ganz bedeckt von Blut so klar,
singt es tief im Fichtenwalde
märchenhaft und wunderbar.
I. Vorbereitung. Der Kreuzschnabel (Loxia curvirostra) ist der
Papagei der deutschen Wälder. Er ist leicht kenntlich an seinem ziemlich
langen Schnabel, dessen Kiefer sich kreuzen^so daß die Spitze des Unter-
kiefers nach oben und die des Oberkiefers nach unten hervorragt. Die
Länge des Vogels beträgt 16—17 ein. Die Füße find kurz und stark,
die Flügel ziemlich lang, spitz und etwas abgerundet. Die Färbung des
Gefieders ist vielen Abänderungen unterworfen, je nach Alter, Geschlecht
und Jahreszeit. Kopf, Kehle, Brust, Bauch und Bürzel sind rot, bald
heller, bald dunkler; der Rücken ist graurot, die Schwingen, Oberflügel,
Deckfedern und Schwanzfedern grauschwarz und rotgrau gesäumt; die
unteren Schwanzfedern sind weißgrau, dunkler gestrichelt und rötlich über-
flogen. Die Weibchen sind oft gelblich- und grünlich-grau gefärbt.
Die Kreuzschnäbel leben in den Nadelhölzern des nördlichen Europas,
Asiens und Amerikas und ziehen immer dahin, wo der Nadelholz-
samen, ihre liebste Nahrung, am reichlichsten wächst. JnSamenjahren
nisten die Kreuzschnäbel in jedem Monat, und gerade im Dezember und
Januar findet inan dann häufig Eier und Junge, die auch trotz der Külte
aufkommen. Das im Winter gebaute Nest ist dick, dicht, warm, besteht
aus Moos und Flechten, sitzt hoch oben aus dichten Ästen der Nadelbäume
und zwar so, daß andere überstehende, dichte Äste es gegen Schnee schützen,
und enthält drei bis vier weißliche, rot- und braungefleckte Eier.
Außer der Hauptnahrung, dem Nadelholzsamen, genießen die Kreuz-
schnäbel im Sommer auch verschiedene Kerbtiere und besonders auch Blatt-
läuse. Dann hört man wohl auch in den Gärten oft ihren Lockton, der wie
gip! gip! oder gäp! gäp! klingt. Der Gesang des Kreuzschnabels ist
mittelmäßig. Im Käfig verliert der Vogel gewöhnlich sein schönes Ge-
fieder. —
II. Erläuterungen. Str. 1. Der leidende Heiland fühlt, als er am
Kreuze hängt, ein sanftes Zucken in seiner Hand, die von dem Kreuzes-
110
. 11. Epische Dichtungen.
nagel durchbohrt ist. „Heimlich sanft" ist dieses Zucken genannt, um an-
zudeuten, daß dadurch der Schmerz des Herrn nicht vermehrt worden ist.
„Himmelwärts" hat der Heiland „den Blick gewandt"; denn er fühlt,
daß seine Todesstunde nahe ist und er bald in das himmlische Reich ein-
gehen wird. „Stahldurchbohrt" ist ein schönes schmückendes und bezeich-
nendes Beiwort.
Str. 2. Der Heiland wendet seinen bisher aus den Himmel gerich-
teten Blick zur Seite und sieht, wie sich ein kleiner Vogel bemüht, den
starken Nagel, der durch die Hand geschlagen ist, herauszuziehen. Es ist
ein schöner Gegensatz, den hier der Dichter in wenigen Zeilen uns vor-
führt: alle seine Freunde haben den Heiland verlassen; nur das Vöglein
versucht, wenn auch vergeblich, ihn noch zu retten. „Barmherzig" nennt
der Dichter das Tierchen und will damit sagen, daß es in der Tat das
Leiden des Herrn lindern möchte.
Str. 3. Obgleich dem Vöglein das Blut aus der Wunde des Herrn
über das Gefieder fließt, so läßt es doch nicht in dem Bemühen ab, den
Herrn zu befreien; denn es weiß, daß der Heiland „seines Schöpfers
Sohn" ist! — „Blutbeträuft" ist wiederum ein schönes schmückendes
Beiwort.
Str. 4. Trotz seiner Schmerzen hat der Herr für das eifrige, rast-
lose Vöglein noch ein mildes Wort. Er segnet es und gibt ihm zum
Andenken an sein mühevolles Tun den kreuzförmigen Schnabel und das
blutrote Gefieder. Beide Gaben sind Zeichen der Ehre und Zier für das
Vöglein und alle seine Nachkommen..
Str. 5. Seit dieser Zeit heißt das Vöglein mit dem blutroten Ge-
fieder „Kreuzschnabel" und lebt und singt sein märchenhaftes und
wunderbares Liedchen fort und fort im Fichtenwalde. — Diese Strophe
ist als Schlußstrophe gleichsam eine Bestätigung des Segenswunsches, den
der Herr am Kreuze über das Vöglein aussprach.
III. Gliederung. 1. Der barmherzige Vogel und seine Arbeit am
Kreuze des Heilands Str. 1—3. 2. Der dankbare Heiland und sein
Segen Str. 4 u. 5.
IV. Grundgedanke. Er ist in den Worten des Heilands: „Sei ge-
segnet für und für! — Blut und Kreuzeszier" angedeutet.
Wer sich bemüht, dem Herrn etwas Liebes zu erweisen,
den wird er segnen, wenn auch das Mühen nicht zum Ziele
führt; oder Werde m Herrn mitganzerHingabeseinerKräfte,
dient, der wird von ihm belohnt.,
V. Aufgabe: Vergleichung mit
11. Die Cspe.
Fr. Rückert. Werke. Frankfurt a. M. 1868/69. 11,240.
1. Als den Herrn ans Kreuz geschlagen
nun des Waldes Bäume sahn,
kam ein Zittern und ein Zagen
allen fernen, allen nah'n.
Nur der Espe Krone
ließ die Blätter ohne
Beben in die Lüste ragen,
gleich als ging sie das nicht an.
111
Herder: Der gerettete Jüngling.
2. Damals ward der Fluch gesprochen,
und ihn hörte Berg und Kluft:
„Daß dir sei dein Stolz gebrochen,
zittre künftig jeder Luft;
andre Bäume zittern
nur in Ungewittern,
zitternd soll das Herz dir pochen,
wenn im Wald ein Vogel ruft.
3. Zittre, wo im Erdenkreise
künftig du entkeimst dem Staub!
Jedes Blatt soll zittern leise,
bis es wird des Herbstwinds Raub;
und in allen Tagen
soll man hören sagen
dir zur Strafe sprichwortweise:
Zittern wie ein Espenlaub!"
A. Ähnlichkeiten: In beiden Gedichten sehen wir den Heiland
am Kreuze. In beiden spricht der Heiland. In beiden nehmen Gegen-
stände der Natur an dem Leiden Christi teil. Beide Gedichte behandeln
Sagen.
B. Verschiedenheiten: Hier ein Vogel, dort ein Baum; hier
Segen des Herrn, dort Fluch. Der Vogel bezeugt dem Herrn seine Liebe,
die Espe ist gleichgültig usw. W. D.
54. Der gerettete Jüngling.
Joh. Gottfried v. Herder. Werke. Herausgegeben von Heinr. Kurz. Leipzig. Bd.II, S. 478.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Unter dem Kaiser Konstantin
d. Gr lebte in Kleinasien der Bischof Eusebius von Cäsarea, der wegen
seiner trefflichen Kirchengeschichte in zehn Büchern „Vater der Kir-
chengeschichte" genannt wird. Im dritten Buch erzählt er eine Legende,
die der Kirchenvater Clemens von Alexandria in seiner Rede „Welcher
Reiche wird selig?" über die rettende Macht des Glaubens und der Liebe
in dem Apostel Johannes mitgeteilt hat.
Die Erzählung des Eusebius lautet in freier und abgekürzter Form
etwa so: Nach dem Tode des Tyrannen Domitian, der den heiligen
Johannes aus die öde Felseninsel Patinos, westlich von Kleinasien, ver-
bannt hatte, kehrte der fromme Oberhirt nach Ephesus zurück und ver-
waltete wieder sein Amt als Führer der kleinasiatischen Christengemeinden.
Als er einst in einer Stadt einen greisen Priester zum Wächter und
Hirten der Gemeinde einsetzte, bemerkte er unter der Menge einen Jüng-
ling von schöner Gestalt, aus dessen feurigen Angen ein ungewöhnlicher
Geist sprach. Johannes empfahl diesen Jüngling der besonderen Obhut
des neuen Bischofs und rief die ganze Gemeinde zu Zeugen darüber ans,
daß der Bischof die treue Ausführung des Auftrages gelobt habe.
Der Bischof erzog den Jüngling mit Fleiß und Treue, freute sich
über die ungewöhnlichen Fortschritte desselben und taufte ihn endlich.
Als aber der Bischof in seiner strengen Aussicht nachließ, da siel der
Jüngling in Müßiggang und Weltlust, gesellte sich zu losen Buben, die
ihm schmeichelten und ihn zu üppigen Gelagen, betrügerischen Spielen,
ja Diebstählen verleiteten. Von Stufe zu Stufe sank der Jüngling, bis
er endlich an seiner eigenen Rettung verzweifelte und wie ein wild-
gewordenes Roß, das Zaum und Gebiß zerrissen hat, dem Abgrunde zu-
stürmte. Aus seinen Spießgesellen bildete er eine Räuberbande, trat au
ihre Spitze als Hauptrnann und verübte -allerlei Greueltaten.
112
II. Epische Dichtungen.
Als Johannes wieder in die Stadt kam, fragte er nach dem „an-
vertrauten Gute". Der Bischof erschrak und wußte nicht gleich, welches
„Anvertraute" der Apostel meine. Aber Johannes rief: „Die anver-
traute Seele, den Jüngling, meinen Sohn!" Da seufzte der Bischof,
schlug die Augen nieder und sagte: „Er ist gestorben, — ist Gott ab-
gestorben, — ist ein Räuber geworden, — haust dort mit seiner Bande
in den Wäldern des Berges!"
„Welchen Wächter habe ich bestellt!" rief der Apostel. „Einst am
Tage des Gerichts werde ich des Jünglings Seele von dir fordern! —
Doch führt mich auf den Berg zu den Räubern!"
Dort ergriffen ihn die ausgestellten Wachen und führten ihn, just
wie er's wollte, zu dem Hauptmann. Als dieser Johannes erkannt, da
überwältigten ihn Scham und Reue, uud er entfloh. Der greise Apostel
eilte ihm nach und rief: „Warunl fliehest du, o Sohn, den waffenlosen
Vater? Habe Erbarmen mit mir! Ich habe deine Seele dem Herrn
gelobt und meine eigene Seele dafür verpfändet. Dem Herrn muß ich
Rechenschaft darüber geben. Sterben will ich gern für dich, aber dich in
Sünde und Verderben lassen kann und darf ich nicht!"
Da blieb der Jüngling gesenkten Blickes stehen, warf seine Waffen
weg, fiel zur Erde und umfaßte des Heiligen Knie, verbarg erst starr
und stumm sein Antlitz, dann erzitterte er und weinte bitterlich. So
ward er durch seine Reuetränen zum zweitenmal getauft. Johannes aber
kniete nieder und betete brünstig, daß der Heiland dem verlornen und
wiedergefundenen Sohne seine Sünden vergeben und seine Seele retten
wolle; dann küßte er ihm die Hand zum Zeichen, daß sie aufs neue
gereinigt sei, und führte ihn zurück zu der Gemeinde als neugeschenktes
Glied- Wie das Feuer das Erz läutert, so läuterte Johannes durch Fasten
und Beten, durch Liebe und Zucht des Jünglings Herz, also daß er
ein großes Beispiel der Wiedergeburt und ein leuchtendes Siegeszeichen
des Glaubens ward.
Diese Erzählung hat der große Herder zu seiner bekannten er-'
greifenden Legende umgegossen:
Eine schöne Menschenseele finden, ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist,
sie erhalten, and der schönst?und schwerste, sie, die schon verloren war,
zu retten.
(Die Legende findet sich in allen Lesebüchern.)
II. Erläuterungen.
Sankt (der heilige) Johannes ist der Apostel und Evangelist,
der Lieblingsjünger Jesu. Er wurde von Domitian auf die kleine, öde
Felseninsel Patmos, südwestlich von Samos, verbannt. Hier zeigt man
noch eine Höhle, in welcher er die Offenbarung geschrieben haben soll.
Nach Domitians Tode, 96 n. Chr., kehrte er nach Ephesus zurück und
war wieder seiner Herden Hirt, d. h. sorgte für die geordnete Ver-
waltung und die geistliche Pflege der kleinasiatischen Christengemeinden,
ordnete ihnen Wächter, d. h. bestellte Aufseher — Episcopi —
Bischöfe, auf ihr Innerstes aufmerksam, die also sorgsam auf das
Herd-err Der gerettete Jüngling. 113
innere Seelenleben der Geineinden und ihrer Glieder merken, es nähren
und fördern sollten.,
F r ö h l i ch e G e s n n d h e i t glänzte ihm v o m G e s i ch t, d. h. sein
schönes Gesicht zeugte von Gesundheit, Kraft und Frohmut. Die liebe-
vollste Feuerseele sprach aus den Augen, d. h. der lebhafte, feurige
Blick der Augen verriet einen begabten, feurigen Geist und ein liebe-
warmes Gemüt.
Hierüber zeuge mir und dir vor Christo die Gemeinde,
d. h. die ganze Gemeinde soll vor Christo, dem Herrn, bekunden, daß der
Jüngling dem Bischof von Johannes auf die Seele gebunden wurde und
dieser die größte Sorgfalt gelobt hat.
Früchte blühen, d. h. es waren Früchte zu hoffen, aber sie blieben
Blüten, reiften nicht zu Früchten, wurden keine Taten.
Freiheit war ein Netz, d. h. eine Schlinge, ein Fallstrick, die
Ursache des Verderbens.
Süße Schmeichelreden, daß er ohne Fleiß, allein durch seine
Begabung doch immer alles anr besten mache, — lullten seinen Fleiß
und seine Wachsamkeit ein.
Fröhlichen Betrug versuchten sie beim Würfelspiel um Geld in
fröhlicher Gesellschaft.
Der Herrschaft Reiz kostete er; befehlen und herrschen ist süß.
„Vom Throne steigen heißt ins Grab sich legen."
Die Spiel- oder Spießgesellen sind die Genossen seiner leicht-
fertigen Streiche.
Gott abgestorben, geistlich tot ist der Mensch, wenn er sich
von Gott lossagt und von seinen Wegen weicht. ' Nur in der Gemein-
schaft mit Gott lebt die Seele wirklich, ohne ihn hat sie weder Trieb
noch Kraft zum Guten.
Ich habe dich gelobet meinem Herrn, d. h. meinem Heiland
das Gelübde oder Versprechen abgelegt, deine Seele ihm zu erhalten.
Für dich muß ich antworten, d. h. verantwortlich sein, bürgen,
Rechenschaft ablegen. Dich mit meiner Seele Gott verpfändet,
d. h. meine Seele hat dich Gott als ein Unterpfand übergeben; dies Pfand
darf nicht verloren gehen, sonst muß ich's mit der .eigenen Seele büßen.
Er läuterte (reinigte) sein Herz mit der süßen Flamme
der Liebe. Die rechte Liebe ist ein heiliges Feuer, das die Seele nach und
nach von aller Unlauterkeit säubert.
Er goß seine Seele, d. h. seine heilige, liebevolle Gesinnung, in
des Jünglings Seele, so daß sie der seinen ähnlich, mit ihr eins wurde.
III. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Das Ereignis würde etwa in
die Jahre 96—100 und in eine Stadt des westlichen Kleinasiens, unfern
Ephesus, zu verlegen sein. Bild: Wie Johannes den verlorenen Sohn
wiederfindet. (Berg, Wald, Räuber als Wachtposten, der waffenlose Greis
im bloßen Haupte und mit ausgestreckten Armen, der bewaffnete Haupt-
mann vor ihm fliehend.)
AdL. II. 3. Aufl.
8
114
II. Epische Dichtungen.
2. Charakterzeichnung. Weise nach, daß der Jüngling eine
schöne Erscheinung, ein feuriger und begabter Charakter, ein Müßiggänger,
Spieler, Betrüger und Räuber, ein tiefgefallener, aber reumütiger Sün-
der und endlich ein durch die Liebe Geretteter und Wiedergeborener war!
Zeige, daß Johannes ein treuer Ob er Hirt der Gemeinden, ein
aufmerksamer Wächter, ein mutiger Held, ein liebevoller Vater,
ein geduldiger Erzieher und ein treuer Jünger Jesu war!
3. Gliederung. I. Einleitung: Die Rettung einer verlornen
Seele ist die schwerste Arbeit, aber der schönste Gewinn. II. Legenden-
Erzählung: a) Der schöne Jüngling wird von Johannes gefunden,
dem Bischof anvertraut, von ihm erzogen, durch Mangel an Wach-
samkeit verloren, b) Er wird durch Johannes von dem Bischof zu-
rückgefordertem Gebirge aufgesucht, unter Räubern gefunden,
trotz Widerstrebens gerettet und durch die Liebe festgehalten. III.
Schluß: Glaube und Liebe sind die Retter der Verlorenen.
Grundgedanke: Das Auge der Wahrheit erkennt die Seele
der Menschen, der Glaube sucht sie dem Herrn zu gewinnen, das Zu-
trauen verzweifelt auch nicht beim Falle, die Liebe rettet un-
bezwingbar auch die Verlornen, und die T r e u e (Festigkeit) e r h ä l t sie im
Glauben und heiligen Leben.
1. Kor. 13, 7. Die Liebe verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet
alles, sie duldet alles.
4. Eigentümliches. Das Gedicht folgt im ganzen treu der Prosa-
erzählung, nur ist die Sprache knapper, die Wirkung ergreifender. Statt
des Grundgedankens der Prosaerzählung: „Auch für den tiefgefallenen
Sünder ist Rettung möglich!" tritt im Gedichte ein anderer hervor: „Die
Rettung der Sünder ist eine Tat des Glaubens und der Liebe!" Auch
der Schluß ist abgeändert. Johannes und der Jüngling leben fortan in
unzertrennlicher Gemeinschaft. Johannes' schöne Seele überträgt sich ganz
in den schönen Leib des Jünglings, so daß letzterer ihm ganz ähnlich,
sein geistiger Erbe wird.
Das Gedicht ist reimlos in fünffüßigen trochäischen Versen geschrieben.
Es beginnt mit einer rednerischen Steigerung (Klimax); die Teil-
nahme der Hörer wird durch stufenweises Aufsteigen der Gedanken von
dem Schwächeren zu dem Stärkeren, von dem Geringeren zu dem Höhereu
gesteigert und die oberste Wahrheit um so überzeugender dargelegt. Die
Sprache des Gedichts hat bei Ernst, Würde und sicherem Gange doch
innere Beweglichkeit, oft d i a l o g i s ch e F o r m („Jedoch, wo ist er?" „Auf
dem Berge dort!" usw.), einzelne Bilder (Herden, Hirt, Feuerseele,
Freiheit ein Netz usw.), gehaltvolle Sentenzen (die ersten Zeilen! die
Freiheit ward ein Netz des Jünglings usw.), schmückende und sehr treffende
Beiwörter (ödes Patmos, fröhliche Gesundheit, fröhlicher Betrug, liebe-
volle Feuerseele usw.).
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendungen. Eine Seele ist das kost-
barste Gut, sie für Gott suchen, finden, erhalten, wiedergewinnen die
heiligste Pflicht. — Sei fleißig und fliehe den Müßiggang! — Auch nicht
Diepenbrock: Der heilige Augustinus.
115
zürn Scherz übe Lüge und Trug! — Gib niemand verloren! — Verliere
den Mut nicht bei der Arbeit an den Seelen! — Folge dem Rufe der Gnade
und Wahrheit!
2. Verwandtes. Matth. 16, 26: Was hülfe es dem Menschen,
wenn er die ganze Welt gewönne usw. — Müßiggang ist aller Laster An-
fang und des Teufels Ruhebank. — Spr. 1, 10: Wenn dich die bösen
Buben locken —. Die große Sünderin Maria Magdalena, Petrus nach
seiner Verleugnung, der Schächer am Kreuz wurden gerettet. — Jes. 1,
18: Wenn eure Sünde gleich blutrot —. 1. Joh. 2, 15—17: Habt nicht
lieb die Welt —.
Gott blies dem Menschen einen lebendigen Odem in seine Nase, also
ward der Mensch eine lebendige Seele. — Pfingsten goß der Herr seinen
heiligen Geist über die Jünger aus.
3. Aufgaben, a) Beweise die Wahrheiten der Einleitung und des
Schlusses aus der Legende! — b) Was war schön, was häßlich an dem
Jüngling? — c) Wie sank er Schritt für Schritt ins Verderben? —
d) Wie zeigten sich in Johannes mächtig: Wahrheit, Glauben, Zu-
trauen, Liebe und Festigkeit? P.
33. Der heilige Augustinus.
Melchior v. Diepenbrock.
I. Vorbereitung und Vortrag. Der größte Kirchenvater des Abend-
landes durch Geist und Wirken war der heilige Augustinus. Er starb
nach einem wechselvollen Leben 430 als Bischof von Hippo (Bona) in
Afrika, gerade als die Vandalen die Stadt belagerten. Nach vielen Jugend-
verirrungen und allerlei Irrwegen, auf denen er die Wahrheit suchte,
bekehrte sich der hochbegabte Mann zum Christentum. Seiue hohe Bildung,
seine tiefe Erkenntnis, sein inniger Glaube, den er als göttliches Gnaden-
geschenk betrachtete und hoch über alle Erkenntnis stellte, und sein lauteres
Leben nach seiner Bekehrung haben ihn zu einer Säule der christlichen
Kirche gemacht. Über alle Geheimnisse des Christentums hat er nach-
gedacht, ja nachgegrübelt; wo ihm aber sein Denken unzulänglich war,
da nahm er demütig seine Vernunft gefangen unter den Glauben. Wie
er den tiefsten Geheimnissen nachforschte, und wie der Glaube über das
grübelnde Denken siegte, das zeigt die folgende Legende, d. i. Erzählung
aus dem Lebeu der Heiligen. Sie findet sich in: Geistlicher Blumen-
strauß von Melchior von Diepenbrock, Sulzbach 1854, S. 250, unter
der Überschrift: „Sankt Augustins hohe Schule. Romanze nach
Lope de Bega."
1 Ar» dem Meeresufer ging
Augustinus einst lustwandeln,
mit den höchsten Gegenständen
sich beschäft'gend in Gedanken.
Was er sinnt, blieb unergründlich
jedem endlichen Verstände:
Wie in Gott ein einig Wesen
drei Personen doch umfange. —
9 Als er, kühn hierüber grübelnd,
seinen Blick zur Seite wandte,
sah er einen Knaben sitzen
neben sich im Meeressande.
Eine Muschel in dem Händchen,
sitzt der Knabe unverwandten
Blicks und schöpfet emsig Wasser-
aus des Meeres stillem Rande.
8*
116
II. Epische Dichtungen.
17 „Kind!" spricht Aug
Ich besorge, daß zu Hause
hier allein am öden Strande?
in dies Grübchen hier im Sande
schöpfen kann mit meiner Muschel,
schöpfte ich auch noch so lange, —
werdet Ihr das ew'ge Wesen
dich vermissen die Verwandten!"
21 „Nicht umsonst," versetzt LerKleine,
Gottes ohne Maß und Schranken
je erforschen, auch im kühnsten
„bin ich hier; bin hergegangen,
um das grenzenlose Meer
Aufschwung sterblicher Gedanken!"
43 Augustinus stand verwundert
in dies Grübchen einzufangen." —
25 „Spare, Kind," sprach Augustinus,
und demütig nun erkannte,
„dir die Mühe; dein Verlangen
ist unmöglich! Wenn du schöpfest,
bis Jahrtausende vergangen,
bringst du doch, das große Meer
mtS5.1tirhnhfprr rtto f" --
daß ja Gott nicht Gott sein würde,
wär' er jemals ganz verstanden.
Antworten wollt' er dem Kinde,
doch er stand allein am Strande;
seinen Blicken war's entschwunden,
als sie höh're Wahrheit fanden.
31 Drauf der Knabe: „Ganz wie ich, 51 Seit dem Tag hat Augustinus
iftn+pr irfipirtf Cpfir mir rii ’fmttSp'srr in mil STOitnS nsa (Sirhrift-
Vater, scheint Ihr mir zu handeln,
wenn ihr Euch, das Wesen Gottes
zu ergründen, unterfanget;
denn so wenig ich das Meer
standen:
Sichrer als Verstehn sei Glauben;
Gott sei nur von Gott verstanden.
II. Vertiefung. 1. Schauplatz der Handlung. Die Küste (der
Rand oder Strand) Nordafrikas ist an vielen Stellen öde und sandig und
wird von den Wellen des Mittelmeeres bespült und überwaschen. An
solch einer öden Stelle des Ufers oder Gestades sehen wir einen einsamen
Wanderer in tiefen Gedanken mit gesenktem Haupte auf und ab wandeln.
Plötzlich hält er ein in seinem Gange. Vor ihm sitzt am Rande des
Meeres ein holder Knabe, hat in den Sand eine Grube gegraben und
schöpft nun mit einer Muschel das Wasser aus dein Meere in die Grube.
Als der Wauderer den Knaben nach seinem Beginnen fragt, hält dieser
ein und sieht mit hellen Blicken zu jenem auf.
2. 'Charakter Augustins nach dem Gedicht. Er ist ein tiefer
Denker, der sich in die Geheimnisse der christlichen Lehre versenkte und
selbst auf seinen Erholungsgängen mit seinen Gedanken sucht und grübelt.
Dabei bleibt sein Auge aufmerksam für die Umgebung und sein Herz
teilnehmend für das Geschick eines einsamen Kindes, das er belehren
und von einem Irrtum zurückbringen will. Als das Kind, sein Heiland
selbst, ihn belehrt, da nimmt er demütig die Zurechtweisung an, be-
scheidet sich über die engen Grenzen seiner Erkenntnis, räumt hinfort
dem Glauben die höhere Stelle ein und verkündet die höhere Wahr-
heit durch Predigten und Schriften.
3. Gedankengang. V. 1—8: Augustin grübelt auf einem Spazier-
gange am Meeresufer über das Geheimnis der göttlichen Dreieinigkeit.
V. 9—16: Er bemerkt einen Knaben, der mit einer Muschel Wasser aus
dem Meere in eine Sandgrube schöpft. V. 17—20: Augustin fragt ihn,
was er hier mache. V. 21—24: Der Knabe antwortet, daß er das
ganze Meer in die Grube schöpfen (einsangen), wolle. V. 25—30:
Augustin bemerkt, daß dies ein unmögliches Unterfangen sei. V. 31—42:
Darauf sagt der Knabe, daß Augustin ebensowenig das unendliche Wesen
Gottes mit seinen Gedanken erforschen und umfassen könne. V. 43—50:
Diepenbrock: Der heilige Augustinus.
117
Da erkennt Augustin, daß der Verstand des. endlichen Menschen die un-
endliche Fülle der Gottheit nicht umfassen kann; der göttliche Bote aber
verschwindet. V. 51—54: Seitdem hat Augustin verkündigt, daß der
Glaube mehr als das Verstehen sei.
Grundgedanke: Was wir verstehen, ist uns gleich, ist „wir selbst"
geworden, kann also nicht Gott, der Inbegriff aller Vollkommenheit, sein.
Gott muß hoch über uns stehen, sonst kann er uns nicht zu sich hinauf-
ziehen. Gott kann nur von Gott verstanden werden. Er würde nicht
Gott sein, wenn er von einem erschaffenen Wesen je völlig verstanden
würde. Wo unser Erkennen aufhört, da fängt der fromme Glaube an.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben. „Was
kein Verstand der Verständigen sieht, das ahnet in Einfalt ein kindlich
Gemüt." — Joh. 20, 29: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Röm. 11, 33: O welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit
und Erkenntnis Gottes ! usw. — Lied: Eins ist not. Str. 5: „Aller
Weisheit höchste Fülle in dir ja verborgen liegt. Gib nur, daß sich auch
mein Wille fein in solche Schranken fügt, worinnen die Demut und Ein-
falt regieret und mich zu der Weisheit, die himmlisch ist, führet! Ach,
wenn ich nur Jesum recht kenne und weiß, so hab' ich der Weisheit voll-
kommenen Preis." — „Erkennet, daß Christum lieb haben besser ist denn
alles Wissen!"
2. Verwandtes. Vergleiche: Der „Mönch von Heister-
bach" von Wolfg. Müller v. Königswinter. (Bibl. deutscher Klassiker.
Hildburghausen 1863. Bd. XXI, S. 485.) Kurzer Inhalt: Ein junger
Mönch wandelte in den dunkelsten Gartenwegen des Klosters Heister-
bach (jetzt eine herrliche Ruine in einem Tale des Siebengebirges,
V2 Stunde von Königswinter). Er grübelte nach 2. Petr. 3, 8 und
Ps. 90, 4 über den Begriff der Ewigkeit nach, ohne doch mit seinen
Zweifeln und seinem Grübeln zur Wahrheit und Klarheit zu kommen.
So verirrte er sich in den Wald und wurde erst von der Vesperglocke wie-
der zurückgerufen. Doch lauter unbekannte Gesichter begegneten ihm am
Tore, im Klosterhofe und in der Kirche. Man staunte sich an, man fragte
und erfuhr endlich, daß ein Klosterbruder seines Namens, ein Zweifler,
vor 300 Jahren in den Wald gegangen und nie wieder zurückgekehrt sei.
Der Zweifler ist er; 300 Jahre sind über seinem Grübeln wie drei Stun-
den dahingegangen; Gott selbst hat ihn durch die Tat belehrt. Diese Wahr-
heit übermannt ihn; plötzlich ergraut sein Haar; seine Kräfte sinken, und
er bricht sterbend mit den mahnenden Worten zusammen: Gott ist er-
haben über Ort und Zeit!
Was er oerhüllt, macht nur ein Wunder klar,
drum grübelt nicht; denkt meinem Schicksal nach:
Ich weiß, ihm ist ein Tag wie tausend Jahr,
und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag!
R
118
II. Epische Dichtungen.
56a. Das Amen der Steine.
Ludw. Theobul Kosegarten. Bibl. deutsch. Klass. Hildburgh. 1862. Bd. XIII, S- 613.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Beda, mit dem Beinamen
Venerabilis oder der Ehrwürdige, lebte um das Jahr 700 in England
als Mönch und war zugleich Geistlicher, Lehrer an der Klosterschnle und
Schriftsteller. Sein Beiname bezeugt die hohe Verehrung, in welcher er
wegen seiner Frömmigkeit, Demut und Weisheit bei den Zeitgenossen stand.
Von ihm erzählt der Dichter Kosegarten, ehemals Geistlicher auf der In-
sel Rügen, die nachstehende Legende in gebundener, aber reimloser Rede.
Vom Alter blind Z, fuhr Beda dennoch fort, zu predigen die neue frohe
Botschaft.2) Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorfe wallte an seines Führers
Hand der fromme Greis und predigte das Wort mit Jünglingsfeuer.3)
Einst leitet' ihn sein Knabe 4) in ein Tal, das übersä't war mit gewalt'gen
Steinen. Leichtsinnig mehr als boshaft3) sprach der Knabe: „Ehrwürd'ger
Vater, viele Menschen sind versammelt hier und harren auf die Predigt!"
Der blinde Greis erhob sich alsobald, wählt' einen Text, erklärt' ihn,
wandt' ihn an, ermahnte, warnte, strafte, tröstete3) so herzlich, daß die
Tränen mildiglich ihm niederflossen in den grauen Bart. 7)
Als er beschließend draus das Vaterunser, wie sich's geziemt3), gebetet
und gesprochen: „Dein ist das Reich und dein die Kraft und dein die Herr-
lichkeit bis in die Ewigkeit" ... da riefen rings im Tal viel tausend
Stimmen: „Amen, ehrwürd'ger Vater, Amen, Amen!"
Der Knab' erschrak3), reumütig kniet' er nieder und beichtete10) dem
Heiligen die Sünde. „Sohn", sprach der Greis, „hast du denn nicht gelesen:
Wenn Menschen schweigen, werden Steine schrein I^Z Nicht spotte12) künftig,
Sohn, mit Gottes Wort; lebendig ist es, kräftig, schneidet scharf wie kein
zweischneidig Schwert.^3) Und sollte gleich das Menschenherz sich ihm zu
Trotz versteinen"), so wird im Stein ein Menschenherz sich regen." 15)
II. Erläuterungen. 1. Der Dichter gibt als Ursache von Bedas Blind-
heit sein hohes Alter an; er wurde nur 63 Jahre alt. 2. Das Evangelium
von Jesu Christo, dem Weltheilande, das erst im 7. Jahrhundert nach
Irland und England kam und noch nicht alle Herzen gewonnen hatte.
3. Der Leib alt und schwach, der Geist rege, eifrig und freudig lute bei
einem Jünglinge. 4. Der junge Führer. 5. Er will sich einen Spaß
machen und etwas länger von der Wanderung ausruhen. Weil er keine
böse Absicht hat, so heißt er „mehr leichtfertig als boshaft". 6. Er wählt
einen Text, d. h. Bibelabschnitt, erklärt die tiefere Bedeutung, wendet
ihn auf das Leben an, ermahnt die Lässigen zu rechtem Tun, warnt
die Leichtfertigen, straft die Sünder, tröstet die Betrübten. 7. Sein
Herz ist ergriffen von Eifer und Liebe. 8. Was geziemt sich nach der
Predigt? 9. Worüber? 10. Was beichtete (bekannte) er? 11. Luk.
19, 40. 12. Gal. 6, 7.8. 13.Ebr.4, 12. 14.Hesek.ll, 9. 15. Matth. 3, 9.
III. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Um das Jahr 735 im südlichen
England. Ein Tal, in dem Felsblöcke wild durcheinander liegen. Ein
ehrwürdiger Manu in einer Mönchskutte mit geschlossenen Augen und
langem, weißem Haar und Bart steht auf einem Felsblocke und betet.
Andacht spricht aus seinen Gebärden. Neben ihm steht ein Knabe, dem
Bestürzung und Angst aus den Augen schauen.
Wolff: Zu den Kindern (von Hameln).
119
2. Charakter der Personen. Zeige a) den Leichtsinn, den
Schrecken und die Reue des Knaben, b) den frommen Eifer, das
weiche Gemüt und den heiligen Ernst des Greises!
3. G e d a n k e n g a n g. a) Der Bekehrungseifer des frommen Greises,
b) der Leichtsinn des Knaben, c) die Predigt Bedas, ä) sein Gebet, e) das
Amen der Steine, f) die Reue des Knaben, g) die Mahnung des Heiligen.
Grundgedanke: Luk. 19, 40. Wo diese werden schweigen, so wer-
den die Steine schreien. — Gal. 6, 7. Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht
spotten. — Gott stützt und schützt die Seinen und machet zu nichte die
Anschläge der Toren.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes. Luk.
19, 40. Gal. 6, 7. Ebr. 4, 12: Das Wort Gottes ist lebendig — Matth.
3, 9: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.
Hes. 11, 19: Ich will euch das steinerne Herz wegnehmen —. Hes. 37.
Über das Feld voll Totengebeine kommt der Odem des Herrn und belebt
sie. — Pharao verstockte sein Herz. — Bileams Eselin redete eine ver-
ständliche Sprache, als der Prophet sie mißhandelte.
2. R e d e- u n d S t i l ü b u n g e n. a) Erzähle schlicht die Legende! —
b) Was wählt und was erklärt Beda, wie wendet er's an, wen ermahnt,
wen warnt, wen straft, wen tröstet er? — c) Suche aus Bibel und Lese-
buch Geschichten, wo Spötter gestraft werden! P.
36b. Zu den Kindern (von Hameln)
Bon Julius Wolfs.
1. Nun stellt euch auf, ihr Kinderlein,
je zwei und zwei zu Paaren;
Mägdlein und Buben, groß und
klein,
wir wollen zu Holze fahren.
2. Da will ich euch im grünen Haus
die schönsten Spiele lehren;
wir pfücken Blumen uns zum
Strauß
und suchen Pilz und Beeren.
3. Die Vögel zeig ich euch im Busch,
und wie sich jeder nennet, H
auf daß ihr ihn in Hupf und
Husch *)
gleich an den Federn kennet.
(Rattenfängerlieder.)
4. Und wie er singt, und wie er spricht,
wie er sein Weibchen locket, 3)
und wo sich das sein Nestlein
flicht
und auf den Eiern hocket. 4)
5. Ich lehr euch Pfeifen schnitzen auch
von Schilf und Rohr und Weide
und allerlei vom Weidmanns-
brauch
auf Pirschgang und Gejaide. 5)
6. Kommt nur, und wenn ihr tanzen
wollt,
so streich ich auch die Fiedel 6)
und sing euch, wenn ihr ausgetollt,
ein nagelneues Liedel.
1) Die Namen der Vögel. 2) Am Hüpfen und Schlüpfen. 3) An
der Stimme. 4) Am Nestbau. 5) Jägergebräuche bei Jagdgängen und
Treibjagden. 6) Geige.
I. Einführung in Stofs und Stimmung. Die Sage erzählt, lote in
alten Zeiten die Stadt Hameln an der Weser gar grausam von Ratten
geplagt ward. Da kam ein fremder Mann in seltsamer Kleidung und er-
bot sich, die Stadt von der Plage zu befreien. Der Rat verhieß ihm dafür
einen guten Lohn. Nun ging der fremde Mann durch alle Straßen und
Gassen der Stadt und blies seltsame Weisen auf einer Pfeife. Da liefen
120
II. Epische Dichtungen.
aus allen Häusern die Mäuse und Ratten ihm in großen Scharen zu.
Er führte sie an die Weser und trat in das Wasser. Da folgten ihm auch
die Ratten, stürzten sich ins Wasser und ertranken alle. Als aber der
Rattenfänger seinen Lohn forderte, da handelten und mäkelten die Bürger
darart und verweigerten ihn endlich ganz und gar. Da wandte der
Fremde der Stadt den Rücken und sagte dabei: „Ihr sollt es bitter
bereuen!"
Nach einiger Zeit erschien der Fremde wieder mit Flöte und Fiedel.
Er ging wieder durch die Straßen der Stadt und blies auf seiner Flöte
bezaubernde Weisen. Aus allen Häusern liefen ihm Knaben und Mädchen
nach. Er führte sie in ein Gehölz am Füße des Berges, leitete sie zu
Spiel und Tanz an und spielte dazu wunderschöne Lieder auf der Fiedel.
Dann ordnete er die Kinder zu einem Festzuge und führte sie in den
geöffneten Berg. Derselbe schloß sich hinter ihnen, und kein Auge sah
die Kinder wieder. Hört nun eins der Lieder, womit der Rattenfänger
die Kinder betörte! (Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Lagebild: Am Fuße des Berges ein Wäldchen.
Grüne Bäume, Büsche, Blumen, Beeren und Pilze. Allerlei Vögel auf
Ästen und in Nestern. Fröhliche Kinderscharen bei Spiel, Gesang und
Tanz. Ein Mann in seltsamer Kleidung mit Flöte und Geige leitet
die Spiele. *
2. Personen. Der Rattenfänger ist ein geheimnisvoller, seltsam
gekleideter Fremder, ein Künstler in Gesang und Spiel. Er erweist der
Stadt eine Wohltat und wird mit Undank bezahlt. Er rächt sich in der
furchtbarsten Weise. Seine Rache kleidet er in das Gewand der Kinder-
freundlichkeit. Die Eltern sind undankbar und ungerecht und ernten
den Lohn der Ungerechtigkeit. Der Verlust ihrer Kinder macht sie tief
unglücklich. Die Kinder sind sorglos und spielfreudig; allzu leicht folgen
sie der lockenden Stimme des Verführers.
3. Gedankengang. Das Lied des Rattenfängers lockt die Kinder
in den Wald- Es malt die Herrlichkeit des Waldes, das fröhliche Vogel-
und Jagdleben, die Lust an Spiel, Tanz und Gesang. Aber es ver-
schweigt, wie der Lust das Leid folgt.
III. Verwertung. 1. Verwandtes: Die Kinder von Hameln von
Gebr. Grimm: „Im Jahre 1284 ließ sich in Hameln ein wunderlicher
Mann sehen" usw. Waldlieder. Vogelleben. Jagdarten. Kinderspiele.
„Die Amsel" von Chr. Schmid. Beispiele von plötzlich hereinbrechendem
Verderben. Der Knabe und die Seerose.
2. Mahnung für Herz und Leben: Freue dich, Jüngling, —.
Wenn dich die bösen Buben locken —. Was du tust, bedenke das Ende!
P.
37. Elisabeths Nosen.
Ludwig Bechstein. Bibl. deutsch. Klassiker. Hildburgs). 1863. Bd. XX, S. 151.
I. Einführung. Auf der Wartburg, in dem schmalen Gange, der
zur Kapelle führt, sind die sieben Werke der Barmherzigkeit, wie sie
die heilige Elisabeth, die Gemahlin des Landgrafen Ludwig von
Bechstein: Elisabeths Rosen.
121
Thüringen, zu verrichten pflegte, von der Meisterhand des trefflichen
Malers Moritz von Schwind als Wandgemälde in Medaillonform dar-
gestellt. Auf dem zweiten dieser Gemälde ist die heil. Elisabeth abge-
bildet mit einem Körbchen, das sie unter ihren weiten Mantel verstecken
will, aus dem aber Rosen hervorsprossen. Vor ihr steht mit Staunen
und Beschämung im Antlitz ihr Gemahl. Was dies Bild bedeutet, sagt
uns ausführlich Ludwig Bechstein in dem Gedichte ,,Elisabeths Rosen".
Hört das Gedicht vom „Rosenwunder"!
1. Sie*) stieg herab2) wie ein Engelsbild 2),
die heil'ge Elisabeth, fromm und mild,
die gabenspendende, hohe Frau4),
vom Wartburg-Schloß auf die grüne Au.
2. Sie trägt ein Körbchen, es ist verhüllt5),
mit milden Gaben ist's vollgefüllt.
Schon harren die Armen am Bergesfuß
auf der Herrin freundlichen Liebestzruß.6)
3. So geht sie ruhig; doch Argwohn stahl7 *)
durch Verräters Mund sich zu dem Gemahl,
und plötzlich tritt Ludwig ihr züruend nah
und fragt die Erschrocknes: „Was trägst du da?"
4. „„Herr, Blumen!"" bebt's von den Lippen ihr.9 * *)
„Ich will sie sehen! Zeige sie mir!"
Wie des Grafen Hand das Körbchen enthüllt,
mit duftenden Rosen ist's gefüllt.
5. Da wird das zürnende Wort gelähmt 1°),
vor der edlen Herrin steht er beschämtn),
Vergebung erflehet von ihr sein Blick 12),
Vergebung lächelt sie sanft zurück.42)
6. Er geht, und es fliegt ihres Auges Strahl
fromm dankbar empor zu dem Himmelssaal.44)
Dann hat sie zum Tal sich herabgewandt
und die Armen gespeist mit milder Hand.
II. Zmn Verständnis des einzelnen. 1. Durch das vorausgeschickte
persönliche Fürwort wird die Angabe im 2. Verse „die heilige Elisabeth"
mehr hervorgehoben und in den Vordergrund gestellt. 2. Eine Seiten-
treppe der Wartburg. 3. So schön und anmutig wie ein Engel. 4. Sie
war die Tochter Andreas' II., Königs von Ungarn, und die Gemahlin
des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen. Durch das Beiwort „gaben-
spendende" wird dem aufmerksamen Leser der Inhalt des Gedichts schon
im voraus angedeutet. Die Gaben waren hauptsächlich Lebensmittel:
Brot, Fleisch und Eier. 5. Durch ihren Mantel. 6. Trostworte der
christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit. 7. Die Vermutung von
etwas Unrechtem oder Bösem stahl oder schlich sich in das Ohr des Ge-
mahls und wurde heimlich angefacht durch Verräters Mund — durch die
böswillige Mitteilung von seiten der Amtleute und Schöffen des Land-
grafen. 8. Durch welche Wörter des vorangehenden Verses wird der
Schreck der jungen Frau erklärlich? (Plötzliches Nahetreten des zür-
nenden Gatten.) 9. Elisabeth hat keineswegs die Absicht, die Unwahrheit
122
II. Epische Dichtungen.
zu sagen; der gewaltige Schreck und die Bestürzung legen ihr aber eine
Notlüge, das Wort „Blumen", in den Mund. 10. Der Gemahl stand
im Begriff, ihr Vorwürfe zu machen, aber die Stimme versagte ihm, er
verstummte. 11. Er fühlte und sah ein, daß edle Nächstenliebe nicht
Tadel, sondern nur das höchste Lob verdiente. 12. Worte fand er dazu
nicht. 13. Sie will durch Worte ihren Gemahl nicht noch mehr be-
schämen; ihre sanft lächelnde Miene sagt beredter als jedes Wort, daß sie
ihrem Gemahl gern verzeihe. 14. Nachdein ihr Gemahl geschieden, erhebt
sie sofort ihr Auge dankbar zu Gott empor, weil sie bei dem Barmherzig-
keit erlangt hatte, der da gesagt: Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist. Luk. 6, 36.
III. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1. Der Gang vom
Schlosse. Str. 2. Der Korb voll Gaben, die sehnlichst erwartet werden
von den Armen, welche die Burg umlagern. Str. 3. Die Begegnung
der heiligen Elisabeth und ihres Gemahls. Str. 4. Die Ermittelung von
dem Inhalte des Körbchens. Str. 5. Die gegenseitige Verzeihung. Str. 6.
Elisabeths dankbar frommer Aufblick zu Gott.
Grundgedanke: Der Sieg der Barmherzigkeit und Milde.
2. Dichtungsart. Das Gedicht ist eine Legende. Als legenda
(dasjenige, was gelesen werden soll) wurde jederzeit das Leben der Heiligen
vorzugsweise empfohlen. Leseabschnitte aus demselben, wie denn überhaupt
religiöse Stoffe im Gewände dichterischer Erzählung, sind Legenden im
engeren Sinne des Wortes.
IV. Aufgaben: Schildere die heil. Elisabeth als fromme Wohl-
täterin, als erschreckte Herrin, als verzeihende Gattin und als
fromme Beterin! Dr. Regent.
58/A. Die Kreuzschau.
Adelbert von Chamisso. Werke. IV. Bd. Leipzig 1836. S. 32.
1. Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
sah jenseits schon das ausgespannte Tal
in Abendglut vor seinen Füßen liegen.
2. Auf duft'ges Gras im milden Sonnenstrahl
streckt' er ermattet sich zur Ruhe nieder,
indem er seinem Schöpfer sich befahl.
3. Ihm' fielen zu die matten Augenlider,
doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
der ird'schen Hülle seiner trägen Glieder.
4. Der Schild der Sonne ivard im Himmelsraum
zu Gottes Angesicht, das Firmament
zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
6. „Du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt,
nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden,
wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.
123
■BBB
Chamisso: Die Kreuzschau.
6. Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
auch duldend tragen muß, ich weiß es lange,
doch sind der Menschen Last lind Leid verschieden.
7. Mein Kreuz ist allzuschwer; sieh, ich verlange
die Last nur angemessen meiner Kraft;
ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange."
8. Wie er so sprach zum Höchsten kinderhaft,
kam brausend her der Sturm, und es geschah,
daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
9. Und wie er Boden faßte, fand er da
sich einsam in der Mitte räum'ger Hallen,
wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah. —
10. Und eine Stimme hört' er dröhnend hallen:
Hier aufgespeichert ist das Leid; du hast
zu wählen unter diesen Kreuzen allen.
11. Versuchend ging er da, unschlüssig fast,
von einem Kreuz zum anderen umher,
sich ausznprüfen die bequemre Last.
12. Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer,
so schwer und groß war jenes andre nicht,
doch scharf von Kanten drückt' es desto mehr.
13. Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,
das lockt' ihn, unversucht es nicht zu lassen;
dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht.
14. Er mochte dieses heben, jenes fassen,
zu keinem neigte noch sich seine Wahl;
es wollte keines, keines für ihn passen.
15. Durchimustert hat er schon die ganze Zahl, —
verlorne Müh! Vergebens war's geschehen!
Durchmustern mußt' er sie zum an'dernmal.
16. Und nun gewahrt' ec, früher übersehen,
ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein,
und bei dem einen blieb er endlich stehen.
17. Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein
ihm paßlich und gerecht nach Kraft und Maß.
Herr, rief er, so du willst, dies Kreuz sei mein!
18. Und wie er's prüfend mit den Augen maß, —
es war dasselbe, was er sonst getragen,
wogegen er zu murren sich vermaß.
Er lud es auf und trng's nun sonder Klagen.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Das Kreuz war bei den Römern
ein Marterwerkzeug ans zwei rechtwinkelig zusammengefügten Balken, an
welchem die Verbrecher einen qualvollen Tod erlitten. (Mark. 15, 27. 28:
Sie kreuzigten mit ihm zivei Mörder, einen zu seiner Rechten und einen
zur Linken. Da ward die Schrift erfüllet: Er ist unter die Übeltäter
124
II. Epische Dichtungen.
gerechnet.) Seitdem Christus am Kreuze gestorben, ist das Kreuz zum
Symbol der Christen geworden, zum Zeichen, in dem die Welt erlöset
ward. („In diesem Zeichen wirst du siegen!") Wie das Kreuz der In-
begriff von Christi Leiden war, so bezeichnen wir alle Leiden und Lasten,
die wir um des Glaubens willen tragen, als unser Kreuz. Wir sollen dem
Heiland das Kreuz nachtragen, wie Simon von Kyrene tat, d. h. wir
sollen alle Leiden und Verfolgungen um seinetwillen geduldig tragen.
(Luk. 9, 23: Wer mir folgen will, der verleugne sich ftlbst und nehme
sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.)
Die frommen Pilger, welche nach den heiligen Stätten im Morgen-
lande zogen, wollten dem Heilande auch darin nachfolgen, daß sie sich
allerlei Last und Beschwer auflegten; so nahmen sie z. B. ein Kreuz aus
ihre Schulter, um durch Selbstpeinigung das Leiden des Herrn nachzu-
ahmen, das Fleisch zu ertöten und ihr Verdienst zu erhöhen. Der eine
wählte ein großes, der andere ein scharfkantiges Holzkreuz, der dritte ein
glänzendes (gleißendes) Metallkreuz, und jeder glaubte, die drückendste
Last zu tragen. Jeder Mensch, der vom Weibe geboren ist, gleicht den
Pilgern; denn auch er wandert nach einer heiligen Stätte, nach dem
Jerusalem droben, und trägt seine Last. Dem einen nagt still und heimlich
ein bitteres Leid am Herzen; der andere trägt, allen sichtbar, irgendeine
Last auf seinen Schultern. Jeder meint, seine Last sei die größte, sein
Druck der schwerste, sein Zwang der härteste, und seufzt und klagt darob.
Sie gleichen dem launenhaften Kranken, dein kein Lager recht ist, bis
endlich der Tod die Unruhe stillt.
B. Unruhe bis in den Tod.
Georg Philipp Schmidt von Lübeck. Lieder. 3. Aust. Altona 1847. S. 317.
1. Des Menschen Gedanken
durchschweifen die Welt,
wie Launen des Kranken
kein Lager gefällt.
2. Wir strecken die Glieder
bald hier und bald dort;
dies ist uns zuwider,
und jenes muß fort.
3. Hier drückt's in der Ecke,
dort ist es zu kühl,
wir zerren die Decke
und zupfen am Pfühl.
4. Nun ist es nach Willen,
nun dünkt es uns fein,
zu lauschen im stillen, —
da schlafen wir ein.
In der schönen Parabel „Die Kreuz sch au" zeigt uns der Dichter
Chamisso, wie wir unser Kreuz wählen würden, wenn wir freie Wahl
hätten, und wie weise der Vater im Himmel jedem seine Bürde aus-
gewählt hat.
II. Vertiefung. 1. Gesamtgemälde. Auf einer Anhöhe ruht ein
Pilger und hat die müden Glieder auf dem weichen, duftigen Grase aus-
gestreckt. Unter ihm dehnt sich ein weites, schönes Tal wie ein aufge-
spanntes Gemälde aus. Im Westen naht sich die Sonne wie ein strahlender
Schild dem Untergange und gießt ihren glutroten Glanz über Tal und
Höhen. Über ihm wölbt sich das blaue Himmelsgewölbe oder Firmament.
Neben ihm liegt ein Kreuz, das er dem Heiland zu Ehren auf seiner Wall-
Lübeck: Unruhe bis in den Tod.
125
fahrt trägt. Seine müden Augen fallen zu. Sein Geist wird im Traume
der Hülle des Leibes entführt. Die Sonne erscheint ihm als Gottes Auge,
der Himmel als sein Kleid, das grüne Land als der Saum desselben.,
Eine weite Halle sieht er ausgetan, in der allerlei Kreuze wie Vorräte
in einem Warenlager aufgespeichert stehen. Er selbst geht prüfend unter
den verschiedenen Kreuzen umher, um für sich das passendste auszusuchen.
2. Charakter des Pilgers. Er ist müde vom Wandern, er-
mattet von des Tages Hitze und seiner Last, streckt sich ruhebedürft i g
in das Gras, befiehlt sich fromm im Gebete seinem Gott, träumt mit
geschlossenen Augen, aber wachen Geistes, sieht sich der Erde entrückt,
bekennt demütig dem Herrn seine Schwächen, klagt kinderhaft, d- h.
wie Kinder ohne Einsicht, über den unerträglichen Druck seiner Lebens-
bürde, beschaut und prüft vorsichtig die Kreuze, durchmustert sie zwei-
mal unschlüssig, wählt endlich verständig das eigene Kreuz als das
geeignetste und trägt es fortan geduldig.
3. Gedankengang. I. Die Rast des Pilgers (Str. 1—2).
Str. 1: Der Pilger schaut abends von der Höhe in das Tal hinab.
Str. 2: Er legt sich betend zur Ruhe nieder.
II. Sein Traum (Str. 3—4). Str. 3: Ein Traum entführt seinen
Geist der Hülle des Leibes. Str. 4: Er sieht den Herrn in seiner Herr-
lichkeit.
III. Sein Gebet (Str. 5—7). Str. 5: Er bekennt dem Herrn seine
Schwächen, Str. 6: gesteht, daß jeder Mensch Lasten und Leiden zu tragen
habe, Str. 7: beklagt sich aber über sein allzu schweres Kreuz.
IV. Seine Entrückung in die Kreuzeshalle (Str. 8—10). Str. 8:
Ein Sturmwind entführt ihn durch die Luft, Str. 9: setzt ihn in einer Halle
mit vielen Kreuzen nieder, Str. 10: und eine Donnerstimme fordert ihn
auf, sich eins von den Kreuzen zu wählen.
V. Die Musterung der Kreuze, Kreuzschau (Str. 11—15). Str.
11: Er sucht nach der bequemsten Last, Str. 12: findet das eine Kreuz
zu groß, das andere zu schwer, das dritte zu scharfkantig. Str. 13: Ein
goldglänzendes lockt ihn, erweist sich aber als besonders schwer. Str. 14:
Er kommt zu keiner Wahl. Str. 15: Zum zweitenmal beginnt er die
Wanderung und Musterung.
VI. Seine Wahl (Str. 16—18). Str. 16: Ein bisher übersehenes
Kreuz erscheint ihm leidlicher (erträglicher) als die andern. Str. 17: Er-
wählt es als seiner Kraft angemessen. Str. 18: Er erkennt darin bei
näherer Prüfung sein eigenes, das er hinfort geduldig trägt.
4. Grundgedanken. Gott hat jedem Menschen als Erziehungs-
und Läuterungsmittel eine besondere Last nach seiner Kraft und seinem
Bedürfnis aufgelegt. Jeder findet seine Bürde schwerer als die anderer
und klagt darüber. Würde es ihm gestattet, mit andern zu tauschen und
ihre Lasten zu versuchen, so würde er gern wieder die eigene als die
passendste und leichteste zürückwünschen und sie hinfort geduldig und gott-
ergeben tragen. (Vgl. Gellerts schönes Lied: Aus Gott und nicht aus
meinen Rat.)
126
II. Epische Dichtungen.
5. Eigentümlichkeiten in der Form. Wachen und Träumen,
Irrtum und Wahrheit, Gleichnis und Wirklichkeit greifen ineinander wie
die Glieder einer Kette. Die Klage im wachen Zustande klingt im Traume
weiter; die Belehrung im Traume wird zur Richtschnur für das weitere
Leben; die Wahrheit des Gleichnisses verscheucht den Irrtum der Wirklich-
keit. Dieses kettenartige Ineinandergreifen hat der Dichter sehr schön durch
die eigentümliche Form der Terzine ausgedrückt. Über die Form dieser
Strophe s. Bd. III Anhang IB IV, 8!
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Dein Leben sei eine Pilgerfahrt nach heiliger Stätte! Murre nicht über
die Last, die dir Gott auslegt! — Beneide andere nicht um ihre scheinbar-
leichteren Lasten! Gott weiß besser als du, was dir wahrhast heilsam ist.
Dein Seufzen, Klagen und Murren macht deine Last nur schwerer. Trage
sie geduldig, dann gereicht sie dir zum Segen!
2. Verwandtes. (Zn Str. 4.) 2. Mos. 24, 10: Und sie sahen
den Gott Israels. Unter seinen Füßen war es wie ein schöner Saphir
und wie die Gestalt des Himmels, wenn es klar ist. Jes. 66, 1: Der
Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fußbank. Ps. 104, 2: Licht
ist dein Kleid, das du anhast; du breitest aus den Himmel wie einen
- Teppich. — (Zu Str. 5.) 1. Mos. 18, 27: Abraham sprach: Siehe, ich
habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und
Asche bin. — (Zu Str. 6.) Gal. 6, 5: Ein jeglicher wird seine Last
tragen. „Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die
Traurigkeit." — (Zu Str. 7.) 1. Kor. 10, 13: Gott läßt euch nicht ver-
sucht werden über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so
ein Ende gewinne, daß ihr's könnt ertragen. Ps. 68, 20: Gott legt uns
eine Last auf, aber er hilft uns auch. — (Zu Str. 8.) Hes. 3, 14: Da
kam ein ungestümer Wind, hub mich auf und führte mich weg. Und
ich fuhr dahin in bitterm Grimm, und des Herrn Hand hielt mich fest.
Matth. 4, 1: Da ward Jesus vom Geiste in die Wüste geführet. — (Zu
Str. 18.) Ebr. 12, 2—13: Lasset uns aussehen auf Jesum —. V. 11
bis 13: Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünket uns nicht Freude,
sondern Traurigkeit zu sein; aber danach wird sie geben eine friedsame
Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind. Darum richtet
wieder auf die lässigen Hände und die müden Kniee und tut gewisse
Tritte mit euren Füßen —. Gellerts Lied: „Auf Gott und nicht auf
meinen Rat" — führt in vortrefflicher Weise den Grundgedanken der
Parabel aus; ähnlich Georg Neumarks: Wer nur den lieben Gott läßt
walten" —, Paul Gerhardts: „Befiehl du deine Wege" — und Paul
Flemings: „In allen meinen Taten" —. Friedrich Wilhelm III. schrieb
in seinen! Testamente: „Meine Zeit mit Unruhe, meine Hoffnung in
Gott." — Als G u a t e m o z i n, der letzte Kazik von Mexiko, von C o r t e z'
Henkern auf glühendem Roste gebraten wurde, damit er das Versteck
seiner Schätze verriete, da rief er seinen jammernden Dienern, die auf
der Folter lagen, zu: „Liege ich denn auf Rosen?" —
Knapp: Die Einladung.
127
Vergleiche: C. Schmerzlicher Trost.
Fühlst du ein bittres Leid am Herzen
nagen,
verzage nicht!
Mußt du das Liebste auch zu Grabe
tragen,
nicht alles bricht!
Du trägst ja nicht allein das Joch;
v, tausend Brüder seufzen noch.
und jeden drückt ein andrer Schmerz,
und jeder klagt: „Mein armes Herz
ist überschwer!
Ich kann nicht mehr!"
O dulde, schweig' und glaube mir,
die andern tauschten gern mit dir.
Kennst du denn ihre Last und Pein?
Nein, nein! Du würdest still sonst sein!
P.
59. Die Einladung.
Albert Knapp. Auswahl seiner Gedichte. Stuttgart 1868.
Ein frommer Landmann in der Kirche saß; den Text der Pfarrer aus
Johanne las am Ostermontag, wie der Heiland rief vom Ufer: „Kindlein, habt
ihr nichts zu essen?" Das drang dem Landmann in die Seele tief, daß er
in stiller Wehmut da gesessen usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
Vertiefung und Verwertung. 1. Ort und Zeit. a) Im Hause
Gottes. Es ist Ostermontag auf einem Dorfe und die Kirche mit an-
dächtigen Landleuten gefüllt. Der Pfarrer predigt über das Bibelwort
Joh, 21, 5: „Jesus spricht zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen?
Sie antworten ihm: Nein." Unter den Zuhörern sitzt ein frommer Land-
mann mit gefalteten Händen und lauscht mit besonderer Andacht dem
göttlichen Worte. In seinen Augen spiegelt sich Wehmut, in seinem Antlitz
tiefe Bewegung, und seine Lippen bewegen sich im Gebete.
b) I m H a u s e d e s L a n d m a n n e s. Es ist am Sonntag nach Ostern
um die Mittagszeit. Wir blicken in das saubere Wohnzimmer des Land-
mannes. In einem Fenster der Stube steht ein frischer Strauß von Früh-
lingsblumen. Auf dem Tische dampft eine gute Hühnersuppe. Um den
Tisch stehen in ihrem besten Schmucke die Kinder nebst ihrer Mutter. Noch
halten sie die Hände gefaltet von dem eben gesprochenen Tischgebet. Die
Tür nach der Hausflur ist geöffnet. Dort steht auf der sauber gefegten
und sandbestreuten Flur ein Greis mit silberweißen Haaren, sehr dürftigen
Kleidern, eingefallenen Backen, flehenden Augen und bittend ausgestreckten
Händen. Der Hausvater ist ihm entgegengeeilt mit freudestrahlendem Ge-
sicht, heißt ihn als lang erwarteten Gast willkommen, führt ihn am Arme
in die Stube und setzt ihn auf den Ehrenplatz am Tische.
2. Charakter des Landmannes. Zeige aus der Legende, daß
der Landwirt fromm und kirchlich, andächtig und von Wehmut er--
griffen, schlicht und einfältig in seinem Glauben, innig in feiner
Gottes- und Nächstenliebe, fest in seiner Hoffnung, demütig in seiner
Selbsterkenntnis, a u s d a u e r n d in seinem Bitten, d a n k b a r für die gött-
lichen Wohltaten, verständnisvoll für den geistigen Sinn des Bibel-
wortes, beglückt über die Erhörung seiner Bitte war!
3. Gliederung und Gedankengang. I. Die Einladung,
a) Die Frage des Heilandes trifft das Herz des Landmannes, b) Er ladet
ihn demütig, aber innig zu Tische ein.
128
II. Epische Dichtungen.
II. Die Vorbereitungen, a) Er wiederholt die Bitte täglich die
ganze Woche hindurch, b) Er läßt das Haus am Samstag auf den Be-
such eines hohen Gastes rüsten, e) Den Namen des Gastes verschweigt er
Frau und Kindern.
III. Die Erwartung, a) In der Kirche wiederholt er die Ein-
ladung. b) Die Mutter rüstet ein gutes Mittagsmahl, o) Sie und die
Kinder fangen nach 12 Uhr an, ungeduldig zu werden.
IV. Die Erfüllung, a) Im Tischgebet wird Jesus nochmals ein-
geladen. b) Ein armer, hungriger Greis erscheint an der Tür und bittet
um ein Stücklein Brot. e) Der Landmann führt ihn voll Freude an
den gedeckten Tisch, ä) Er sieht in dem Armen den Heiland, den er zu
Tische geladen hat.
4. Grundgedanke. Matth. 25, 34. 35. 36. 40: „Der König wird
sagen zu denen zu seiner Rechten: Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt
mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränket.
Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackend
gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr
habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir ge-
kommen. — Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten
Brüdern, das habt ihr mir getan." — Selig sind, die Gottes Wort hören
und bewahren in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in
Geduld. P.
60. A. Die Niesen und die Zwerge.
F. Rückert, Gedichte. Frankfurt 1868. S. 112.
1. Es ging die Riesentochter, zu haben einen Spaß,
herab vom hohen Schlosse, wo Vater Riese saß.
Da fand sie in dem Tale die Ochsen und den Pflug,
dahinter auch den Bauer, der schien ihr klein genug.
Die Riesen und die Zwerge!
2. Pflug, Ochsen und den Bauer, es war ihr nicht zu groß,
sie faßt's in ihre Schürze und trug's aufs Riesenschloß.
Da fragte Vater Riese: „Was hast du, Kind, gemacht?"
Sie sprach: „Ein schönes Spielzeug hab' ich mir mitgebracht."
Die Riesen und die Zwerge!
3. Der Vater sah's und sagte: „Das ist nicht gut, mein Kind!
Tu es zusammen wieder an seinen Ort geschwind!
Wenn nicht das Volk der Zwerge schafft mit dem Pflug im Tal,
so darben auf dem Berge die Riesen bei dem Mahl!"
Die Riesen und die Zwerge!
I. Quelle. Der Stoff zu diesem Gedichte findet sich in Grinims
„Deutschen Sagen". (Berlin 1865. I. 21.)
Im Elsaß auf der Burg Niedeck, die an einem hohen Berge bei
einem Wasserfall liegt, waren die Ritter vorzeiten große Riesen. Einmal
ging das Riesenfräulein hinab ins Tal, wollte sehen, wie es da unten
wäre, und kam bis fast nach Haslach aus ein vor dem Walde gelegenes
Ackerfeld, das gerade von den Bauern bestellt ward. Es blieb vor Ver-
wunderung stehen und schaute den Pflug, die Pferde und Leute an, das
ihr alles etwas Neues war. „Ei", sprach sie und ging herzu, „das
129
Rückert: Die Riesen und die^Zwerge.
nehme ich mir mit." Da kniete sie nieder zur Erde, spreitete ihre Schürze
aus, strich mit der Hand über das Feld, fing alles zusammen und tat's
hinein. Nun lief sie ganz vergnügt nach Hause, den Felsen hinauf-
springend; wo der Berg so jäh ist, daß ein Mensch mühsam klettern muß,
da tat sic einen Schritt und war droben. Der Ritter saß gerade am Tisch,
als sie eintrat. „Ei, mein Kind", sprach er, „was bringst du da? Die
Freude schaut dir ja aus den Augen heraus." Sie machte geschwind ihre
Schürze aus und ließ ihn hineinblicken. „Was hast du so Zappeliges
darin?" — „Ei, Vater, gar zu artiges Spielding! So was Schönes
hab' ich mein Lebtag noch nicht gehabt." Darauf nahm sie eins nach
dem andern heraus und stellte es auf den Tisch, den Pflug und die Bauern
mit ihren Pferden, lief herum, schaute es an, lachte und schlug vor Freude
in die Hände, wie sich das kleine Wesen darauf hin und her bewegte. Der
Vater aber sprach: „Kind, das ist kein Spielzeug; da hast du was Schönes
angestiftet! Geh nur gleich und trag's wieder hinab ins Tal!" Das
Fräulein weinte; es half aber nichts. „Mir ist der Bauer kein Spielzeug!"
sagte der Ritter ernsthaft; „ich dulde nicht, daß du mir murrst; kram'
alles sachte wieder ein und trag's an den nämlichen Platz, wo du's ge-
nommen hast! Baut der Bauer nicht sein Ackerfeld, so haben wir Riesen
auf unserm Felsennest nichts zu leben."
II. Vertiefung. 1. Hauptgedanke. Dieses knappe, anmutige Ge-
dicht ist so leicht verständlich, daß wir eine Erläuterung im einzelnen
nicht zu geben brauchen. Die Kinder werden sogar den durch das Ge-
dicht ausgesprochenen Grundgedanken nach aufmerksamem Lesen heraus-
finden, der kein anderer sein kann als der: „Der Bauernstand ist ein
wese ntlichesundunentbehrlichesGliedin dem großen Gan-
zen eines Volkes und Staates; darum ist er nicht da zum
Spiel der Laune und Willkür in der Hand der Mächtigen
und Hohen der Erde." (Kriebitzsch.)
Dieser Hauptgedanke hatte besonders seine Bedeutung in der Zeit der
Befreiungskriege, in welcher das Gedicht verfaßt wurde. Bis dahin war
in den meisten deutschen Ländern der Bauernstand noch gedrückt und in
unwürdiger Abhängigkeit; erst nach und nach gewann er mehr Selbständig-
keit. In Preußen wurde bereits 1808 die bäuerliche Hörigkeit aufgehoben.
2. Charakter der Tochter und des Vaters. Die Anmut des
Gedichts liegt besonders in der scherzhaften Art, wie Rückert die Sage
behandelt, und wie er die Hauptperson, das Riesenfräulein, uns vor-
führt. Ausgestattet mit ungeheurer körperlicher Größe (der Bauer, die
Ochsen und der Pflug haben Platz in ihrer Schürze) — und Kraft (das
Gespann schien ihr klein genug zum Forttragen), zeigt sie sich doch so
töricht und unverständig wie nur irgend ein junges Menschenkind. Gerade
diese Gegensätze, das kindische Wesen und die ungeheure Körpergröße,
erregen unsere Heiterkeit.
Im Gegensatze zur Tochter finden wir in dem Alten einen verständigen,
einsichtsvollen und besonnenen Mann, der dem Kinde sofort die Torheit be-
greiflich macht und ihm aufträgt, sein kindisches Beginnen wieder gut zu machen.
AdL. II. 8. Aufl. \ 9
130
II. Epische Dichtungen.
3. Poetische Darstellung. Nicht zu übersehen ist der Refrain
(Kehrreim): „Die Riesen und die Zwerge". Durch diese wenigen Worte
wird nicht nur der Hauptgedanke der Sage und der Kontrast zwischen den
Riesen und Zwergen, wie er der Sage nach war, veranschaulicht, sondern
wir werden auch an das Geschick der Burgherren erinnert, deren Rechte,
die sie sich den Bauern gegenüber anmaßten, bald einer besseren und natür-
licheren Ordnung weichen mußten. Der Zweck des Kehrreims ist über-
haupt der, den Hauptgedanken eines Gedichts hervorzuheben, wie wir
auch bei Uhlands „Glück von Edenhall", bei Goethes „Mignon" und in
Chamissos „Die Sonne bringt es an den Tag" erkennen können. Auch
der Versbau des Gedichts ist übereinstimmend mit dem Inhalte. Der
sechsfüßige Jambus mit einer überzähligen leichten Silbe vor der in der
Mitte befindlichen Pause (neuer Nibelungenvers) paßt in seiner Schwer-
fälligkeit ganz vortrefflich zu der Schilderung des Vorganges.
III. Vergleichung des Gedichts mit Chamissos „Riesenspielzeug".
B. Das Niesenspielzeug.
Ad. v. Chamisso, Gedichte. Berlin 1874. S. 248.
1. Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand;
sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer;
du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
A. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte erzählen in einfacher Weise die
Sage, ohne etwas hinzuzufügen. — Beiden Gedichten liegt dieselbe Idee
zugrunde, daß der Bauer ein ebenso wichtiges Glied in der menschlichen
Gesellschaft ist wie jeder andere Mensch. — Äußerlich gleichen sich beide
Gedichte auch im Versmaße.
B. Verschiedenheiten. Rückerts Gedicht ist kurz und erzählt nur
die Hauptmomente. Chamisso lehnt sich genau, oft wörtlich an die Sage
an; so erzählt R. nicht, wo die Burg stand, und nennt auch nicht ihren
Namen, während Ch. alles ganz genau beschreibt. (Beweis.) R. läßt den
Charakter der Riefentochter nur an einzelnen Zügen erkennen, CH. da-
gegen stellt auch durch die Worte, welche das Mädchen spricht, ihr kindisches
Wesen ins helle Licht. Die größere Ausführlichkeit bei CH. bewirkt, daß
das kindische Benehmen der Riesentochter noch lächerlicher erscheint als bei
Rückert. W. D.
61. A. Die Heinzelmännchen
A. Kopisch. Gedichte. Berlin 1836. S. 98.
1. Wie war zu Köln es doch vordem
mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul, man legte sich
hin auf die Bank und Pflegte sich.
Da kamen bei Nacht,
eh' man's gedacht,
die Männlein und schwärmten
und klappten und lärmten
und rupften
und zupften
und hüpften und trabten
und putzten und schabten,
und eh' ein Faulpelz noch erwacht,
war all sein Tagewerk bereits ge-
macht usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
Kopisch: Des kleinen Volkes^Überfahrt.
131
1. Erläuterung. Die alte deutsche Sage berichtet uns von bösen
und guten Geistern mancherlei Art. Unser Gedicht gibt uns von den
Heinzelmännchen Kunde. Diese kleinen Geister, welche den Menschen
so gern dienten und ihnen bei ihren Arbeiten behilflich waren, entflohen,
der Sage nach, sobald sie von den Menschen beleidigt wurden. Die Er-
zählung des Märchens finden wir jedesmal am Anfang und am Ende der
Strophen. Die übrigen Verse der einzelnen Strophen beschreiben die
Tätigkeiten, welche die Heinzelmännchen für jeden Handwerker verrichteten.
II. Gliederung. 1. Abschnitt: Str. 1. Wer die Heinzelmännchen
waren. (Kleine Wesen, die für die Menschen arbeiteten.)
2. Abschnitt: Str. 2—6. Für welche Menschen die Heinzelmännchen
arbeiteten. (Für Zimmerleute, Bäcker, Fleischer, Küfer und Schneider.)
3. Abschnitt: Str. 7. Warum die Heinzelmännchen ihre Arbeit
für immer einstellten. (Weil sie in mutwilliger, liebloser Weise von der
Frau des Schneiders gestört wurden.)
4. Abschnitt: Str. 8. Welche Folgen es hat, daß die Heinzel-
männchen nun verschwunden sind. (Man muß nun alles selber tun.)
III. Sprachliche Darstellung. Der Dichter, ein Meister in der poe-
tischen Erzählung und in der Tonmalerei, hat durch die Wahl der Verse
und Worte seinem Gedichte eine so große Anschaulichkeit verliehen, daß
wir die emsige Arbeit der Zwerge den faulenzenden Menschen gegenüber
gewissermaßen vor unsern Augen haben. Alle Tätigkeiten der Hand-
werker sind durch eine Menge von passenden Zeitwörtern meisterhaft ge-
schildert. Der Hauptreiz und das Komische des ganzen Gedichts liegt
gerade in der Wahl dieser Zeitwörter und in den Gegensätzen zwischen
der „fürsorglichen Geschäftigkeit dieser kleinen Wesen und den faulenzenden
Menschen". Auf die poetische Darstellung, den eigentümlichen Rhythmus,
die verschiedenen Versarten usw. kann der Lehrer mit Kindern von 10
bis 12 Jahren nicht näher eingehen. Es ist bei dem ganzen Gedichte
nicht mehr zu tun, als dasselbe gut vorzulesen; „denn (sagt Gude) bei
einem guten Vortrage des Gedichts kann das herzliche Lachen — es ist
dieses ein anderes Lachen als das über einen Heineschen Witz — nicht
ausbleiben." Das Gedicht hat dann seine Wirkung erreicht.
IV. Vergleichung des Gedichts mit: „Des kleinen Volkes Überfahrt"
a) nach Ähnlichkeiten, b) Verschiedenheiten in Rücksicht auf die
kleinen Geister und auf die Menschen.
B. Des kleinen Volkes Überfahrt.
21. Kopisch. Allerlei Geister. Berlin 1848. S. 65.
1. „Steh auf, steh auf! Es pocht Da flüstert es fein:
ans Haus!"
„„Tipp, tipp!"" „Wer mag das sein?"
Der alte Fährmann geht hinaus.
„„Tipp, tipp!"" „Wer mag das sein?"
Nichts sieht er, — halb nur scheint
der Mond:
die Sache dünkt ihm ungewohnt.
Ö Fährmann mein,
wir sind ein winzig Völkelein
und haben Weib und Kindelein.
Fahr über uns, die Müh' ist klein,
und jedes zahlt sein Hellerlein.
Es lärmt zu sehr im Lande,
wir wollen zum andern Strande.
9*
132
II. Epische Dichtungen.
2. Unheimlich wird's an diesem Ort,
es gellt hier zu viel Hammerschlag
und schießt und trommelt fort und
fort,
die Glocken läuten Tag für Tag!"" —
Der Fährmann steigt in seinen
Kahn:
„Ich will euch fahren; kommt
heran!
Werft ohne Betrug
Das Geld in den Krug!" —
O, welchen Lärm vernahm er da,
obwohl er nichts am Ufer sah!
Er wußte nicht, wie ihm geschah;
es klang wie fern und war doch nah:
zehntausend kleine Stimmchen,
viel feiner als die Jmmchen.
3. Der Schiffer ruft dem Knechte
sein;
er kommt. Die kleinen Wesen fchrein:
„„Zertritt uns nicht, wir sind so
klein!"" —
Da mußt' er wohl behutsam sein.
Tück, tück! fiel's in den Krug
hinab,
wie jeder seinen Heller gab.
Pirr! trippelt's heran
und stampft zum Kahn
und ächzt wie mit Kisten und
Kasten schwer,
rückt, drückt und schiebt sich hin
und her,
weint, ruft und zankt sich über-
quer,
es drängt und zwängt sich immer
mehr:
„ „Fahr ab, der Kahn will sinken,
fort! eh' wir all' ertrinken!""
4. Der Schiffer stößt vom Ufer los;
und als er jetzo drüben war,
geht an das Schiff mit leichtem Stoß.
„Au!" schrie die ganze kleine Schar,
in Ohnmacht fiel da manche Frau,
das hörte man am Ton genau.
Nun dappelt's hinaus
mit Katz' und Maus,
mit Kind und Kegel und Stuhl und
Tisch,
mit Kisten und Kasten und Federwisch.
Es war ein Lärmen und ein Gemisch
von Ruf und Zank und Stillgezisch!
Nichts sieht man; doch am Schalle
hört man: hinaus sind alle. —
5. Noch holt er wieder neue Schar.
Die lärmt hinaus; er fährt zurück.
Als dreißigmal gefahren war,
läßt nach im Krug das Tück, tück, tück!
Er fährt den letzten Teil zum Strand,
der Mond geht unter am Himmels-
rand.
Doch dunkelt es nicht;
was glänzt so licht?
Am Strand gehn tausend Lichter klein
wie von Johanniswürmelein.
Da rafft der Knecht vom Uferrain
Erdboden in den Hut hinein,
setzt auf — und kann nun schauen
die Männlein und die Frauen.
6. O welche Wunder er nun sah!
Der ganze Strand war all bedeckt:
sie liefen mit Laternchen da,
von Gras und Blumen oft versteckt,
und trugen Kindlein wunderhold
und Edelstein und rotes Gold.
Hei, denkt der Knecht,
das kommt mir recht!
Und langt begierig aus dem Kahn
am Uferrande weit hinan.
Da merket ihn ein kleiner Mann,
der fängt ein Zeterschreien an.
Puh, puh, sind aus die Lichte,
verschwunden alle Wichte!
7. Drauf flog es her wie Erbsen
klein;
es mochten kleine Steinchen sein;
die warfen sie mit großer Pein
und ächzten mühsam hinterdrein.
„Es sprühet immer mehr wie toll!
Fort, fort von hier! der Kahn wird
voll!"
Sie wenden geschwind
herum wie der Wind
und stoßen eilig ab vom Land
und fahren in Angst sich fest im Sand,
bald rechter Hand, bald linker Hand,
und immer ruft es noch vom Strand:
„„Das Fliehn war euer Glücke,
sonst kamt ihr nicht zurücke!""
62. A. Eberhards Weißdorn.
L. Uhland. Gedichte und Dramen. Stuttgart 1863. II, 166.
1. Graf Eberhard im Bart,
vom Württemberger Land,
er kam auf frommer Fahrt x)
zu Palästinas Strand.
Uhland: Eberhards Weißdorn.
133
2. Daselbst er einsmals ritt
durch einen frischen Wald;
ein grünes Reis er schnitt
von einem Weißdorn bald.
5. Der Graf, getreu und gut,
besucht' es jedes Jahr,
erfreute dran den Mut8),
wie es gewachsen war.
3. Er steckt es mit Bedacht
auf seinen Eisenhut,
er trug es in der Schlacht
und über Meeresflut.
6. Der Herr war alt und laß8),
das Reislein war ein Baum,
darunter oftmals saß
der Greis in tiefem Traum.
4. Und als er war daheim,
er's in die Erde steckt,
wo bald manch neuen Keim
der milde Frühling weckt.
7. Die Wölbung hoch und breit *)
mit sanftem Rauschen mahnt
ihn an die alte Zeit
und an das ferne Land.
I. Vorbemerkung. Über die Quelle zu dem Gedicht sagt P. Eichholz
.(Quellenstudien zu Uhlands Balladen, Berlin 1879):
„Graf Eberhard II. im Bart von Württemberg (1459—1496) machte
im Jahre 1468 eine Pilgerfahrt nach dem heil. Lande, welche vom 10. Mai
bis zum 4. November dauerte. Dieselbe hat Zeller, Merkwürdigkeiten der
Universität und Stadt Tübingen (Tüb. 1743), ausführlich beschrieben und
bemerkt znm Schluß: „Von der Reise nach Jerusalem muß ich noch eine
Tradition beifügen, welche diejenige ist, daß er einen Dornzweig von der
Gattung, damit Christi Krone ist geflochten gewesen, mit sich aus dem gelobten
Lande gebracht und in dem Einsiedel eingesteckt habe, daraus hernach der-
jenige Dornstrauch erwachsen setze, welcher von Zeit zu Zeit ein Zeichen der
Auf- und Abnahme des hochfürstlichen Hauses ist unter den Leuten gehalten
worden; und darvon man noch jetzo etwas übriges vorzeigt, nachdem er
zuweilen bis auf ein einziges Zweiglein abgegangen. Ob diese uralte Er-
zählung und Tradition wahr seye, überlasse ich anderer fernern Unter-
suchung." —
Das Einsiedel ist ein Schlößchen im Schönbuchwalde unweit
Tübingen und war ein Lieblingsaufenthalt des Grafen Eberhard. Die
Reste des Schlosses dienen jetzt zu Wirtschaftsräumen. Der Weißdorn
steht noch heute vor dem Gebäude und „ist ein so stattliches Exemplar,
wie es selten zu finden sein mag". —
Schließlich sei noch erwähnt, daß Eichholz meint, Uhland habe nicht
aus einer bestimmten Quelle geschöpft, sondern von der Sage auf münd-
lichem Wege Kunde erhalten. —
II. Erläuterungen. 1. Pilgerfahrt, Wallfahrt. 2. Versetzte sich
da in eine frohe, freudige Stimmung des Gemüts. 3. Infolge des Alters
war er laß, d. h. schlaff und kraftlos geworden. 4. Das hohe und breite
Laub dach des Baumes.
III. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. I. Abschnitt.
Str. 1—3. GrafEberhardaufderPilgerfahrt (Str. 1: E.s An-
kunft in Palästina. Str. 2: E. schneidet im Walde das Reis. Str. 3:
E. trägt es auf dem Eisenhute (Helmes). II. Abschnitt. Str. 4—7. E.
in der Heimat. (Str. 4: E. pflanzt das Reis. Str. 5: E. erfreut sich
an dem Wachstum des Reises. Str. 6: E. sitzt in seinem Alter gern unter
dem zum Baume gewordenen Weißdorn. Str. 7: E. wird unter dem
Rauschen des hohen Laubdaches an die Vergangenheit erinnert.)
134
II. Epische Dichtungen.
2. Charakter des Grafen. Eberhard war ein frommer Graf,
denn er unternahm eine Wallfahrt nach dem gelobten Lande. Er handelte
mit Überlegung (Bedacht) und war „getreu und gut". Er wurde im
Alter körperlich schwach (laß), erfreute sich an dem Gedeihen seines
Baumes (Str. 5) und dachte gern an vergangene Zeiten (Str. 6 und 7).
IV. Verwertung fürHerz und Leben: Das beste Gut des Alters
ist die Erinnerung. „Ach wie liegt so weit, was mein einst war!" „Im
kleinsten Raum pflanz' einen Baum und Pflege sein, er bringt dir's ein."
W. v.
V. Vergleiche B „D ie ulme zu Hirsau" von Ludwig u h l a n d!
1. Zu Hirsau in den Trümmern,
da wiegt ein Ulmenbaum
frischgrünend feine Krone
hoch überm Giebelsaum.
2. Er wurzelt tief im Grunde
vom alten Klosterbau;
er wölbt sich statt des Daches
hinaus in Himmelsblau.
3. Weil des Gemäuers Enge
ihm Luft und Sonne nahm,
so trieb's ihn hoch und höher,
bis er zum Lichte kam.
4. Es ragen die vier Wände,
als ob sie nur bestimmt,
den kühnen Wuchs zu schirmen,
der zu den Wolken klimmt.
5. Wenn dort im grünen Tale
ich einsam mich erging,
die Ulme war's, die hehre,
woran mein Sinnen hing.
Wenn in dem dumpfen, stummen
Gemäuer ich gelauscht,
da hat ihr reger Wipfel
im Windesflug gerauscht.
7. Ich sah ihn oft erglühen
im ersten Morgenstrahl;
ich sah ihn noch erleuchtet,
wann schattig rings das Tal.
8. Zu Wittenberg im Kloster
wuchs auch ein solcher Strauß
und brach mit Niesenästen
zum Klausendach hinaus.
9. O Strahl des Lichts, du dringest
hinab in jede Gruft!
O Geist der Wekt, du ringest
hinauf in Licht und Luft.
Gemeinsames: Der Dichter Uhland blickt in beiden Gedichten
zurück in alte Zeiten und betrachtet sinnend einen Baum, der sich in
unverwüstlicher Lebenskraft unter Hindernissen empor zu Leben, Licht
und Luft rang.
Verschiedenheit: A handelt von einem Weißdornbaume, B von
einer Ulme. A ist als vertrockneter Zweig aus dem Morgenlande gekom-
men und in der Heimat angepflanzt worden, B wohl als Samenkorn in
die Trümmer des Klosters Hirsau vom Winde oder von Vögeln getragen.
A erwacht wider alles Erwarten zu neuem Leben, B wächst aus der Enge
des alten Gemäuers hoch und hehr nach oben zum Lichte. A erinnert den
Grafen Eberhard im Alter an vergangene Zeiten und Taten, B ist ein
Bild des Reformators Luther, der aus Klosterenge mit Riesenästen das
Klausendach nach Luft und Licht durchbrach. B.
63 a. Bestrafte Ungenügsamkeit.
Fr. Rückert, Werke. Frankfurt 1868. III, 68.
1. Es war das Kloster Grabow im Lande Usedom,
das nährte Gott vorzeiten aus seiner Gnade Strom.
Sie hätten sich sollen begnügen!
3tliefert: Bestrafte Ungenügsamkeit.
135
2. Es schwammen an der Küste, daß es die Nahrung sei
den Mönchen in dem Kloster, jährlich zwei Fisch' herbei.
Sie hätten sich sollen begnügen!
3. Zwei Störe, groß, gewaltig; dabei war das Gesetz,
daß jährlich sie den einen fingen davon im Netz.
Sie hätten sich sollen begnügen!
4. Der andre schwamm von dannen bis aus das andre Jahr,
da bracht' er einen neuen Gesellen mit sich dar.
Sie hätten sich sollen begnügen!
5. Da fingen wieder einen sie sich für ihren Tisch;
sie fingen regelmäßig jahraus, jahrein den Fisch.
Sie hätten sich sollen begnügen!
6. Einst kamen zwei so große in einem Jahr herbei;
schwer ward die Wahl den Mönchen, welcher zu fangen sei.
Sie hätten sich sollen begnügen!
7. Sie fingen alle beide; den Lohn man da erwarb,
daß sich das ganze Kloster den Magen dran verdarb.
Sie hätten sich sollen begnügen!
8. Ter Schaden war der kleinste, der größte kam nachher:
es kam nun gar zum Kloster kein Fisch geschwommen mehr.
Sie hätten sich sollen begnügen!
9. Sie hat so lange gnädig gespeiset Gottes Huld;
daß sie nun des sind ledig, ist ihre eigne Schuld.
Sie hätten sich sollen begnügen!
I. Quelle. Die Sage, welche dem Gedichte zugrunde liegt, erzählt
Grässe im „Sagenbuche des preußischen Staates" Bd. II, S- 509 fol-
gendermaßen:
„Auf der Insel Usedom lag ehedem ein großes Kloster, Grobe oder
Grabow genannt, welches ein pommerscher Fürst Namens Ratibor samt
seiner Gemahlin im Jahre 1150 gestiftet hatte. Der erste Abt hieß
Sybrandt und war ein frommer, hoher Mann. Einst herrschte aber im
ganzen Lande eine große Hungersnot, so daß auch die Mönche zu Grobe
Not litten. Da kamen auf einmal zwei große Störe aus dem Haff nach
dem Kloster geschwomtnen und trieben sich so lange vor demselben herum,
bis einer derselben von den Mönchen gefangen worden war. Dann aber
schwamnt der andere, gerade als hätte er einen Gefangenen hierher ge-
bracht, Widder davon. Im nächsten Jahre kam derselbe Fisch wieder und
brachte abermals einen so großen Kameraden mit und verschwand, nach-
dem dieser gefangen war) ganz in derselben Weise wieder. Dieselbe Er-
scheinung wiederholte sich noch viele Jahre. Einst aber wurden die Mönche
frech und fingen beide Störe, da ist kein anderer an ihrer Statt wieder
nach Grobe gekommen."
II. Erläuterungen. Str. 1. Das „Land Usedom" ist die Insel.
Wo? „Aus seiner Gnade Strom" = die reiche Fülle der unver-
dienten Wohltaten Gottes. Str. 3. Störe? (Kurze Beschreibung.)
Str. 4. Gesell — Genosse, Kamerad. Str. 5. „für ihren Tisch", bild-
liche Redensart für: zum Verspeisen. Str. 7. Lohn heißt eigentlich das.
136
II. Epische Dichtungen.
Was jemand für seine Leistungen als Vergeltung verdient; hier ist das
Wort in schlimmem Sinne gebraucht: die Mönche empfingen die Ver-
geltung für ihre Ungenügsamkeit. „Das ganze Kloster verdarb sich den
Magen daran", ist eine Übertreibung oder Hyperbel (das Kloster anstatt
der Bewohner).
III. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. A. Gottes gnä-
dige Gabe an die Mönche des Klosters und seine Bedingung Str. 1—5.
B. Die Habgier und der Ungehorsam der Mönche Str. 6 und 7. 0. Die
gerechte Strafe der Mönche Str. 8 und 9.
2. Weise nach: die Gnade, die Bedingung, die Versuchung,
den Ungehorsam, die Doppelstrafe!
3. Warum endet jede Strophe mit dem Mahn- und Strafworte:
„Sie hätten sich sollen begnügen"? (Die Ungenügsamkeit erkennt die
Gnadengaben nicht dankbar an, hält die gestellten Bedingungen nicht, fällt
in der Versuchung und erhält mit Recht ihre Strafe. Dankbarkeit ist
gehorsam und genügsam, Undankbarkeit aber begehrlich und ungehorsam.)
IV. Verwertung für Herz und Leben. Sprichwort: Mir genügt,
wie Gott es fügt. Was frag' ich viel nach Geld und Gut, wenn ich
zufrieden bin! Wer die Wahl hat, hat die Qual. Wenn die Versuchung
an uns herantritt, so sollen wir uns an das Gesetz halten. Die Über-
tretung des Gesetzes hat stets Unheil im Gefolge. Der Kehrreim: „Sie
hätten sich sollen begnügen" soll jedem zur Warnung dienen.
W. D.
63 b. Trutz, Blanke Hans.
Von Detlev von Liliencron.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Die Nordsee zwischen
Deutschland und England wird wegen ihres Wellenspieles auch „Blanke
Hans" und wegen ihrer rasenden und verheerenden Sturmfluten die
M o r d s e e genannt. Die Kette der F r i e s i s ch e n I n s e l n und besonders
die Jnselfetzen der Halligen, die der östlichen Küste vorgelagert sind,
erzählen eine ergreifende Leidensgeschichte, die Geschichte eines gewaltigen
Kampfes zwischen dem gierigen Meere und dem angrenzenden Festlande.
Bei den plötzlich hereinbrechenden Sturmfluten durchbrach das Meer die
Deiche, riß weite Landstrecken ab und verschlang sie mit allem, was drauf
lebte. So soll die Allerheiligen flut 1570 in dunkler, stürmischer
Nacht 100000 Menschen verschlungen haben. Die Weihnachtsflut
1277 riß 30 Dörfer mit ihren Feldmarken in die Tiefe, dazu auch die
sagenhafte üppige Stadt Rungholt. Die heimtückische Mordsee und
den Untergang der Stadt Rungholt schildert in einer Ballade der
Hauptmann Detlev von Liliencron. Als geborener Holsteiner und Hardes-
vogt von der Insel Pellworm und den Halligen kannte er die tückische
Arbeit der „Mordsee", die Geschichten und Sagen seines Heimatlandes. Er
nennt die Nordsee „Blanke Hans"; sie bietet dem Lande und seinen
Bewohnern fortwährend „Trutz", d. h. fordert sie zum Kampfe heraus.
In täuschender Ruhe wie im wildesten Sturme bedroht sie ihre Küsten
Liliencron: Trutz, Blanke Hans.
137
und Inseln. Sie verachtet und rächt die Drohung geballter Fäuste wie
den Spott, der sie „Nordseeteich" schilt, durch plötzliche Ausbrüche rau-
schender, schwarzer, langmähniger Wogen, die gleich rasenden Rossen ge-
flogen kommen und alles in die Tiefe reißen. Einem Raubtier auf dem
Sprunge, einem Ungeheuer in der Tiefe des Atlantischen Ozeans von
England bis Brasilien gleichen die Wasser der Nordsee, einem sechsstün-
digen Ein- und Ausatmen seine Ebbe und Flut. Diese Raubtiernatur der
Nordsee deutet die Überschrift der Ballade an, die sich als Refrain bei jeder
Strophe wiederholt. Laßt uns hören, wie der Dichter den trutzigen
blanken Hans in der Ruhe und im Wüten schildert:
1. Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schüttelte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans.
2. Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln in Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möve zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich aus sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans.
3. Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht sechs Stunden den Atem nach innen
und treibt ihn sechs Stunden wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans.
4. Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tief Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans.
5. Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.
6. Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehen am Abend hinaus auf den Deich:
„Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordfeeteich!"
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.
138
II. Epische Dichtungen.
7. Die Wasser ebben, die Vögel rnhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, Blanke Hans.
8. Und überall Friede, im Meer, in den Landen. —
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans.
9. Ein einziger Schrei — die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch. —
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?
II. Lagebild. 1. Die Nordsee an der friesischen Küste 1277.
Es ist Abend an der friesischen Küste in der reichen Stadt Rungholt.
Volle Kornspeicher und prunkvolle Paläste bezeugen den Reichtum der
Stadt. Ein Menschenstrom flutet durch die Straßen. Hier lärmt ein
Haufen Müßiggänger, dort zanken sich Betrunkene. Braune Syrer und
schwarze Mohren mit Goldblech und anderem Schmuck in Nasen und
Ohren tragen in Sänften die Herren und Damen hinaus auf den Deich
(Schutzdamm), an den die Wellen der Nordsee leise schlagen. Es ist Ebbe,
und die Meerslut weicht langsam zurück. Die Wasservögel schweigen und
ruhen- Der Mond zieht gelassen seine Bahn und belächelt das protzige
Menschentreiben. Manche ballen die Fäuste, spötteln über die Ohnmacht
der Wellen und fordern sie mit einem „Trutz, Blanker Hans" zu einer
Kraftüußerung heraus. Aber wie geschliffener Stahl, der müßig in der
Scheide schläft, liegt der Ozean von Brasiliens Sandküste bis zu Nor-
wegens Felsenriffen ruhig da. Doch in der Tiefe schläft ein Ungeheuer,
ein riesiger Krake (Kopffüßer mit vier meterlangen Fangarmen). Jetzt
scheint sich das Ungeheuer zu wälzen, wie ein gefesseltes Raubtier einen
Wutschrei auszustoßen und dann wieder einzuschlafen. Doch nur minuten-
lang! Plötzlich rauscht's und braust's in der Tiefe. Aus der empörten
See brechen wie rasende Rosse mit langen Mähnen die schwarzen Wogen
und ziehen alles im tollen Wirbelsturm in den Abgrund. Ein Entsetzens-
schrei von Tausenden, und versunken ist die Stadt!
2. Der Dichter auf der See über der untergegangenen
Stadt Rungholt. Im Dampfer fährt der Dichter über die Stätte,
wo vor mehr als 600 Jahren die Stadt Rungholt stand- Wie damals
schlugen die Wellen der Nordsee wild gegen den Schiffsleib, als sie die
fruchtbaren Marschen verschlangen. Die Maschine des Dampfers ächzte
und stöhnte. Aus den Wassern aber höhnte es unheimlich: Trutz bietet
Liliencron: Trutz, Blanke Hans.
139
der Blanke Hans auch solchem Schiffsbau vou Menschenhand. Durch das
Wattenmeer vom Festlande geschieden, liegen friedlich die Küste entlang
die friesischen Inseln und die kleinen Halligen. Sie sind Zeugen von
der vernichtenden Wut der Nordsee, dieser Mordsee. Doch der Trutz des
Blanken Hans scheint sich gemildert zu haben, denn immer breiter wird
das Wattenmeer, über dem immer zahlreicher die Möwen um Futter
und Nistplätze zanken. Immer mehr weicht die Flut von den Halligen
zurück. Jmtner mehr heben sich aus der Flut sandige Platten, auf denen
sich Seehunde sonnen. Immer fester baut der zähe Friese die schützenden
Erdwälle, Deiche genannt, gegen die gierigen Anläufe der Mordsee.
Immer ohnmächtiger prallt die gewaltige Flut von den starken Bollwerken
der Menschenhand ab. Der Dichter setzt darum den Refrain „Trutz, Blanke
Hans" in Fragesorm. Das soll heißen: Kannst du den schützenden Riesen-
werken der Menschen noch Trutz bieten, Blanker Hans? Möchtest du
ausgetrotzt haben!
III. Gedankengang. Str. 1. Der Dichter fährt im Dampfer über
die Stätte, wo vor 600 Jahren die Stadt Rungholt unterging. Er hört
aus dem Schüttern des Dampfers die unheimliche Drohung des „Blan-
ken Hans": Auch dir biete ich Trutz!
Str. 2. Die friesischen Inseln und besonders die Halligen sind Zeugen
von der vernichtenden Wut der Nordsee. Aber die Flut weicht zurück,
das Wattenmeer wird breiter und sandige Platten treten zutage. Der
Trutz des Blanken Hans ist weniger bedrohlich.
Str. 3. Die Tücke der Nordsee vergleicht der Dichter mit einem
Meerungeheuer, das im Atlantischen Ozean von Brasiliens Sand bis
Englands Strand reicht und in der sechsstündigen Ebbe und der sechs-
stündigen Flut gleichsam ein- und ausatmet und die angrenzenden Län-
der bedroht.
Str. 4. Einmal in jedem Jahrhundert stößt das Untier aus seinen
Kiemen gewaltige Wassermassen und verschlingt Länder, Städte und
Menschen. Eine stete Drohung mit Unheil ist der Blanke Hans, auch
wenn er schläft.
Str. 5. Rungholt war eine reiche, üppige Stadt. Die Herausfor-
derung des Blanken Hans achtete sie nicht.
Str. 6. Ja, lose Leute, betrunkene Massen, genußsüchtige Müßig-
gänger verhöhnten den Blanken Hans und boten ihm Trutz. Sie machten
ihm eine Faust und schimpften ihn „Teich". Sie merkten nicht, lote der
Riesenkrake im Schlamme die Krallen spannte.
Str. 7. Tiefer Friede ruht auf den Wassern. Sie glänzen wie ge-
schliffener Stahl. Nur leise atmen sie, und es ist, als ob Gott mit den
leisesten Schuhen über das Wasser ginge.
Str. 8. Da plötzlich in den Frieden der Wutschrei eines gefesselten
Raubtiers! Und aus schwarzer Tiefe brechen wie rasende Rosse die brau-
senden, langmähnigen Wogen. Das ist: Trutz, Blanke Hans.
Str. 9. Ein einziger Schrei, und die Stadt ist versunken und mit
ihr Tausende! Gestern Lärm, heute Stille, gestern Festgelage, heute
140 II. Epische Dichtungen.
Leichenschmaus der Fische; gestern eine blühende Stadt, heute weite,
tiefe See.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Erzähle von dem Leben in Rung-
holt und von ihrem Untergänge! 2. Wie sind die Halligen Zeugen der
weltvernichtenden Nordseewut? 3. Woran merkt man, daß die Schutz-
bauten den Trutz des Blanken Hans bändigen? 4. Welche verschieden-
artige Bedeutung hat der Refrain: Trutz, Blanke Hans? 5. Wie ist
die verheerende Wasserwut der Nordsee mit einem Ungeheuer in der Tiefe
des Atlantischen Ozeans zwischen Brasilien und Norwegen verglichen?
6. Welche kühnen Bilder und Vergleiche hat die Ballade? k.
64. Schwert und Pflug.
Wolfgang Müller. Gedichte. Frankfurt a. M. 1847. S. 196.
1. Einst war ein Graf, so geht die
Mär',
der fühlte, daß er sterbe;
die beiden Söhne rief er her,
zu teilen Hab' und Erbe.
2. Nach einem Pflug, nach einem
Schwert
rief da der alte Degen;
das brachten ihm die Söhne wert,
da gab er seinen Segen.
3. „Mein erster Sohn, mein stärkster
Sproß,
du sollst das Schwert behalten,
die Berge mit dem stolzen Schloß,
und aller Ehren walten.
4. Doch dir, nicht minder liebes Kind,
dir sei der Pflug gegeben;
im Tal, wo stille Hütten sind,
dort magst du friedlich leben."
5. So starb der lebensmüde Greis,
als er sein Gut vergeben;
die Söhne hielten sein Geheiß
treu durch ihr ganzes Leben. —
6. Doch sprecht, was ward denn aus
dem Stahl,
dem Schlosse und dem Krieger?
Was ward denn aus dem stillen
Tal
und aus dem schwachen Pflüger?
7. O fragt nicht nach der Sage Ziel!
Euch künden's rings die Gauen:
Der Berg ist wüst, das Schloß zer-
fiel,
das Schwert ist längst zerhauen.
8. Doch liegt das Tal voll Herrlichkeit
im lichten Sonnenschimmer;
da wächst und reift es weit und
breit:
man ehrt den Pflug noch immer.
I. Vorbereitung. Diese kleine epische Dichtung zerfällt in drei Ab-
schnitte: 1. Die Erzählung der Sage in Str. 1—5. 2. Die Frage der
Zuhörer nach Schluß, Ende und Ziel der Sage in der 6. Strophe.
3. Antwort des Dichters hierauf in Str. 7 und 8. Zweckfördernd wird
es sein, wenn der Lehrer daher Str. 1—5 von einem Schüler, Str. 6
im Choc und Str. 7 und 8 abermals von einem einzelnen Schüler lesen
läßt. Ebenso dürfte, nachdem die Schüler das Gedicht genau auswendig
gelernt haben, beim Vortrage desselben zu verfahren sein.
II. Vermittlung. Str. 1. 1. lar = Sage. 2. „Zu teilen Hab'
und Erbe" entspricht dem heutigen Testamentmachen. Str. 2:1. Pflug
und Schwert sind die Symbole von Landbau und Rittertum. 2. Alter
Degen — ber greise Ritter. Str. 3. 1. Stärkster Sproßt der am Leibe
größte und kräftigste Sohn. 2. Du sollst das Schwert, d. i. die Re-
gierung, die Grafschaft, den Rittersitz erhalten, dazu auch Berg und Wald
Heine: Belsazer.
141
zur Jagd. Str. 4. 1. Dir, nicht minder liebes Kind — dir, dem zweiten,
kleineren und schwächlicheren Sohn, den ich ebenso herzlich und aufrichtig
liebe wie deinen älteren Bruder, dir sei der Pflug, die Bewirtschaftung
der Äcker und Wiesen, übergeben. 2. Wo stille Hütten sind = wo die
Landbebauer und Feldarbeiter wohnen. Str. 5. Die Brüder waren ge-
horsam, mit ihrem erhaltenen Erbe zufrieden und vertrugen und liebten
sich treu bis zum Tode. Str. 6. Stahl für Schwert und Rittertum,
stilles Tal für Landbau oder Landwirtschaft. Str. 7. „Ich brauche
es euch nicht zu erzählen" — meint der Dichter. Wald und Berg sind
wüst und öd, das Schloß ist zur Ruine, das Schwert durch die Erfindung
des Schießpulvers und der Schußwaffen unbrauchbar geworden, und
Ritterschaft und Rittertum sind längst entschwunden. Str. 8. Doch die
fruchtbare Au, das stille Tal mit seinen Feldern und Wiesen, prangt
mehr denn je in üppiger Herrlichkeit, und der Stand der Landwirte und
Landbebauer ist jetzt mehr geehrt denn je.
III. Vertiefung. 1. Grundgedanken, a) Dem ältesten Sohne
ward bei der Erbschaft das für die damalige Zeit bessere, dem jüngeren
das geringere Los zuteil, d) Im Lichte der Zukunft, also der heutigen
Zeit, war das Erbe des ältesten Sohnes nur ein vergängliches Scheingut,
das Erbe des zweiten aber ein wirkliches Gut von steter Dauer und stei-
gendem Werte, c) Nicht Glanz und Schimmer, sondern Einfachheit, nicht
Lust, sondern Arbeit, nicht eigensüchtige Ausübung der Macht, sondern
selbstloser Dienst zum Besten der Menschheit haben Dauer und Wert.
2. Verwandtes, a) Sprichwörter: aa) Es ist nicht alles Gold,
was glänzt, bb) Wer zuletzt lacht, lacht am besten, b) Dichtungen:
aa) „Das Riesenspielzeug" von Chamisso: „Burg Niedeck ist im Elsaß
der Sage wohlbekannt", bb) „An der Saale Hellem Strande stehen Bur-
gen stolz und kühn" usw. von Franz Kugler. R. D.
2. Historische Dichtungen.
t»3. A. Belsazer.*)
Heinrich Heine, Buch der Lieder. Hamburg 1875. S. 63.
1. Die Mitternacht zog näher schon; 2. Nur oben in des Königs Schloß,
in stiller Ruh'**) lag Babylon. da flackert's, da lärmt des Königs
Troß usw.
(Das Gedicht findet sich in fast allen Lesebüchern.)
I. Geschichtliches. Der Stoff, welcher dem Gedichte zugrunde liegt,
findet sich im 5. Kapitel des Daniel, welches beginnt: König Belsazer
machte ein herrlich Mahl seinen tausend Gewaltigen und soff sich voll
mit ihnen usw.
II. Vermittlung und Erläuterung des Inhalts. 1. D a s F e st m a h l.
Zuerst (Str. 1) schildert der Dichter die Zeit, in welcher das Mahl statt-
*) In der Ausgabe des Buches der Lieder von 1849 lautet die Über-
schrift: „Belsazar". — **) In der Ausgabe 1849: In stummer Nuh.
142
II. Epische Dichtungen.
fand: „Die Mitternacht zog näher schon"; also schon lange hatte das
Mahl gedauert, und die Hauptstadt des Reichs, Babylon, lag in Ruhe.
Nur oben in des Königs Schloß war noch wildes Toben (Str. 2). Hier-
mit zeigt uns der Dichter den Ort des Mahles. Es war das Schloß
des Königs, welches hoch über die Häuser der ungeheuren Weltstadt hin-
wegragte. Dieses Schloß wird uns folgendermaßen geschildert: „Die
Königsburg in Babel stand auf dem Westnfer des Euphrat, bei dem
heutigen Flecken Hillah. Eine hohe Mauer aus gebrannten Ziegeln, IV2
Meile int Umfange, umgab diesen Palast. Eine zweite Mauer aus ge-
trockneten Ziegeln folgte, welche nur eine Meile lang war, aber zu einer
Höhe von 300 Fuß emporstieg. Sie war mit Steinplatten belegt, aus
welchen die verschiedenartigsten Tiere in halb erhabener Arbeit gebildet
und mit bunten Farben nach dem Leben kunstreich bemalt waren. End-
lich folgten hinter einer dritten Mauer die Palastgebäude, welche einen
Umfang von einer halben Meile ausfüllten. Hier waren Wände, Mauern
und Türme mit Bildern lebender Wesen in der mannigfachsten Art bedeckt,
besonders war hier eine große Jagd dargestellt. Die Figuren der Tiere
waren höher als 4 Ellen: man sah den König, der mit der Lanze einen
Löwen durchbohrte, und die Königin, welche vom Rosse den Wurfspieß
auf einen Panther schleuderte." — Die 4. und 5. Strophe beschreiben
uns weiter, wie das Mahl gefeiert wurde. Die obersten Diener des
Königs, die Gewaltigen des Reichs, nennt der Dichter wiederholt die
Knechte: „Daß er sie gerade so und wiederholt so bezeichnet," sagt Krie-
bitzsch, „darin werden wir die Bedeutung zu erkennen haben, daß es
niedrige Sklavenseelen waren," die alles taten, mochte es gut sein oder
böse, was der despotische König wollte. Sie „saßen in schimmernden
Reih'n", also köstlich gekleidet, „sie leerten die Becher mit funkelndem
Wein", d. h. wie Daniel sagt, „sie soffen sich voll"; sie jauchzten (Str. 5)
und brüllten dem Könige Beifall, und das alles klang so „dem störrigen
Könige", der dem göttlichen Gebote widerstrebte, recht.
Wunderschön hat der Dichter in den wenigen Worten dieses Mahl
geschildert, und wirksam sind die Gegensätze, welche darin vorkommen:
„die wilde, tobende Lust in der Königsburg und die stille Mitternacht,
die ernst wie das Gottesgericht heranschreitet; die in stiller Ruh' da-
liegenden dunkeln Häuser der Stadt und die glänzend erleuchteten
Fenster des Schlosses, das allein aus dem Dunkel hervorleuchtet." (Gude.)
2. Des Königs Frevel. Zunächst schildert der Dichter des Königs
Charakter. Nachdem er ihn schon in der vorigen Strophe störrig,
d. h. verstockt und gegen das göttliche Gebot widersetzlich, genannt hat,
zeigt er in Str. 6, wie der Wein in ihm wirkt: seine „Wangen leuchten
Glut", und sein kecker Mut, d. h. sein böser Sinn, wächst ihm in der
Trunkenheit. In der 7. Strophe steigert sich dieser kecke Mut noch
mehr; denn „blindlings" reißt er ihn fort, ohne jegliche Überlegung spricht
er die Gotteslästerung aus. Ja, als er sich mit seiner Lästerung (Str. 8)
frech brüstet (brüsten — sich breit, groß machen, in die Brust werfen),
da brüllt ihm die Knechteschar ihren Beifall. So zeigt uns der Dichter
Heine: Belsazer.
143
den König als einen frechen, rohen Menschen, der „alle Würde von
sich wirft, Gottes Arme und der Stimme der Wahrheit Trotz bietet und
den Gesetzen der Wohlanständigkeit zuwiderhandelt". (Kriebitzsch.) Stolz
gebietet er, als nochmals sein königliches Bewußtsein erwacht (Str. 9),
und rasch wird von dem Knechte der Befehl ausgeführt. Und welcher
Befehl war es? Das sagt die folgende (10.) Strophe. Er sollte das
güldene Gerät holen, welches Nebukadnezar, der Vater des Belsazer,
aus dem Tempel zu Jerusalem geraubt hatte. Aus diesen heiligen Ge-
fäßen (Str. 11) trinkt der König mit seinen Knechten und Weibern: das
war, nach der Bibel, der Frevel. Aber die Sache geht noch weiter,
indem der König (Str. 12 und 13) beim Leeren des heiligen Bechers
auch noch gottlose Worte des Hohnes und Trotzes ansspricht. So schreitet
dieser Abschnitt in steter Steigerung und Hast bis zu dem Höhepunkte des
Ganzen fort. Dieser Höhepunkt aber ist das Wort des aller königlichen
Würde entblößten Belsazer:
„Jehova, dir künd' ich auf ewig Hohn; ich bin der König von Babylon."
3. Das Gottesgericht oder die Rache des Himmels. So graus
(Grausen erregend) war das Wort, daß es dem verstockten Könige über
den ungeheuren Frevel selbst angst und bange wurde. Und diese Bangig-
keit, die den König nur „heimlich im Busen" überkam, sie teilte sich
sofort der wilden Tischgesellschaft mit, daß diese (Str. 15) in Schrecken
gerät und das Lärmen einstellt, so daß es plötzlich totenstill im Saale
wird. —
Des Königs Bangigkeit hat aber auch einen äußeren Grund, wie
wir ihn in der 16. und 17. Strophe lesen:
„Und sieh! und sieh! an weißer Wand, da kam's hervor wie Menschenhand" usw.
„Von großer Wirkung", sagt Gude, „sind in diesen beiden Strophen
die Wiederholungen desselben Wortes (und sieh! und sieh! und schrieb
und schrieb), wodurch die Bangigkeit der Erwartung, die Beklemmung
der Schauenden und das allmähliche Entstehen der Schrift trefflich dar-
gestellt wird."
In der 18. und 19. Str. ist der Eindruck, welchen das Erscheinen
der schreibenden Hand hervorbringt, noch besonders geschildert: Der
König, dessen Wangen vorher „Glut leuchteten", der mit keckem und
frechem Sinne Jehovah Hohn sprach, er wird totenblaß; sein Blick ist
stier ans die Schrift hingerichtet, und seine Knie schlottern. Welcher
ergreifende Gegensatz zu dem Vorausgehenden! Einen gleichen Gegensatz
bildet das Benehmen der Knechte in der 19. Strophe zu dem Gebaren
im ersten Abschnitte.
Str. 20. Der König läßt die Magier (die Weisen, die Wahrsager)
rufen, damit sie ihm die geheimnisvolle Schrift deuten, aber keiner ver-
stand sie. Während Daniel Kap. 5 noch gesagt wird, daß der Prophet
Daniel selbst die Deutung gab, läßt der Dichter diesen Punkt ganz un-
beachtet und erzählt nur noch in der 21. Strophe, daß Belsazer in der-
selbigen Nacht von seinen eigenen Knechten umgebracht wurde.
144
II. Epische Dichtungen.
Der König hatte die Bedeutung der Schrift nicht verstanden, aber
das Verständnis ist ihm vielleicht gekommen, als er den Todesstoß erhielt;
und da mag er denselben Gedanken gehabt haben, den jeder aufmerksame
Leser des Gedichtes empfindet: „Irret euch nicht, Gott läßt sich
nicht spotten."
III. Vergleichung: a) mit der Quelle: Daniel 5; b) mit Uhlands'
„Glück von Edenhall".
B. Das Glück von Gdenhall.
Uhland, Gedichte und Dramen. 1863. II, 251.
I. Von Edenhall der junge Lord läßt schmettern Festtrommetenschall;
er hebt sich an des Tisches Bord und ruft in trunkner Gäste Schwall: „Nun
her mit dem Glücke von Cdenhall!"
2. Der Schenk vernimmt ungern den Spruch, des Hauses ältester Vasall,
nimmt zögernd aus dem seidnen Tuch das hohe Trinkglas von Kristall; sie
nennen's das Glück von Edenhall.
3. Darauf der Lord: „Dem Glas zum Preis schenk' Roten ein aus Por-
tugal!" Mit Händezittern gießt der Greis, und purpurn Licht wird überall;
es strahlt aus dem Glück von Edenhall!
4. Da spricht der Lord und schwingt's dabei: „Dies Glas von leuch-
tendem Kristall gab meinem Ahn am Quell die Fei; drein schrieb sie: Kommt
dies Glas zu Fall, fahr' wohl dann, o Glück von Edenhall!
5. Ein Kelchglas ward zum Los mit Fug dem freud'gen Stamm von
Edenhall; wir schlürfen gern in vollem Zug, wir läuten gern mit lautem
Schall. Stoßt an mit dem Glücke von Edenhall!"
6. Erst klingt es milde, tief und voll, gleich dem Gesang der Nachtigall,
dann wie des Waldstroms laut Geröll; zuletzt erdröhnt wie Donnerhall das
herrliche Glück von Edenhall.
7. „Zum Horte nimmt ein kühn Geschlecht sich den zerbrechlichen Kristall;
er dauert länger schon als recht; stoßt an! Mit diesem kräft'gen Prall ver-
such' ich das Glück von Edenhall."
8. Und als das Trinkglas gellend springt, springt das Gewölb' mit
jähem Knall, und aus dem Riß die Flamme dringt; die Gäste sind zerstoben
all' mit dem brechenden Glücke von Edenhall.
9. Einstürmt der Feind mit Brand und Mord, der in der Nacht erstieg
den Wall; vom Schwerte fällt der junge Lord, hält in der Hand noch den
Kristall, das zersprungene Glück von Edenhall.
10. Am Morgen irrt der Schenk allein, der Greis, in der zerstörten
Hall'; er sucht des Herrn verbrannt Gebein, er sucht im grausen Trümmer-
fall die Scherben des Glücks von Edenhall.
II. „Die Steinwand" — spricht er — „springt zu Stück, die hohe Säule
muß zu Fall, Glas ist der Erde Stolz und Glück, in Splitter fällt der Erden-
ball einst, gleich dem Glücke von Edenhall."
I. Ähnlichkeiten, a) Beide Gedichte sind Balladen und berichten
von Freveltaten, die der Himmel sofort rächt. Sie lehren uns also, daß
Gott sich nicht spotten läßt, oder sie warnen, wie es Schiller im „Taucher"
tut: „Der Mensch versuche die Götter nicht." b) In beiden Gedichten
besteht die Freveltat in einem Mißbrauch von geheiligten Gefäßen, die
Strafe in dem plötzlichen Tode der Frevler, c) Beide Gedichte erzählen,
Simrock: Drusus' Tod.
145
daß die Freveltat bei glänzendem Gastmahle im Hause der Frevler ge-
schehen ist. Z) Die Gastmähler dauerten in beiden Gedichten bis in die
späte Nacht hinein, e) Die Hauptpersonen begingen den Frevel im
trunkenen Zustande und lassen die geheiligten Gesäße erst während der
Mahlzeit herbeibringen, f) Der Bestrafung der Frevler geht eine er-
schütternde Warnung vorauf.
II. Verschiedenheiten, a) Der Schauplatz in A ist die alte
Stadt Babylon, in B die Stammburg eines englischen Lords, b) Bel-
sazer lebte ca. 500 Jahre v. Chr.; über die Lebenszeit des Lords ist nichts
gesagt, o) Belsazer hatte nur seine Knechte, d. h. seine obersten Diener
und Beamten, der Lord von Edenhall aber Gäste zu seinem Mahl ge-
laden, die ihm nicht untergeben waren, ä) In A wird das Mahl genauer
beschrieben, in B davon nichts weiter erwähnt, als daß die Festtrompeten
erklangen und die Gäste am Tische saßen. 6) Belsazer läßt sich viele
güldene Gefäße, welche im Tempel Jehovahs geraubt waren, bringen; das
Heiligtum des Lords dagegen ist ein Trinkglas von Kristall, welches
einer seiner Vorfahren von einer Fee zum Geschenk erhalten hat. I) In
B ist an den Verlust des Glases eine bestimmte Weissagung geknüpft,
in A nicht, g) Während Belsazer die Gottheit lästert, versucht der Lord,
ob die Weissagung der Fee in Erfüllung gehen wird, h) Bei B ge-
schieht die Warnung vor der Freveltat, bei A wird sie erst nach der
Schandtat durch die unerklärliche Schrift an der weißen Wand mitgeteilt.
1) Erzählt uns Heine nur in wenig Worten, daß Belsazer zu Tode ge-
kommen ist, ohne uns die näheren Umstände anzugeben, so schildert
Uhland den Untergang des Lords ausführlich: erst das Ausbrechen der
Flammen im Schlosse, dann das Stürmen des Schlosses durch den Feind
und endlich den Tod des Lords durch das Schwert, k) Neben der ge-
meinsamen Lehre: Gott läßt sich nicht spotten! predigt das „Glück von
Edenhall" noch besonders den Satz: „Alles ist eitel!" oder, wie es der
Schenk in der letzten Strophe ausdrückt: „Glas ist der Erde Stolz und
Glück" usw. I) Beide Gedichte sind in jambisch-anapästischen Versen mit
männlichen Reimen geschrieben, aber A hat zweizeilige und B sünfzeilige
Strophen; letzteres ziert der flüssige Kehrreim. W. D.
66. Drusus' Tod. (9 v. Chr.)
Karl Simrock, Gedichte. Neue Auswahl. Stuttgart 1863. S. 147.
I. Vorbereitung. Drusus, der Stieffohn des römischen Kaisers
Augustus, ein kühner und ehrgeiziger junger Mann, suchte von Gallien
aus das deutsche Land östlich vom Rheine zu erobern. Die Rheingrenze
befestigte er durch 50 Burgen und unternahm vier rasche, siegreiche Züge
in das Innere Deutschlands. Durch Anlegung eines Kanals und mehrerer
Kastelle oder Festungen (z. B. Aliso in Westfalen) suchte er festen Fuß
in Deutschland zu fassen. In den deutschen Wäldern (Forsten) schimmerten
die goldnen Adler (Feldzeichen) der Römer; sie schienen hier bleiben und
horsten, d. h. wie Raubvögel Nester bauen zu wollen. Manche ge-
146
II. Epische Dichtungen.
weihte Eiche in den heiligen Hainen wurde von den Äxten der Römer
gefällt. Mit Jngrimin sahen die Deutschen diese frevelhafte Entweihung
ihrer Heiligtümer. — Auf seinem vierten Zuge gelangte Drusus bis an
das Ufer der Elbe (im Gedichte: Weser) und sah jenseits derselben die
Marken oder Grenzländer der deutschen Gaue (abgegrenzte Landgebiete).
Da stand plötzlich ihm gegenüber eine riesige Alrune oder Seherin, deren
Wuchs über die menschliche Größe hinausging, und deren Gesichtsausdruck
eine überirdische Begeisterung widerstrahlte. Sie erhob die Hand und rief
ihm drohend zu: „Kehre um, Unersättlicher, deines Lebens und deiner
Taten Ende ist nahe!" Sei es, daß Drusus nach Art der Römer viel
auf Vorzeichen gab, sei es, daß er ein weiteres Vordringen für nutzlos
und gefährlich hielt, er trat mit seinem Heere den Rückmarsch nach dem
Rheine an; — aber nur seine Leiche kam wieder nach dem Standquartier
Mainz! Der Rückzug wurde von den Deutschen beunruhigt, und seine
erregte Phantasie übertrieb die Gefahren. Durch die Blätter sah er
Waffen flirren (zitternde Lichtblitze schießen), hörte sie k l i r r e n d gegen-
einander schlagen und vernahm das Sausen der Wurfspeere. Weil sein
Geist mit allerlei schreckhaften Gebilden beschäftigt war, so achtete er
wenig des Weges. Sein Roß strauchelte, stürzte mit ihm zu Boden und
zerbrach ihm einen Schenkel. Nach einem Siechtum von dreißig Tagen
starb er, ein warnendes Beispiel für alle, die der deutschen Freiheit nach-
stellen, d. h. ihr Fallen stellen und Gruben graben. Gott wird sie
fällen, d. h. zu Falle bringen und vernichten. Diese historischen und
sagenhaften Tatsachen hat Karl Simrock (nach den Berichten der römischen
Geschichtsschreiber Dio Cassius und Livius) mit seinem feinen Ver-
ständnis für das deutsche Altertum zu einem warmen patriotischen Gedichte
umgeschaffen. (Vortrag.)
1. Drusus ließ in Deutschlands Forsten goldne Römeradler horsten; an
den heil'gen Göttereichen klang die Axt mit frevlen Streichen.
2. Siegend fuhr er durch die Lande, stand schon an der Weser Strande,
wollt' hinüber jetzt verwegen, als ein Weib ihm trat entgegen.
3. übermenschlich von Gebärde, drohte sie dem Sohn der Erde: „Kühner,
den der Ehrgeiz blendet, schnell zur Flucht den Fuß gewendet!
4. Jene Marken unsrer Gauen sind dir nicht vergönnt zu schauen, stehst
am Markstein deines Lebens, deine Siege sind vergebens.
5. Säumt der Deutsche gerne lange, nimmer beugt er sich dem Zwange;
schlummernd mag er wohl sich strecken, schläft er, wird ein Gott ihn wecken."
6. Drusus, da sie so gesprochen, eilends ist er aufgebrochen; aus den
Schauern deutscher Haine führt er schnell das Heer zum Rheine.
7. Vor den Augen sieht er's flirren, deutsche Waffen hört er klirren,
sausen hört er die Geschosse, stürzt zu Boden mit dem Rosse;
8. Hat den Schenkel arg zerschlagen, starb den Tod nach dreißig Tagen.
Also wird Gott alle fällen, die nach Deutschlands Freiheit stellen.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Im Sommer des Jahres 9
v. Chr. am linken Ufer der Elbe (Weser). Ans folgenden Momenten ist
ein Situationsgemälde zu zeichnen: Der breite, rauschende Strom. Drüben
auf dem rechten Ufer eine riesige Alrune mit drohend erhobener Hand
Siinrock: Drusus' Tod. 147
und begeisterten Blicken. Hüben Drusus hoch zu Roß; um ihn seine
Legionen zu Roß und zu Fuß mit ihren goldenen Adlern und ihren
Waffen: Schilden, Schwertern und Speeren; hinter ihm dunkle, weite
Wälder.
2. Charakter des Drusus. Beweise, daß Drusus ehrgeizig,
kühn, verwegen, sieg reich, erschreckt, innerlich beunruhigt,
verunglückt, ein warnendes Beispiel für ehrgeizige Eroberer war!
3. Gedankengang. Str. 1: Die Römer fassen Fuß in Deutsch-
land und verletzen die Gefühle der Deutschen. Str. 2: Drusus dringt
siegreich bis an die Elbe vor. Str. 3: Eine riesenhafte Seherin mahnt
ihn zur Flucht. Str. 4: Sie weissagt ihm einen baldigen Tod. Str. 5:
Sie droht mit dem Erwachen der säuniigen Deutschen. Str. 6: Drusus
tritt den Rückzug an. Str. 7: Er wird durch deutsche Angriffe und seine
erregte Phantasie beunruhigt. Str. 8: Er stirbt infolge eines Sturzes,
ein warnendes Beispiel für die Feinde der deutschen Freiheit.
Grundgedanke: Also wird Gott alle fallen, die nach Deutschlands
Freiheit stellen! — Die Unterdrückung der Freiheit eines Volkes und die
Entweihung seiner Heiligtümer weckt den Unwillen, den Widerstand und
die Tatkraft einer Nation und endet meist mit dein Untergange des Unter-
drückers. In Drusus zeichnet der Dichter den Eroberer Napoleon I.
in seinem Übermute, seinen Siegen und Zügen, seinen Niederlagen und
seinem Untergange.
4. Eigentümliches. Recht packend wirken in dem Gedichte die
Wortspiele und Gegensätze: Die Adler, welche in den deutschen
Wäldern horsten, und die römischen Heerzeichen (goldene Adler), die in
Deutschland bleiben möchten. Die heiligen Eichen und die frevelhaften
(mutwilligen) Axtschläge. Der siegreiche Feldherr mit dem bewaffneten
Heere aus dem linken — und das waffenlose Weib mit dem begeisterten
Worte auf dem rechten User. Sie — übermenschlich von Gebärde und
gottbegeistert, — er ein Sohn der Erde, d. h. hinfällig und sterblich.
Siegend fährt er-durch die Lande, — schnell wendet er den Fuß zur
Flucht. An den deutschen Marken, — steht er am Markstein (Ende, Ziele)
seines Lebens. Säumen, Schlummern und Schlafen der Deutschen —
das furchtbare Erwachen. Das Flirren, Klirren und Sausen der Waffen,
— das stolpernde und stürzende Roß des Feldherrn. Die unheimlichen
Lebensäußerungen der Deutschen in den Schauern ihrer düstern Wälder,
■— die unheimlichen Gedanken und Phantasien des Feldherrn. Das listige
Fallenstellen der deutschen Feinde, — und das gewaltsame Fällen (Nieder-
werfen und Vernichten) dieser Widersacher.
Der vierfüßige Trochäus, die glatten, weiblichen Reime und die
kernige, kurze, fast aphoristische Sprache geben dem Gedichte etwas Feier-
liches, Festes, Zermalmendes.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. „Von Erde bist du ge-
nommen; zu Erde sollst du wieder werden!" — Glück und Glas, wie
bald bricht das! Jugend und Schönheit, Macht und Glück ist wandelbar
nnd vergänglich wie alles ans Erden. — „Ich lebe, weiß nicht wie lang;
10*
148
II. Epische Dichtungen.
ich sterbe, weiß nicht wann; ich fahre, weiß nicht wohin; mich wundert,
daß ich so fröhlich bin!" — Der Deutsche läßt sich viel gefallen, ehe er
sich aus seiner Ruhe bringen läßt. Im leichten Schlummer, ja im festen
Schlafe streckt und dehnt er sich behaglich und vergißt oft der Wachsam-
keit; blind und sicher bemerkt er die Gefahren nicht, die ihn umdrohen.
Wagen aber die Feinde, seine Freiheit zu unterdrücken und seine Heilig-
tümer zu schänden, dann weckt ihn Gott selbst durch besondere Zeichen,
und dann weiß er kräftig und nachhaltig seine Nationalgüter zu verteidi-
gen. Wehe dann den Feinden!
2. Anklänge an Verwandtes. „Morgenrot, leuchtest mir zum
frühen Tod?" — Napoleon I. und Napoleon III. — Volkserhebungen.
— Varus im Teutoburger Walde. — Das Mene Tekel des Belsazer
in Babylon.
3. Rede-und Stilübungen, a) Was bedeuten die Ausdrücke:
Forsten, Römeradler, horsten, Göttereichen, frevle Streiche, Strand, ver-
wegen, übermenschlich, Gebärde, Sohn der Erde, Marken, Gauen, vergeb-
liche Siege, schlummern und schlafen, säumen, Zwang, Schauer, Hain,
flirren und klirren, Geschosse, Schenkel, fällen, nachstellen? — b) Der
kranke Drusus erzählt seinem herbeigeeilten Bruder Tiberius sein Geschick!
o) Vergleiche Drusus und sein Geschick mit Napoleon und seinem Schicksal!
P.
67. Das Grab im Busento.
Aug. Graf v. Platen-Hallermünde. Gesammelte Werke. Stuttgart 1848. I, 132.
1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder:
Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder usw.
(Das Gedicht findet sich in allen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung. Alarich, der kühne, siegreiche Gotenkönig, starb,
nachdem er zum drittenmal das stolze Rom eingenommen, plötzlich in
seinem 34. Jahre (410) in Cosenza, einer Stadt an dem kleinen Flusse
Busento in Unteritalien. Bei seinem Begräbnis zeigte es sich, wie seine
Goten den Verlust ihres Führers mit großem und aufrichtigem Schmerze
betrauerten. Sie bereiteten ihm ein Grab, wie sie es für einen solchen
Helden als würdig erachteten. Unfern der Stadt Cosenza lenkten sie die
Gewässer des Flusses in ein anderes Bett, das ihre Gefangenen hatten
graben müssen, und begruben dann in dunkler Nacht unter Trauergesängen
den König mit allen seinen Schätzen im alten Bette des Flusses. Nach-
dem das Grab geschlossen, wurde der Fluß wieder in das alte Bett ge-
lenkt. Die unglücklichen Gefangenen, welche das Grab gegraben, tötete
man, damit niemand die Stelle auffinden und das Grab schänden könne.
Dieses Ereignis, welches an sich schon unser Interesse in hohem
Grade zu wecken imstande ist, hat der Dichter zu seiner schönen Ballade
benutzt; in zwei Punkten aber ist er von der Geschichte abgewichen: er
läßt nämlich das Grab nicht von Gefangenen, sondern von Alarichs
tapfern Goten graben und schweigt von der Tötung der Arbeiter.
P late n-Haller münde: Das Grab im Busento.
149
„Jene Abänderung," sagt Lüben, „gewährt ihm den Vorteil, die
Goten in ihrer Liebe zum Helden zeigen zu können; und durch die Weg-
lassung bleibt das Werk der innigsten Liebe und Verehrung ohne den
Flecken, der durch die Ermordung der Arbeiter entsteht."
II. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1 und 2. „In geheim-
nisvoller Weise beginnt das kurze Gedicht mit dem Lispeln der Strow-
gewächse des Busento. Der Dichter, welcher berufen ist zu preisen, was
je auf Erden Hohes und Herrliches geschah, hat auch für das Hohe und
Herrliche ein schärferes Aüge und ein feineres Ohr als die andern Men-
schenkinder." (Gude.) Ihm ist die Sprache des Wassers und der Wasser-
gewächse verständlich; er hört darin den noch heute erklingenden Toten-
gesang der klagenden Goten und die Antwort des von ihnen so sehr ge-
liebten Heldenkönigs. (Schatten — die Seelen der Verstorbenen.)
Str. 3—7. Durch diesen Gesang wird der Dichter an das Ereignis
selbst erinnert, und er erzählt es kurz, aber in wirklicher Anschaulichkeit
wieder. Aus jeder Zeile lesen wir, wie sehr das tapfere Gotenheer seinen
jugendlichen Heldenkönig geliebt und verehrt hat. Jeder will bei seiner
Bestattung mithelfen, jeder will ihm die letzte Ehre erweisen.
Str. 8 und 9. Am Schlüsse hört der Dichter nochmals die dumpfen
Grabgesänge, die zugleich Loblieder auf den Helden sind. Er will sie aber
nicht nur am Grabe hören, sondern er wünscht, daß die Lieder, wie die
Busentowellen, welche sich von Meer zu Meer wälzen, auch in alle Welt
getragen werden. „Und sie sind weiter getragen worden über Land und
Meer durch die stolzen Verse unseres Liedes."
III. Vertiefung. 1. Form uud Sprache. Platen ist ein großer
Meister in der äußeren Form. Das bekundet er auch in dieser Ballade.
Die Strophen des Gedichts haben nur zwei lange, achtfüßige trochäische
Verse, die durch einen Einschnitt nach dem 4. Fuße gegliedert sind. Dieser
Versbau mit diesem „breit und mächtig dahinwallenden Metrum"
entspricht treffend dem ernsten Inhalte. Auch die ruhig dahinschwebenden
milden, reinen, w e ib li ch e u Reime eignen sich trefflich zu der das Gedicht
durchziehenden Wehmut. Ganz besonders passend zu dem Inhalte ist
auch die Kürze des Gedichtes und die schöne, mit vielen Allitera-
tionen (Str. 5 das W, Str. 1 das L, Str. 9 wiederum das W) ge-
schmückte Sprache. Alle Nebenumstände auszunmlen, ist der Phantasie
des Lehrers überlassen, und dadurch wirkt das Geheimnisvolle und Geister-
hafte des ganzen Nachtstücks um so mehr auf unser Gemüt ein.
2. Gliederung. A. Str. 1 und 2: Der Dichter sieht im Geiste
die trauernden Goten und hört, wie sie ihre dumpfen Klagelieder singen.
B. Str. 3—7: Die Schilderung des Begräbnisses. 0. Str. 8 und 9:
Der Dichter hört nochmals die Klagelieder und wünscht, daß sie immerdar
fortklingen mögen in alle Welt.
IV. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben,
a) Das Gedicht preist die Tapferkeit und den Ruhm eines edlen
Königs und zugleich die Liebe und Treu e eines Volkes, b) „Nicht Roß,
nicht Reisige sichern" usw. c) „Wo Lieb' und Treu' sich so dem König
150
II. Epische Dichtungen.
weihen, wo Fürst und Volk sich reichen so die Hand: da muß des Volkes
wahres Glück gedeihen, da blüht und wächst das schöne Vaterland."
2. Rede- und Stilübungen. 1. Das Begräbnis des Ala-
rich. (Ein Gemälde.) Mitten im Flußbett der tote König auf dem Rosse.
Auf beiden Seiten die Goten. Schilderung der Nacht. 2. Vergleichung
des Gedichts von Platen mit dem von Pfizer.
68. A. Gotentreue.
Felix Dahn. Aus: Ein Kampf um Rom. Roman in 4 Bdn. 1876.
1. Erschlagen war mit dem halben Heer
der König der Goten, Theodemer.
2. Die Hennen jauchzten auf blutiger Wal;
Die Geier stießen herab zu Tal.
3. Der Mond schien hell; der Wind pfiff kalt —
die Wölfe heulten im Föhrenwald.
4. Drei Männer ritten durchs Heidegefild,
den Helm zerschroten, zerhackt den Schild.
5. Der erste über dem Sattel quer
trug seines Königs zerbrochenen Speer.
6. Der zweite des Königs Kronhelm trug,
den mitten durch ein Schlachtbeil schlug.
7. Der dritte barg im treuen Arm
ein verhüllt Geheimnis im Mantel warm.
8. So kamen sie an den Jster tief.
Und der erste hielt mit dem Roß und rief:
9. „Ein zerhauner Helm — ein zerhackter Speer —
von dem Reich der Goten blieb nicht mehr!"
10. Und der zweite sprach: „In die Wellen dort
versenkt den traurigen Gotenhort!
11. Dann springen wir nach von dem Uferrand, —
was säumst du, Meister Hildebraud?"
12. „Und tragt ihr des Königs Helm und Speer,—
ihr treuen Gesellen, — ich trage mehr !"
13. Auf schlug er seinen Mantel weich:
„Ich trage der Goten Hort und Reich!
14. Und habt ihr gerettet Speer und Krön', —
ich habe gerettet des Königs Sohn!
15. Erwache, meine Knabe! — Ich grüße dich,
du König der Goten, — Jung Dieterich!"
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Im Jahre 375 schlugen- die
Hunnen oder Hennen, ein kriegerisches Hirten- und Reitervolk aus dem
innern Asien, das tapfere Volk der Goten im östlichen Europa und
unterjochten es auf lange Zeit. (Erst nach Jahren kam es unter König
Theoderich dem Großen, in seiner Jugend Jung Dieterich genannt,
wieder zur vollen Freiheit und höchsten Blüte.) Erschlagen mit der Hälfte
Dahn: Gotentreue.
151
seines Heeres lag der Gotenkönig auf blutiger Wal oder Walstätte. (Das
ist das Schlachtfeld, von dem nach dem Glauben der Germanen die
Walküren oder himmlischen Schlachtenjungfrauen die gefallenen Helden
nach Walhalla hinwegtrugen.) Nur drei gotische Helden, fest und treu,
entrannen dem Gemetzel und retteten auf ihren schnellen Rossen den Hort
(Schutz und Schatz) der Goten, die Kleinode ihres erschlagenen Königs.
Einer von ihnen war des Königs Waffenmeister, der sagenberühmte
H i l d e b r a n d, d. h. Kriegsflamme. Aber es war ein trauriger Ritt durch
die lange Nacht über das weite, eintönige Heide- oder Steppen-
gefilde Ungarns. Die Aas g e i e r zogen kreischend nach dem Leichenfelde
und stießen gierig herab; die Wölfe heulten im Föhren- oder Kiefern-
walde, weil auch sie die Beute auf dem Schlachtfelde witterten. So
kamen die drei Helden an den Jster oder die Donau, als der Tag anbrach.
Was sich hier begab, möge das herrliche Gedicht von Felix Dahn
„Gotentreue" sagen! (Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Eine weite Heide, über die
ein scharfer Wind pfeift, liegt im bleichen Mondesschimmer. Dunkle
Föhrenwälder heben sich von dem helleren Grunde ab. Durch die Lüfte
ziehen mit heiserem Geschrei Aasgeier. In den Föhrenwäldern heulen
hungrige Wölfe. Von fern hört man den wilden Jubel der hunnischen
Sieger, welche die gefallenen Goten auf der Walstätte ausplündern und
schänden. Drei Reiter jagen auf schnellen Rossen über die gefrorene Heide
dahin. Ihre Helme, die metallenen Kopfbedeckungen, sind zerschro-
ten, d. h. grob zerschnitten, zerhauen. Ihre Schilde (die Schutzwaffen
der Hand, meist von Holz, mit Leder überzogen und mit Metall be-
schlagen) sind zerhackt von den Streitäxten der Feinde. Einer trägt quer
über dem Sattel den zerbrochenen Speer des Königs (seine Stoßwaffe
aus langem Eschen- oder Eichenschafte mit scharfer Eisenspitze). Der
zweite hat des Königs Kronhelm (den kronartigen Helm mit dem
Fürstenschmucke), den eine Streitaxt mitten durch gespalten hat. Der
dritte verhüllt warm im Mantel ein schlafendes Kind. In der Ferne
beginnt der Morgen zu grauen, und die breiten Fluten der Donau schim-
mern ihnen entgegen. — Als Zeit ist eine kalte Winternacht des Jahres
375, oder richtiger des Jahres 455, anzunehmen. Das Gedicht verläßt
hier den historischen Boden und webt Geschichte und Sage, Wirklichkeit
und Phantasie ineinander. Die geschilderte Katastrophe, bei der König
Withimer fiel und die Selbständigkeit der Ostgoten verloren ging, fand
375 am Dnjestr statt, etwa 80 Jahre vor der Geburt Jung Dietrichs.
Derselbe heißt in der Geschichte Theoderich der Große und in der
Sage Dietrich von Bern (weil er durch den Sieg bei Verona oder
Welsch-Bern 489 Italien gewann). Sein Vater war der Gotenfürst
Theodemer (Theodemir). Derselbe war lange Zeit Vasall des gewal-
tigen Hunnenkönigs Attila (in der Sage Etzel genannt). Nach dessen
Tode besiegte er im Bunde mit dem Gepidenkönige Ardarich nach
wechselvollen Kämpfen in mörderischer Schlacht Attilas Sohn Ellak,
welcher fiel, machte sich frei und beherrschte nun das Ostgotenreich an
152
II. Epische Dichtungen.
der Donau, von Wien bis Sirmium an der Save. In Attilas Todes-
jahr 454 wurde Theodemers Sohn Theoderich oder Jung Dietrich
geboren und später als Unterpfand eines Bündnisses von gotischen Helden
nach Konstantinopel gebracht, wo er am oströmischen Kaiserhofe eine gute
Erziehung erhielt.
Den Vernichtungskampf der Goten 375 am Dnjestr hat also der
Dichter etwa in das Jahr 455 und an die.Donau verlegt, den König
Withimer mit Theodemer vertauscht.
2. Charakter der Personen. Der Gotenkönig hatte tapfer
gekämpft, davon zeugt der zerbrochene Speer und der gespaltene Kron-
helm. Er hatte den Tod der Schande vorgezogen, denn „der scheide von
dem Leben, von dem die Freiheit schied!" Gleich tapfer hatten seine
Helden gekämpft. Dafür sprachen die zerschrotenen Helme und zerhackten
Schilde. Gern wären sie mit ihrem Könige auf dem Felde der Ehre
gefallen, — wollten sie sich doch mit dem Gotenhort in den Fluten be-
graben! — aber die Ehre und die Treue geboten ihnen, die Kleinode
ihres Königs zu retten, damit sie nicht in die Hände der Feinde fielen.
Mutig und getreu ihrer Mannenpflicht, entrissen zwei mit Lebens-
gefahr Kronhelm und Speer des Königs den Feinden, während der dritte,
Meister Hildebrand, aus dem Königszelt den Kronerben rettete. Stumm
und traurig reiten sie durch die Nacht. Hoffnungslos wie die Heide
zur Winterszeit liegt die Zukunft vor ihnen. Lebensüberdrüssig
wollen sie sich mit den Reichskleinoden in den Donaufluten begraben und
auch im Tode noch die Treue bewahren. Aber Hildebrand trägt die
lebendige Hoffnung, die feste Zuversicht auf eine glänzende Zukunft
seines Volkes warm und weich unter seinem Mantel und in seinem
Herzen. Freudig zeigt er im Glanze der aufgehenden Sonne den
geretteten Königssohn, grüßt ihn als Hoffnung seines Volkes, huldigt
ihm als Gotenkönig und nennt ihn ahnungsvoll mit dem Helden-
namen, dessen Ruhm später die Welt erfüllte.
3. Gedankengaug. I. Die Walstatt (Str. 1—3). Str. 1: Der
Gotenkönig und sein halbes Heer liegen erschlagen auf der Walstatt.
Str. 2: Die Hunnen jauchzen, und die Aasgeier stoßen herab. Str. 3:
Auf der kalten, mondhellen Heide hört man das Heulen der gierigen
Wölfe im Föhrenwalde.
II. Die Gotenhelden auf der Flucht (Str. 4—7). Str. 4:
Sie tragen an sich die Spuren des furchtbaren Kampfes. Str. 5: Der
erste rettete den zerbrochenen Königsspeer; Str. 6: der zweite den gespal-
tenen Königshelm; Str. 7: der dritte unter dem Mantel den Königssohn.
III. Ankunft an der Donau und Hoffnungslosigkeit der
beiden ersten Goten (Str. 8—11). Str. 8: Sie kommen an die
Donau und halten die Rosse an. Str. 9: Der erste klagt, daß außer
des Königs Helm und Speer nichts mehr vom Gotenreiche übrig sei.
Str. 10: Der zweite schlägt vor, diese traurigen Reste der Gotenherrlich-
keit in die Fluten zu versenkeu. Str. 11 : Dann wollen sie sich selber
daneben in den Fluten begraben.
Dahn: Die letzten Goten.
153
IV. Die Hoffnung des Gotenreiches (Str.12—15). Str.12:
Hildebrand trägt mehr als Königs Helm und Speer. Str. 13: Unter
dem Mantel hat er der Goten Hort und Zukunft. Str. 14: Seine
Genossen haben Speer und Krone, er hat des Königs Sohn gerettet.
Str. 15: Er weckt den Knabeä, bietet ihm den Morgengruß, huldigt ihm
als König und nennt ihn bei seinem künftigen Heldennamen.
4. Grundgedanke. Die Treue verzagt und klagt nicht, sondern
handelt; sie harrt auch im Unglück aus und sieht immer wieder aus
dunkler Nacht einen hellen Hoffnungsstern aufgehen.
5. Schönheiten. In äußerst knapper und treffender Sprache und
geschickter Gruppierung hat der Dichter ein ergreifendes Gemälde von
Niederlage und Rettung, von Unglück und Treue, von Hoffnungslosigkeit
und Zuversicht gezeichnet. Es ist unmöglich, die nächtliche Walstatt, die
Roheit der Sieger, die Tapferkeit des gefallenen Königs und seiner
Helden, der letzteren Treue und Hoffnungslosigkeit, den Gegensatz zwischen
Niedergeschlagenheit und lebendiger Hoffnung, zwischen Untergang und
Aufgang knapper und eigenartiger darzustellen. Jeder Strich ist ein
Bild, jede Zeile ein Gedicht. Wie schön ist es, die jauchzenden Hunnen,
die herabstoßenden Geier und die heulenden Wölfe zu Strichen in dem
Gemälde der Walstatt, die öde, endlose Heide, den kalten Wind, den
bleichen Mondschein und die düstern Föhrenwälder zum Hintergründe
der st u m m e n, t r a u r i g e n R e i t e r, die zerhackten Waffen zu Z e u g e n
der Tapferkeit, die Donau als künftige Pulsader des Ostgotenreiches
zum sichern Schreine des Gotenhortes, den rauhen Kriegsmann
Hildebrand zursorglichenAmmedesKönigskindes,den Morgen
und die blitzende Donauflut zuZeugenseinerHuldigung,die Nacht
zum Schleier der Walstatt, den Morgen zum Spiegel der Zu-
kunft zu machen! Wie die Sprache, so ist auch der Rhythmus (vier-
hebiger Vers mit wechselnder Zahl der Senkungen) genau dem innern
Pulsschlag der Dichtung angepaßt.
III. Verwertung in Aufgaben. 1. Zeichne nach dem Gedichte
a) ein Bild der Walstatt, b) der drei Flüchtlinge, c) der Gruppe an
der Donau! 2. Weise nach a) die Tapferkeit der gotischen Helden, b) ihre
Treue, c) ihre Hoffnungslosigkeit, d) die Hoffnung und Zuversicht! 3. Ver-
gleiche das folgende Gedicht mit dem vorstehenden!
B. Die letzten Goten.
Felix Dahn. Aus: Ein Kampf um Rom. Roman in 4 Bdn. 1876.
1. „Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt!
Wir sind die letzten Goten,
wir tragen keine Krone mit —
wir tragen einen Toten. Z
2. Mit Schild an Schild und Speer
an Speer
wir ziehn nach Nordlands Winden,
bis wir im fernsten, grauen Meer
die Insel Thule finden.
3. Das soll der Treue Insel sein,
dort gilt noch Eid und Ehre.
Dort senken wir den König ein
im Sarg der Eichenspeere.
4. Wir kommen her, — gebt Raum
dem Schritt! —
Aus Romas falschen Toren;
wir tragen nur den König mit --
die Krone ging verloren."
154
II. Epische Dichtungen.
1) König Tejas wurde 555 in der Vernichtungsschlacht am Vesuv
beim Wechseln des Schildes, der mit 12 Speeren gespickt war, durch
einen Wurfspieß getötet. Der oströmische Feldherr Narses bewilligte dem
Reste der Ostgoten freien Abzug. Nach der Sage kehrten sie in die Ur-
heimat der Goten, nach Norwegen, Schweden und den nordischen Inseln,
zurück.
1. Ähnlichkeiten. Die Goten erleiden eine furchtbare Niederlage.
Der König fällt nach dem tapfersten Widerstände. Wenige getreue Mannen
verlassen die Heimat, retten die Waffen und den letzten Hort des Reiches.
2. Verschiedenheiten. A führt uns nach Ungarn, B nach Unter-
italien. A versetzt uns in das Jahr 375 bzw. 455, B in das Jahr 555.
A zeigt eine Niederlage der Goten durch die wilden Hunnen, B eine
solche durch den oströmischen Feldherrn Narses und die falschen Römer.
In A sehen wir drei gotische Helden auf der Flucht nach dem Süden^
in B die letzten Goten auf dem Abzüge nach Norden. In A wird die
Krone des Königs gerettet, in B verloren. In A bleibt die Königsleiche
aus dem Schlachtfelde, aber der letzte Königssproß wird gerettet, in B
wird die Königsleiche in einem Sarge aus Eichenspeeren fortgetragen, aber
kein Königssproß ist mehr da. A klingt hoffnungsvoll, B hoffnungs-
los aus. A ist ein Morgengesang, B ein Grabgesang der Gotenhoffnung.
P.
69. Die Schlacht bei Zülpich.
Karl Simrock, Gedichte. Leipzig 1844. S. 153.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. König Chlodwig, der Gründer
des Frankenreichs in Gallien, war ein wilder Heide. Vergeblich bemühte
sich seine katholische Gemahlin Chlotilde, ihn zum Christentum zu be-
kehren. Es machte ihm mehr Freude, mit wilder Kraft die Streitaxt zu
schwingen, als vor dem „Gott am Kreuze" zu knien. Da brach ein
Krieg mit den Alemannen aus. Dieses tapfere Volk wohnte zu beiden
Seiten des Oberrheines, vom Bodensee bis Mainz, und an den Ufern
des Neckars. Durch ihre Tapferkeit und Raublust waren sie gefährliche
Nachbarn. Als sie Chlodwigs Vetter Siegbert von Köln mit Krieg über-
zogen, da eilte Chlodwig diesem zu Hilfe. Bei Zülpich, dem alten Tol-
biacum (zwischen Bonn und Aachen), nach andern nördlich von der Main-
mündung, kam es 496 zu einer furchtbaren Schlacht. Das Volk der Ale-
mannen war den Franken an Zahl überlegen. Schon waren viele Franken
unter ihren wuchtigen Streichen gefallen und deren Heer zu einem schwa-
chen Häuflein zusammengeschmolzen; schon neigte sich der Sieg auf die
Seite der Alemannen: da hielt König Chlodwig ein im Kampfgedränge,
erhob sich auf seinem Roß über den Troß (Haufen) seiner Krieger, streckte
beide Hände gen Himmel und rief mit schallender Stimme, die wie scharfer
Eisenklang durch die Reihen der lauschenden, zum Teil schon christlichen
Krieger fuhr: „Jesus Christus, den mein Gemahl verehrt, hilf mir, meine
Götter verlassen mich! Wenn du mir beistehst, so will ich an dich glauben!"
Da brach die Sonne leuchtend durch die Wolken, und neuer Mut kam in
Simrock: Die Schlacht bei Zülpich.
155
das Frankenheer. Der König ergriff das Banner (die Fahne) und führte
die Seinen aufs neue gegen den Feind, warf in unwiderstehlichem An-
sturm alles nieder, tötete den Herzog der Alemannen, schlug sein Heer in
die Flucht und unterwarf weite Gaue der Alemannen seiner Herrschaft.
Sein Gelübde hielt Chlodwig und ließ sich am Weihnachtsfeste 496 mit
3000 seiner Edlen in Reims von dem Bischof Remigius taufen. Weil
er von allen deutschen Fürsten der einzige katholische war, so gab ihm der
Papst den Beinamen „Allerchristlichster König", den alle feine Nachfolger
auf dem fränkischen Throne beibehielten. (Vortrag.)
1. Chlodewig, der Frankenkönig, sah in Zülpichs heißer Schlacht, daß
die Alemannen siegten durch der Bolkszahl Übermacht Z.
2. Plötzlich aus des Kampfs Gedränge hebt er sich auf stolzem Roß,
und man sah ihn herrlich ragen vor den Edlen, vor dem Troß 2).
3. Beide Arme, beide Hände hält er hoch empor zum Schwur ch, ruft
mit feiner Eisenstimme4), daß es durch die Reihen fuhr^):
4. „Gott der Christen, Gott am Kreuze, Gott, den mein Gemahl ver-
ehrt, so du bist ein Gott der Schlachten, der im Schrecken niederführt6),
5. hilf mir dieses Volk bezwingen, gib den Sieg in meine Hand, daß
der Franken Macht erkennen muß des Rheins, des Neckars Strand i H
6. Sieh', so will ich an dich glauben, Kirchen und Kapellen8) baun und
die edlen Franken lehren, keinem Gott als dir vertraun!"
7. Sprach es, und ans Wolken leuchtend brach der Sonne voller Strahl;
frischer Mut belebt die Herzen, füllt des schwachen Häufleins Zahl 9).
8. Chlodwig selbst ergriff das Banner, trug es in der Feinde Reihn,
und die Franken, siegesmutig, stürzen jauchzend hinterdrein.
9. Schreck ergriff der Feinde Rotten, feige wenden sie und fliehn; all
ihr Kriegsruhm ist erloschen, ihre Macht und Freiheit hiniH.
10. König Chlodwig ließ sich taufen und sein edles Volk zugleich, und
ob ii) allen deutschen Stämmen mächtig ward der Franken Reich. —
11. Wenn sie einst den Gott verlassen, der bei Zülpich Sieg verlieh, ist
den Alemannen i2) wieder Macht gegeben über sie.
II. Erläuterungen. 1. Ihre Übermacht oder Überlegenheit lag in
der größeren Zahl der Krieger. 2. Er ragte über die adeligen Krieger
und die gemeinen Kriegsleute (den Troß, eigentlich die Leute beim Heer-
gepäck). 3. Schwur = hier feierliches Gelübde. 4. Eisen stimme
— laut und schneidig wie Eisenklang. 5. Sie luurbe in den Reihen der
Krieger laut und deutlich gehört. 6. Der Gott der Liebe und Geduld,
der sich sogar an das Kreuz hatte schlagen lassen, sollte sich jetzt als
Lenker der Schlachten zeigen, indem er den Schrecken wie Blitzstrahlen
in die Herzen der Feinde niedersandte. 7. Die Alemannen am Rhein und
Neckar sollen der Herrschaft der Franken unterworfen werden. 8. Er
gelobt, große und kleine Gotteshäuser zu bauen. 9. Was dem Häuflein
an Zahl fehlt, das wird ersetzt durch den frischen Mut. 10. Die Ale-
mannen verlieren durch diese Niederlage ihren bisherigen Kriegsruhm,
156
'"'i:
II. Epische Dichtungen.
ihre Übermacht und ihre Selbständigkeit. 11. ob = über alle deutsche
Stämme erhob sich Macht und Ruhm der Franken; sie wurden das
mächtigste und berühmteste deutsche Volk. 12. Wenn die Franken (Fran-
zosen) Gott verlassen, die Alemannen (Deutschen) aber an ihm festhalten,
dann werden letztere über erstere triumphieren.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Das Schlachtfeld von Zülpich
im Sommer 496. Eine Pause im Schlachtenlärm und Schlachtgedränge.
König Chlodwig auf hohem Roß mit erhobenen Armen und Augen laut
betend. Krieger mit Keulen und Speeren stehen still umher und lauschen.
Viele Tote und Verwundete bedecken das Schlachtfeld. Der Himmel ist
mit Wolken bedeckt; plötzlich bricht die Sonne leuchtend hindurch. Be-
geisterung flammt aus den Augen der Krieger.
2. Gedankengang. I. Die Not in der Schlacht (Str. 1). II. Chlod-
wigs Gebet und Gelübde (Str. 2—6). III. Die Erhörung des Gebetes
(Str. 7—9). IV. Die Erfüllung des Gelübdes (Str. 10). V. Die War-
nung vor Abfall (Str. 11).
Grundgedanke: Pf. 50,15. Rufe mich an in der Not, so will
ich dich erretten, so sollst du mich preisen. — Das rechte Gebet und die
mutige Tat sind Bürgen des Sieges, der Abfall von Gott führt zur
Niederlage. — Mit Gott stark und mächtig, ohne ihn schwach und ohn-
mächtig ! —
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Bet' und arbeit', so hilft Gott allezeit. Je größer die Not, desto näher
ist Gott. Not lehrt beten. Wen Gott nicht hält, der fällt. Wer Gott
vertraut, hat wohlgebaut. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
Ps. 145, 18. 19. Der Herr ist nahe —. Pf. 18, 30. Mit dir kann ich
Kriegsvolk zerschlagen und mit meinem Gott über die Mauer springen.
2. Verwandtes. Konstantins Sieg 312 am roten Stein bei Rom.
Ein Kreuz am Himmel mit der Inschrift: „In diesem Zeichen wirst du
siegen!" soll Volk und Heer zuni Siege begeistert haben. — Israel siegte
über die Amalekiter, solange Moses seine Hände betend empor hielt
(2. Mos. 17, 8—13). — „Wir sind abgefallen, darum sind wir gesunken!"
sagte die Königin Luise nach dem Unglück Preußens 1806. Als sich aber
das deutsche Volk mit Herz und Mund wieder zum Herrn bekehrte, da
gab er ihm 1813—15 den Sieg über die Franzosen. — Gideon siegte
durch die Hilfe des Herrn mit 300 Mann über die Scharen der Midia-
niter. (Richter 7.)
3. Rede-undStilübungen. a) Suche aus der Bibel und Welt-
geschichte plötzliche Wendungen des Schlachtenglückes und wunderbare Be-
kehrungen! — b) Ein fränkischer Krieger erzählt daheim den Gang der
Schlacht bei Zülpich. — c) Welches sind die Ursachen des Sieges der
Franken und der Niederlage der Alemannen? — d) Vergleiche Chlod-
wigs Bekehrung mit dem Siege des Christentums unter Konstantin!
Kopisch: Frankfurt am Main.
157
70. Frankfurt am Main.
August Kopisch, Gedichte. Berlin 1836. S. 150.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Frankfurt am Main ist eine
blühende Stadt mit 350000 Einwohnern und außerordentlichem Ver-
kehr. In alten Zeiten hieß sie das „Kaufhaus der Deutschen", weil sich
hier die Warenzüge und Kaufleute aus allen Himinelsgegenden trafen.
Von 1562—1792 war sie die Krönungsstadt der deutschen Kaiser. Das
Festmahl bei Krönungen wurde in dem Kaisersaale gehalten, der in dem
weitschichtigen und altertümlichen Rathause, Römer genannt, lag. Bei
der Krönungsfeier versahen vier Kurfürsten die Erzämter: der Kurfürst
von Brandenburg reichte als Erz kämm er er dem Könige das Wasser;
der Pfalzgraf bei Rhein trug als Truchseß die ersten Schüsseln auf des
Königs Tisch; der König von Böhmen reichte als Erz schenk dem König
den ersten Becher Weins; der Herzog von Sachsen brachte als Erzmar-
sch a l l die Rosse unter. Die Wände des Kaisersaals im Römer sind mit den
Bildern der deutschen Kaiser bedeckt. Karl der Große, auf lateinisch Caro-
lus Magnus, eröffnete die Reihe, und Franz II., der 1806 die deutsche
Kaiserkrone niederlegte, schließt sie. — Der Dichter und Maler Aug.
Kopisch besuchte den Kaisersaal und ließ an seinem Geiste die Geschichte
der altberühmten Stadt vorübergehen. Von der Gegenwart schweifte sein
Geist zurück bis zu Anfang, bis zur Gründung der Stadt. Diese soll
in die Zeit Karls des Großen fallen. In Urkunden wird die Stadt schon
793 als namhafter Ort genannt. Der Name bedeutet der Franken
Furt. In den Sachsenkriegen sollen hier die flüchtigen Franken eine
Furt, d. h. eine seichte Stelle, im Maine gefunden und sich an dgs
andere Ufer gerettet haben. Die Sage stimmt wenig mit der Geschichte.
Wenn auch Karl in den Sachsenkriegen (772—803) manchmal ins Ge-
dränge kam, so ist er doch schwerlich je aus Westfalen so weit nach Süden
über den Main zurückgedrängt worden. Kopisch erzählt die Sage über
die Gründung Frankfurts und beschreibt ihre Bedeutung als Krönungs-
stadt in dem folgenden Gedichte:
Die besten seiner Helden, die lagen in Sachsen tot,
da floh Carolus Magnus, der Kaiser, in großer Not.
„Laßt eine Furt*) uns suchen längshin am schönen Main!
O weh, da liegt ein Nebel, der Feind ist hinterdrein!" —
5 Nun betete Kaiser Carol auf Knien an seinem Speer,
da teilte sich der Nebel, eine Hirschin ging daher,
die führte ihre Jungen hinüber zum andern Strand,—
so machte Gott den Franken die rechte Furt bekannt.
Hinüber zogen alle wie Israel durchs Meer,
10 die Sachsen aber fanden im Nebel die Furt nicht mehr.
Da schlug der Kaiser Carol mit seinem Speer den Sand:
„Die Stätte sei hinfüro?) der Franken Furt genannt."
Er kam da bald zurücke mit neuer Heeresmacht,
damit er der Sachsen Lande zu seinem Reich gebracht.
15 Doch dort am Main erpranget^) nun eine werte Stadt,
die reich ist aller Güter und edle Bürger hat. —
ES ward da mancher Kaiser gekrönt mit Carols Kron'^)
und feierlich gesetzet auf goldgestickten Throns..
158
II. Epische Dichtungen.
Ta briet man ganze Rinder, es strömte der Fülle Horn 6);
20 es schöpfte jeder Arme sich Wein aus reichem Born?)
Im Römers füllte dem Kaiser der Erzschenk den Pokal9),
mit Kaiserbildern wurden bedeckt alle Wände im Saal.
Bedeckt sind alle Wände bis an den letzten Saum, —
kein neuer Herrscher fände zu seinem Bildnis Raum.
25 Der erste deutsche Kaiser gab Namen dieser Stadt,
die auch den letzten Kaiser in ihr gekrönet hat.
1. Seichte Stelle im Wasser zum Durchkommen. 2. Hinfort. 3. Fällt
glänzend in die Augen. 4. Mit der deutschen Kaiserkrone. 5. Der Königs-
stuhl war mit kostbaren Stoffen überzogen, diese mit Goldstickereien ge-
schmückt. 6. Das Füllhorn der römischen Göttin Flora war das Sinn-
bild des Überflusses; es war ein gewundenes Horn, aus dem Blumen
und Früchte quollen. Die griechische Mythologie berichtet darüber: Zeus
wurde als Kind von der Milch der Ziege Amalthea in einer Höhle
auf Kreta ernährt. Dort hatte man ihn verborgen, damit ihn sein Vater
Kronos nicht wie seine Brüder und Schwestern verschlinge. Einst hatte
sich diese Ziege an einem Baume eins ihrer Hörner abgebrochen. Da
füllten die Nymphen, die den jungen Gott pflegten, dieses mit Früchten,
umwanden es mit Blumen und brachten es so dem Zeus. Der jedoch
schenkte es seinen Pflegerinnen mit der Verheißung: alles, was sie sich
auch wünschen möchten, sollte ihnen sofort aus dem Hörne werden. (Prof.
Sch.). 7. Zwei Adler sprudelten weißen und roten Wein, von dem jeder
Arme wie aus einem Brunnen schöpfen und trinken konnte. 8. Das
Rathaus mit dem Kaisersaal. 9. Becher.
II. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Nach der Sage würde die
Gründung Frankfurts in die Zeit um 775 fallen. Die erste Kaiser-
krönung in Frankfurt fand 1562 (Maximilian II. als römischer König),
die letzte 1792 (Franz II.) statt. Das Gedicht zeigt uns zwei Situations-
gemälde: a) Die Entdeckung der Mainfurt, b) eine Kaiserkrönung. (a.Karl
der Große hat den Speqr in die Erde gestoßen, ist niedergekniet, hat
seine Hände betend um den Speer gelegt und die Augen zum Himmel
erhoben. Vor ihm hat sich eben der dichte Nebel gehoben und läßt die
blitzende Mainflut sehen. Eine Hirschkuh watet au einer seichten Stelle
durch den Strom. Um den Kaiser ist das übriggebliebene Häuflein seiner
Getreuen geschart. Sie sehen mit Staunen, wie das Gebet des Kaisers
rasche Erhörung findet. In der Ferne erscheinen die verfolgenden Sachsen,
aber schon senkt sich zwischen sie und die Franken der Nebel wieder herab
wie die Wolkensäule in der Wüste zwischen Israel und die Ägypter. —
b. Zeichne in ähnlicher Weise nach den im Gedicht gegebenen Strichen
das Bild einer Kaiserkrönung!)
2. G e d an k e n g a n g. I. T e i l: Sage von der Gründung Frankfurts,
a) Karl kommt auf der Flucht vor den Sachsen an den Main, b) sucht
eine Furt, c) betet um Errettung, ck) entdeckt durch eine Hirschkuh die
seichteste Stelle des Flusses, e) zieht mit seinen Franken hindurch, I) weiht
und nennt die Stätte, g) besiegt und unterwirft die Sachsen, h) gründet
das blühende Frankfurt.
©eros: Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt.
159
II. Teil. Frankfurt als Krönungsstadt, a) Die Kaiser werden hier
gekrönt, b) das Volk gespeist und getränkt, c) die Kaiser von den Kur-
fürsten bedient, ck) der Römersaal mit den Bildern der Kaiser geschmückt,
e) ihre Reihe geschlossen, als der Raum verbraucht und das Reich aus-
gelöst war.
Den Grundgedanken geben die beiden letzten Zeilen: Die Ge-
schichte der Stadt Frankfurt von der Gründung bis zur letzten Kaiser-
krönung. Die Krönungsstadt der deutschen Kaiser hat auch einen kaiser-
lichen Ursprung.
3. Eigentümliches. Die Sprache ist schlicht und gehaltvoll und
hat altertümliche, chronikenartige Anklänge. Der zweite Teil lahmt und
hinkt etwas hinter dem ersten her, der mit der Zeile endet: „Die reich ist
aller Güter und edle Bürger hat." Daß die schlichte, aber lebhaft fort-
schreitende Erzählung plötzlich in eine Beschreibung übergeht, gibt
den beiden Teilen etwas Ungleichartiges; es ist, als ob der muntere Bach
plötzlich in einem Teiche zum Stillstand käme.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Ein betendes Herz, ein
scharfes Auge und eine starke Hand finden aus jeder Bedrängnis einen
Ausweg. — Unglück wird oft die Quelle des Glücks. Alles Große und
Schöne wächst aus kleinen Anfängen.
2. Verwandtes. Israels Durchgang durchs Rote Meer, die
Wolken- und Feuersäule. — Jakob weiht den Stein, auf dem sein Haupt
geruht, und gründet die Stadt Bethel. (1. Mos. 28.) — Ps. 127. —
Otto I. schleudert seinen Speer in den Ottensund und macht ihn zur
Nordgrenze des Reiches. — „Zu Aachen in seiner Kaiserpracht" von
Schiller. — Die Krönung des ersten Königs von Preußen in Königs-
berg am 18. Januar 1701.
3. Aufgaben, a) Erzähle von Städtegründungen, b) von Krö-
nungen, c) von Rettungen aus großer Gefahr! ä) Welche geographischen
Momente haben den Aufschwung Frankfurts begünstigt? (Furt durch den
Main; feste, nicht durch Überschwemmungen gefährdete Ufer; Zusammen-
stoßen der Straßen, die von Hessen, Thüringen und Franken nach der
oberrheinischen Tiefebene führen.) ?.
71 Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt.
Karl Gerok. Blumen und Sterne. 4. Aufl. Stuttgart 1872. S. 174.
1. Als Kaiser Karl zur Schule kam und wollte visitiereu,
da prüft' er scharf das kleine Volk im Schreiben, Buchstabieren,
ihr Vaterunser, Einmaleins und was man lernte mehrZ.
Zum Schlüsse rief die Majestät die Schüler um sich her.
2. Gleichwie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen.
Zu seiner Rechten ließ er stehn die Fleißigen, die Braven.
Da stand im groben Linnenkleid manch schlichtes Bürgerkind 2),
manch Söhnlein eines armen Knechts von Kaisers Hofgesind.
3. Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
und wies sie mit erhabner Hand zur Linken, in die Ecke.
Da stand im pelzverbrämten Rock manch feiner Herrensohn2),
manch ungezognes Mutterkind, manch junger Reichsbaron.
160 II. Epische Dichtungen.
4. Dann sprach nach rechts der Kaiser mild: „Habt Dank, ihr frommen
Knaben!
Ihr sollt an mir den gnäd'gen Herrn, den güt'gen Vater haben;
und ob ihr armer Leute Kind und Knechtessöhne seid:
in meinem Reiche gilt der Mann und nicht des Mannes Kleid."
5. Dann blitzt sein Blick zur Linken hin, wie Donner klang sein Tadel:
„Ihr Taugenichtse, bessert euch, ihr schändet euren Adel!
Ihr seidnen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesichts!
Ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen nicht."
6. Da sah man manches Kinderaug' in frohem Glanze leuchten
und manches stumm zu Boden sehn und manches still sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
wen heute Kaiser Karl belobt, und wen er ausgeschmält5).
7. Und wie's der große Kaiser hielt, so soll man's allzeit halten
im Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten:
Den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, den Stand nach dem Verstand! —
So steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland.
I. Vorbereitung. Zu den großen Verdiensten, die sich Karl d. Gr.
um das deutsche Vaterland erworben, gehört besonders auch seine väter-
liche Fürsorge für die Unterweisung der männlichen Jugend. Seine
schöpferischen Gedanken begnügten sich nicht allein damit, daß er im
Jahre 801 eine königliche Verordnung an alle hohen Staatsbeamten er-
ließ, in welcher sie ausgefordert wurden, dafür Sorge zu tragen, daß doch
die Jugend immer mehr und mehr die nötige Unterweisung in Schulen
erhalte, und daß gegen die Widerspenstigen mit Strafe eingeschritten werde,
sondern er tat auch alles, um die vorhandenen Klosterschulen zu verbessern
und neue Schulen zu gründen. Besondere Pflege und Sorgfalt widmete
er der von Alcuin, dem berühmten Mönch aus England, errichteten Schule
an seinem Hofe zu Aachen, die von den Söhnen des höchsten Adels und
der vornehmsten Würdenträger, wie auch von den Knaben der niederen
Hofbeamten besucht wurde. Die vorliegende Erzählung ist historisch und
aus den uns überlieferten „Vier Erzählungen des Mönchs von St. Gal-
len" entnommen und von dem Dichter Karl Gerok in ein dichterisches
Gewand gekleidet worden.
II. Vermittlung. 1. Hierunter ist namentlich der Unterricht im La-
teinischen und Singen zu rechnen, auf welche Lehrgegenstände der Kaiser
große Stücke hielt. 2. Bürgerkinder im heutigen Sinne des Worts
gab es zu jener Zeit noch nicht. Es sind darunter die Kinder bürger-
licher Eltern im Gegensatz zum Adel zu verstehen, dessen Söhne 3. mit
„Herrensohn" bezeichnet werden. 4. Die in Samt und Seide ge-
kleideten, zarten Knaben werden, weil verzärtelt, „Milchgesichter" genannt.
5. schmälen — schmal machen, schmälern, verringern, d. h. eine Person
als klein, gering, schlecht darstellen, scheltend verächtlich machen. Syno-
nyme: schelten, schimpfen, zanken.
III. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. Str. 1. Kaiser
Karls d. Gr. Besuch und Prüfung seiner Hofschule. Versammlung der
Schüler um den Kaiser. Str. 2. Scheidung der Schüler nach dem Vor-
Vogl: Heinrich der Vogelsteller.
161
bilde des himmlischen Hirten in Schafe und Böcke: die Fleißigen zur
Rechten und die Faulen zur Linken. Die Mehrzahl der Braven sind die
Söhne der bürgerlichen Eltern. Str. 3. Die Mehrzahl unter den Faulen
hingegen, die zur Linken des Kaisers gestellt waren, bildeten die Söhne
der Vornehmen, der Adligen. Str. 4. Dank und Verheißung des kaiser-
lichen Wohlwollens für die Fleißigen. Des Kaisers Grundsatz. Str. 5.
Gerechter Zorn und herber Tadel des Kaisers gegen die Faulen und die
Taugenichtse. Wiederholung seines Grundsatzes der Gerechtigkeit. Str. 6.
Folgen der Prüfung: hohe Freude der Fleißigen, Scham und Reue der
Faulen. Bekanntwerden von Kaiser Karls gerechtem Verfahren in der
Schule unter den Eltern und Erwachsmen. Str. 7. Des Dichters Mah-
nung, Karls gerechtes Verfahren in Schule und Staat nachzuahmen, und
sein Endurteil.
2. Schönheiten des Gedichts: a) Reichtum an Gegensätzen:
Böcke — Schafe; Faule — Fleißige; Brave — Taugenichtse; zur Rechten
— zur Linken; grobes Linnenkleid — pelzverbrämter Rock; schlichtes
Bürgerkind — feiner Herrensohn; Sohn von Kaisers Hofgesind — ein
junger Reichsbaron; gestrenger Blick — mildes Sprechen; Lob und Ver-
heißung — Tadel und Drohung des Kaisers; armer Leute Kind und
Knechtessohn — seidene Püppchen und Milchgesichter; Leuchten der Kinder-
augen — Niederschlagen des Blicks und Tränen im Auge; Freude der
Braven — Scham und Reue der Faulen; im Schulhaus mit dem kleinen
Volk — im Staate mit den Alten; den Platz nach Kunst — nicht nach
Gunst, b) Wortspiele im Gedichte. Führe sie an!
IV. Verwertung. Mahnung: a) Beurteile und behandle deine Mit-
menschen nach ihrem innern Werte und ihren innern Vorzügen:
Kenntnissen, Tugenden, Taten, Verdiensten, und nicht nach ihren er-
erbten, äußern Vorzügen, nicht nach dem Kleide und Stande, nicht
nach Adel, Schönheit, Reichtum und Begabung! b) Goethes Wort: Was
du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!
R. D.
72. Heinrich der Vogelsteller.
Joh. Nepomuk Vogl. Balladen, Romanzen usw. Wien 1846. S. 52.
1. Herr Heinrich sitzt am Vogelherd aus tausend Perlen blinkt und blitzt
recht froh und wohlgemut; der Morgenröte Glut usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Quelle des Gedichts. Geschichtsbücher aus dem 12. bis 15. Jahr-
hundert erzählen, daß der König Heinrich I. gern im Harzgebirge dem
Vogelfänge nachgegangen sei; auch im Jahre 918, als man ihn zum
deutschen Kaiser gewählt habe, hätten die Gesandten ihn auf der Harz-
burg, nach andern in Quedlinburg, an dem Finkenherde angetroffen und
ihm daselbst die Kunde von seiner Wahl gebracht und die Reichsinsignien
überreicht. Gleichzeitige Geschichtschreiber aber wissen von der Geschichte
nichts; der Name Heinrich der Vogler oder der Finkler kommt über-
haupt erst in Geschichtsbüchern aus dem 12. Jahrhundert vor. Spätere
AdL. II. 8. Ausl. 11
162
II. Epische Dichtungen.
mittelalterliche Geschichtsschreiber erzählen zwar die Sage auch, allein bei
einzelnen derselben kommen Züge hinzu, die gar nicht auf Heinrich I.
hinweisen, sondern auf Heinrich II. und sogar auf Heinrich IV. Von
diesen Erzählungen sagt Wernicke in seiner Geschichte des Mittelalters,
Berlin 1871, S. 110:
„So wahrscheinlich dies aber auch klingt bei seiner Vorliebe zur
Jagd, so scheint es doch erdichtet zu sein. Vielmehr bat ihn Eberhard
zuerst um eine geheime Zusammenkunft, und bei derselben überreichte er
ihm knieend Zepter und Schwert. Heinrich war überrascht, wollte be-
scheiden die angetragene Würde ablehnen, ließ sich jedoch zur Annahme
bewegen. Die fränkischen Großen versammelten sich darauf zu Fritzlar
und wählten ihn vor allem Volk zum Könige."
Unsern Dichter trifft aber durchaus nicht etwa der Vorwurf, daß
er uns eine Sage — denn das ist diese Erzählung nach der neueren
Geschichtsforschung hat als verbürgte Geschichte vorführen und damit
täuschen wollen. Das Gedicht entstand ums Jahr 1835, also zu einer
Zeit, in welcher gegen jene Tatsache von den Geschichtsschreibern noch kein
Zweifel erhoben wurde; ferner ist die Sage aber so dargestellt, daß sie
zur charakteristischen Auffassung des großen Königs nur förderlich ist.
Es genügt hier also, den Kindern einfach zu sagen, daß die Erzählung
eine Sage ist wie viele andere ähnliche Erzählungen.
II. Erläuterung des Inhalts. Der Dichter führt uns in der
1. Strophe an den Ort der Handlung, einen Vogelherd. „Das ist
ein abgesonderter, ebener, etwas erhöheter Platz im Walde, der mit
allerlei Werkzeug zum Vogelfänge, wie Lockvögeln, Lockspeisen, Schlag-
garnen und Fallnetzen, besetzt ist." Herr Heinrich war froh und wohl-
gemut. Und warum auch nicht! War es doch ein schöner, herrlicher
Frühlingsmorgen, an dem die Tautropfen wie Perlen an den Gräsern
hingen und vom Scheine der Morgensonne blitzend und glänzend er-
schienen! Die Schönheit des Morgens (Str. 2) wird noch erhöht durch
den Gesang der Vögel: der Lerche, der Wachtel und der Nachtigall! Die
Jahreszeit kann also noch nicht bis zum Hochsommer vorgerückt sein; denn
die „süße Nachtigall" hört bekanntlich schon um Johanni auf zu singen.
Dies alles stimmt Heinrich (Str. 3) fröhlich und veranlaßt ihn zu
dem Ausrufe: „Wie schön ist heut' die Welt!" Diese fröhliche Stimmung
gibt ihm aber auch Grund zu hoffen, daß er heut' einen guten Fang
machen wird. Er lugt, d. h. schaut spähend nach dem Himmel, ob ihm
das Wetter für seine Jagd auch treu bleiben wird. Doch bald (Str. 4)
hört er Geräusch (er lauscht, d. h. er sieht und hört mit scharf an-
gespannten Sinnen) und bemerkt, daß eine Reiterschar seinem heimlichen
Platze naht. Wie die Schar mit dröhnendem Hufschlag und klirrenden
Waffen heraussprengt, denkt Heinrich zunächst nur an sein Jagdvergnügen:
„Daß Gott (d. h. daß Gott mir helfe, oder daß Gott sich erbarme), die
Herren verderben mir den ganzen Vogelfang!" Unbedingt war ihm das
eine unliebsame Störung, die seinen Unwillen erregte. Daher fragt er
(Str. 6) auch etwas kurz und nicht gar freundlich: „Ei nun, was gibt's?"
Vogl: Heinrich der Vogelsteller.
163
und als der Troß (d. h. der einherziehende Haufe) plötzlich anhält, tritt
er aus dem Gebüsch hervor, hinter welchem er seine Vögel belauscht hat,
und fragt zum zweitenmal, kaum freundlicher als das erste Mal: „Wen
sucht ihr da? Sagt an!" Er soll aber nicht lange im Zweifel bleiben;
denn die Reiter (Str. 7) schwenken ihre Fähnlein, die sie als Schmuck
ihrer Lanzen bei sich tragen, steigen von den Pferden, knien vor ihm
(Str. 8) nieder und jauchzen ihm zu: „Wir suchen unsern Herrn nach
dem Willen des Deutschen Reiches; hoch lebe Kaiser Heinrich! hoch des
Sachsenlandes Stern!" „Stern" ist hier ein bildlicher Ausdruck und will
sagen: der Beste, der Ruhmreichste der Sachsen. „Kaiser" war übrigens
Heinrich auch nicht; denn als ihn nach der Wahl der Erzbischof von Mainz
nach alter Sitte krönen und salben wollte, ließ er es nicht zu, indem
er bescheiden sagte: „Spart Euer Salböl für Würdigere, für mich ist
diese Ehre zu groß." Der Dichter hat den Ausdruck Kaiser gebraucht,
weil die meisten deutschen Könige zugleich den Kaisertitel führten. Nach-
dem die Boten des Reichs Heinrich gehuldigt, d. h. ihn als ihren Herrn
und als das Oberhaupt des Deutschen Reiches anerkannt und sich bereit
erklärt hatten, als Untertanen ihm zu gehorchen, da ließ er sich nicht mehr
lange zureden; sondern (Str. 9) „er blickt zum Himmelszelt" und dankt
in demütiger Ergebung Gott für den „guten Fang", der, anstatt in
Vögeln, in der Reichskrone bestand. So schließt das schöne, frische Gedicht
mit demselben Gedanken, mit welchem es begonnen, und findet eine be-
friedigende Abrundung.
III. Gliederung des Inhalts. A. Str. 1—3. Herr Heinrich am
Vogelherd. B. Str. 4—8. Die Ankunft und Huldigung der Reichsboten.
C. Str. 9. Heinrichs Verhalten nach der Huldigung.
Dr. W. Berger gliedert das Stück im einzelnen so: A. Heinrich
am Vogelherd, St. 1—3. 1. Beschreibung des schönen Morgens:
a) Der Glanz des Taues, b) Der Gesang der Vögel. 2. Stimmung
Heinrichs: a) Freude an dem schönen Morgen, b) Hoffnung auf einen
guten Fang. B. Der gute Fang. St. 4—9. 1. Herannahen der
Boten: a) Anzeichen des Herannahens. Str. 5, Vers 1 und 2. aa) Auf-
wallen des Staubes, bb) Schall des Hufschlags, cc) Waffenklang, b) Ver-
halten Heinrichs. Str. 4, Vers 1 und 2. Str. 5, Vers 3 und 4. Str. 6,
Vers 1—4. aa) Erstauntes Schauen und Lauschen, bb) Ärger über die
Störung, cc) Unwirsche Fragen. 2. BotschaftvonderWahl: a) Be-
grüßung. Str. 7. aa) Durch Fahnenschwenken. bb) Durch Zuruf, b) Hul-
digung. Str. 8. e) Erklärung, ck) Aufnahme von seiten Heinrichs. Str. 9.
IV. Charakteristik Heinrichs. 1. Heinrich hat den Beinamen der
„Vogelsteller oder Finkler" davon, daß er gern am Vogelherde saß
(Str. 1). 2. Er war ein Freund der Natur und hatte viel Sinn für die
Schönheit derselben (Str. 1, 2, 3). 3. Er besitzt dabei aber auch einen
frommen, gottergebenen Sinn; denn er „lugt" zum Himmelszelt und
gedenkt dessen, der dies alles ins herrliche und beglückende Dasein rief, und
der auch ihn beglückte und segnete. (Str. 3 und 9.) 4. Er war ein echtes
kräftiges Sachsenkind mit blondgelocktem Haar. (Str. 4.) 5. Er war,
164
II. Epische Dichtungen.
Wie er es als Herzog und König vielfach bewiesen hat, ein mutiger
Held; er wußte ja nicht, in welcher Absicht die Reiterschar kam, ob sie
ihm feindlich oder freundlich entgegentreten werde (Str. 6).
V. Schriftliche Aufgabe: 1. H e i n r i ch am V o g e l h e r d. (Ein Bild.)
Vordergrund: Der Vogelherd mit den verschiedenen Werkzeugen zum
Vogelfang. Mittelgrund: Rechts und links Wald, in der Mitte nahe
an einem dichten Gebüsch Heinrich. Hintergrund: Eine Waldlichtung,
auf welcher die Schar der Ritter ankommt. Kurze Beschreibung der Schar.
2. In welchem Sinne wird das Wort Herr angewandt? Die An-
rede Herr = der Hehrere, kam nur den Ritterbürtigen, den höheren
Ständen zu. „Nun war ein Herr aus Schwabenland —." „Herr
Heinrich sitzt am Vogelherd —„O Herr, den Kops kann ich nicht
lassen —"• „Herr Stur m hat ein gar lustig Ding —". Ritterliche
Minnesänger waren Herr Wolfram von Eschenbach, Herr Walther von
der Vogelweide, Herr Hartmann von Aue, ein bürgerlicher dagegen
Meister Gottfried von Straßburg. (Prof. 8eli.)
W. D.
73. Willegis.
August Kopisch, Gesammelte Werke. Bd. III. Berlin 1856. S. 117.
I. Vorbereitung. Der ausgezeichnete Erzbischof Willegis zu Mainz
(975—1011), die beste Stütze des minderjährigen Kaisers Otto III., war
von geringem Herkominen aus Schöningen im Braunschweigischen. Von
ihm soll nach einer unverbürgten Sage das Rad im Mainzer Wappen
herrühren. Die Sage erzählt darüber: Willegis war eines Wagners
Sohn. Darob verachteten ihn manche der adligen Domherren in Mainz,
und es verdroß sie, daß er ihr Herr sein sollte. Um ihn an seine niedrige
Herkunft zu erinnern, ihn zu ärgern und in den Augen des Volkes zu
beschimpfen, malten sie ein Wagenrad an seine Tür und schrieben darunter:
„Willegis, Willegis! Gedenk, woher du kommen bist!" Willegis sah das
Rad, las die Unterschrift und zeigte weder Unwillen noch Zorn. Aus
Demut und, um die Spötter zu entwaffnen, nahm er ein weißes Rad
aus rotem Felde (oder Grunde) in sein Wappen, und seinem Beispiele
folgten alle seine Nachfolger. So kam das Zeichen der Schmach zu
Ehren; das Ärgernis wurde zur Glorie (zum Ruhme).
II. Vortrag des Gedichts.
1. Es sah'n am TumH zu Mainz die
adeligen Herrn
den Willegis zum Bischof nicht
allerwege1 2) gern.
Der war ein Wagnersohn;
sie malten, ihm zu Hohn,
mit Kreide Räder an die Wand;
die sah er, wo er ging und stand;
doch es nahm Willegis
an dem Schimpf kein Ärgernis.
2. Denn als der fromme Bischof die
Räder da ersehn,
so hieß er seinen Knecht nach einem
Maler gehn.
„Komm, Maler, male mir
ob 3) jeder Tür dahier
ein weißes Rad im roten Feld;
darunter sei die Schrift gestellt:
Willegis, Willegis,
denk, woher du kommen sis^)!"
Kopisch: Willegis.
165
3. Nun wurde Htm deu Herrn im Tum
nicht mehr geprahlt;
man sagt, sie wischten selber hin-
weg, was sie gemalt.
Sie sahn, dergleichen5) tut
Und was dann für ein Bischof kam,
ein jeder das Rad ins Wappen
nahm.
Also ward Willegis'
Glorie6) das Ärgernis. H
bei weisem Mann nicht gut.
1. Die adeligen Herren am Tum (ältere Form von Dom) sind
die adeligen Domherren. 2. nicht allerwege ----- nicht in jeder Be-
ziehung. 3. ob ----- über. 4. sis = seiest. 5. Dergleichen kleinliche
Spöttereien. 6. Glorie ----- Ruhm. 7. Ärgernis ----- Anstoß erregend.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Das sagenhafte Ereignis
müßte sich um 975 im erzbischöflichen Palast zu Mainz zugetragen haben.
Wir sehen einen Maler auf einer Leiter beschäftigt, über dem Portale
ein weißes Rad ans rotem Grunde zu malen. Der Erzbischof steht dabei
und schaut mit heiterem Antlitz zu. Aus einem Fenster blicken scheu
einige Domherren hin auf die Gruppe.
2. Charakteristik. Willegis ist von iliedriger Abkunft, aber
klugem Geiste und edle m Charakter. Der Schimpf kränkt und ärgert
ihn nicht, sondern stimmt ihn heiter und demütig. In seiner Weis-
heit wählt er das beste Mittel, um die Gegner zum Schweigen zu bringen;
er wählt das Zeichen des Spottes zum Ehrenzeichen, zum Wappenbilde.
Die Domherren sind zwar adelig von Geburt, aber kleinlich
und engherzig im Gemüt, prahlerisch mit dem Munde, neidisch
auf die Würde ihres Vorgesetzten, hämisch in ihrem Tun. Das edel-
mütige und kluge Verfahren des Bischofs beschämt sie und bringt sie
zu besserer Erkenntnis.
3. Gedankengang. Str. 1. Einige Domherren in Mainz ver-
achten den Erzbischof Willegis, weil er ein Wagnersohn ist, und suchen
ihn vergeblich durch angemalte Räder zu ärgern. Str. 2. Willegis nimmt
das Zeichen des Spottes und der Erniedrigung in sein Wappen und
mahnt sich dadurch und durch eine besondere Unterschrift zur Demut.
Str. 3. Die Domherren schämen sich; des Bischofs Nachfolger aber be-
halten das Rad im Wappen.
Grundgedanke: Ein edler und kluger Mensch weiß den Schimpf
in Ehre, das Ärgernis in Ruhm zu verwandeln.
4. E i g e n t ü m l i ch k e i t. Das Gedicht ahmt die volkstümliche Sprache
nach. Die Strophe besteht zunächst aus 6 jambischen Versen — 2 sechs-
füßigen (mit Einschnitt in der Mitte), 2 drei- und 2 vierfüßigen; dann
folgen 2 vierfüßige trochäische Verse, der 7. mit Ausfall der Senkung
im 2. Fuße.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes. Die
Schmachschrift von Joh. Peter Hebel (Werke Bd. II, S. 31 Berlin
1869, G. Grote): Als bekanntlich eine Pasquille oder Schmachschrift
auf den König Friedrich II. in Berlin an einen! öffentlichen Platz an-
geheftet wurde und sein Kammerdiener ihm davon Anzeige machte —
„Ihre Majestät," sagte der Kammerdiener, „es ist Ihnen heute nacht
166
II. Epische Dichtungen.
eine Ehre widerfahren, das und das. Alles hab' ich nicht lesen können,
denn die Schrift hängt zu hoch. Aber was ich gelesen habe, ist nichts
Gutes!" —, da sagte der König: „Ich befehle, daß man die Schrift
tiefer hinab hänge und eine Schildwache dazu stelle, auf daß jedermann
lesen kann, was es für ungezogene Leute gibt." Nach der Hand geschah
nichts mehr.
Das Kreuz, einst das Zeichen der Schmach, an dem Verbrecher
zu Tode gemartert wurden, ist das Heils- und Ehrenzeichen der Christen
geworden, seitdem ihr Heiland in Liebe, Demut und Geduld daran ge-
storben ist. — Der Rittmeister Kurzhagen schämte sich seiner armen
Eltern nicht. Vergleiche „Hirtenflöte" Bd. I Nr. 215, und „Du sollst
Vater und Mutter ehren!" Bd. I, Nr. 60! — Jakob sprach bei seiner
Heimkehr aus Mesopotamien demütig und dankbar (1. Mos. 32, 11) :
Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue. — Luk. 14,
8—11: Wenn du von jemand geladen wirst —; denn wer sich selbst er-
höhet, der soll erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der soll
erhöhet werden.
2. Rede- und Stilübungen, a) Erzähle die Sage vom Ur-
sprung des Rades in dem Mainzer Wappen! b) Vergleiche das Gedicht
von Kopisch mit der „Schmachschrift" von Hebel! c) Suche aus der
biblischen Geschichte Beispiele von Hochmut und Demut! ?.
74. Schwäbische Kunde.
L. Uhland. Werke. Stuttgart 1863. II. 213.
Als Kaiser Rotbart lobesam und mancher deutsche Reitersmann
zum heil'gen Land gezogen kam, hat dort den Trunk sich abgetan,
da mußt' er mit dem frommen Heer Den Pferden war's so schwach im
durch ein Gebirge, wüst und leer. Magen,
Daselbst erhub sich große Not, fast mußt' der Reiter die Mähre
viel Steine gab's und wenig Brot, tragen. Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
1. Quelle des Gedichts. Über die Quelle, aus der Uhland den
Stoff zu seinem Gedichte geschöpft, war man längere Zeit im Zweifel,
weil verschiedene Chroniken- und Geschichtsschreiber diese Heldentat er-
wähnten. Der frühverstorbene Paul Eichholz hält in seinen „Quellen-
studien zu Uhlands Balladen", Berlin 1879, die in lateinischer Sprache
geschriebenen Annales Suevici von Crusins für die wahrscheinliche Quelle;
ihm stimmt Götzinger (Deutsche Dichter, 5. Ausl.) bei. Vor Crusins er-
wähnt schon ein byzantinischer Geschichtschreiber, Nicetas aus Chonä,
den Vorgang, und nach Crusins erzählte der Straßburger Schriftsteller
P. PH. Abelin die Sache in der „historischen Chronika", aus welcher
Abraham a Santa Clara sie kennen lernte und in seiner berühmten
Türkenpredigt: „Auf, aus, ihr Christen! das ist eine bewegliche An-
frischung der christlichen Waffen wider den türkischen Blutegel, Wien 1683"
berichtet. In dieser Predigt, welche auch Schiller in seiner Kapuziner-
predigt im „Wallenstein" benutzt hat, wird die Anekdote folgendermaßen
Uhland: Schwäbische Kunde.
167
erzählt: „Ruhmredig ist die Courage, welche jener teutsche Soldat ge-
habt in dem Kriegsheer Barbarossae; dieser tapfere Aleman und Schwab
konnte wegen seines abgematteten Pferdes der Armee nicht folgen, hatte
' also ziemlich weit nach derselben seinen müden Schimmel an dem Zaume
geführt, ganz alleinig, dem aber 50 starke Türken begegneten, vor welchen
er sich allein ganz nicht entsetzt, sondern mit einer Hand sein Roß ge-
halten, mit der anderen also gefochten und einen solchen Streich ge-
führt, daß er einen Türken vom Kopf hinab den ganzen Leib, auch durch
den Sattel bis auf die Haut des Pferdes von einander zerspalten, ob
welchem die anderen der Gestalten erschrocken, daß sie eilends die Flucht
genommen: dergleichen tapfere Courage gebührt einem rechtschaffenen
Soldaten."
2. Gliederung. Vers 1—10 schildert die Not von Barbarossas
Kriegsheer auf dem Wege nach dem heiligen Lande. Vers 11—19: Ein
schwäbischer Ritter muß wegen seines kranken Pferdes zurückbleiben. Vers
20—40: Der Kampf mit den 50 Türken und die Heldentat des Ritters.
Vers 41—44: Die Flucht der Türken. Vers 45—49: Eine Christen-
schar sieht die Heldentat und teilt sie dem Kaiser mit. Vers 50—56:
Das Gespräch zwischen dem Kaiser und dem Schwaben.
3. Erläuterungen. Vers 1. Lobesam: alter Ausdruck für lobens-
wert, löblich. Vers 3: Unter dem „frommen Heer" versteht der Dichter
die Kreuzzügler. Vers 8. „Hat dort den Trunk sich abgetan" kann
heißen: hat dort das Trinken verlernt, oder da die deutschen Reiter von
jeher in dem Rufe standen, starke Trinker zu sein, und deshalb, solange
sie lebten, sich den Trunk nicht abgewöhnen konnten: er starb vor Durst.
Vers 10. „Mähre" bedeutet im allgemeinen „Pferd", hier aber ein ab-
gemagertes, elendes Pferd. Vers 11. Nun war ein Herr aus
Schwabenlaud, d. i. ein schwäbischer Ritter. Vers 23. „Der wackre
Schwabe forcht sich nit": forcht ist die ältere mittelhochdeutsche Form
der Vergangenheit von fürchten, hier altertümelnd gebraucht, nit die süd-
westdeutsche Form der Verneinung, also: fürchtete sich nicht. Vers 25.
spicken: wie man das Fleisch des Wildbratens mit Speckstreifen versieht,
so wurde der Schild mit Pfeilen bedeckt. Vers 26. Und tät nur
spöttlich um sich blicken: volkstümliche Umschreibung für: er blickte
spöttisch um sich. Vers 48. Was Arbeit unser Held gemacht, urspr.
genauer: was der Arbeit (§sn. part. wie Brotes genug), jetzt: was für
Arbeit usw. Vers 52, 54 und 56. Streiche: Der Kaiser denkt bei dem
Streiche an den gewaltigen Hieb, den der Ritter ausgeführt hat; der
Ritter dagegen legt dem Worte die Nebenbedeutung einer mutwilligen
Handlung unter; und bei dem Worte „Schwabenstreich" denkt man an
eine törichte Handlung.
4. Die Form und Sprache des Gedichts. Beide sind in
hohem Grade charakteristisch. Der Stil ist schlicht und einfach; die Sätze
sind kurz und knapp; Inhalt und Form harmonieren. „Die Geschichte
ist eine Anekdote," sagt Eichholz, „wie sie im Zeitalter der Kreuzzüge
häufig entstanden, und es muß als ein glücklicher Griff des Dichters
168
II. Epische Dichtungen.
bezeichnet werden, daß er für dieselbe Versmaß und Stil der Reim-
chroniken wählte." Dieses Versmaß (die kurzen Reimpaare, seit dem
18. Jahrhundert auch Knittelverse genannt) wurde in mittelalterlichen
Gedichten, von Hans Sachs, später von Goethe, Schiller (Kapuziner-
predigt aus „Wallensteins Lager"), Rückert und Uhland mit Glück an-
gewandt. Der Vers ist vierhebig mit ein- oder zweisilbigem Auftakt und
wechselnder Zahl der Senkungen. Das Hervortreten des schwäbischen Dia-
lektes und der frei hinzugedichtete Schluß: „Man nennt sie halt nur
Schwabenstreiche," erinnern nicht nur an die spezielle Heimat des Dichters,
sondern verstärken auch den anmutigen Eindruck des Gedichts.
5. EinenHauptgedanken können wir deni Gedichte nicht unter-
legen, wohl aber dürfte die Absicht des Dichters, der selbst ein Schwabe
war, diese sein: den in ganz Deutschland bekannten, unbedachtsamen und
unbesonnenen Handlungen, welche man den Schwaben zutraut, ihre schlechte
und lächerliche Seite zu nehmen; denn in unserem Gedichte wird die an
sich unbedachte Handlung des Schwaben zu einer Heldentat, die nicht
nur die Bewunderung der Kreuzfahrer, sondern jedes Menschen erregt,
der die Erzählung der Geschichte vernimmt.
Nach Kriebitzsch ist die Idee folgende: „Der Dichter will — nicht
das Heldentum überhaupt an irgendeiner Tat und Person und Zeit,
sondern das Heldentum des mittelalterlichen Rittertums und
wiederum nicht dies überhaupt, sondern sofern es sich in dem schwäbi-
schen Volksstamme und hier vor allem in seiner liebenswürdigen Naivetät
und kernhasten Tüchtigkeit kundgibt, also: dienaiveTüchtigkeit des
schwäbischen Rittertums zur Anschauung bringen."
6. Charakter des Schwaben. Von alten Zeiten her hat man
sich über die Schwaben eigentümliche Urteile gebildet: man hält sie für
unbedachtsam und unbesonnen, man spricht daher vom Schwaben-
alter, von Schwabenstreichen. Allein diese Unbedachtsamkeit und Unbe-
sonnenheit ist nur eine Folge ihres Temperaments; bei einem Überfluß
von Trieben und Bestrebungen geraten sie oft in eine scheinbare Ver-
worrenheit, aus der sie sich nicht rasch wieder loswinden können, und
darum kominen sie dem Fremden, besonders dem kalten Norddeutschen,
wunderlich und täppisch vor. Daß die Schwaben ein geistig hochstehen-
des Volk sind, beweisen die vielen großen Männer, welche das Land
erzeugt hat, wie: Melanchthon, Keppler, Hegel, Schiller und der Dichter
obiger Erzählung. Im Kriege stehen sie keinem Volke an Tapferkeit nach.
Der Held unseres Gedichts ist ein großer, starker Mann (von
hohem Wuchs und starker Hand), dabei furchtlos (er forcht sich nit),
gutmütig (Er hätt' es (das Pferds nimmer aufgegeben, und kostet's
ihm das eigene Leben). Anfangs ist er ruhig und kaltblütig (ging
seines Weges Schritt vor Schritt), später aber, als „einer, dem die Zeit
zu lang, auf ihn den krummen Säbel schwang", wurde er zornig (Da
wallt dem Deutschen auch sein Blut), und der entsetzliche Hieb erfolgt:
„Zur Rechten sieht man wie zur Linken einen halben Türken herunter-
sinken."
Rückert: Barbarossa.
169
Auch Geistesgegenwart zeigt der Schwabe, indem er zunächst
dem Pferde die Vorderfüße abhaut, um dann den Mann desto besser
treffen zu können. In seinem Gespräche mit dem Kaiser offenbart er
Bescheidenheit (Die Streiche sind bei uns im Schwang) und Witz,
indem er seine Heldentat mit Schwabenstreichen vergleicht. Wahrhaft
rührend ist das Verhältnis des Ritters zu seinem Rosse geschildert.
„Mitleid und Liebe", sagt Hiecke, „zu seinem ganz entkräfteten Rosse,
dem er auch gar nicht mehr zumutet, ihn zu tragen, läßt den wackeren
Schwaben, trotz aller ihm sicherlich nicht unbekannten Gefahr, hinter der
schützenden Schar der Genossen immer weiter zurückbleiben. Der rechte
Reitersmann wird mit seinem Rosse eins; er und sein Tier haben zu-
sammen Leid und Freude erlebt; das Roß bekommt durch seinen Reiter
eine Geschichte und wird eine Stufe höher in der Reihe der Wesen ge-
rückt. Der Reiter wird aber auch sein treues, an ihm sich veredelndes
Pferd ehren und von ihm nicht lassen in der Not und Gefahr. So unser
wackerer Held! Er bleibt um des Rosses willen zurück." — W. D.
73. A. Barbarossa.
Friedrich Rückert. Gedichte (Auswahl des Verfassers). Frankfurt a. M- 1872. S. 104
I. Vorbereitung. Der hohenstausische Kaiser Friedrich I., den die
Italiener wegen seines rötlichen Bartes Barbarossa, d. h. Rotbart,
nannten, unternahm als 67 jähriger Greis einen Kreuzzug nach dem hei-
ligen Lande, um Jerusalem den Ungläubigen zu entreißen. .Siegreich
drang er in Kleinasien vor. Während das Heer an dem Flusse Saleph
(Kalykadnus) Mittagsrast hielt, suchte der Kaiser Erquickung in einem
Bade, oder, wie andere berichten, da ihm der Zug über die Brücke zu
langsam ging, sprengte er mit seinem Rosse in die Fluten. Da traf ihn
ein Schlagfluß. Nur mit Mühe wurde die Leiche den Wellen entrissen.
Unbeschreiblich war der Jammer des Pilgerheeres über den plötzlichen
Tod des Kaisers. Das deutsche Volk aber glaubte nicht an den Tod des
herrlichen Helden und wartete sehnsüchtig auf seine Wiederkehr. Mit
Friedrich Barbarossa schien das Glück und die Herrlichkeit des Deutschen
Reiches verschwunden. Zwietracht und Verwirrung, Ohnmacht und Ge-
setzlosigkeit, Verfall von Wohlstand und Glück wuchsen allerorten. Voll
Schmerz und Liebe schaute da das Volk zurück aus die glanzvollen, glück-
lichen Zeiten des großen Hohenstaufen und voll Sehnsucht und Hoffnung
vorwärts in eine Zukunft, wo ein Barbarossa wieder erstehen, das Un-
glück des Reiches enden und seine Herrlichkeit wiederbringen würde. So
entstand die Barbarossasage, die ursprünglich über Barbarossas
Enkel Friedrich II., der in voller Manneskraft plötzlich aus dem Leben
schied, verbreitet war. Die Sage berichtet nun: Der alte Kaiser Friedrich
Barbarossa ist durch einen Zauber, d. h. eine übernatürliche, heimliche
Gewalt, in ein unterirdisches Schloß des Kyffhäusergebirges in Thüringen
— nach anderen: des Untersberges bei Salzburg — versetzt worden. Hier
sitzt er schlafend auf einem Stuhle von Elfenbein und stützt sein Haupt
170
II. Epische Dichtungen.
auf einen weißen Marmortisch. Sein roter Bart, bei Lebzeiten dem gelben
Flachse ähnlich, leuchtet wie Glut des Feuers und ist durch den Tisch,
ja fast um denselben herum gewachsen. Zuweilen bewegt der Kaiser das
blonde Haupt, hebt die schweren Augenlider halb und zwinkt oder blinzelt
mit den Augen. Durch solch traumhaftes Augenzwinkern winkt er in
langen Zeiträumen — von 100 Jahren — einem Zwerge, kaum von der
Größe eines Knaben, hinauszugehen und nachzusehen, ob die Raben, die
Bilder der Zwietracht und des Unglücks, noch um den Berg fliegen und
krächzen. Ist dies der Fall, so schließt der Kaiser seufzend die Augen,
sthläst und träumt abermals 100 Jahre. Erst wenn der Bart ganz um
den runden Marmortisch gewachsen ist und ein mächtiger Adler in stolzem
Fluge sich aufschwingt, den Berg umkreist und den Rabenschwarm ver-
scheucht, erst dann wird der Kaiser mit seinen gleichfalls verzauberten
Getreuen erwachen, im Siegesläufe die Feinde niederwerfen und das
goldene Zeitalter Deutschlands bringen. — Die Sage ist von Friedrich
Rückert in der Zeit von Deutschlands Erniedrigung vor 1813 zu einem
volkstümlichen Liede nmgeschassen worden.
II. Vortrag.
1. Der alte Barbarossa,
der Kaiser Friederich,
im unterird'schen Schlosse
hält er verzaubert sich.
2. Er ist niemals gestorben,
er lebt darin noch jetzt;
er hat im Schloß verborgen
zum Schlaf sich hingesetzt.
3. Er hat hinabgenommen
des Reiches Herrlichkeit
und wird einst wiederkommen
mit ihr zu seiner Zeit.
4. Der Stuhl ist elfenbeinern,
daraus der Kaiser sitzt;
der Tisch ist marmelsteinern,
woraus sein Haupt er stützt.
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Am Südrande der fruchtbaren
goldenen Aue in Thüringen erhebt sich stolz der Kysshänserberg. Er ist
schön bewaldet und trägt aus seinem Gipfel den Rest eines Turmes, der
das letzte Überbleibsel einer Kaiserpfalz ist, die ehemals hier stand. Das
Schloß soll in den Berg versunken sein. In einem weiten Saale des-
selben steht ein Marmortisch, daneben ein Stuhl aus Elfenbein. Darauf
sitzt der Kaiser Friedrich, stützt seinen Ellenbogen auf den Tisch und das
Kinn in die rechte Hand. Sein seuerfarbiger Bart ist durch den Weißen
Tisch und fast um ihn herumgewachsen. Ringsum im Saale stehen
schlafend, wie lebende Erzbilder, die geharnischten Ritter. In der Nähe
des Tisches wartet ein dienstfertiger Zwerg aus die Winke des Kaisers.
2. Gedankengang. Str. 1—2. Barbarossa weilt lebend, aber
verzaubert in einem unterirdischen Schlosse. Str. 3. Er hat die Herrlich-
5. Sein Bart ist nicht von Flachse,
er ist von Feuersglut,
ist durch den Tisch gewachsen,
worauf sein Kinn ausruht.
6. Er nickt als wie im Traume,
sein Aug' halb offen zwinkt;
und je nach langem Raume
er einem Knaben winkt.
7. Er spricht im Schlaf zum Knaben:
„Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
und sieh, ob noch die Raben
herfliegen um den Berg!
8. Und wenn die alten Raben
noch fliegen immerdar,
so muß ich auch noch schlafen
verzaubert hundert Jahr."
Geibel: Friedrich Rotbart.
171
keit Deutschlands mit hinabgenommen, wird sie einst aber wiederbringen.
Str. 4—5. Er sitzt auf elfenbeinernem Stuhle und stützt das Haupt ans
einen marmornen Tisch, durch den sein fenerfarbiger Bart gewachsen ist.
Str. 6—7. In halbem Traume winkt er einen Zwerg herbei, damit
dieser oben nachsehe, ob die Raben noch um den Berg fliegen. Str. 8.
Seufzend wird er die Augen wieder zu hundertjährigem Schlafe schließen,
wenn dies noch der Fall ist.
Grundgedanke. Großes unb Schönes ist wie das Glücksverlangen
in der menschlichen Brust unvergänglich. Aus Druck und Trauer der
Gegenwart rettet sich die Erinnerung in eine schöne Vergangenheit und
die Hoffnung in eine verheißungsvolle Zukunft.
3. Eigentümliches. Des Dichters Seele war von Trauer über
die Schmach des Vaterlandes umfangen, als er das einfache, volkstümliche
Lied dichtete. Nur leise schiminerte ein Hoffnungsstrahl hindurch. Noch
nichts von dem Adler, der mit rauschendem Flügelschlage den Berg um-
kreist und den Rabenschwarm verscheucht! Einzelne Züge der Sage, wie
die von den schlafenden Rittern und von der Prinzessin, die in unver-
gänglicher Schönheit im Schlosse waltet und sich zuweilen droben den
Landleuten als gütige Fee zeigt, sind weggelassen, um nicht durch Neben-
figureu das Interesse von dem Kaiser abzulenken. Einzelne Zeilen enden
nicht mit Reimen, sondern mit Assonanzen (vokalischen Gleichklängen, z. B.
Barbarossa—Schlosse, gestorben—verborgen, Flachse—gewachsen usw.), um
die Sorglosigkeit und eine gewisse Schwerfälligkeit des Volksliedes in
bezug auf den Reim nachzuahmen.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
„Hoffe, du erlebst es noch, daß der Frühling wiederkehrt. Hoffen alle
Bäume doch, die des Herbstes Wind verheert, hoffen mit der stillen Kraft
ihrer Knospen winterlang, bis sich wieder regt der Saft und ein neues
Grün entsprang." (Rückert.) „Erinnern bleibt und Hoffen, Herz, sei nicht
bang! Es wird dir zwischen beiden die Zeit nicht lang!"
2. Verwandtes. Friedrich Rotbart von Emanuel von Geibel.
Und dann Rotbarts Testament von C. Költsch!,
8. Friedrich Notbart.
Emanuel v. Geibel, Gedichte. Stuttgart 1874. S. 156.
1. Tief im Schoße des Kyffhäusers bei der Ampel rotem Schein
sitzt der alte Kaiser Friedrich an dem Tisch von Marmorstein.
2. Ihn umwallt der Purpnrmantel, ihn umfängt der Rüstung Pracht,
doch auf seinen Augenwimpern liegt des Schlafes tiefe Nacht.
3. Vorgesnnken ruht das Antlitz, drin sich Ernst und Milde paart,
durch den Marmortisch gewachsen ist sein langer, goldner Bart.
4 Rings wie eh'rne Bilder stehen seine Ritter um ihi: her,
harnischglänzend, schwertnmgürtet, aber tief im Schlaf wie er.
5. Heinrich auch, der Ofterdinger, ist in ihrer stnminen Schar
mit den liederreichen Lippen, mit dem blondgelockten Haar.
172
II. Epische Dichtungen.
6. Seine Harfe ruht dem Sänger in der Linken ohne Klang,
doch auf seiner hohen Stirne schläft ein künftiger Gesang.
7. Alles schweigt, nur hin und wieder fällt ein Tropfen vom Gestein,
bis der große Morgen plötzlich bricht mit Feuersglut herein;
8. bis der Adler stolzen Fluges um des Berges Gipfel zieht,
daß vor seines Fittichs Rauschen dort der Rabenschwarm entflieht.
9. Aber dann wie ferner Donner rollt es durch den Berg herauf,
und der Kaiser greift zum Schwerte, und die Ritter wachen auf.
10. Laut in seinen Angeln dröhnend, tut sich auf das eh'rne Tor;
Barbarossa mit den Seinen steigt im Waffenschmuck empor.
11. Auf dem Helm trägt er die Krone und den Sieg in feiner Hand.
Schwerter blitzen, Harfen klingen, wo er schreitet durch das Land.
12. Und dem alten Kaiser beugen sich die Völker all' zugleich,
und aufs neu' zu Aachen gründet er das heil'ge deutsche Reich.
C. Notbarts Testament.
C. Költsch. Aus der Magdeburger Zeitung 1870.
1. Im alten Berg Kyffhäuser, dort im Thüringer Land,
da schläft der Kaiser Friedrich, der Rotbart beibenannt.
2. Er sitzt an seinem Tische und träumet schwer und bang:
„Mein Deutschland, o mein Deutschland, der Bart wächst gar so lang!"
3. Da horch! es hallt und dröhnet, es bebt der alte Turm:
„Das ist kein Ungewitter, das ist ein andrer Sturm!"
4. Der Kaiser Friedrich recket sich aus dem Schlaf und spricht:
„Wo bleiben denn die Raben? Die Raben fliegen nicht!"
5. „.Erwache, alter Kaiser, gekommen ist die Zeit
von Deutschlands Ruhm und Größe, von Deutschlands Einigkeit!*"
6. Der Kaiser hat vom Golde die Rüstung angetan,
und mit gewalt'gem Schritte steigt er den Berg hinan.
7. Und wie er sieht die Heere aus allen deutschen Gaun —
mit Tränen in den Augen, er mag sich selbst kaum traun■ —
8. und sieht sie zu einander einmütig alle stehn,
um für die deutsche Sache in Kamps und Tod zu gehn —
9. und wie er hört die Lieder: „Fest steht die Wacht am Rhein!"
und: „Deutschland über alles!" „Ganz Deutschland soll es sein!" —
10. und wie er sieht den Alten, den königlichen Greis,
da ruft er: „Deutschland einig! Dem Herrn sei Lob und Preis!
11. Nun kann ich selig schlafen, und hier mein Testament:
Das Zepter und die Krone leg' ich in deine Händ'!"
3. Rede-und Stilübungen, a) Welche Züge haben alle drei
Dichtungen gemeinsam? (Barbarossa schläft verzaubert im unterirdischen
Schlosse. Er sitzt am Tische und träumt; sein Bart ist durch den Tisch
gewachsen. Die Raben schwärmen um den Berg. Er hat die Herrlich-
keit des Reiches mit hinabgenommen und wird sie bei seinem Erwachen
wiederbringen.)
Költsch: Rotbarts Testament.
173
b) Welche Züge hat jedes Gedicht eigentümlich? Rückert: Er ist
niemals gestorben, lebt noch jetzt, hat sich verborgen zum Schlafe hin-
gesetzt. Sein Stuhl ist elfenbeinern. Sein Kinn ruht auf dem marmor-
steinernen Tische. Er wacht halb aus, winkt dem Zwerge, schickt ihn auf
Kundschaft nach oben und schließt seufzend wieder die Augen auf hundert
Jahre.
Geibel: Der Berg wird Kyffhäuser genannt. Der Saal ist durch
eine Ampel oder Hängelampe rot beleuchtet. Der Kaiser trägt die Rüstung
und den Purpurmantel. Ernst und Milde sprechen aus seinem Antlitz.
Der Bart ist golden. Die geharnischten Ritter stehen schlafend wie Erz-
bilder umher. Der Sänger Heinrich von Ofterdingen schaut mit Seherblick
die künftige Herrlichkeit Deutschlands, und auf der verklärten Stirn und
den liederreichen Lippen liest man den künftigen Preisgesang auf ein eini-
ges und mächtiges deutsches Reich. Das Schweigen ringsum wird zu-
weilen durch fallende Tropfen unterbrochen. Der große Morgen bricht
mit Feuersglut herein. Der Adler erhebt sich stolzen Fluges und ver-
scheucht die Raben. Unter Donnerrollen wacht der Kaiser mit den Rittern
ans, zieht durch das geöffnete Tor im Kaiserschmucke und unter Liederklang
zum Kampfe aus, einigt alle deutschen Völker und gründet aufs neue das
Deutsche Reich.
Költsch: Der Kyffhäuser liegt im Thüringer Lande. Der Kaiser
träumt schwer und bang. Er klagt, daß sein Bart so lang wachse, also
Deutschlands Zerrissenheit und Unglück fortdauere. Ein Sturm erschüttert
den alten Turm. Eine Stimme weckt ihn und verkündigt Deutschlands
Erwachen. Der Kaiser legt die goldene Rüstung an, steigt den Berg
hinan und sieht mit Erstaunen und Freudentränen die Heere aus allen
deutschen Gauen versammelt, begeisterte Vaterlandslieder singen und der
Führung eines königlichen Greises — des Königs Wilhelm — folgen.
Da preist er den Herrn und legt Zepter und Krone des Deutschen Reiches
als Testament oder Vermächtnis in die Hände des Heldenkönigs. Die
Sage ist zur Wahrheit, das Sehnen und Hoffen des deutschen Volkes
zur Erfüllung, das Ahnen zur Gewißheit geworden. Kaiser und Reich
sind durch König Wilhelm herrlich erneut; Barbarossa kann sich zum
seligen Schlummer niederlegen.
Was durch Rückerts Lied nur als schwache Hoffnung klingt, das
zeigen die beiden andern als Erfüllung. Geibel läßt die Erneuerung
durch Barbarossa selbst vollziehen. Költsch läßt den Kaiser Wilhelm als
Erben und Testamentsvollstrecker Barbarossas erscheinen.
e) Wie hat sich 1870 die Barbarossasage herrlich erfüllt?
ä) Erzähle einzelne Kyffhäusersagen! (Die goldenen Flachsknoten.
Die Prinzessin und die blaue Wunderblume. Der junge Schäfer, sein
Lied und sein Lohn. Die Musikanten im Kyffhäuser. Das junge Ehepaar,
das zur Hochzeit sein Geschirr bei der Prinzessin leihen wollte usw.)
6) Was bedeutet es wohl, daß der Bart durch den steinernen Tisch
gewachsen ist? (Der in Schlaf und Traum befangene Kaiser ist der Ver-
treter des deutschen Volkes. Sein Bart, an den sein Beiname erinnert,
174
II. Epische Dichtungen.
war ein charakteristisches Kennzeichen desselben. Der wachsende Bart be-
deutet die fortdauernde Lebenskraft des deutschen Volkes, die fortlebende
Idee von Kaiser und Reich. Aber sie ist eingeschlossen und gefangen in
den gleichsam versteinerten politischen Zuständen des zerrissenen Deutsch-
lands. Die Fesseln können nur gewaltsam — durch Blut und Eisen —
gesprengt werden.) P.
76. A. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe
Justinus Kerner, Lyrische Gedichte. Stuttgart 1854. S. 208.
1. Auf der Burg zu Germersheim,
stark am Geist, am Leibe schwach,
sitzt der greise Kaiser Rudolf,
spielend das gewohnte Schach.
2. Und er spricht: „Ihr guten
Meister,
Ärzte, sagt mir ohne Zagen,
wann aus dem gebrochnen Leib
wird der Geist zu Gott getragen?"
3. Und die Meister sprechen: „„Herr,
wohl noch heut' erscheint die
Stunde.""
Freundlich lächelnd spricht der
Greis:
„Meister, Dank für diese Kunde!"
4. „Auf nach Speier! Auf nach
Speier!"
ruft er, als das Spiel geendet;
„wo so mancher deutsche Held
liegt begraben, sei's vollendet.
5. Blast die Hörner! Bringt das
Roß,
das mich oft zur Schlacht ge-
tragen!"
Zaudernd stehn die Diener all',
doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!"
6. Und das Schlachtroß wird ge-
bracht.
„Nicht zum Kampf, zum ew'gen
Frieden,"
spricht er, „trage, treuer Freund,
jetzt den Herrn, den lebens-
müden!"
7. Weinend steht der Diener Schar,
als der Greis auf hohem Rosse,
rechts und links ein Kapellan,
zieht, halb' Leich', aus seinem
Schlosse.
8. Trauernd neigt des Schlosses
Lind'
vor ihm ihre Äste nieder;
Vögel, die in ihrer Hut,
singen wehmutsvolle Lieder.
9. Mancher eilt des Weg's daher,
der gehört die bange Sage,
sieht des Helden sterbend Bild
und bricht aus in laute Klage.
10. Aber nur von Himmelslust
spricht der Greis mit jenen
Zweien;
lächelnd blickt sein Angesicht,
als ritt' er zur Lust im Maien.
11. Von dem hohen Dom zu Speier
hört man dumpf die Glocken
schallen:
Ritter, Bürger, zarte Frauen
weinend ihm entgegen wallen.
12. In den hohen Kaisersaal
ist er rasch noch eingetreten;
sitzend dort auf goldnem Stuhl,
hört man für das Volk ihn beten.
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!"
spricht er dann mit bleichem
Munde.
Drauf verjüngt sich sein Gesicht
um die mitternächt'ge Stunde.
14. Da auf einmal wird der Saal
hell von überird'schem Lichte,
und entschlummert sitzt der Held,
Himmelsruh' im Angesichte.
15. Glocken dürfeu's nicht verkünden,
Boten nicht zur Leiche bieten,
alle Herzen längs des Rheins
fühlen, daß der Held verschieden.
16. Nach dem Dome strömt das Volk,
schwarz, unzähligen Gewimmels;
der empfing des Helden Leib,
seinen Geist der Dom des Himmels.
Kerner: Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe. 175
1. Quelle. Der Dichter hat den geschichtlichen Stoff mit einigen
Veränderungen wiedergegeben. Wernicke erzählt in seiner „Geschichte der
Welt" das Ende Rudolfs folgendermaßen:
„Rudolf saß gerade mit seiner jungen Gemahlin Agnes in Straß-
burg beim Brettspiel, das er besonders liebte; da trat sein Arzt ein und
machte ihn auf die bedenkliche Abnahme seiner Kräfte aufmerksam. Die
Mahnung an den Tod vermochte die Seelenruhe des Greises nicht zu
trüben. „Auf denn, nach Speier", rief er heiter und unerschrocken, „zu
der Gruft meiner Vorfahren!" Er schiffte sich ein und fuhr den Rhein
hinab. Nach einigen Nachrichten erreichte er Speier noch, nach andern
ereilte ihn bereits auf dem Wege nach seiner Burg Germersheim der Tod.
Man hob ihn vom Pferde und brachte ihn in eine Dorfkirche. Er setzte
sich aus seinen Stuhl und faltete die Hände zum stillen Gebet. Plötzlich
erhob er sich. „Ein König," rief er aus, „muß stehend sterben!" und
auf drei Ritter gestützt, verschied er am 15. Juli 1291. Sein Leichnam
wurde im Dom zu Speier neben dem Sarge Philipps von Hohenstaufen
beigesetzt. Das Volk betrauerte ihn tief; im schönsten Sinne war er ein
Mann desselben gewesen."
II. Gliederung und Erläuterung des Inhalts. 1. Abschnitt. Der
Kaiser auf der Burg zu Germers heim. (Str. 1—6.) Zu Ger-
mersheim, einer Stadt südlich von Speier, saß der kranke Kaiser beim
Schachspiel und fühlte seine Todesstunde nahen. Zwar war sein Geist
noch stark, dagegen der Leib schwach von den vielen Mühen und Arbeiten,
die es ihm gekostet hatte, um das Deutsche Reich nach der.kaiserlosen,
schrecklichen Zeit wieder in Ordnung zu bringen. Die körperliche Schwäche
mahnte den greisen Helden an den Tod, der aber nichts Schreckliches
für ihn hatte, sonst würde er die Ärzte nicht so ruhig nach der Stunde
seines Todes gefragt, noch viel weniger aus ihre unerschrockene Antwort:
„Herr, wohl noch heut' erscheint die Stund'!" freundlich lächelnd ge-
antwortet haben: „Meister, Dank für diese Kunde!" Mit derselben Lust,
mit der er früher das Roß zum Kampfe bestiegen hat, will er jetzt auch
seinen Weg zum Grabe nach Speier, wo schon andere Kaiser und Helden
begraben liegen, antreten, und keine Trauerlieder will er hören, sondern
freudigen Hörnerklang, „als ritt' er zur Lust im Maien". Und als die
trauernden Diener mit der Ausführung seiner Befehle zaudern, da ruft
er ihnen sogar ermutigend zu: „Folgt ohne Zagen!" Da endlich bringen
sie das Schlachtroß, und der Ritt „zum ewigen Frieden" geht vorwärts.
2. Abschnitt. Der Kaiser auf dem Wege nach Speier.
(Str. 7—11.) Welche Liebe der alte Herr genossen hat, das zeigt der
Dichter in den folgenden Strophen. Nicht nur der Diener Schwarm
weint, sondern sogar die alte Linde neigt ihre Zweige nieder, und der
Gesang der in der Linde wohnenden Vögel klingt bei seinem Scheiden
wehmutsvoller. Aber auch das Volk, welches die bange Sage gehört
hat, kommt eilend herbei, um den sterbenden Helden laut zu beklagen.
Und als er in die Nähe der Stadt Speier kommt, da läuten alle Glocken,
und alles Volk, Ritter, Bürger und sogar zarte Frauen, gehen dem ge-
176
II. Epische Dichtungen.
liebten Herrn weinend entgegen. Diese Teilnahme von Anfang bis zuin
Ende des Wegs hat dem alten, geliebten Herrn gewiß recht wohlgetan.
Es ist ihm aber auch der Weg ein Freudenweg; denn er spricht mit den
beiden ihn begleiteirden Geistlichen nur noch von Himmelslust, lote schon
sein lächelndes Antlitz beweist.
3. Abschnitt. Der Kaiser in Speier. (Str. 12—16.) Aber die
Todesstunde rückt immer näher, drum tritt er rasch in den Kaisersaal,
um für sein geliebtes Volk noch einmal zu beten. So ist der Held bis
zum letzten Atemzuge für das Wohl seiner Untertanen besorgt. Nachdem
er so seine letzte Pflicht erfüllt und auch als frommer Christ noch das
heilige Abendmahl genommen hat, da entschlummert er sanft mit „Him-
melsruhe im Angesicht". Endlich schildert uns der Dichter die Wirkung,
welche das Hinscheiden des lebensmüden Greises auf das Volk ausübt,
noch in kurzen, aber ergreifenden Zügen. Sonst verkündigen die Glocken
und Boten den Tod eines Menschen: hier aber brauchen sie es nicht, hier
fühlen alle Herzen längs des Rheines, daß der Held verschieden ist.
Und alles Volk strömt ungerufen noch einmal in den Dom, um seiner
Bestattung beizuwohnen.
III. Hauptgedanke. So stirbt ein pflichttreuer, frommer,
edler Herrscher, gottergeben und mit Freudigkeit, und so betrauert ihn
sein dankbares Volk.
IV. Charakter des Kaisers. Trotz seines Alters besaß Rudolf noch
einen klaren Geist in dem allerdings schwachen Leibe, liebte das
Schachspiel^war ein Held, der dem Tode ohne Furcht ins Auge schaute,
zeigte sich seiner Umgebung und seinem Volke bis zur letzten Stunde
als ein freundlicher Herr, besaß nicht nur bis zum letzten Augenblick echten
Heldenmut, sondern war auch fromm und seiner Kirche von Herzen
zugetan. Nachweis!
V. Poetische und sprachliche Darstellung. Rudolfs Ritt zum Grabe
gehört zu den schönsten und gelungensten epischen (erzählenden) Ge-
dichten Kerners. Das Bild des sterbenden Kaisers (Personen und Gegen-
stände) sind nur in kurzen Sätzen vorgeführt und dennoch so anschaulich,
daß alles vor unserm geistigen Auge so deutlich erscheint, als wären wir
selbst dabei. Zum Inhalte paßt auch die äußere Form. Überall läßt
der Dichter den 2. und 4. Vers reimen, während der 1. und 3. Vers
meist nur mit einer schweren, manchmal auch mit einer leichten Silbe
schließen. Die Reimweise gibt dem ganzen Gedichte etwas Volkstümliches
und paßt vortrefflich zu der Einfachheit des Ganzen. Der Gebrauch des
ruhig einherschreitenden vierfüßigen Trochäus eignet sich ebenfalls ganz
vorzüglich zu dem leidenschaftslosen Inhalte.
Die Lebendigkeit und Knappheit in der Darstellung ist durch die
kurzen Sätze in Befehlsform, in denen der Kaiser spricht, ganz besonders
gehoben. Zu gleicher Zeit sind diese kurzen Sätze auch dem Charakter des
Stückes vollkommen angepaßt/ Bei dieser Einfachheit und Kürze bietet
die sprachliche Darstellung auch manche Schönheiten dar. Besonders wirk-
sam sind die Gegensätze: Stark an Geist, am Leibe schwach; nicht zum
Der: Die Glocken zu Speier. — Kerner: Der reichste Fürst. 177
Kampf, zum ew'gen Frieden. In Str. 10 der lächelnde Greis,
in Str. 9 und 11 das laut klagende Volk, in Str. 13 und 14 die
dunkle Mitternacht und das überirdische Licht.
VI. Vergleichung des Gedichtes mit:
B. Die Glocken zu Speier.
Von M. v. Öer. Echtermeyer, Auswahl. Halle 1877. S. 250.
1. Zu Lüttich im letzten Häuselein,
da liegt ein Greis in Todespein;
sein Kleid ist schlecht, sein Lager
ist hart,
viel Tränen rinnen in seinen Bart.
2. Es hilft ihm keiner in seiner Not,
es hilft ihm nur der bittre Tod!
Und als der Tod ans Herz ihm
kam,
da tönt's auf einmal wundersam.
3. Die Kaiserglocke, die lange ver-
stummt,
von selber dumpf und langsam summt,
und alle Glocken groß und klein
mit vollem Klange fallen ein.
4. Da heißt's in Speier weit und
breit:
Der Kaiser ist gestorben heut'!
Der Kaiser starb, der Kaiser starb!
Weiß keiner, wo der Kaiser starb?
1. Zu Speier, der alten Kaiserstadt,
da liegt auf matter Lagerstatt
mit mattem Aug' und matter Hand
der Kaiser Heinrich, der Fünfte ge-
nannt.
2. Die Diener laufen hin und her,
der Kaiser röchelt tief und schwer; —
und als der Tod ans Herze kam,
da tönt's auf einmal wundersam.
3. Die kleine Glocke, die lange ver-
stummt,
die Armesünderglocke summt,
und keine Glocke stimmet ein,
sie summet fort und fort allein.
4. Da heißt's in Speier weit und breit:
Wer wird denn wohl gerichtet heut' ?
Wer mag der arme Sünder sein?
Sag' an, wo ist der Rabenstein?
Vorbemerkung. Geschichtliches über den Tod Heinrichs IV. und
Heinrichs V.: Heinrich IV. wurde von seinem Sohne, welcher nach
der deutschen Kaiserkrone strebte und deshalb freventlich gegen den Vater
die Waffen ergriff, gefangen genommen und zuletzt, nachdem er dem
Throne entsagt hatte, in Ingelheim festgehalten. Von allem, was er
hatte, entblößt, floh der alte, schwache Vater nach Lüttich, wo er bei
dem ihm befreundeten Bischof Albert gastliche Aufnahme fand und am
7. August 1106 vor Kummer und Gram über den unnatürlichen Sohn
starb. Erst im Jahre 1111 wurde sein Leichnam vom Banne gelöst und
in der Kaisergruft zu Speier feierlich beigesetzt. Heinrich V. regierte bis
1129 segenslos und verachtet von allen Rechtschaffenen. Er starb zu Utrecht
und wurde ebenfalls in Speier beigesetzt. W. D.
77. A. Der reichste Fürst.
Justinus Kerner, Lyrische Gedichte. Stuttgart 1854. S. 71.
1. Preisend mit viel schönen Reden saßen viele deutsche Fürsten
ihrer Länder Wert und Zahl, einst zu Worms im Kaisersaal usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
AdL. II. 8. Ausl.
12
178
II. Epische Dichtungen.
I. Einleitendes. Im Jahre 1495 war ein Reichstag vom deutschen
Kaiser Maximilian I. nach Worms, einer der blühendsten Städte im
Mittelalter, berufen. Während dieses Reichstages, der fünf Monate
dauerte, soll sich die in obigem Gedicht geschilderte Begebenheit zuge-
tragen haben.
II. Vermittlung. Str. 2. Der Fürst von Sachsen nennt sein
Land herrlich wegen des Reichtums an Silber. — Im Jahre 1471 hatte
man ein reiches Silberlager bei Schneeberg entdeckt. Das führte zu
fleißigern Betriebe des Bergbaues, und dadurch kam Wohlhabenheit in
das Land. Inwiefern die Macht seines Landes herrlich war, sagt der
Fürst zwar nicht, aber die Geschichte berichtet uns, daß die sächsischen
Kurfürsten damaliger Zeit mit die mächtigsten Regenten in Deutschland
waren.
Str. 3. Der Kursürst von dem Rhein preist die goldnen Saa-
ten und den edlen Wein seines Landes. In seinem reichen Lande, beson-
ders in den Teilen der Pfalz am Oberrhein zwischen Mainz, Baden, Loth-
ringen, Elsaß und Trier, wuchsen und wachsen noch heute in den Tälern
die schönsten Feldfrüchte und aus den Abhängen der Berge edle Weine.
Str. 4. Ludwig von Bayern rühmt von seinem Lande die
großen Städte und reichen Klöster. — Die großen Städte wie die
Reichsstädte Augsburg, Nürnberg usw. waren im Mittelalter reiche Han-
delsstädte, in denen die Gewerbe und Künste blühten und der Reichtum
zu Hause war. Aber auch die Klöster konnte Ludivig rühmen, denn in
ihnen wurden die Künste und Wissenschaften gepflegt. Sie waren reich
durch Schenkungen.
Str. 5 und 6. GrasEberhard von Württemberg rühmt nicht
den Reichtum des Landes und seiner Bewohner, aber die Liebe und
Treue der letzteren gegen ihn, ihren Landesherrn. — Eberhard von
Württemberg, zum Unterschiede von anderen Fürsten gl. N. „der mit dem
Barte" genannt, war geboren 1445 und trat schon im 11. Lebensjahre
die Regierung an. Er versprach anfangs nicht viel und soll in seiner
Jugend etwas leichtsinnig gewesen sein. Aber später war er mit Eifer
um das Wohl seines Volkes bemüht und deshalb von demselben besonders
geliebt. Der Kaiser Maximilian verlieh ihm auf dem Reichstage zu
Worms die Herzogswürde. Wegen seiner Vortrefslichkeit als Regent ging
im Munde des Volkes das Sprichwort von ihm: „Wenn unser Herrgott
nicht wäre, so wäre es niemand billiger als unser Graf!" Er starb 1496.
Als der Kaiser an seinem Grabe stand, nannte er ihn „den besten Freund
und den treuesten Ratgeber".
Str. 7. Die drei anderen Fürsten bekennen, daß Eberhard durch
die Treue seiner Untertanen der reichste Fürst sei. — Man erzählt von
Eberhard folgende Sage: Einst hatte er auf der Jagd sich verirrt; nach
längerem Uncherschweisen sank er ermattet an einer Eiche nieder und
schlief ein. Da brach die Nacht herein. Ein von der Arbeit heimkehrender
Köhler kam des Weges daher und sah den geliebten Fürsten liegen. Eiligst
brachte er ihn in seine Hütte und wachte treulich am Lager des schlafenden
3 immer mann: Graf Eberhard im Bart.
179
Herrn. Als am Morgen der Graf erwachte, fiel eine Träne aus dem
Auge des Köhlers auf feine Wange, ein Zeugnis herzlicher Liebe und
Uutertanentrene. (Ein Denkmal in Stuttgart stellt diefe Szene dar.) —
Das war das schöne Kleinod, dessen sich Eberhard im Fürstenkreise rüh-
men konnte.
III. Hauptidee. Der größte Reichtum eines Fürsten ist die
Liebe und Treue seiner Untertanen.
IV. Schriftliche Ausgabe: Vergleiche:
I*. Graf Eberhard im Bart.
W. Zimmermann, Gedichte. Stuttgart 1839. S. 69.
1. Zu Aachen saßen die Fürsten beim Mahle froh geschart
und rühmten ihre Lande, ein jeder nach seiner Art:
2. Der Markgraf seine Quellen, der Pfalzgraf seinen Wein,
der Böhme seine Gruben mit Gold und Edelstein.
3. Graf Eberhard saß schweigend. „Nun, Württemberg, sagt an,
was man von eurem Lande wohl Köstliches sagen kann!"
4. „Von köstlichen Brunnen und Weinen," Graf Eberhard begann,
„von Gold und Edelsteinen ich nicht viel rühmen kann.
5. Doch war ich einst verirret im dicksten Wald allein,
und unterm Sternenhimmel schlief ich ermattet ein.
6. Da war es mir im Traume, als ob ich gestorben wär',
es brannten die Trauerlampen in der Totengruft umher.
7. Und Männer standen und Frauen tief trauernd um meine Bahr'
und weinten stille Tränen, daß ich gestorben war.
8. Da fiel aufs Herz mir nieder ein Tropfen heiß und groß,
und ich erwacht' und ruhte in eines Bauern Schoß.
9. Vom Holzhau wollt' er gehen spät abends heimatwärts,
und mein Nachtlager wurde ein württembergisch Herz!"
10. Die Fürsten saßen und horchten verwundert des Grafen Mär'
und ließen höchlich leben des Württembergers Ehr'.
I. Ä h n l i ch k e i t e n. a) Beide Gedichte sind episch oder erzählend und
können wegen ihres mittelalterlichen Stosses zu den romanzenartigen Er-
zählungen gerechnet werden, b) Sie behandeln ein geschichtliches Ereignis
aus dem Jahre 1495 und erzählen von deutschen Fürsten, daß sie ihre
Länder gegenseitig gerühmt hätten, e) Der Preis wird dem Grafen von
Württemberg zuerkannt, weil er die treuesten und redlichsten Untertanen
habe. ä) Der Hauptgedanke beider Gedichte ist, daß Treue und Liebe
der Untertanen die größten Schätze eines Fürsten und Landes sind.
11. Verschiedenheite n. a) Während B den Schauplatz der Begeben-
heit nach Aachen versetzt, bleibt A ber geschichtlichen Quelle treu und läßt die
Handlung in Worms geschehen, b) Während A den Fürsten von Sachsen,
den Kurfürsten vom Rhein, den Herzog von Bayern und Eberhard uns
sprechend vorführt, nennt B nur die Namen der gegenwärtigen Fürsten
und -stimmt dabei mit A nur in bezug auf den Pfalzgrasen vom Rhein
12*
180
II. Epische Dichtungen.
und Eberhard überein. Für den Sachsen und beu Bayern tritt der Mark-
graf von Baden mit seinen Heilquellen und der Böhme mit seinen
Erzgruben auf. o) Während A dem Eberhard nur die allgemeine Be-
hauptung in den Mund legt, daß der Graf sein Haupt jedem Untertan
kühnlich in den Schoß legen könne, gibt uns B einen bestimmten Fall an,
der diese Behauptung zu beweisen imstande ist. ä) Während also A den
ersten Teil (das Gespräch der Fürsten) ausführlicher erzählt, gibt B dem
zweiten Teile (der Erzählung Eberhards) eine große Ausführlichkeit,
e) Wenn auch in beiden Gedichten zuletzt die Fürsten dem Württemberger
den Preis geben, so läßt A das von den Fürsten gemeinschaftlich aus-
sprechen, während B den Ruhm Eberhards, wie es sich beim Mahle von
selbst versteht, durch ein Lebehoch verkündigen läßt. W. D.
78. Der Pilgrim vor St. Just?)
A- v. Platen-Hallermünde, Gedichte. Stuttgart 1834. S. 8.
1. Nacht ist's, und Stürme sausen für und für;
hispan'sche?) Mönche, schließt mir auf die Tür!
2. Laßt hier mich ruhn, bis Glockenton mich weckt,
der zum Gebet euch in die Kirche schreckt!
3. Bereitet mir, was euer Haus vermag,
ein Ordenskleid und einen Sarkophag !3)
4. Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein,
mehr als die Hälfte dieser Welt war mein.
5. Das Haupt, das jetzt der Schere sich bequemt,
mit mancher Krone ward's bediademt.
6. Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt,
hat kaiserlicher Hermelin geschmückt.
7. Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich
und fall' in Trümmer wie das alte Reich.
1. Kloster in der spanischen Provinz Estremadura. 2. Spanische.
3. Ursprünglich ein Sarg aus einer Steinart, welche die Leiche rasch
aufzehren sollte, später jeder Steinsarg, jetzt ein Sarg in altertüm-
licher Form.
I. Vermittlung des Inhalts.
„Nacht ist's, und Stürme sausen für und für" usw.
So beginnt das Lied, um uns gleich in die trübe Stimmung zu
versetzen, in der es weiterklingt. In dunkler, sternloser, stürmischer
Nacht steht der Pilger vor dem spanischen Kloster, dem Bilde des Todes.
In seiner Seele selbst war es auch Nacht, und die Stürme, welche ihn
in seinem Leben so oft umsaust hatten, „sausen noch für und für". Er
kann ihnen mit seiner gebrochenen Kraft nicht mehr widerstehen. Drum
ruft er aus:
„Laßt mich hier ruhn, bis Glockenton mich weckt" usw.
So sehnt sich der müde Pilger nach Rühe, die ihm sein ganzes Leben
hindurch gemangelt hat. Große Pläne verfolgte er: „Er hatte Frankreich
Platen-Hallermünde: Der Pilgrim vor St. Just. 181
demütigen, die Türken zurückdrängen und schwächen, die getrennten Re-
ligionsparteien wieder vereinigen, die päpstliche Gewalt einschränken, die
alte Kaisermacht herstellen und die spanisch-habsburgische Dynastie auf
dem deutschen Throne befestigen wollen — von alledem war ihm nichts
gelungen; er hatte nicht vermocht, dem Strom einen andern Weg zu
graben; er war wider ihn, er war unterlegen" (Kriebitzsch). So hat das
Wort Bedeutung: „Laßt hier mich ruhn!" —
Drunl will er auch nicht nur als vorüberziehender Wanderer kurze
Zeit im Kloster rasten und sich erquicken, sondern auch für immer darin
aufgenommen sein:
„Bereitet mir, was euer Haus vermag . . . weiht mich ein."
Er will zur Brüderschaft des Klosters gehören und so für immer der
Welt Lebewohl sagen. Nur der Andacht will er die letzten Tage seines
Lebens weihen und nur dem Rufe der Glocken folgen, der oft die weltlich
gesinnten, zerstreuten Mönche schreckt, aber ihm nur eine liebe Ermahnung
zum Gebet ist. Bis hierher wußten wir noch nicht, wer dieser Mönch
war, aber schon der folgende Vers:
„Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein,"
erinnert uns an den Herrscher eines großen Reiches. Ihm gehorchten
ehemals die Völker von Spanien, Italien, Österreich, den Niederlanden
und von Amerika, und ihn schmückte die glänzendste Kaiserkrone, die des
Deutschen Reiches.
„Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt ... Hermelin geschmückt."
Aber gar so leicht ist es doch nicht, von dem höchsten Throne herab zu
steigen in die enge Zelle des stillen Klosters; jedes Zeichen, welches ihn
an die Aufnahme ins Kloster mahnt, erinnert ihn auch wieder an seine
Vergangenheit. Den Besitz der halben Welt gibt er für die Zelle; das
Haupt, welches jetzt kahl geschoren wird (die Tonsur), trug früher stolze
Kronen (Diadem, d. h. kostbare Kopfbinde der Könige); die Schultern,
welche jetzt nur die dunkle, einfache Kutte tragen, schmückte einst der Kaiser-
mantel von feinstem Hermelinfell. Aber alles ist nun für den Pilgrim
eitler Tand:
„Nun biu ich vor dem Tod den Toten gleich
und fall' in Trümmer wie das alte Reich."
Er wird in der einsamen Zelle vergessen von der Welt und vergißt selbst
die Welt, drum darf er sagen, daß er den Toten gleich ist; und wie er
seiner Auflösung entgegen ging, so sollte auch des Deutschen Reiches Herr-
lichkeit vergehen und zerfallen. Er fand bald Ruhe, aber im Reiche sausten
die Stürme noch „für und für".
II. Der Hauptgedanke läßt sich in dein Worte Salomonis zusam-
menfassen:
„Alles ist eitel", oder: „Alles, auch die höchste Herrlich-
keit und i r d i s ch e M a ch t, ist v e r g ä n g l i ch."
III. Sprachliche und poetische Darstellung. Es möchte wohl wenige
so kurze Gedichte geben, in denen die Darstellung, die Form und der
182
II. Epische Dichtungen.
Inhalt in so schöner Harmonie stehen wie hier. Zunächst sind es, wie
schon oben angedeutet wurde, die langen, schweren jambischen Verse,
welche die Lebensmüdigkeit des melancholischen Kaisers ausdrücken. Eben-
so ernst stimmen die vollen, dunkeln und düstern Laute, welche der Dichter
angewandt hat. Im hohen Grade ergreifend wirken die Gegensätze,
die von der dritten Strophe an bis zur siebenten sich fortwährend steigern
und den Grundgedanken, die Nichtigkeit der irdischen Größe, so anschaulich
darstellen.
IV. Vergleichung mit „Das Grab im Busento". Der „Pilgrim vor
St- Just" ist, wie das „Grab im Busento", ein schönes Nacht stück-
Aber welche Gegensätze enthalten beide Gedichte! Schon in der äußeren
Form! Dort die achtfüßigen Trochäen mit den weiblichen Endreimen,
die dem Gedichte das ernst-wehmütige Gepräge geben, hier die schweren,
langen Jamben, welche lebensmüde einherschreiten und in den männlichen
Schlußreimen jedesmal gleichsam einen Ruhepunkt machen.
Mehr noch aber sind die Gegensätze im Inhalte selbst ausgedrückt.
Dort der jugendlich-frische Alarich, ein tapfrer Held, welcher mitten in
seinen großen Plänen durch einen jähen Tod überrascht wird; hier ein
lebensmüder Greis, der schon „vor dem Tod den Toten gleich" ist. Dort
trauert ein ganzes Heldenvolk um seinen geliebten Herrscher; hier steht
mit gebrochener Kraft der Regent der halben Welt einsam in Sturm und
Wetter vor der Pforte eines finstern Klosters; kein Auge weint um ihn,
keine Stimme beklagt ihn. Dort begräbt das Volk seinen teuren Toten;
hier sucht der Herrscher sich selbst sein Grab und seinen Sarg. Tort
gräbt man dem jungen Helden ein seiner würdiges Grab in tiefer Erde
und unter rauschenden Wassern; hier legt sich der an Leib und Seele
gebrochene Herrscher schon vor dem wirklichen Tode in den Sarg. Dort
tönen noch die Heldenlieder lange fort nach dem Tode des Gestorbenen;
hier singt bloß der dumpfe Chor der Mönche in abgeschlossener Einsam-
keit seine ernsten Weisen. W. D.
79. Derfflinger.
I. Vorbereitung. Ein volkstümlicher Held, wie später Blücher,
war zu den Zeiten des großen Kurfürsten Georg von Derfflinger
(richtiger Dörfling). Er wurde 1606 in einem österreichischen oder böh-
mischen Dorfe als Sohn armer Bauersleute geboren, soll erst Schneider-
geselle gewesen sein lind trat später als gemeiner Soldat in schwedische
Kriegsdienste. Durch Kühnheit, Mut und Einsicht stieg er — erst in
schwedischen, dann in brandenburgischen Diensten — bis zum General-
feldmarschall und Reichsfreiherrn empor. Durch seine Tapferkeit, Derb-
heit, Biederkeit und Leutseligkeit war er der Liebling, ja der Abgott der
Soldaten, ivährend ihn seine Tapferkeit und Schnelligkeit zum Schrecken
(„Teufel") der Feinde machte. An den glorreichen Kriegstaten des großen
Kurfürsten hat er stets hervorragenden Anteil gehabt. Er starb 1695
auf seinem Gute Gusow in der Mark. Sein Leben und Wirken ist wie
das aller volkstümlichen Heldengestalten mit Sagen ausgeschmückt worden.
Fontane: Der alte Derffling.
183
So wird — ohne rechte historische Begründung — erzählt: Derfflinger
war in seiner Jugend Schneidergeselle; aber die enge Werkstätte (Höhle
oder Hölle genannt wegen der hingeworfenen Zeugabfälle) wurde seinem
lebhaften Geiste zur Hölle (zum Ort der Qual). Statt Maß, Elle,
Schere, Fingerhut und Nadel zu handhaben, schwang er im Geiste ans
dem Schlachtfelde das Schwert auf die Schädel der Feinde. Vergebens
zerbrach er sich den Kopf, wie er sein äußeres Geschick seiner inneren
Neigung gemäß gestalten könne. Als Handwerksbnrsche kam er einst ans
der Wanderschaft bei Tangermünde (nach andern bei Leitmeritz) an die
Elbe und wollte sich übersetzen lassen. Weil er aber kein Geld hatte,
ivies ihn der Fährmann spöttisch als „Schneiderbock" zurück, setzte aber
willig und respektvoll einen Trupp Kriegsleute über. Da warf der er-
grimmte Derfflinger sein leichtes Bündel in die Elbe, ließ sich als Dra-
goner anwerben, zeichnete sich bald durch Tapferkeit aus und stieg von
Stufe zu Stufe auf der Ehrenleiter. Ungern ließ er sich von anderen
an den ehemaligen Schneider erinnern und fertigte Spötter aufs derbste
ab. So soll ein Franzose einmal bei Tafel gefragt haben, ob wirklich
einer der kurfürstlichen Generale Schneider gewesen sei. Da sprang Derff-
linger heftig ans, schlug an seinen Degen und rief: „Hier ist der Mann,
von dem das gesagt wird, und hier ist die Elle, womit er Hunds-
fötter (verächtliche und schamlose Menschen) in die Länge und Breite
messen wird!"
Die Dichter Theodor Fontane und Friedrich v. Sallet haben den
alten Volkshelden in Gedichten verherrlicht. Fontane zeichnet ihn als
V e r t r e t e r d e r S ch n e i d e r z n u f t, den dieser Stand als D e g e n w e r t,
d. h. werten, tapfersten Degen, der Armee gestellt habe, und dem sie für
alle Zeiten ihre Honneurs (militärische Ehrenbezeigungen) zu machen
hätte. Er setzt den Lebensgang des Kriegshelden immer in Vergleichung
mit dem ehemaligen Schneiderberuf. Sein Gedicht ist ein Emporheben
des Schneiders in die Heldensphäre, eine Übertragung der schneiderlichen
Kunstausdrücke in die Heldensprache. Sallet malt in volkstümlichen,
derben Redewendungen das gelungene Streben eines Niedriggeborenen
nach den höchsten Zielen.
A. Der alte Derffling.
Theodor Fontane, Gedichte. 2. Aufl. Berlin 1875. S. 91.
1. Es haben alle Stände
und selbst in Schneiderhände,
kam einst das Heldenschwert;
drum jeder, der da zünftig
mit Nadel und mit Scher',
so ihren Degenwert,
und wenn er als Geselle
so saß und fädelt' ein,
schien ihm die Schneiderhölle
die Hölle selbst zu sein.
3. Einst als das Nadelhalten
vor Derffling sein Honneur.
der mache jetzt und künftig
ihm schier ans Leben ging,
dacht' er: „Das Schädelspalten
ist doch ein ander Ding!"
2. In seinen junget! Tagen
war das ein Schneiderblut,
. so Zwirn wie Fingerhut;
doch möcht' ihn: nicht behagen
Fort warf er Maß und Elle
voll Kriegslust an die Wand
und nahm an Nabels Stelle
den Säbel in die Hand.
184
II. Epische Dichtungen.
4. Sonst focht er still und friedlich
nach Handwerksburschen-Recht;
jetzt war er unermüdlich
beim Fechten im Gefecht;
es war der flinke Schneider
zum Stechen Wohl geschickt,
oft hat er an die Kleider
dem Feinde was geflickt.
5. Er stieg zu hohen Ehren,
Feldmarschall ward er gar,
es möcht' ihn wenig kehren,
daß einst er Schneider war;
nur — fand er einen Spötter,
verstund er keinen Spaß
und brummte: „Für Hundsfötter
sitzt hier mein Ellenmaß!"
6. Krank lag in seinem Schlosse
der greise Feldm arsch all;
keins seiner Lieblingsrosse
kam wiehernd aus dem Stall;
er sprach : „Als alter Schneider
weiß ich seit langer Zeit,
man wechselt seine Kleider, —
auch hab' ich des nicht Leid.
7. Es fehlt der alten Hülle
in Breite schon und Läng';
der Geist tritt in die Fülle,
der Leib wird ihm zu eng.
Gesegnet sei dein Wille,
Herr Gott, in letzter Not!"
Er sprach's und wurde stille, —
der alte Held war tot.
». Der Derfflinger.
Friedrich von Sollet, Ges. Gedichte. 2. Ausl. Breslau 1845. S. 243.
1. Der Derfflinger war ein Schnei-
' dergesell',
doch nimmer ließ es ihn ruhn;
er dacht' an andres als Nadel und
Ell'. —
„Was aber, was soll ich tun?"
2. Da kam er beim Wandern die
kreuz und quer
zum Fährmann bei Tangermünd;
hinüber wollt' er, sein Beutel war
leer.
„Lump, zahle, sonst Pack dich ge-
schwind !"
3. „Ihr nehmt doch dort die Kerle
mit,
es bezahlt euch ja keiner nicht." —
„Das sind auch keine Schneiderböck' uit,
sind Kriegsleut', Respekt, du Wicht!"
4. Die Lippen biß er, verhöhnt
blieb er stehn
und fluchte grimmig für sich:
„Ihr Schufte, das soll mir nicht zwei-
mal geschehn!
Ich zeig's, was sich schickt für mich." —
5. Da ward er ein rascher Reiters-
mann,
zum Teufel schmiß er die Ell',
dafür packt' er 'nen Degen an,
den schwang er gewichtig und schnell.
6. Bald hat er ein Regiment kom-
mandiert,
zuletzt ward er Feldmarschall,
da hat ihn kein Fährmann mehr ab-
geführt,
sie respektierten ihn all'.
7. Ein Gott der Soldaten, ein Teufel
im Streit,
wie maß er der Schwedischen Heer
bei Fehrbellin die Läng' und die
Breit'!
Die eiserne Elle war schwer.
8. Drum sag' ich: Keiner steh' still
in der Welt!
Wen's antreibt, nur vorwärts schnell!
Wer ein Held kann werden, der werd'
ein Held,
und wär's auch ein Schneidergesell.
II. Vergleichung der beiden Gedichte. 1. H a u p t i n h a l t u n d Ä h n -
lichkeiten. Beide Gedichte verherrlichen das erfolgreiche Streben des
niedrig geborenen Derfflinger nach den höchsten Zielen. Sie enthalten in
kurzen Zügen den Lebensgang des Helden: Schneidergeselle wider Willen,
Soldat aus Neigung, Feldmarschall durch eigene Kraft, Wahrer seiner
Ehre gegen Spötter, Muster für kriegerisches Streben!
2. Ort und Zeit. A umfaßt den gesamten Lebensgang des Helden,
insonderheit auch sein frommes Sterben, B nur die Zeit bis zur Schlacht
bei Fehrbellin (18. Juni 1675). A führt uns ganz allgemein in die
Minding: Fehrbellin.
185
Schneiderwerkstatt, auf die Wanderschaft, auf die Schlachtfelder, unter
die Spötter, an das Sterbelager in seinem Schlosse; B bezeichnet speziell
die Elbfähre bei Tangermünde und das Schlachtgetümmel von Fehrbellin,
an dem höchsten Ehrentage der brandenburgischen Waffen.
3. Charakteristik. A zeigt Derfflinger als wertesten Helden und
militärischen Schutzpatron der Schneiderzunft, B als Vorbild für jeden
strebsamen, mutigen Menschen. A führt uns Derfflinger vor als wider-
willigen und mißmutigen Schneider, friedlichen Handwerksburschen, mu-
tigen Reiter, glücklichen Fechter, geschickten Flickschneider am Wams der
Feinde, geehrten Feldmarschall, derben Abtrumpfer, kranken Greis, from-
men und gottergebenen Christen. Nach B ist Derfflinger als Schneider
unzufrieden und unruhig, als Gesell verhöhnt und erbost, als Reiter
rasch und tapfer, als Feldherr von den Feinden gefürchtet und von den
Soldaten geliebt.
4. Gedanken gang. A: Str. 1. Derfflinger ist der hochgeehrte
Patron der Schneiderzunft. Str. 2. Die enge Werkstatt wurde ihm bei
seinenl Drange ins Weite zur Hölle. Str. 3. Er vertauschte endlich die
Nadel mit dem Schwerte. Str. 4. Er focht, stach und flickte weiter —
aber auf dem Schlachtfelde. Str. 5. Den Spöttern maß er mit eherner
Elle die passenden Röcke an. Str. 6. Er rüstete sich auf den Tod und
nannte ihn einen Kleiderwechsel. Str. 7. Der gereifte Geist („tritt in
die Fülle") verläßt gottergeben die enge und gebrechliche Leibeshülle.
B: Str. 1. Derfflinger sinnt bei der Nadel über einen Berufswechsel.
Str. 2. Bei Tangermünde will ihn der Fährmann nicht übersetzen.
Str. 3. Er muß sich Spott und Schimpf gefallen lassen. Str. 4. Er
flucht über die angetane Schmach. Str. 5. Er wird ein flinker, tapferer
Reiter. Str. 6. Er steigt zu hohen Ehren; Str. 7 erklimmt die höchste
Ruhmessprosse in dem Siege bei Fehrbellin. Str. 8. Er wird allen
Strebenden als Muster hingestellt.
5. Sprachliche Form. A besteht aus sieben achtzeiligen Strophen
und ist in dreifüßigen Jamben mit abwechselnd männlichen und weiblichen
Reimen geschrieben. B besteht aus acht vierzeiligen Strophen, hat fünf,
bzw. drei jambisch-anapästische Versfüße und nur männliche Reime.
A wählt mit Vorliebe Ausdrücke der Schneidersprache und übersetzt sie ins
Kriegerische (zünftig, Honneur, Hölle, fechten, stechen, am Zeuge flicken,
anmessen, Kleider wechseln, zu eng werden). B führt eine derbe, volks-
tümliche Landsknechtssprache (kreuz und quer, Lump, Pack dich, Kerle,
keiner nicht, fluchte, Schufte, schmiß, pack an, haut gewichtig (schwer wie-
gend und tief schneidend), abführen, respektieren, Gott der Soldaten und
Teufel im Streit usw.). P.
8tt. Fehrbellin.
Von Jul. Min ding. Fünf Bücher Gedichte. Berlin, Posen ». Bromberg 1841. S. 124.
I. Vorbereitung. Die Schlacht bei Fehrbellin am 18. Juni 1675
brach die Macht der Schweden und bleichte ihren Kriegsruhm, dagegen
hob sie gewaltig das Ansehen Brandenburgs und gab dem Kurfürsten
186
II. Epische Dichtungen.
Friedrich Wilhelm den Beinamen „der Große". (Fehrbellin ist
eine kleine brandenburgische Stadt am Rhin, der westlich in die Havel
läuft. Ein herrliches Denkmal erinnert an die bedeutungsvolle Schlacht.)
Im Westfälischen Frieden erhielt Schweden Vorpommern bis an die
Peene, Frankreich aber den größten Teil des Elsaß. Der französische
König Ludwig XIV., „Herr Ludwig von der Seine", hatte es
ans eine weitere Zerstückelung und Zersetzung, d.h. Schwächung Deutsch-
lands, abgesehen. Unter nichtigen Vorwänden fiel er Deutschland mehr-
mals in seinen Raubkriegen an. Die Seele des sonst gar lässigen deutschen
Widerstandes war Friedrich Wilhelin von Brandenburg, der
sich als Kriegsheld im schwedisch-polnischen Kriege bewährt hatte. Das
erkannte der französische Gewalthaber gar bald. Um den gefährlichen
Gegner vom Rheine wegzuziehen, reizte er die Schweden zu einem ver-
heerenden Einfalle in die Mark von Pommern aus. Die Schweden hatten
nicht den geringsten Grund oder Vorwand zum Kriege. Nur durch die
französischen Hilfsgelder hatte sich das geldarme Schweden blenden und
die Hände binden lassen. Mit Widerwillen ließ es sich zum Kriege mit
Brandenburg hetzen. Als Friedrich Wilhelm von dem schwedischen Einfall
Kunde erhielt, rief er entrüstet: „Das kann den Schweden Pommern
kosten!" Aus den Winterquartieren am Main eilte der Kurfürst trotz
seines heftigen Gichtleidens in elf Tagen herbei. Die treuen Bauern hatten
sich inzwischen als eine Art Landsturm zum Widerstände zusammen-
gerottet. Auf ihre Fahnen schrieben sie: „Wir sind Bauern von geringem
Gut und dienen unserm Fürsten mit unserm Blut!" Aber sie waren mit
ihren Sensen und Dreschflegeln den geübten Kriegern nicht gewachsen.
Da kam unerwartet schnell die Hilfe. Mit List und Kühnheit nahm der
alte Derfflinger am 15. Juni die Stadt Rathenow. Am 18. Juni
erreichte der Kurfürst mit seinen Reitern die weichenden Schweden unter
Graf Waldemar Wrangel, dem Bruder des herbeieilenden Feld-
marschalls Gustav Wrangel, zwischen Linum und Hakenberg,
östlich von Fehrbellin. Ehe er zum Angriff überging, wollte er die An-
kunft des Fußvolks abwarten, das auf Wagen von Magdeburg ihm folgte.
Da kam die Kunde, daß der Prinz Friedrich von Hessen-Homburg,
ein alter Haudegen mit einem silbernen Beine, die Schlacht schon eröffnet
hätte. „Wir müssen ihm beistehen, sonst kriegen wir keinen Mann wieder!"
rief der alte Derfflinger. Und nun entbrannte der denkwürdige Kampf,
der schon nach zwei Stunden zum glänzenden Siege über die unbesieglich
geglaubten Schweden führte. Der Kurfürst selber stürzte sich mitten ins
Kampfgetümmel. An seiner Seite fiel sein Stallmeister Emanuel
Fr oben. Die Sage hat seinen Tod verklärt und ihn zu einem Opfer
der Treue gemacht. Wie? das erzählt uns das folgende Gedicht.
II. Stoffdarbietung durch Vorlesen des Gedichts.
l. .Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der große Kriegesheld,
seht, wie er auf dem Schimmel vor deu Geschützen hält!
Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin!
Das war ein heißes Streiten am Tag von Fehrbellin.
(Das Gedicht mit 16 Strophen findet sich in den meisten Lesebiichern.)
Minding: Fehrbellin.
187
III. Vertiefung, 1. Lagebild. Ein Hügel auf dem Schlachtfelde.
Ringsum Ebene, die der Rhin durchfließt. Der Kurfürst aus einem
Schimmel, das Fernglas in der Hand. Um ihn zu Roß die branden-
burgischen Generale Derfflinger oder Dörfling, Grumkow und
Stallmeister F r o b e n, letzterer auf einem Braunen. Östlich um die Dörfer
Linum und Hakenberg das brandenburgische Heer, besonders Reiterei mit
Standarten und Artillerie. Westlich um und in Fehrbellin die Schweden.
Kanonen blitzen dort auf, und Kugeln schlagen rechts und links vom
Kurfürsten ein.
2. C'harakt erzeich nung. Wie zeigt sich in dem Gedichte der
große Kurfürst als stattlicher Held, als entrüsteter D eutsch er,
als rascher Reiter, als umsichtiger Feldherr, als furchtloser
Held, als erstaunter Frager und als tiefgerührter Herr und
Freund? —
3. Gedankengang. Str. 1. Der herbeigeeilte Kurfürst. Str. 2.
Die aufgehetzten Schweden. Str. 3. Der feindliche Feldherr. Str. 4. Die
mutige Umschau. Str. 5. Der verhängnisvolle Befehl. Str. 6. Die furcht-
bare Lage. Str. 7. Der furchtlose Fürst. Str. 8. Der scheue und schäu-
mende Schimmel. Str. 9 und 10. Das schwankende Zollernglück (wäre
der Kurfürst — der Ahn im Kur Hute — hier gefallen, so hätte sein
Sohn Friedrich I. sich nicht die Königskrone aufsetzen können).
Str. 11. Der kritische Augenblick. Str. 12. Der kluge und mutige Vor-
schlag des treuen Dieners. Str. 13. Der stille Rossewechsel. Str. 14.
Das bange Schweigen. Str. 15. Das blutige Opfer und Str. 16 der
unvergängliche Ruhm der Treue. — Das Gedicht gliedert sich in fünf
Abschnitte:
I. Die Ursache des Kampfes und seine Eröffnung. Str. 1—4.
II. Der Kurfürst auf dem Schimmel als Zielscheibe der schwedischen
Geschütze. Str. 5—8.
III. Die Bedeutung dieses Augenblicks für die Zukunft des Zollern-
hauses. Str. 9—11.
IV. Frobens kluger Rat und mutige Tat. Str. 12—15.
V. Die Wirkung seines Opfertodes. Str. 16.
Grundgedanke: Lieber das Leben als die Treue lassen.
4. Eigentümlichkeiten. Der Tod Frobens fand im Schlacht-
getümmel statt; der Dichter verlegt ihn auf einen Ritt vor der Schlacht
zur Besichtigung des Schlachtfeldes. Der Tod Frobens wird als ein
Opfer der Dienertreue infolge des Rossewechsels behandelt, während dies
geschichtlich nicht erwiesen ist. Das Gedicht wirft rückwärts einen Blick
auf die frevlen Schürer des Krieges, zeigt den mutigen Zollernhelden lute
den opferfreudigen Diener gegenwärtig und deutet prophetisch auf die
Zukunft von Fürst und Volk in Brandenburg. Die Größe des Landes
erwuchs aus dem Heldenmut seiner Fürsten und aus der Vaterlandsliebe
und Treue der Untertanen. Das Gedicht zeigt also die Quellen von
Preußens Kraft und Größe.
188
II. Epische Dichtungen.
IV. Verwandtes: Wilhelm I. im Granatfeuer von Königgrätz: „Ich
weiß, wohin ein König von Preußen gehört! — Ich kann doch nicht
davonreiten, wenn meine brave Armee im Felde steht!" — Der treue
Diener in Ostrowo opfert sich im Kampfe mit den Wölfen, um die Familie
seines Herrn zu retten. — Die treue Magd kämpfte mit dem tollen Hunde,
damit andere nicht von ihm gebissen würden. — Arnold von Winkelried
machte durch seinen Opfertod der Freiheit seiner Eidgenossen eine Gasse usw.
?.
81. A. Der Choral von Leuthen.
Hermann Besser*). Echtermeyer, Auswahl deutscher Gedichte. Halle 1852. S. 293.
t. Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. Nasch über Berg und Tal von
dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl. Die Preußen stehn aus
Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht; des Tages Schreckenswerke
rings umschleiert mild die Nacht.
2. Doch dunkel ist's hier unten nur, am Himmel Licht an Licht; die
goldnen Sterne ziehn herauf, wie Sand am Meer so dicht; sie strahlen so
besonders heut', so festlich hehr ihr Lauf; es ist, als wollten sagen sie: „Ihr
Sieger, blicket auf!"
3. Und nicht umsonst! Der Preuße fühlt's: es war ein großer Tag.
Drum still im ganzen Lager ist's, nicht Jubel noch Gelag. So still, so ernst
die Krieger all', kein Lachen und kein Spott. — Auf einmal tönt es durch
die Nacht: „Nun danket alle Gott!"
4. Der Alte, dem's mit Macht entquoll, singt's fort, doch nicht allein,
Kam'raden um ihn her im Kreis, gleich stimmen sie mit ein. Die Nachbarn
treten zu, es wächst lawinengleich der Chor, und voller, immer voller steigt
der Lobgesang empor.
5. Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schar an Schar,
einfallen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein auch der Husar. Auch Musika will
feiern nicht, zu reiner Harmonie lenkt Horn, Hobo' und Klarinett die heil'ge
Melodie.
6. Und stärker noch und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer;
anr Ende, wie aus einem Mund, singt rings das ganze Heer. Im Echo
donnernd widerhallt's das aufgeweckte Tal, wie hundert Orgeln braust hinan
zum Himmel der Choral.
I. Vorbereitung. Am 5. November 1757 hatte Friedrich der Große
bei Roßbach in der Provinz Sachsen über die Franzosen und die Reichs-
armee einen glänzenden Sieg erfochten. Aber in Schlesien sah es so
schlimni aus, daß Friedrich in größter Eile dorthin aufbrechen mußte,
wenn nicht das ganze Land wieder verloren gehen sollte. Die Haupt-
festung Schweidnitz und die Hauptstadt Breslau waren bereits am 23. No-
vember in den Händen der Österreicher. So eilte er denn mit seiner
kleinen, aber mutigen Schar in Eilmärschen dorthin und kam anfangs
Dezember in die Nähe des Feindes. In frischer Begeisterung glühten
die Sieger von Roßbach, dem zweiten großen Feinde entgegengeführt zu
werden, zumal sie Friedrich durch seine berühmte Rede noch kräftig an-
gefeuert hatte.
*) Der Dichter Hermann Besser, geb. 1807 zu Zeitz, ist nicht zu ver-
wechseln mit Joh. Besser (gest. 1729), der in einigen Lesebüchern fälschlich
als Verfasser des Gedichts genannt wird.
189
Besser: Der Choral von Leuthen.
Der österreichische Anführer, Prinz Karl von Lothringen, und sein
berühmter General Daun hatten mit 90000 Mann und 210 Geschützen
eine feste Stelle an der Lohe bei Breslau eingenommen. Daun riet, sie
nicht zu verlassen; aber Prinz Karl und die meisten andern Generale
meinten, es sei unter ihrer Würde, mit einer so ungeheuren Übermacht
einer Handvoll Volks wie dieser „Berliner Wachtparade" gegenüber hinter
Verschanzungen stehen zu bleiben. Sie gingen daher dem Könige bis über
die Weistritz entgegen. Als dieser sie keck ins offene Feld kommen sah,
sprach er freudig: „Der Fuchs ist aus seinem Loche gegangen, nun will
ich seinen Übermut bestrafen." Am folgenden Tage, Montag, den
5. Dezember, stellte Prinz Karl seine Armee in der Umgegend von
Leuthen auf.
Kampfesmutig, geistliche Lieder singend, rückten die Preußen an:
„Gib, daß ich tu' mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein
Befehl in meinem Stande führet; gib, daß ich's tue bald, zu der Zeit,
da ich soll, und wenn ichs tu', so gib, daß es gerate wohl." Der Geist
mußte ersetzen, was der Zahl gebrach; es waren nur 32000 Mann mit
166 Geschützen.
Mir dieser kleinen Zahl griff Friedrich am Vormittage den Feind
an, und schon um 41/2 Uhr war das fast dreimal größere Heer des
Feindes geschlagen. Die früh anbrechende Nacht war der einzige Schutz
der Fliehenden. 10000 tote und verwundete Österreicher deckten das
Schlachtfeld, und 21000 Gefangene nebst 116 Kanonen und 59 Fahnen
fielen dem Sieger in die Hände. 5000 Mann waren ihm getötet, aber
die Gefallenen bluteten und starben mit der männlichen Begeisterung, mit
welcher sie fochten. Ein gefangener bayerischer General stieß auf einen
preußischen Grenadier, der in seinem Blute schwamm; beide Füße waren
ihm abgeschossen, aber er rauchte ruhig seine Pfeife. Der Bayer sprach
seine Verwunderung aus, der Preuße versetzte kaltblütig: „Ick sterbe vor
Fritze!" Ein anderer Grenadier verlor sein Bein; er stützte sich auf sein
Gewehr wie auf eine Krücke und schleppte sich bis an die vorüber-
marschierenden Gefährten: „Fechtet als brave Preußen," schrie er, „siegt
oder sterbt für euren König!" Waren je die Taten der alten Griechen und
Römer bewunderungswürdiger? Als das siegreiche Heer, erschöpft von
den anstrengenden Märschen und den heutigen Mühen, in der Dunkelheit
langsam über das Schlachtfeld nachrückte, stimmte ein alter Grenadier
aus bewegtem Herzen das schöne Lied: „Nun danket alle Gott!" an.
Andere sangen mit. Endlich fiel alles in Begleitung der Feldmusik ein,
und ein Gesang, wie er nimmer wohl gehört wurde bei solchem Anlaß,
brauste durch das nächtliche Dunkel: „Nun danket alle Gott mit Herzen,
Mund und Händen" usw.
Das war der Anlaß zu unserm Gedichte.
II. Erläuterung des Inhalts. Str. 1 schildert uns in wenigen Worten
die ganze Situation. Der Sieg war errungen. Der Feind zog ab über
Berg und Tal. Das war in vollstem Sinne des Wortes wahr; denn
Zielen und Fouquch die beiden Generale Friedrichs, verfolgten den Feind
190
II. Epische Dichtungen.
bis nach Böhmen hinein über das Gebirge hinweg. Die Preußen vlieben
auf deni Schlachtfelde. „Das heiß noch von der Schlacht" soll nns er-
innern an die fast übermenschlichen Anstrengungen des tapfern Heeres,
bei dem es jedem Krieger trotz der Winterkälte Heiß wurde. Die Nacht
umschleiert mild „des Tages Schreckenswerke". Tausende von Toten und
Verwundeten lagen auf dem Schlachtfelde. Jammer und Elend in Fülle
hätte man sehen können, wenn nicht die Nacht alles mit mildem Schleier
bedeckt hätte. Waren doch zu damaliger Zeit die Einrichtungen, den Ver-
wundeten beizustehen, noch lange nicht so vortrefflich wie im letzten Kriege
(1870/71). Wie viele todeswunde Krieger mußten in dieser Nacht ver-
bluten, erstarren und sterben, ohne daß ihnen auch nur die geringste Hilfe
gebracht wurde! Dieses schauerliche Bild bedeckte die gütige Nacht.
Str. 2 weist uns auf den Himmel, der, wenn's auch auf Erden dunkel
ist, in unzähligen Lichtern erstrahlt. Es kommt dem Dichter vor, als ob
gerade in dieser Nacht die Sterne noch heller leuchteten als sonst. Und
warum das? Damit die Sieger zu dem hinaufblicken möchten, von dem
ja alle Hilfe kommt. '
Str. 3. Die Aufforderung ist nicht umsonst geschehen. — Man hätte
glauben sollen, meint der Dichter, nach solch einem Siege müßte Jubel
erschallen, und die Soldaten könnten sich nun an den Wachtfeuern bei
Speise und Trank gütlich tun. („Gelag", ein Mahl, bei welchem die
Gäste fröhlich und ungebunden schmausen und zechen.) Doch das lag den
Kriegern heute fern. Die großen Anstrengungen, die Schreckenswerke,
die vielen Toten und stöhnenden Verwundeten auf dem Schlachtfelde und
vor allem die große Gefahr, in der die sämtlichen preußischen Krieger,
der König und das ganze Preußenland vor der Entscheidung durch die
Schlacht geschwebt hatten, ließen kein Lachen und keinen Spott aufkommen.
Still und ernst lagen die Soldaten im Biwak, bis auf einmal eine Stimme
sang: „Nun danket alle Gott!"
Str. 4. Der erste Ton der Melodie war kaum dem Munde des alten
Grenadiers „mit Macht" entquollen, da stimmten die Nachbarn ein, und
„lawinengleich" (d- h. wie an die niederrollende Lawine immer neue
Massen von Schnee sich anhängen) wuchs die Masse der Sänger.
Str. 5. Erst waren es nur die Regimenter der Grenadiere; bald
aber stimmten andere Truppengattungen, die Jäger und die Husaren,
kräftig mit ein- Sogar die Musiker können nicht feiern; alle Instrumente:
Horn, Klarinette, Hoboe (ebenfalls ein Blasinstrument, ähnlich der
Klarinette) fallen mit ein in die heilige Melodie.
Str. 6. Endlich „schwillt der Strom zum Meere": auch nicht einer
aus der ganzen Armee schweigt; donnernd hallt das Echo wider durch
das Tal, und es braust zum Himmel der vieltausendstimmige Gesang.
III. Gliederung. A. Str. 1 und 2. Der Abend nach der Schlacht
bei Leuthen und die Mahnung der Sterne. B. Str. 3—6. Die ernste
Stimmung und das Danklied der Preußen.
IV. Hauptgedanke. Bei großen Ereignissen, in denen der ernste
Mensch die Hilfe Gottes erkennt, verlangt das Herz zunächst nicht nach
Brunold: Die Markaner bei Friedrich II.
191
lautem Jubel, sondern nach ernster Erhebung, die sich gern in einem
Lobgesange ans den Allmächtigen ausspricht. Oder: Ein zur rechten Zeit
angestimmtes frommes Lied überwältigt auch ben Gleichgültigsten und
veranlaßt ihn, in den Lobgesang mit einzustimmen.
V e r g l e i ch u n g des Gedichts mit dem „Choral von Kaiserslautern".
II. Der Choral von Kaiserslautern.
Von Wilhelm Osterwald. Lieder zu Schutz und Trutz. Berlin 1875. S. 113.
Das war im lust'gen Lautern, der alten Kaiserstadt,
dort in der Pfalz am Rheine, die viel erlebet hat,
ein Leben ohnegleichen im Anfang des August;
drin an der Pfalz wollt' büßen der Franzmann seine Lust usw.
(In der Pfalz sammelte sich 1870 die Armee des Prinzen Friedrich
Karl; besonders in der Stadt Kaiserslautern wimmelte es von Soldaten.
Die Krieger fanden die herzlichste Aufnahme. Feste mit Musik, Gesang
und Tanz wurden gefeiert. Einige thüringische Konipagnien waren in
einer Kirche untergebracht. Die Soldaten kochten, putzten, lachten an
heiliger Stätte oder legten sich zum Schlafe nieder. Da ertönte plötzlich
Orgelklang. Ein Lehrer, der mit ausgezogen war, dem Erbfeinde ent-
gegen, spielte den Choral: „Herr Gott, dich loben wir!" Singend fiel
die Kriegerschar ein, und gewaltig erscholl der Choral hinaus auf Straßen
und Markt. Lauschend standen die Bürger, und gerührt sprach einer zu
dem andern: „Gott sei Dank! Solch Kriegsvolk schlägt den Feind!")
I. Ähnlichkeiten: In beiden Gedichten wird von Kriegern ein
Choral gesungen. Ein einfacher Krieger stimmt das Lied an. Alle Krieger
werden durch den einen angefeuert, andachtsvoll mitzusingen.
II. Verschiedenheiten in bezug auf die Zeit, den Ort, die
Veranlassung, den Gesang, die Begleitung, die Wirkung des
Gesanges. W. D.
82. A. Die Markaner bei Friedrich II. (1757.)
Ferdinand Brunold, Gedichte. Berlin 1846.
1. Es sprach der große König:
„Die Schlacht ich wohl gewann,
doch hat sie mich gekostet
auch manchen guten Mann.
2. Wo nehm' ich nun Soldaten
und Regimenter her?
Österreich darf Schlesien
bekommen nimmermehr!"
3. Da nahen ries'ge Gestalten
sich unaufgefordert dem Fritz;
des Königs Heldenauge
mustert sie von dem Sitz.
1. „Woher, ihr Enakskinder,
ihr Söhne kräftig und stark?"
„Wir woll'n Soldaten werden,
sind aus der Grafschaft Mark." —
5. „Wer rief euch „Niemand, König!"
„Wer hat euch rekrutiert?" —
„Uns schicken unsre Väter,
sind selber hermarschiert."
6. „Wer führt euch an?" — „Auch
keiner!" —
„Und niemand desertiert?" —
„Wir brauchten nicht zu kommen,
hütt's einer gern vollführt!"
7. Des Königs Auge leuchtet.
„Noch bin ich," ruft er, „stark,
wenn solche Söhne sendet
unaufgefordert die Mark.
8. Mit solchen Soldaten siegen,
wird mir wohl nimmer schwer —
Österreich bekommt Schlesien
nun und nimmermehr!"
192
II. Epische Dichtungen.
I. Erläuterungsfragen. Wer sind die Markaner? (Bewohnerder
Grafschaft Mark in Westfalen. Das kleine Land ist von der Ruhr durch-
flossen und hat Hamm als Hauptstadt. Bei Teilung der Jülichfchen Erb-
schaft 1609 kam es an Brandenburg. Die Bewohner treiben Ackerbau,
Viehzucht, Bergbau und Industrie, besonders Metallwarenfabrikation. —
„Jst's, wo der Märker Eisen reckt?" — Sie zeichnen sich durch Tätigkeit
und patriotische Gesinnung aus.) Wer ist der große König? Welchen
Krieg führte er und wann? Welche Schlachten gewann er 1757? Auf
welche Weise erhielt man damals Soldaten und bildete Regimenter
daraus? (Durch Anwerbung. Werbeoffiziere, denen gewisse Gebiete an-
gewiesen waren, bewogen — heimlich oder öffentlich — gegen Zahlung
eines Handgeldes die Rekruten zum Eintritt in das Heer. Die Ge-
worbenen wurden unter Aufsicht dem Heere zugeführt. Im Fall der Not
hob der Kriegsherr zwangsweise Soldaten aus.) Was ist mit dem Sitz
des Königs nicht, und was ist gemeint? (Nicht der Thron, sondern ein
Feldstuhl.) Was sind Enakskinder nach 4. Mos. 13, 34? Wer hat sie
geworben (ausgehoben, rekrutiert)? Was hat die Väter bewogen,
ihre Söhne dem Könige ohne irgend welche Aufforderung zuzusenden?
(Ihre Liebe zum Könige und seine Verlegenheit.) Wer führte sonst die
Rekruten? Was vollführten letztere häufig auf dem Marsche? (Sie
desertierten, d. h. entflohen der Fahne und ihrer Pflicht.) Warum ge-
schah dies von keinem Markaner? Was leuchtete aus dem Heldenauge
des Königs? Worin besteht die Stärke des Königs? (In der Liebe, Be-
geisterung und Opferwilligkeit seiner Untertanen.) Warum wird der Sieg
mit solchen Soldaten nicht schwer? Worin wurzelt Friedrichs Über-
zeugung, daß Österreich sein Schlesien nie wieder erhält?
II. Der Schmied von Solingen
Karl Joseph Simrvck. Gedichte. Leipzig 1844.
1. Zu Solingen sprach ein Schmied
bei jedem Bajonette,
das seinem Fleiß geriet:
„Ach, daß der Fritz es hätte!"
2. Wenn er die Zeitung las
von seinem Lieblingshelden,
da schien ihm schlechter Spaß,
nicht lauter Sieg zu melden.
3. Einst aber hat es sich
viel anders zugetragen;
da hieß es, Friederich
sei bei Kollin geschlagen.
4. Der Schmied betroffen rief:
„Hier muß geholfen werden,
sonst geht die Sache schief!"
und riß den Schurz zur Erden.
5. Ihm waren Weib und Kind
wohl auch ans Herz gewachsen,
doch lief er hin geschwind
zu Friedrichs Heer nach Sachsen.
6. Und eh' man sich's versah,
begann die Schlacht zu tosen:
mit Seidlitz schlug er da
bei Roßbach die Franzosen.
7. Das deucht' ihm nicht genug.
Viel schlimmre Feinde dräuten,
er ließ nicht ab und schlug
mit Zieten noch bei Leuthen.
8. Da ging es herrlich her,
zu ganzen Bataillonen
ergab sich Ostreichs Heer
mit Fahnen und Kanonen.
9. „Und somit wär' vollbracht,"
gedacht' er, „meine Sendung;
es nimmt nach solcher Schlacht
von selber andre Wendung."
10. Mit Urlaub kehrt' er um,
für Weib und Kind zu sorgen,
und hämmerte sich krumm
vom Abend bis zum Morgen.
Simrock: Der Schmied von Solingen.
193
11. Der Krieg ging seinen Gang,
man schlug noch viele Schlachten,
die oft ihm angst und bang
in seiner Seele machten.
12. Als endlich Friede war,
„Fritz," rief er, „laß dich küssen,
ich hätte dir fürwahr
sonst wieder helfen müssen!"
II. Erläuterungsfragen. Wo liegt Solingen, und wodurch ist es
bekannt? (Im Reg.-Bez. Düsseldorf auf einer Anhöhe unweit der Wup-
per. Es ist berühmt durch seine Stahlwaren, besonders die Säbel- und
Degenklingen, Bajonette, Messer usw.) Was für ein Schmied war der
Held unseres Gedichtes? (Ein Waffenschmied. Sein Name war „P e t e r
Hahn, der treue Solinger." Von ihm erzählen die „Sagen und
Geschichten der Länder Kleve-Mark, Jülich-Berg und Westfalen" von
Montanus.) Aus welchen Worten spricht sein Fleiß, sein Geschick,
seine Bildung, seine Königsliebe? Warum war Friedrich sein
Lieblingsheld? (Wegen seines Mutes, seiner Weisheit, seiner Siege
und seiner Leuseligkeit.) Was für Meldungen erwartete er in der Zei-
tung nur von seinem Helden? (Sieg und nichts als Sieg.) Was glaubte
er, wenn die Zeitung keine Siege meldete? (Sie mache nur schlechte
Späße.) Welche erste Niederlage erlitt Friedrich? (Bei Kollin an der
Elbe am 18. Juni 1757.) Was glaubte der Schmied, in dieser Not des
Königs bei seiner Liebe, seinem Eifer und seiner Einfalt tun zu müssen?
(Er könne und müsse dem Könige mit seiner Kraft beispringen, sonst gehe
die Sache schief, d. h. mißglücke, der König unterliege und Schlesien
ginge verloren.) Warum riß er den Schurz (die Lederschürze, welche
die Kleider vor den sprühenden Funken schützt) ab und warf ihn zur Erde?
Wie zeigte sich's, daß die Liebe des Schmieds zu König und Vaterland
größer als zu Weib und Kind war? Was weißt du über die Schlacht bei
Roßbach? (Bei Roßbach, einem Dorfe westlich von Weißenfels in der
Provinz Sachsen, erfocht Friedrich am 5. November 1757 besonders durch
die Tapferkeit des Neitergenerals Seidlitz einen glänzenden Sieg über die
Franzosen.) Was weißt du über die Schlacht bei Leuth e n? (BeiLeuthen,
einem schlesischen Dorfe westlich von Breslau, schlug Friedrich am 5. De-
zember 1757 glänzend das weit überlegene Heer der Österreicher.) Warum
hielt der Schmied seine Sendung für vollbracht? (Friedrichs Angelegen-
heiten standen nach den beiden Siegen sehr günstig.) Welche Wendung
erwartete der Schmied? (Völligen Sieg über alle Feinde.) Welche Pflicht
trat jetzt wieder beim Schmied in ihr Recht? (Für Weib und Kind zu
sorgen.) Wie erfüllte er sie? (Durch außerordentlichen Fleiß. — Beweis!)
Welchen Gang nahm der Krieg weiter? Welche Schlachten machten dem
Schmied angst und bange? Welcher Friede wurde am 15. Februar 1763
geschlossen? Was behielt Friedrich? (Schlesien und die Bewunderung
Europas.) Wie äußerte der Schmied seine Liebe, Freude und Bewunde-
rung beim Friedensschlüsse? Wie seine Einfalt und den Glauben an die
treffliche Wirkung seiner Unterstützung? Wie stellte er sich in seinem
naiven Eifer als ebenbürtig neben die Helden des Siebenjährigen Krieges?
(„Hier muß geholfen werden, sonst geht die Sache schief. — Mit Seidlitz
schlug er da —". „Und schlug mit Zieten noch bei Leuthen —." „Meine
194
II. Epische Dichtungen.
Sendung ist vollbracht!" — „Fritz, ich hätte dir wieder helfen müssen!")
Warum ist auch ein einzelner mit der Gesinnung des Schmiedes von
unschätzbarem Werte? (Solche Gesinnung begeistert andere und reißt sie
zu ungewöhnlichen Taten fort. — Die Jungfrau von Orleans in Frank-
reich. — Schwerin bei Prag.)
III. Vergleichung. A. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte zeigen in
der Zeit des Siebenjährigen Krieges die begeisterte, opfermutige Liebe
schlichter Untertanen zu dem großen Könige, indem sie freiwillig zu den
Fahnen eilen. Sie lassen einen Blick in das Geheimnis von Friedrichs
Stärke und Erfolgen tun.
B. Verschiedenheiten. 1. Die Markaner wohnten um die Ruhr,
der Schmied war nahe der Wupper in Solingen daheün. 2. Letzterer
gehörte der Armee Friedrichs nur in der zweiten Hälfte des Jahres 1757
an; erstere traten in diesem Jahre ein, verweilten aber sicher länger dabei.
3. Die Markaner bildeten einen stattlichen Trupp riesiger Jünglinge; der
Schmied war ein einzelner starker Mann. 4. Erstere wurden von ihren
Vätern gesendet, zogen freudig und geordnet zu Friedrich; letzterer eilte
aus eigenem Drange zu den Fahnen. 5. Ersteren drückte der große König
seine lebhafte Freude und die Zuversicht des Sieges aus; letzterer äußerte
seine Freude und seinen Stolz über den siegreichen König. 6. Die Mar-
kaner eilten nach verlustreichen Siegen, der Schmied nach der Niederlage
von Kollin zum Könige. 7. Der Schmied kehrt zu den Seinen zurück,
von den Markanern wissen wir es nicht. 8. A schildert die Verlegenheit
des Königs, den Marsch der Rekruten, ihr Zwiegespräch mit dem König,
die Freude und Siegeszuversicht des letzteren, B die wichtigsten Abschnitte
des ganzen Krieges. 9. A zeigt, wie in der opferwilligen Liebe der
Untertanen die Stärke eines Königs und die Bürgschaft des Sieges liegt,
B hingegen, wie ein einzelner in naiver Weise mit seinem Denken, Lieben,
Hassen, Sinnen, Tun und Lassen ganz in dem Geschick des Königs und
Vaterlands aufgeht, sich mit ihm fest verbunden fühlt und sich für un-
entbehrlich hält. 10. A erhält durch sein Zwiegespräch, B durch die
Selbstgespräche einen besonderen Reiz. 11. Durch A klingt ein ernster,
ergreifender, durch B ein schalkhafter, naiver Ton. B.
83. A. Der alte Zielen.
Theodor Fontane, Balladen. Berlin 1861. S. 6.
1. JoachimHansvonZieten*),
Husaren-General, —
dem Feind die Stirne bieten2)
tät er die hundert Malb);
sie haben's all' erfahren,
wie er die Pelze wuscht)
mit seinen Leibhusaren5),
der Zielen aus dem Busch.
bei Torgau, Tag der Ehre,
ritt selbst der Fritz nach Haus?),
doch Z i e t e n sprach: „Ich kehre
erst noch mein Schlachtfeld aus"2).
2. Hei! wie den Feind sie bleuten6)
bei Hennersdorf und Prag,
bei Liegnitz und bei Leuthen
und weiter Schlag auf Schlag;
3. Sie kamen nie alleine,
der Zielen und der Fritz,
der Donner war der eine,
der andre war der Blitz1 2 * *);
es wies sich keiner träge,
drum schlug's auch immer eiu,
ob warm', ob kalte Schläge,
sie pflegten gut zu sein"). —
Fontane: Der alte Zielen.
195
4. Der Frieden war geschlossen.
Doch Krieges Lust und Qual,
die alten Schlachtgenossen
„Laßt schlafen mir den Alten!
Er hat in mancher Nacht
für uns sich wach gehalten —
der hat genug gewacht")/'
durchlebten's noch einmal"):
wie Marschall Daun gezauderr
6. Und als die Zeit erfüllet
des alten Helden war,
lag einst, schlicht eingehüllet,
Hans Zielen, der Husar;
wie selber er genommen
die Feinde stets im Husch,
so war der Tod gekommen —
wie Zieten aus dem Busch").
und Fritz und Zieten nie,
es ward jetzt durchgeplaudert
bei Tisch in Sanssouci.
5. Einst «locht' es ihm nicht schmecken,
und sieh! der Zieten schlief;
ein Höfling will ihn wecken,
der König aber rief:
Vorbemerkung. Erst nachdem der Lehrer in der vaterländischen Ge-
schichte die drei Schlesischen Kriege behandelt, den Schülern auch anschau-
liche Lebensbilder von Friedrich d. Gr. und dem Husarengeneral Zieten
gegeben hat, kann obiges Heldengedicht ausführlich erläutert werden.
I. Vermittlung. 1. General von Zieten war der Liebling der Husaren
und ein volkstümlicher Heerführer im Siebenjährigen Kriege. Er war
sehr tapfer und griff den Feind an, wo er ihn traf. 2. Jemandem die
Stirne bieten heißt: ihm furchtlos entgegentreten und ihn tapfer
angreifen, im Gegensatz zu der Redensart: dem Feinde den Rücken
zeigen, fliehen, ein Feigling und eine Memme sein. 3. „Tät" (für tat)
ist eine alte Form des Imperfekts von tun, das hier in volkstümlicher
Weise zur Umschreibung des Imperfekts von bieten dient. Die hundert
Mal — dichterische Übertreibung für „oftmals". 4. Sie — die Feinde
haben's erfahren, wie er die Pelze wusch. Ehe die gargemachten Felle
als Pelze zu gebrauchen sind, werden sie zuvor nochmals gewaschen, in
klarem Flußwasser gespült, getrocknet und dann mit Stöcken tüchtig aus-
geklopft, damit die letzten Reste der Gerbstoffe, Kalk usw. entfernt werden.
5. Die Leib Husaren, bei denen er gedient, und die er als Chef kom-
mandiert hatte, sind die 3., heute noch die Zietenschen Husaren genannt.
6. bleuten — schlugen, zum Unterschied von „bläuen" — blau machen,
z. B. die Wäsche. 7. Am Schlachttage von Torgau, dem größten Ehren-
tage Zietens, verließ der König am Abend das Schlachtfeld, weil er die
Schlacht verloren glaubte. 8. „Das Schlachtfeld auskehren" wie bei E.
M. Arndt: „Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht (ausgekehrt hat),
mit eisernem Besen das Land rein gemacht." Bekanntlich hatte Zieten
durch Umgehung des Feindes noch bei beginnender Dunkelheit die bereits
erlittene Niederlage in einen glänzenden Sieg verwandelt. 9. Der König
und Zieten hatten ein inniges Freundschaftsbündnis geschlossen und
lenkten die Schlachten meist gemeinschaftlich. Der Dichter vergleicht beide
mit dem Blitz und Donner, jedoch ohne genaue Angabe, wer dem Blitz
und wer dem Donner gleicht. Weshalb darf der Dichter Zieten mit
deni Blitze und den König mit dem Donner vergleichen? Blitz-
schnell fiel Zieten mit der Reiterei über die Feinde her, der König
aber folgte mit den schweren Massen der Infanterie und Artillerie gleich
dem wuchtig d a h i n r o l l e n d e n D o n n e r. 10. Der Dichter vergleicht
13*
196
II. Epische Dichtungen.
weiter die Schlachtenerfolge mit kalten unb warmen Schlägen. (In dem
elliptischen Satze: „ob warm', ob kalte Schläge" fehlt „es waren".) Beide
>varen dem Feinde verderblich, beide führten zum Siege. 11. Gar oft
noch, nachdem der Friede geschlossen war, erinnerten sich die hohen Kriegs-
gefährten ihrer Taten und Erlebnisse; sie ließen sie im Geiste an ihrer
Seele vorübergehen und erlebten sie gleichsam noch einmal, namentlich
bei Tisch, d. i. an der Mittagstafel zu Sanssouci, zu welcher Zielen regel-
mäßig geladen war. 12. .Einstmals als Zieten bei der Tafel eingeschlafen
ist, will ein Höfling, ein Kämmerling oder ein Kammerherr, ihn wecken,
da es sich nicht Paßt und schickt und gegen den Respekt und die gute Sitte
arg verstößt, an der königlichen Tafel einzuschlafen. Der König aber
verwehrt's — weil Zieten genug gewacht habe. 13. Zieten starb alt und
wohlbetagt, vom Könige und Volke hochgeehrt. Der Tod war an ihn
herangetreten, unverhofft, schnell, so wie der alte Held sich oft den: Feinde
genaht — wie Zieten aus dem Busch.
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. Str. 1—3 schil-
dert die hohen Verdienste Zielens in den Schlesischen Kriegen und sein
Zusammenwirken mit dem Könige, Str. 4 das gemeinschaftliche Leben der
beiden großen Kriegshelden zu Sanssouci, namentlich an der königlichen
Mittagstafel, Str. 5 das Einschlafen Zietens bei der Tafel und des
Königs Entschuldigung, Erkenntlichkeit und Dankbarkeit. Str. 6 endlich
meldet, daß der Tod den greisen Helden so plötzlich und schnell überfallen
hat, wie er bei Lebzeiten seine Feinde überraschte — wie Zieten aus
dem Busch.
2. Erläuterungsfragen. Was bedeuten die bildlichen Redens-
arten: a) dem Feinde die Stirne bieten, b) jemandem den Pelz waschen,
e) aus dem Busch kvnrmen, ä) Schlag auf Schlag, e) has Schlachtfeld
auskehren, 1) der eine war der Donner, der andere der Blitz, g) kalte
und warme Schläge, h) Taten noch einmal durchleben, i) der hat genug
gewacht?
111. Vergleiche: II. Zieten.
Friedrich von Sallet, Gedichte. Berlin 1835. S. 76.
1. Der große König wollte gern
sehn,
>vas seine Gen'rale wüßten;
da ließ er an alle Briefe ergehn,
daß sie gleich ihm schreiben müßten,
lvas jeder von ihnen zu tun gedenkt,
wenn der Feind ihn so oder so be-
drängt.
3. Da macht er auf einen Bogen
Papier
einen großen Klecks in der Mitten,
rechts, oben, links, unten dann Li-
nien vier,
die all' in deut Kleckse sich schnitten.
Und jede endete auch in 'nem Klecks;
so schickt er den Bogen dem alten Rex.
2. Der Vater Zieten, der alte Husar,
besah verwundert den Zettel.
„Der König hält mich zum Narren
wohl gar!"
Sv flucht er, „was soll mir der
Bettel?
Husar, das bin ich, potzelement!
kein Schreiber oder verpfuschter Stu-
dent."
4. Der schüttelt den Kopf gedanken-
voll;
fragt bei der Revue dann den Alten:
„Zum Schwerenot, Zieten, ist Er toll?
Was soll ich vom Wische da halten?"
Den Bart streicht sich Zieten: „Das
ist bald erklärt,
wenn En'r Majestät mir Gehör ge-
währt.
Fröhlich: Der alte Fritz.
197
5. Der große Klecks in der Mitte
bin ich,
der Feind einer dort von den vieren,
der kann nun von vorn oder hinten
ans mich,
von rechts oder links auch marschieren;
dann rück' ich auf einem der Striche vor
und hau' ihn, wo ich ihn treffe, aufs
Ohr."
6. Da hat der König laut aufgelacht
und bei sich selber gemeinst:
„Der Zieten ist klüger, als ich ge-
dacht,
sein Geschmier sagt mehr, als es
scheinet.
Das ist mir der beste Reitersmann,
der den Feind schlägt, wo er auch
rücket an."
a) Ähnlichkeiten: Beide sind Lob- und Preislieder auf den alten
Zieten. In beiden ist das Verhältnis des Königs, des alten Fritz, zu
seinem General, dem alten Zieten, gekennzeichnet. Beide sind in einem
volkstümlichen Tone abgefaßt, b) Unterschiede: In dem Gedichte von
Fontane wird Zietens ganzes Leben bis zum Tode gepriesen, in beut
von Sollet nur ein einzelner Zug aus seinem Leben. In A wird ange-
führt, wie und was Zieten ist, in B erklärt Zieten selbst, was er nicht
ist. Das Fontanesche Gedicht ist in einem ernsten, am Schlüsse in einem
tragischen Tone gehalten, das Salletsche hingegen in einem launigen und
humoristischen. (Die humoristischen Ausdrücke sind von den Schülern auf-
zusuchen.) R. D.
84. Der alte Fritz.
Karl Fröhlich. Fabeln und Erzählungen. Kassel 1854.
I. Einführung. Die Taten großer Helden zu erzählen, ist Sache
der Weltgeschichte. Die Liebe und Verehrung, welche ein gesittetes Volk
ihnen schuldet und jederzeit gern und freudig entgegenbringt, sucht aber
auch die kleinsten Charakterzüge aus ihrem Leben zu sanuneln und zum
Verständnis der ganzen und vollen Persönlichkeit des Helden zu verwerten.
Sind diese zumal in ein poetisches Gewand gekleidet, so gewinnen sie
nicht selten erheblich an Interesse. Für die Schulwelt, für Schüler und
Lehrer, haben nun gewiß diejenigen einen erhöhten Reiz, welche einen
Anklang an das Schulleben enthalten. So haben wir z. B. von Gerok
das Gedicht: „Wie Kaiser Karl Schnlvisitation hielt." Und auch Friedrich
der Große tritt uns in einem derartigen Gedicht entgegen: „Der alte
Fritz" von Karl Fröhlich: ^
Friederieus Rex4), der große Held3), kam siegreich aus dem Kriegesfeld,'
und wenn er durch die Straßen ritt3), so liefen alle Kinder mit4).
Sie stellten sich wohl auf die Zeh'n, den lieben Vater Fritz3) zu sehn.
Sie faßten ihn an Pferd und Rock; doch Vater Fritz erhob den Stock3)
und sagte lächelnd7): „Habet acht, daß ihr mein Pferd nicht böse macht!"3)
Doch einst ein wilder Knabenschwarm den Kopf ihm machte gar zu warm3);
da hat er böse drei gesehn 40): „Wollt ihr wohl gleich zur Schule gehn!"44)
Da sprach ein dicker Bube: „Ach, heut ist ja Mittwoch Nachmittag!"12)
Der ganze Chor fiel jubelnd ein)3): „Der alte Fritz will König fein14)
und weiß nicht mal, daß dieser Frist des Mittwochs keine Schule ist!"
Der König stille vor sich lacht und hat in seinem Sinn gedacht:
„Wie reich bist, liebe Einfalt43), du! Ich alter Mann hab' keine Ruh'43);
des Morgens ruft mich Sorge wach47), so drückt mich Müh' den ganzen Tag43),
daß nieine Kinder, groß und klein43), sich ihrer Feierstunde freun33)".
Gewiß, so hat der Held gedacht, er hat sein Denken wahr gemacht34).
Drum, wo man Gutes liebt und ehrt, sein Angedenken ewig währt33),
und jedes Kindlein ehrfurchtsvoll den Edlen kennen lernen soll.
198
II. Epische Dichtungen
II. Erläuterungen*). 1. König Friedrich; Rex heißt im Lateinischen
der König. 2. Friedrich der Große hatte sich bereits als solcher bewiesen;
denn er war siegreich aus dem Kriegsfeld, d. h. den Schlachten des
Siebenjährigen Krieges, hervorgegangen. Der Vorfall ereignete sich näm-
lich in den letzten Lebensjahren des großen Königs. 3. Die Stadt Pots-
dam. Er kam öfters von Sanssouci nach dem nahen Potsdam geritten.
Schloß Sanssouci (Ohne Sorge, Sorgenfrei) war der Lieblingsausenthalt
Friedrichs des Großen, zu welchem er selbst den (noch vorhandenen) Ent-
wurf gemacht hatte. (Vergleiche Hebels „König Friedrich und sein Nach-
bar" und Curtmans „Der König und der Müller"!) 4. „Stets lief eine
jubelnde Volksmenge neben seinem Pferde her, so oft er in die Stadt ge-
ritten kam." Diesmal hatte sich aber namentlich eine Schar Kinder zu-
sammengefunden, die, weil sie noch klein, der Zulauf der Volksmenge da-
gegen groß war, nötig hatten, sich auf die Zehen zu stellen. 5. Schon für die
Erwachsenen war es, als ob der Vater zu seinen Kindern käme, um wie viel
mehr für die Kinderwelt! „Seinen Untertanen war Friedrich ein gütiger,
leutseliger Herr. Auch dem Geringsten seines Volkes bewies er sich freund-
lich. Keinem seiner Untertanen verweigerte Friedrich das Gehör." „Die
armen Leute," sagte er, „wissen, daß ich Landesvater bin; ich muß sie hö-
ren, denn dazu bin ich da." Er war und wollte also „Landesvater" sein.
Mit Recht legt ihm der Verfasser unseres Gedichts deshalb auch die Worte
in den Mund: „Daß meine Kinder, groß und klein." 6. Den Krückstock,
der in der Sammlung der Kunstschätze und Denkwürdigkeiten des König-
lichen Hauses noch heute wohlerhalten zu sehen ist. 7. Der alte Fritz, wie er
gemütlicherweise schon lange genannt wurde, war guter Laune, die durch
den im Gedicht geschilderten Vorfall noch erhöht wurde, so daß er „stille vor
sich lacht". 8. Necket das Pferd nicht, damit es nicht scheu werde! 9. Sprich-
wörtliche Redensart für: in zu große Erregung bringen, zu arg treiben.
10. Mit erhobenem Stocke drohte er ihnen. II. Der große König ist
offenbar der Ansicht, daß hier die Kinder am besten aufgehoben seien.
Dieser Ansicht entsprach sein Bemühen, überall Volksschulen zu stiften
und Bildung und Ordnung auf jegliche Weise zu fördern. 12. Die Sitte,
daß Mittwoch und Sonnabend Nachmittags der Schulunterricht ausfällt,
ist bekanntlich noch heute bei weitem in den meisten Gegenden des preußi-
schen Staates die herrschende. 13. Alle übrigen, der ganze „Schwarm".
Unterscheide „der Chor" und „das Chor"! 14. Wollen wird öfters
in der Bedeutung von „behaupten, versichern" gebraucht, z. B. er will
es gesehen haben; hier also: will dafür angesehen, gehalten werden.
15. Der jugendlich unschuldige Sinn der Kinder. 16. „Bis an sein Ende
erfüllte Friedrich mit der größten Sorgfalt und Treue alle Pflichten des
königlichen Berufes. Auch schon, als hohes Alter seinen Körper krümmte,
ließ er in seiner Tätigkeit nicht nach." Stacke, Erzählungen aus der
*) Zur Erläuterung des Gedichts sind häufig die bezüglichen Stellen des
prosaischen Lesestücks „Zur Charakteristik Friedrichs des Großen" von Andrä,
das sich in einzelnen Lesebüchern findet, benutzt worden, um beide Stücke ge-
hörig in Verbindung zu setzen.
Schenkend orf: Andreas Hofer. . 199
neuen Geschichte: „Dieselbe Pünktlichkeit in den Geschäften, dieselbe Be-
harrlichkeit in der treuen Ausübung seiner Pflichten, ja fast dieselbe Rasch-
heit in allen seinen Bewegungen zeichneten den Greis aus, wie einst den
kraftvollen Mann." 17. Schon beim Erwachen aus dem Schlafe beginnen
meine Sorgen. 18. „Nie hat ein Fürst tätiger für seines Volkes Glück
gesorgt als er." „Ich bin," sagt er, „des Staates erster Diener. Mein
Stand verlangt Arbeit und Tätigkeit; mein Geist und mein Leib beugen
sich unter ihrer Pflicht- Daß ich lebe, ist nicht nötig, wohl aber, daß ich
tätig bin" (Andrä). Und einem Freunde schrieb er: „Du hast recht, wenn
Du glaubst, daß ich viel arbeite. Ach tue es, um Zu leben; denn nichts
hat mit dem Tode mehr Ähnlichkeit als der Müßiggang." 19. Meine
Untertanen. 20. Die Segnungen des Friedens genießen, im Frieden leben
und den bürgerlichen Geschäften nachgehen können. 21. Friedrich hat
seinen! Staate die Bedeutung als Großmacht errungen. 22. „Ihn, den
die begeisterte Verehrung der Mitwelt, da der Name „des Großen" seinen
Verdiensten und Vorzügen nicht völlig zu entsprechen schien, „den Ein-
zigen" nannte, wird die späteste Nachwelt und das gerechte Urteil der
Geschichte den größten Männern aller Jahrhunderte beizählen." Schwartz,
Handbuch für den biogr. Geschichtsunterricht. Leipzig 1858. S. 238.
Dr. Regent.
83. Andreas Hofer.
Max von Scheiikendorf, Gedichte. 4. Aufl. Stuttgart 1871. S. 126.
I. Vorbereitung. Der Nationalheld der Tiroler ist Andreas Hofer.
Er war im Anfange des vorigen Jahrhunderts Wirt „Am Sande" im
Passeyertale, ein schlichter, frommer und getreuer Mann. Als sein liebes
Vaterland Tirol nach der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz im Frieden von
Preßburg 1805 von Österreich und dem Kaiserhause iu Wien losgerissen
und von Napoleon an Bayern abgetreten wurde, da erglühte er mit
andern Vaterlandsfreunden in Schmerz und Unwillen. Sie beschlossen
in der Stille, das Joch der Fremden abzuschütteln. Nur durch mündliche
Mitteilungen warben sie für ihren Bund. Bald wär derselbe Ivie ein
Netz über ganz Tirol ausgebreitet, und kein Verräter fand sich! Kampf-
lustig warteten die geschickten Tiroler Bergschützen auf das Zeichen zum
Losschlagen. Dies erfolgte im Frühjahr 1809. In kurzer Zeit wurden
die Bayern aus dem Lande getrieben und die Landeshauptstadt Inns-
bruck von Hofer und seinen Leute eingenommen. Zweimal wurde sie ihnen
entrissen, aber durch die blutigen Siege am Berge Jsel wiedergewonnen.
Am 15. August 1809 zog Andreas Hofer zuni drittenmal als Sieger
und Kommandant über das Land Tirol iu Innsbruck ein und wurde
mit Jubel empfangen. Die Studenten verließen die Hörsäle der Uni-
versität (liefen aus der Lehre), um den Sandwirt mit Musik, Gesang,
einem Preisgedichte oder Karinen und einem Lebehoch (Vivathoch) zu
begrüßen. Doch der schlichte Mann lehnte die Ehren ab, wies ans die
Not des Vaterlandes, auf die schon gebrachten Opfer, auf die schweren
Aufgaben der Zukunft hin und mahnte zu inbrünstigem Gebete.
200
II. Epische Dichtungen.
II. Vortrag. 1. Vorlesen, Nachlesen, Einlesen.
1. Als der Sandwirt von Passeyer
Innsbruck hat mit Sturm ge-
nommen,
die Studenten, ihm zur Feier,
mit den Geigen mittags kommen,
laufen alle aus der Lehre,
ihm ein Hochvivat zu bringen,
wollen ihm zu seiner Ehre
seine Heldentaten singen.
2. Doch der Held gebietet Stille,
spricht dann ernst: „Legt hin die
Geigen!
Ernst ist Gottes Kriegeswille,
wir sind all' dem Tode eigen.
Ich ließ nicht um lust'ge Spiele
Weib und Kind in Tränen liegen;
weil ich nach dem Himmel ziele,
kann ich ird'sche Feind' besiegen.
3. Kniet bei euren Rosenkränzen,
dies sind meine frohsten Geigen!
Wenn die Augen betend glänzen,
wird sich Gott der Herr drin zeigen.
Betet leise für mich Armen,
betet laut für unsern Kaiser,
dies ist mir das liebste Karmen:
Gott schütz' edle Fürstenhäuser!
4. Ich hab' keine Zeit zum Beten,
sagt dem Herrn der Welt, wie's
stehe,
wieviel Leichen wir hier sä'ten,
in dem Tal und aus der Höhe,
wie wir hungern, wie wir wachen,
und wie viele brave Schützen
nicht mehr schießen, nicht mehr
lachen!
Gott allein kann uns beschützen."
2. Erläuterungsfragen. Warum heißt Andr. Hofer Sand-
wirt? Warum vonPasseyer? (Er wohnte in dem wildschönen Alpen-
tale der Passeyer, welche nach S. in die Etsch läuft.) Wie kommen die
Studenten nach Innsbruck? (Die Stadt hat eine Universität oder Hoch-
schule.) Was wollen sie feiern? (Seinen Einzug, seinen Ruhm.) Was
wollen sie ehren? (Seine Heldentaten.) Was bedeutet Hochvivat?
(Er lebe hoch!) Warum heißt Hofer ein Held? Warum muß er Stille
gebieten? Wofür steht der Ausdruck Geigen? (Für Musikinstrumente.
Die Tiroler sind sehr musikalisch.) Was ist Gottes ernster Krieges-
wille? (Daß wir durch blutigen Kampf unsere Freiheit erringen sollen.)
Warum sind alle dem Tode eigen? (Wir sind alle so von Feinden
und Gefahren umgeben, daß niemand seines Lebens auch nur einen Tag
sicher ist.) Was meint Hofer mit den lustigen Spielen? (Die Emp-
fangsfeierlichkeiten.) Warum liegen Weib und Kind in Tränen?
Wie zielt er nach dem Himmel? (Er sucht Gottes Willen zu er-
füllen, aus Erden sein Reich zu bauen und droben den Himmel zu gewinnen.
Die Bayern hatten den Gottesdienst der Tiroler angetastet und dadurch
besonders Groll und Haß erregt.) Wie kann er durch das Zielen nach
dem Himmel irdisch eFeindebesiegen? (Wer recht nach dem Himmel
trachtet, der erfüllt auch treu und gut seine Aufgaben auf Erden. Wer
mit Gott im Bunde ist, der fürchtet keine Feinde und fühlt Kraft von
oben, sie zu besiegen.) Was sind Rosenkränze? (In Kranzform an-
einander gereihte Kügelchen von zweierlei Größe oder Farbe, nach welchen
eine bestimmte Anzahl von Vaterunsern und Ave Marias hintereinander
gebetet wird.) Wie zeigt sich in betenden Augen der Herr? (Das
Gebet verleiht Mut, Begeisterung, Gottes Kraft, die aus den Augen
flammt und sich in Taten zeigt.) Warum sollen sie-für ihn, den Armen,
leise, für den Kaiser Franz laut beten? (So spricht die Demut:
Wie wenig liegt an mir, dem armen Tiroler Wirt, und wieviel an unserm
Schenkendorf: Andreas Hofer.
201
guten Kaiser!) Warum ist die Fürbitte das liebste Karmen oder
Preisgedicht? (Darin zeigt sich die Liebe und das Gottvertrauen.) War-
unl fleht er um Schutz für edle Fürstenhäuser? (Weil Napoleon
ein Fürstenhaus nach dem andern entthronte.) Warum hat er keine
Zeit zu langen Gebeten? Welcher kindliche Glaube spricht aus den
Worten: „Sagt dem Herrn der Welt, wie's steht"? Wo tobte der Kampf?
Warum hungern und wachen sie? Wie säen sie Leichen? Warum
schießen und lachen viele brave Schützen nicht mehr? Was drückt die
letzte Verszeile aus? (Trauer über die Lage Tirols, aber auch frommes
Gottvertrauen.)
III. Vertiefung. 1. ZeitundOrt. Am 15. August 1809 auf einem
öffentlichen Platze in Innsbruck. Rings hohe, altertümliche Häuser; alle
Fenster mit Köpfen besetzt; in allen Händen wehende Tücher. An der
Spitze der pulvergeschwärzten Tiroler Schützen Andreas Hofer; rings
jubelnde Menschenmassen; die Studenten nahen sich in feierlichem Auf-
zuge; Glockengeläut ertönt.
2. Gedankengang. Str. 1. Hofer stürmt Innsbruck und wird
feierlich von den Studenten empfangen. Str. 2. Er lehnt die Ehren ab
und schildert die ernste Lage des Vaterlandes. Str. 3. Er fordert zu
Gebet und Fürbitte für sich und den Kaiser ans. Str. 4. Er erzählt von
den Siegen und Verlusten der Tiroler und verweist auf den Schutz Gottes.
Grundgedanke. Nicht um eitler Ehre willen unternahm Hofer
mit seinen Getreuen das Befreiungswerk. Dem Vaterlande, dem Kaiser
und Gott wollten sie dadurch dienen. Bei Gott allein ist Hilfe; von ihm
muß sie erfleht werden. Der Dienst des Vaterlandes ist Gottesdienst!
3. Eigentümlichkeiten. Die Sprache ist schlicht und ergreifend.
Hofers Worte spiegeln ganz den Charakter und das Tun des schlichten
Mannes ab. Viele schönen Gegensätze finden sich in dem Gedichte: die
Sieger und die Studenten; der frohe Lärm und die ernste Stille; die
lustigen Spiele und die Tränen von Weib und Kind; das Zielen nach
dem Himmel und das Besiegen der irdischen Feinde; die leise Fürbitte
für Hofer und die laute für den Kaiser usw. Recht wirkungsvoll sind auch
Hofers Seufzer aus tiefster Brust: Gott schütz' edle Fürstenhäuser! Gott
allein kann uns beschützen! Der erste Seufzer gilt dem Elend Deutsch-
lands, ja Europas, der zweite dem des engern Vaterlandes. Wieviel
schwere Befürchtungen bergen sich hinter diesen beiden Seufzern!
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Gustav Adolf sprach in Erfurt,
wo das Volk seine Hände und Füße küßte: „Unsere Sachen stehen gut,
aber ich fürchte, daß mich Gott um der Torheit dieses Volkes willen
strafen wird." — Lasset uns nicht eitler Ehre geizig sein! — Hochmut
kommt vor dem Fall, Klage nach dem Jubelschall. — Nicht uns, nicht
uns, o Herr, deinem Namen allein die Ehre! — Trachtet am ersten nach
dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches
alletz zufallen. — Friedrich Karl sagte 1866 in seinem Armeebefehl:
„Lasset eure Herzen zu Gott und eure Fäuste auf den Feind schlagen!"
' r Wie sticht gegen Hofers Demut Napoleons Hochmut ab! Gott steuert
202
II. Epische Dichtungen.
den Bäumen, daß sie nicht in den Himmel wachsen. Gott widersteht dem
Hoffärtigen. — In den Befreiungskriegen 1813—15 verließen Tausende
Haus und Hof, Weib und Kind, um das Vaterland vom Joche des fremden
Eroberers zu befreien. Gleichzeitig mit Hofer erhoben sich Ferdinand
von Schill in Norddeutschland und der Freiherr von Dörnberg in Hessen.
— Nach 2. Mos. 17 zog Josna mit dem Kriegsvolk wider die Amalekiter;
Moses aber, Aaron und Hur gingen auf die Spitze des Hügels und
beteten für die Streiter.
2. Rede- und Stilübungen. Vergleiche Schenkendorfs Ge-
dicht (I.) mit Julius Mosens „Andreas Hofer" (II.)!
1. Hauptinhalt. I. Hofer bleibt auf der Höhe seines Ruhmes
ein demütiger und frommer Mann. II. Hofer als Gefangener zittert
nicht vor den Kugeln der Feinde. I. Im Glück ist er demütig, II. im
Unglück stark und mutig. I. Durch den Jubel des Volkes klingt die Ahnung
des künftigen Unheils. II. Durch den Schmerz und die Tränen der Tren-
nung klingt der Triumph der Liebe und Treue; beide Gedichte atmen
innige Liebe zu Gott, Kaiser und Vaterland.
2. Zeit. I. Am 15. August (oder am 30. Mai) 1809, II. am
20. Februar 1810.
3. Ort. I. In Innsbruck auf einem öffentlichen Platze, II. auf den
Wällen von Mantua in Italien.
4. Charakter. I. Hofer ist ruhmgekrönt, aber demütig, fromm,
ahnungsvoll, gottvertrauend, II. gefangen, fest und mutig, schmerz-
bewegt, treu. 1 '
5. Gedankengang. I. Hofer zieht als Sieger ein, ist von Jubel
umrauscht, gebietet Stille, erinnert an die Opfer des Vaterlandes, mahnt
zum Gebet und zur Fürbitte für den Kaiser, fleht um Schutz für edle
Fürstenhäuser, beschreibt den Jammer der Schlachten, den Todesmut
seiner Kameraden und sucht bei Gott die letzte Hilfe. II. Hofer wird ge-
fesselt aus den Toren Mantuas geführt. In Jammer und Schmerz blutete
der Brüder Herz; die Erinnerung an seine Siege macht seinen Schritt
sicher; er bittet für die gefangenen Brüder, das Deutsche Reich, das
Land Tirol und den Kaiser Franz; er stirbt fromm und mutig; sein letzter
Gruß gilt dem Vaterlande.
6. Einzelheiten. I. Hofer auf dem Gipfel seiner Macht, II. am
Ende seiner Laufbahn. I. Ahnung kommenden Unheils; II. Erfüllung.
II. Die Studenten feiern ihn als Volksbefreier; II. die gefangenen
Volksgenossen strecken ihm aus Kerkergittern die Hände nach. I. Die
Studenten bringen ihm mit Geigen Lebehochs; II. dem Tambour will
der Wirbel nicht unterm Schlegel vor. I. Er beklagt den Tod der braven
Schützen, II. nun fällt er selbst. I. Er seufzet: Gott allein kann uns
schützen! II. Ade, mein Land Tirol!
7. Nutzanwendung. I. So lebt ein Held, II. so stirbt er.
Mosen: Andreas Hofer.
203
86. Andreas Hofer.
I. Mosen, Werke. Leipzig 1863. I, 12.
1. Zu Mantua in Banden
der treue Hofer war;
in Mantua zum Tode
führt' ihn der Feinde Schar.
Es blutete der Brüder Herz,
ganz Deutschland, ach! in Schmach
und Schmerz!
Mit ihm das Land Tirol.
2. Die Hände auf dem Rücken
Andreas Hofer ging
mit ruhig festen Schritten,
ihm schien der Tod gering,
der Tod, den er so manches Mal
vom Jselberg geschickt ins Tal,
im heil'gen Land Tirol.
3. Doch als aus Kerkergittern
im festen Mantua
die treuen Waffenbrüder
die Händ' er strecken sah,
da rief er aus: „Gott sei mit euch,
mit dem verratnen Deutschen Reich
und mit dem Land Tirol!"
4. Dem Tambour will der Wirbel
nicht unterm Schlegel vor,
als nun Andreas Hofer
schritt durch das finstre Tor; —
Andreas, noch in Banden frei,
dort stand er fest auf der Bastei,
der Mann vom Land Tirol.
5. Dort soll er niederknieen;
er sprach: „Das tu' ich nit!
Will sterben, wie ich stehe,
will sterben, wie ich stritt,
so wie ich steh' auf dieser Schanz';
es leb' mein guter Kaiser Franz,
mit ihn: sein Land Tirol!"
6. Und von der Hand die Binde
nimmt ihm der Korporal;
Andreas Hofer betet
allhier zum letztenmal;
dann ruft er: „Nun, so trefft mich
recht;
gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr
schlecht!
Ade, mein Land Tirol!"
I. Geschichtliches. Andreas Hofer und seine Tiroler hatten in
dem Aufstande, der am IO. April 1809 ausbrach, die französischen und
bayerischen Truppen aus Tirol vertrieben.
Aber Österreich konnte wegen des Waffenstillstandes die Tiroler nur
wenig unterstützen, und nach der Schlacht bei Wagram zogen sich die
österreichischen Truppen ganz aus Tirol zurück. Jedoch Hofer und seine
Getreuen verzagten nicht, sondern nahmen den Kampf gegen die über-
legene Macht der Feinde wiederum ans und reinigten mit höchster Kraft-
anstrengung das Land von den Feinden.
Darauf verschlossen Hofer und seine kleine Schar alle Zugänge zum
Lande, verheerten die Landstraßen, brachen die Brücken ab und stellten sich
ringsum auf ihre Felsen und Berge, um den Feind, der etwa ins Land
zu dringen versuchte, zu vernichten. Da schloß Österreich den Wiener
Frieden, und der bei den Tirolern so beliebte Erzherzog Johann von
Österreich sprach zu ihnen: „Kaiser Franz wünscht, daß ihr euch ruhig
verhalten und nicht zwecklos opfern möget." Aber Hofer setzte, wahr-
scheinlich durch falsche Nachrichten über Siege der Österreicher irregeführt,
als die Feinde ins Land kamen, den Krieg mit seinen Getreuen fort und
verteidigte drei Tage lang, wie die 300 Spartaner die Thermopylen, einen
Engpaß mit 600 Mann gegen 18000 Feinde, bis endlich die meisten
seiner Tapferen der Übermacht erlagen.
Hofer konnte sich nun nicht entschließen, Tirol zu verlassen, wie es
diele andere Tiroler taten, sondern er zog sich in eine Sennhütte zurück.
204
II. Epische Dichtungen.
Dahin kamen nur sein Weib und wenige seiner Getreuesten, um ihm
Speise und Nachricht vom Lande zu bringen. Viele geheime Boten, sogar
aus der Kaiserburg, kamen zu ihm, um ihn zur Flucht zu bewegen, aber
er blieb- Da verriet ihn endlich, durch Versprechungen und Drohungen
dahin gebracht, einer seiner Landsleute an die Franzosen, und diese
nahmen ihn gefangen und schleppten ihn nach Mantua, einer Festung in
Oberitalien. Hier wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt und freige-
sprochen. Da kam von Napoleon der Befehl, den Tod binnen 24 Stunden
an ihm zu vollziehen. Hofer hatte zwar das Todesurteil nicht erwartet,
aber er hörte es an mit dem Mute eines Mannes. Schlag 11 Uhr, den
20. Februar 1810, ertönte der Generalmarsch; ein Grenadierbataillon
rüstete sich; Hofer wurde aus seinem Gefängnisse abgeholt. Als er vor
dem Molinatore, in welchem die meisten Tiroler in Haft gehalten wurden,
vorüber kam, lagen diese alle auf den Knieen und beteten und weinten
laut, und andere, die in der Festung frei umhergingen, legten Trauer
an und baten um seinen letzten Segen. Aus einer breiten Bastion un-
weit des Tores war die Todesstelle. Man war angekommen. Zwölf
Grenadiere traten vor und Hofer in die Mitte. Der Tambour reichte
ihm die Augenbinde, er wies sie aber zurück; man erinnerte ihn, sich auf
die Kniee nieder zu lassen, aber er sagte: „Ich stehe vor dem, der mich
erschaffen hat, und stehend will ich ihm meinen Geist wiedergeben." —
„Schießt gut!" sprach er noch zum befehlenden Korporal, indem er ihm
ein Geldstück zuwarf, und dann rief er mit fester Stimme: „Feuer!"
Aber die sechs ersten Schüsse hatten ihn nur verwundet; er sank in die
Kniee; noch sechs Schüsse fielen, und er kämpfte noch immer mit dem'
Tode. Da machte der Korporal durch einen dreizehnten Schuß seinem
Leben ein Ende. —
II. Vermittelung des Inhalts. Str. 1. Andreas Hofer wird
zum Richtplatze geführt. — In den ersten Zeilen führt uns das
Gedicht die Person und den Ort der Handlung vor. Aus den oben an-
gegebenen geschichtlichen Notizen wissen wir, warum Hofer treu genannt
wird, und wie er in die Gefangenschaft (Banden, Ketten, Fesseln) kam.
„Es blutete der Brüder Herz",
einmal, weil man den heldenmütigen Anführer der ebenso heldenmütigen
Verteidiger Tirols zum Tode führte, sodann aber auch, weil durch die
unglücklich geführten Kriege Tirol so bald keine Aussicht hatte, wieder
vou seinem angestammten Fürstenhause zurückgewonnen zu werden.
„Ganz Deutschland, ach! in Schmach und Schmerz!
Mit ihm das Land Tirol."
Gerade in dem Jahre 1810 stand Napoleon auf der höchsten Stufe
seines Glanzes, und Deutschland war am tiefsten gebeugt. Ein Teil der
deutschen Fürsten war durch den Rheinbund, den Napoleon gestiftet hatte,
dein übrigen Deutschland gegenüber feindlich gestimmt und hatte sogar
gegen die beiden größten deutschen Mächte, Österreich und Preußen,
Deutsche gegen Deutsche, gekämpft. Österreich wie Preußen hatten die
Mosen: Andreas Hofer.
205
Hälfte ihrer Länder dem Despoten abtreten müssen und waren furchtbar
geschwächt. Das war „Schmach und Schmerz" genug. Und diese Schmach
und diesen Schmerz teilte ja das unglückliche Tirol seit Hofers Ge-
fangennahme.
Str. 2. Auch auf seinen: Wege nach den: RichtPlatze zeigt
Hofer seine Tapferkeit und seinen Heldenmut.
„Die Hände auf dem Rücken",
so geht man wohl, wenn man sich ruhig seinen Gedanken hingeben will,
und daß bei Hofer Ruhe im Herzen war, beweisen uns die Worte: er
ging „mit ruhig festen: Schritt". Allein Hofer hatte die Hände nicht frei,
sondern sie waren ihm gebunden (Str. 6). Den Gedanken, daß Hofers
Heldenmut musterhaft war, führt der Dichter noch weiter ans und sagt:
„Ihm schien der Tod gering."
Gewiß! hatte doch Hofer in den blutigen Kämpfen dem Tode so oft ins
Auge geschaut, dem Tode —
„den er so manches Mal
vom Jselberg geschickt ins Tal,
im heil'gen Land Tirol."
Der Jselberg bei Innsbruck war ganz besonders ein Angriffspunkt gegen
den Feind gewesen, deshalb erwähnt ihn der Dichter noch besonders. „Den
Tod geschickt", d. h. die Kugel, welche den Tod bringt, abgeschossen.
Str.3. Hofer kommt an: Gefängnisse seiner Waffenbrü-
der vorüber und segnet sie und das ganze „verratene
Deutsche Reich und Tirol".
Die Liebe zun: Vaterlande hat der brave Hofer auch in der Todes-
stunde nicht vergessen; drum ist sein letzter Gedanke das ganze Reich und
insbesondere sein Tirol. Seine Vaterlandsliebe war größer als die Liebe
zun: Leben.
Str. 4. Hofer kommt ans der Richtstätte an und zeigt sich
auch hier als ein Held.
„Dem Tambour will der Wirbel
nicht unterm Schlegel vor."
Welch ein Gegensatz! Da steht der tapfere, feste Hofer und dort der vor
innerer Bewegung und Trauer bebende Tambour. Der Heldenmut des
zun: Tode Verurteilten ruft sogar ein Gefühl der Rührung bei dem feind-
lichen Tambour hervor.
Schön ist auch die Mannhaftigkeit und der Heldenmut Hofers in den
Worten: „noch in Banden frei" und „der Mann vom Land Tirol" aus-
gedrückt. Die Worte „in Banden frei" erinnern an den Schillerschen Vers:
„Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
und wär er in Ketten geboren."
Unter der Freiheit ist hier wie da nicht die äußere Freiheit gemeint,
sondern die innere Freiheit, welche sich freiwillig dem göttlichen Ge-
setze und der Gewissensstimme unterwirft. Diese Freiheit macht
206
II. Epische Dichtungen.
den Menschen frei von allem Irrtume und aller Selbstsucht, aber sie hält
ihn auch aufrecht im Unglück.
Vermöge dieser Freiheit konnte Hofer auch „fest" stehen auf der
„Bastei" —dem Hauptbollwerke der Festung.
Str. 5. Hofer soll, bevor er den Todesschuß bekommt,
uiederknieen und verweigertdas.
Das Niederknieen hätte sich nicht für den Helden geschickt, denn er
hatte gestanden im Streite, vor dem Kaiser und vor seinem Gott.
„Nit" erinnert an die Sprache der Tiroler. „Schanze" ^ Erdwall, Schutz-
wehr, gegen den Feind gedeckter Platz.
Str. 6. Nachd em H ofer g eb etet, rn ft er selb st „Fen er" u nd
stirbt, indein sein letztes Wort seinem Lande Tirol gilt.
Hat er in allem seinen großen Heldenmut gezeigt, so auch in der
letzten Minute. Die Binde vor den Augen leidet er nicht, er ivill dem
Tode kühn ins Auge blicken; obgleich er an der Geschicklichkeit der Schützen
zweifelt: „So trefft mich recht", so kommandiert er doch selbst „Feuer",
und als die ersten Schüsse wirklich schlecht sind, da ruft er im Todeskampfe
noch aus:
„Ach, wie schießt ihr schlecht!"
Neben seinem Heldenmute glänzt aber im letzten Augenblick noch-
mals seine zweite Tugend, die Vaterlandsliebe, denn sein letztes Wort ist 7
„Ade, mein Land Tirol!"
III. Gliederung. A. Str. 1—2: Hofer auf dem Gange nach dem
Richtplatze. B. Str. 4—6: Hofer auf dem Richtplatze.
IV. Anwendung für Herz und Leben. Ein echter Patriot gibt willig
sein Leben für das Vaterland. Den wahren Helden verläßt auch in der
Todesstunde der Mut nicht.
V. Sprachliche und poetische Darstellung. Die einfache Sprache ohne
Schmuck und Bilder ist dem Helden des Gedichts sehr schön angepaßt;
denn auch Hofer war ja ein einfacher, schlichter Landmann. Das Vers-
maß, reine Jamben, fließt ruhig und gemessen hin; die vorherrschend
männlichen Reime geben dem Gedichte etwas Kräftiges und Festes. Der
flüssige Kehrreim, welcher nur die Worte „Land Tirol" wiederholt,
ist ganz dem Inhalte der einzelnen Strophen gemäß und gibt jeder der-
selben eine gewisse Abrundung. W. D.
87. Das Lied vom Schill. (1812.)
E. M. Arndt. Gedichte. Berlin 1860. S. 215.
1. Es zog aus Berlin ein tapferer Held,
er führte sechshundert Reiter ins Feld,
sechshundert Reiter mit redlichem Mut,
die dürsteten alle Franzosenblut.
2. Aucb zogen mit Reitern und Rossen im Schritt
wohl tausend der tapfersten Schützen mit.
Ihr Schützen, gesegn' euch Gott jeglichen Schuß,
durch welchen ein Franzmann erblassen muß!
Arndt: Das Lied vom Schill.
207
3. Sv zieht der tapfre, der niutige Schill,
der mit den Franzosen sich schlagen will;
ihn sendet kein Kaiser, kein König aus,
ihn sendet die Freiheit, das Vaterland aus.
4. Bei Dodendorf färbten die Männer gut
das Magdeburger Land mit französischem Blut;
zweitausend zerhieben die Säbel blank,
die übrigen machten die Beine lang.
5. Drauf stürmten sie Dömitz, das feste Haus,
und jagten die Schelmenfranzosen hinaus;
dann zogen sie lustig ins Pommerland ein,
da soll kein Franzose sein „Kiwi!" mehr schrei».
6. Aus Stralsund stürmte der reisige Zug: —
O Franzosen, verständet ihr Vogelflng! —
O wüchsen euch Federn und Flügel geschwind!
Es nahet der Schill, und er reitet wie Wind.
7. Er reitet wie Wetter hinein in die Stadt,
die der Wallenstein weiland belagert hat,
wo der zwölfte Karolus im Tore schlief;
jetzt liegen die Türme und Mauern tief.
8. O weh euch, Franzosen! jetzt seid ihr tot,
ihr färbet die Säbel der Reiter rot;
die Reiter, sie fühlen das deutsche Blut,
Franzosen zu säbeln, das deucht ihnen gut.
9. O Schill, o Schill, du tapferer Held!
Was sind dir für bübische Netze gestellt!
Viel ziehen zu Lande, es schleichet vom Meer
der Däne, die tückische Schlange, daher.
10. O Schill, o Schill, du tapferer Held!
Was sprengst du nicht mit den Reitern ins Feld?
Was schließest in Mauern die Tapferkeit ein?
In Stralsund, da sollst du begraben sein.
11. O Stralsund, du trauriges Stralesund!
In dir geht das tapferste Herz zu Grund;
eine Kugel durchbohret das treueste Herz,
und Buben, sie treiben mit Helden Scherz.
12. Da schreiet ein frecher Franzosenmund:
„Man soll ihn begraben wie einen Hund,
wie einen Schelm, der an Galgen und Rad
schon fütterte Krähen und Raben satt."
13. So trugen sie ihn ohne Sang und Klang,
ohne Pfeifenspiel und Trommelklang,
ohne Kanonenmusik und Flintengruß,
womit man die Tapfern begraben muß.
14. Sie schnitten den Kopf vom Rumpf ihm ab
und warfen den Leib in ein schlechtes Grab.
Da schläft er nun bis an den jüngsten Tag,
wo Gott ihn zu Freuden erwecken mag.
15. Da schläft der fromme, der tapfere Held,
ihm ward kein Stein zum Gedächtnis gestellt;
doch hat er auch keinen Ehrenstein,
sein Name wird nimmer vergessen sein.
208
II. Epische Dichtungen.
16. Denn zäumet ein Reiter sein schnelles Pferd,
unb schwinget ein Reiter sein blankes Schwert,
so ruft er immer: „Herr Schill! Herr Schill!
Ich an den Franzosen dich rächen will!"
I. Vorbereitung und daun Vortrag. Aus der Zeit der preußischen
Schmach 1806—1812 leuchtet der Name des Majors Ferdinand
von Schill wie ein heller Stern. Er war am 6. Januar 1776 geboren,
trat jung in ein Husarenregiment, wurde 1806 bei Auerstädt verwundet
und half dann 1807 Kolberg wirksam verteidigen. Als Major des Leib-
hnsarenregiments kam der schöne, feurige Mann nach Berlin und wurde
der Liebling des Volkes. Als Österreich 1809 den Krieg an Frankreich
erklärte, in Hessen und Hannover sich der Volksgeist gegen die Franzosen
regte, da beschloß Schill, auf eigene Hand loszuschlagen, um allen Deut-
schen das Zeichen zur Erhebung gegen die Unterdrücker zu geben. Am
28. April 1809 verließ er Berlin mit seinem Regimenté, um angeblich
ein Feldmanöver zu halten, in Wahrheit aber, um sich gegen die Fran-
zosen an der Elbe in Marsch zu setzen. Eine Anzahl Offiziere und eine
Kompagnie Jäger (Schützen), die seinen Franzosenhaß, seine Freiheits-
und Vaterlandsliebe teilten, folgten ihm. Der König Friedrich Wil-
helm III. wußte nichts von seinen wahren Absichten und mißbilligte später
seine „unglaubliche Tat" öffentlich. Viele freiheitliebende Patrioten im
Vaterlande aber jubelten ihm Beifall zu.
Bei Dodendorf, unweit Magdeburg, traf Schill am 5. Mai auf
eine überlegene Abteilung der französischen Garnison aus Magdeburg
und schlug sich tapfer mit ihr herum. Da seine Streitkräfte den feindlichen
nicht gewachsen waren, so nahm er seinen Weg nach Mecklenburg, um
an die Küste der Ostsee zu gelangen und dort den Engländern die Hand
zu reichen. Am 16. Mai stürmte er die mecklenburgische Grenzfestung
Dömitz und zog weiter, um Pommern von den Schelmfranzosen zu
säubern. Kein französischer Wachtposten sollte hier mehr sein „qm vive?"
d. h. Werda? (im Volksmunde: Kiwi, wie das Geschrei des Kiebitzes)
rufen. Doch immer mißlicher wurde Schills Lage. Österreichs Sache
stand schlecht, und der Zuzug aus dem Vaterlande unterblieb infolge des
königlichen Verbotes. Napoleon hetzte ihm die verbündeten Holländer und
Dänen auf die Fersen. Zu Lande und zu Wasser zogen sie heran, umstellten
ihn, wie die Jäger ein Wild mit Netzen und Mordwaffen umstellen.
Schill warf sich am 25. Mai in die Festung Stralsund. Weiland
(vor Jahren, 1628) hatte Wallenstein dieselbe erfolglos belagert, obgleich
er geschworen, sie herunter zu holen, und wenn sie mit Ketten an den
Himmel gebunden wäre. Hier langte 1715 der kühne Karl der Zwölfte
von Schweden auf seinem Ritte aus der Türkei an und verteidigte lange
und tapfer (im Tor schlafend) die Feste gegen die Preußen. Schill fand
die Festungswerke völlig zerfallen (Türme und Wälle tief, niederliegend,
1807 von den Franzosen geschleift) und suchte sie in der Eile, so gut es
ging, herzustellen. Trotz seines verzweifelten Widerstandes drangen die
Feinde mit Übermacht am 31. Mai 1809 in die Stadt und besiegten ihn
Arndt: Das Lied vom Schill.
209
in einem blutigen Straßenkampfe. Schill, bereits verwundet, hieb noch
den feindlichen General Cateret vom Pferde, wurde dann aber von
Flintenschüssen und Säbelhieben zu Boden gestreckt. Viele der Seinen
fielen im Kampfe, andere schlugen sich glücklich durch, noch andere wurden
gefangen genommen und als Galeerensträflinge in französische Häfen ge-
führt. Elf gefangene Offiziere ließ Napoleon in Wesel erschießen. Schills
Leichnam wurde von den erbitterten Feinden mißhandelt, sein Kopf ab-
geschnitten, in Spiritus gesetzt und in das Museum der holländischen Stadt
Leiden geschickt, sein Leib aber wie der eines Verbrechers zu Stralsund
in ein schlechtes Grab geworfen. Wenn ihm aber auch kein Denkmal
von Stein errichtet wurde, so hatte er sich doch wie Andreas Hofer in
Tirol ein unvergängliches Ehrenmal in den Herzen seiner patriotischen
Landsleute gesetzt. Den schönsten Ausdruck fand dies in dem Arndtschen
Liede, das Schills Namen 1813 zum Feldgeschrei jedes wackeren Reiters
machte. Was dem lebenden Schill nicht gelang, die Befreiung des Vater-
landes vom Joche der Fremden, das half der tote Schill als Losungswort
und leuchtendes Vorbild der Reiter im Befreiungskämpfe vollenden.
(Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Auszug aus Berlin am 28. April
1809, Kampf bei Dodendorf am 5. Mai, Erstürmung des festen Dömitz
am 15. Mai, Einzug in Stralsund am 28. Mai, letzter Kampf und Schills
Tod am 31. Mai 1809. Schildere den letzten Verzweiflungskampf der
Schillschen Schar! — Schills Leichnam ruht unter einem schönen Denk-
mal auf dem Knieperkirchhof in Stralsund, sein Haupt seit 1837 in einem
Mausoleum in Braunschweig. Bei der erhebenden Halbjahrhundertfeier
seines Todes am 31. Mai 1859 sprach E. Moritz Arndt ergreifende Worte
an seinem Grabe. Seinen erschossenen elf Offizieren ist in Wesel 1835
ein Denkmal errichtet. An der Stelle, wo Schill fiel, zeigt eine Inschrift
in einem Steine des Bürgersteiges seinen Todestag und ein Medaillon
an einem Hause sein Bild.
2. Charakteristik Schills. Schill war ein schöner, gewandter
Mann, mit feurigem Charakter, tapfer bis zur Tollkühnheit, mutig bis
zur Verwegenheit, freiheitliebend bis zum Ungehorsam, stürmisch bis zur
Unbesonnenheit, vertrauend bis zur Sorglosigkeit. Seine Soldaten hingen
mit Begeisterung an ihm und folgten ihm in Kampf und Tod. Über
die Stimmung im deutschen Volke irrte sich Schill, als er von seiner
kühnen, aber ungesetzlichen Tat einen allgemeinen Volksaufstand erwartete.
Als er sein Ideal deutscher Freiheit und Größe nicht verwirklichen konnte,
wußte er dafür zu sterben. Was er fehlte, hat er gebüßt. Was ihm
die Feinde an Ehre und Achtung versagten, gab ihm sein Volk nnb die
Nachwelt reichlich. Er selbst ging unter, aber sein Gedanke kam endlich
zum Siege.
3. Gedankengang. I. Schills Auszug aus Berlin (Str. 1—3).
II. Seine Züge und Kampfe (Str. 4—6). III. Seine Einnahme
Stralsunds (Str. 7—8). IV. Seine Umstellung durch die Feinde
(Str. 9—10). V. Sein Tod (Str. 11). VI. Sein schmachvolles Be-
AdL. II. 8. Allst.
210 H. Epische Dichtungen.
gräbnis (Str. 12—14). VII. Sein Denkmal in den Herzen (Str.
15-16).
Grundgedanke. Arndt will durch sein Lied den Namen Schills
zum Feldgeschrei und seinen patriotischen Tod zum Vorbilde für alle
deutschen Reiter im Befreiungskämpfe machen.
4. Dichterische Schönheiten. Wie weiß unser Arndt Geschichte
zu lehren und Begeisterung dadurch zu wecken! Tatsachen gibt er, aber
in welch hellem Lichte, in welch patriotischem Geiste und in welch packen-
der Form! Wie angepaßt dem erregten Inhalte sind die deutschen Akzent-
verse (vierhebig mit wechselnder Zahl der Senkungen)! Wie kernig und
bilderreich ist die Sprache! Die Reiter dürsten (verlangen sehnlich)
Franzosenblut. Den Schützen soll Gott jeden Schuß gesegnen, daß er
trifft und ein Franzmann davon erblaßt (stirbt). Die Freiheit und
das Vaterland senden Schill, als ob sie höhere Machthaber denn
Kaiser und Könige wären. Das Magdeburger Land wurde mit fran-
zösischem Blut gefärbt, so viele lagen tot oder verwundet darauf. Die
blanken (vielgebrauchten) Säbel zerhauen zweitausend Feinde; die
übrigen machen die Beine lang, um schneller fortzukommen auf der
Flucht. Kein französischer Wachtposten soll sein Kiwi (Qui vive — Wer
lebt? Wer da?) gleich schreienden Kiebitzen mehr rufen. Den Franzosen
werden Flügel, Federn und Vogelflug gewünscht, weil das Ver-
derben rascher als ihre Füße schreitet. Schill reitet schnell wie der Wind.
Karl XII. schlief im Tore, um wirksamer die Festung zu verteidigen.
Türme und Wälle liegen jetzt tief (nieder), weil sie 1807 geschleift
wurden. Der Säbel färbt sich rot (von Feindes Blut). Die Reiter fühlen
das deutsche Blut, d. h. der Haß gegen die Erbfeinde regt sich in
ihnen. Die tückischen (hinterlistigen) Dänen, die sich gleich Schlangen
heranschleichen, stellen dem Helden bübische Netze (planen ein Buben-
stück). Schill soll ins freie Feld (auf weiten Kampfplatz) sprengen und
die Tapferkeit nicht in (beengende) Mauern einschließen. Stral-
sund hat einen traurigen Ruf und Klang, weil hier das tapferste Herz
zugrunde ging (im Heldenkampfe brach). Buben treiben mit Helden
Scherz (schmähen und beschimpfen seine Leiche). Der Held soll wie ein
räudiger Hund oder wie ein Verbrecher, der als Speise der Raben
an den Galgen gehängt oder auf das Rad geflochten ist, schimpflich
begraben werden. Tapferen Helden geziemt ein Begräbnis mit Sang
und Klang, Pfeifenspiel und Trommelschlag, Kanonen-
u n d F l i n t e n s a l v e n, weil sie dabei gelebt, gestritten und ihren Helden-
geist ausgehaucht haben. Kein vergänglicher Denkstein erhob sich ans
dem Grabe, aber ein unvergängliches Denkmal der Liebe und Bewunde-
rung in den Herzen. Der Name Schill wird zur Parole der Reiter, zur
lebendigen Mahnung, die erlittene Schmach zu rächen und zu sühnen.
III. Verwertung in Aufgaben: 1. In welchen! Sinne wird das Wort
fromm angewandt? (Der fromme Held, die frommen Lands-
knechte---die tapfer und treu zur Fahne halten. Die fromme Magd
— die wacker ihre Pflicht erfüllt. Die frommen Knaben — die fleißig,
Besser: Die Trommel.
211
gottesfürchtig und wohlgesittet sind- Der getreue Eckart, ein frommer
Gesell — ei» achtsamer Hüter und wohlmeinender Berater. Der
fromme Gott — der Inbegriff alles Guten, der Spender aller Wohl-
taten. Die fromme Natur,, die fromme Erde — die willig und
unerschöpflich Gaben spendet. Der Wein ein frommer, d. h. erfreulicher
Trank. Der deutsche Jüngling fromm und stark = von höchster
Tüchtigkeit. Ebenso der Turner-Wahlspruch: Frisch, fromm, froh, frei!
Gleichfalls das f r o m m e V a t e r l a n d! F r o m m e Tugend ist Fröm-
inigkeit, Gottesfurcht, Gottvertrauen. Mit frommer Sorge, d. h.
liebevoll „des Mägdleins Schmuck" pflegen! Klopstock spricht in der Ode
Der Zürichersee von frommen Wünschen, das sind treugemeinte,
herzliche Wünsche, zunächst nicht „vergebliche", welchen Nebensinn man
den „frommen Wünschen" im Hinblick auf die vielen unerfüllten bei-
gelegt hat.) (Nach Prof. Schaefer.) 2. V e r g l e i ch e das nachstehende Lied!
Die Opfer zu Wesel.
v. Schmidt.
Generalmarsch wird geschlagen zu Wesel in der Stadt,
und alle fragen ängstlich, was das zu deuten hat.
Da führen sie zum Tore hinaus, still, ohne Laut,
die kleine Schar, die heiter dem Tod ins Auge schaut.
Sie hatten kühn gefochten mit Schill am Ostseestrand
und gehn nun kühn entgegen dem Tod fürs Vaterland.
Sie drücken sich wie Bruder die Hand zum letztenmal;
dann stehn sie ernst und ruhig, die Elfe an der Zahl.
Und hoch wirft Hans von Flemming die Mütze in die Luft.
„Es lebe Preußens König!" die Schar einstimmig ruft.
Da knattern die Gewehre; es stürzt der Braven Reih';
zehn treue Preußen liegen zerrissen von dem Blei.
Nur einer, Albert Wedell, trotzt jenem Blutgericht;
verwundet nur am Arme, steht er und wanket nicht.
Da treten neue Schergen, auch ihn zu morden, vor,
und: „Gebet Achtung! — fertig!" — schallt's schrecklich ihm ins Ohr.
„O zielet," ruft er, „besser! hier sitzt das deutsche Herz!
Die Brüder überleben, ist mir der größte Schmerz!"
Kaum hat er's ausgesprochen, die Mörder schlagen an;
durchbohrt von ihren Kugeln liegt auch der letzte Mann.
So starben tapfre Preußen, durch Schande nie befleckt,
die nun zu ew'gem Ruhme ein Stein zu Wesel deckt. ?.
88. A. Die Trommel.
Hermann Besser. Echtermeyer, Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen.
Halle 1862. S. 480.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Als Napoleons Glück und Ruhm
in den Flammen Moskaus versengt, seine „große Armee" auf den Schnee-
feldern Rußlands vernichtet war, da ging es durch alle preußischen Herzen:
„Das ist Gottes Finger! Jetzt oder nie wird es gelingen, das Vater-
land zu befreien!" Zuerst schlugen die Flammen der Begeisterung hell
auf in Ostpreußen, der preußischen Kernprovinz am baltischen Strande
(der Ostseeküste). Hier nahm die ruhmreiche Erhebung des preußischen
14*
II. Epische Dichtungen'.
212
Volkes ihren Anfang, iiub hier entstand zuerst die Landwehr, die sich
unvergänglichen Ruhm auf dem Schlachtfelde erkämpfte. Überall erklang
die Werbetrommel, und überall zogen die „werbenden Korps" umher,
um jung und alt, aus Palästen unb Hütten, zu den Fahnen zu rufen.
Begeistert folgten alle Wehrhaften freiwillig dem Rufe. Wie unwider-
stehlich diese Begeisterung die Herzerr ergriff und „mit Gott für König
und Vaterland" in Kampf und Tod riß, das zeigt uns das ergreisende
Gedicht vor: Hermann Besser „Die Trommel".
1. Rings wirbelt die Trommel im Preußenlaud ; still liegt nur ein
Hüttchen am baltischen Strand2).
2. Was jammert das Weib drin bei Tag und bei Nacht? — Ihr Mann
ist gefallen in heißer Schlacht^).
3. Auch traf ihr die Kugel der Söhne zwei 4); der jüngste nur lebt und
ihr Kummer dabei5).
4. Und lebt dir ein Knabe, >vas härmst du-dich bleich? O, preise den
Hinrmel, noch bist du ja reich Ich
5. Doch horch! welche Töne das Ufer entlang? Das Weib schrickt zu?
sammen: was macht ihr so bang?ch
6. „Horch, Mutter, wie schallt es so mächtig und laut!"ch „Mein Sohn,
zur Kirche wohl fuhrt man die Braut!"
7. „Nein, Mutter, das klingt nicht wie Hvchzeitston!" „So trägt man
den Paul wohl zu Grabe, mein Sohn." 2)
8. „Nein, nein, so klingt auch nicht Sterbegesang; schon kenne den Ton
ich, schon hört' ich den Klangt).
9. „Als einst ich ihn hörte zum erstenmal, da war's für den Vater das
Abschiedssignal.
10. „Und als er znnl andern getroffen mein Ohr, da folgten die Brüder
dem werbenden Korps.
11. „Nun ruft er zum dritten, er ruft es nun mir: Die andern sind tot,
und die Reih' ist an dir!
12. „Die Reih' ist an mir, das Gewehr in die Hand "), zu fechten für
Freiheit und Vaterland.
13. „Hinaus denn, hinaus in des Kampfes Glut! Leb, Mutter, wohl!
bleib in Gottes Hut!" —
14. Hin ziehet der Knabe, das Schwert er schwingt; einhüllt sich das
Weib, und die Trommel Uerllingt12).
II. Erläuterungen.
1) Provinz Ostpreußen. 2) Ostseeküste. 3) Vielleicht bei Lützen ani
2. Mai 1813. 4) Vielleicht an der Katzbach am 26. August 1813. 5) Nur
der jüngste Sohn, ein Jüngling von 16—18 Jahren, und der Schmerz
(Kummer und Harm) um den ungeheuren Verlust sind ihr geblieben.
Doch auch des jüngsten Sohnes kriegerische Begeisterung macht ihr fort-
gesetzt Kummer und Sorge. 6) Andere Mütter haben alle Söhne ver-
loren. 7) Die Töne der Werbetrommel, die sie am Ufer näher kommen
hört, erschrecken das Weib. Weh, ihre geheime Angst und Ahnung droht
sich zu erfüllen! 8) Mächtig trifft der Klang das Ohr und Herz des
patriotischen Knaben. 9) Die Mutter will in ihrer Angst den Sohn von
der rechten Spur ablenken und ihn beruhigen, indem sie meint, es wäre
Besser: Die Trommel.
213
ein Hochzeits- oder Leichenzug int Dorfe. 10) Der Sohn erkennt den
Klang; es ist das Signal (Zeichen) des Werbekorps, das dem Könige
neue Krieger wirbt und zuführt. Es rief den Vater — und er fiel! Es
rief die Brüder — und sie starben auf dem Felde der Ehre! Nun ruft
es ihn und erinnert ihn, daß auch er sein Leben dem Vaterlande und
der Freiheit schuldig ist; selbst der Schmerz der nun ganz vereinsamten
Mutter darf ihn nicht an der Erfüllung der patriotischen Pflicht hindern.
11) Die Reihe ist an ihm, das Gewehr in die Hand zu nehmen und zu
fechten. 12) Dunkel ist's um das verlassene Weib. Der letzte Lichtstrahl
ihres Lebens ist erloschen, der letzte Freudenton verhallt.
III. Vertieftlng. 1. Zeit und Ort. Im Sommer 1813 an der
Küste der Ostsee. Eine Fischerhütte liegt still und einsam am Meere,
in einiger Entfernung ein Dorf. In der Hütte ist ein Weib mit ab-
gehärmtem Gesicht und in Trauerkleidung. Neben ihr steht ein frischer
Jüngling und lauscht mit feurigen Augen auf fernen Trommelklang, der
an der Meeresküste immer näher kommt. An der Wand hängt ein Ge-
ivehr. Bald wird es der Sohn herabnehmen, der Mutter Lebewohl sagen
und den Werbern in den Kampf für Vaterland und Freiheit folgen.
2. Charakteristik. Weise nach, daß das Weib eine Witwe, in
tiefer Trauer, in geheimer Sorge ist, daß sie den Sohn liebt, ihn zu be-
schwichtigen sucht, seiner Begeisterung nicht zu widerstehen vermag und
in tiefem Weh ihn entläßt! Zeige, daß der Sohn noch jung, aufmerk-
sam, begeistert für Vaterland und Freiheit, pflichttreu, fromm, mutig und
tapfer ist!
3. Gedankengang. I. Das Unglück der gramgebeugten Witwe
(Str. 1—4). II. Der Trommelklang der Werber (Str. 5). III. Zwie-
gespräch der Mutter mit dem Sohne, um ihn von der rechten Spur ab-
zulenken (Str. 6—7). IV. Wiedererkennung des Klanges der Werbe-
trommel durch den Sohn (Str. 8—10). V. Patriotischer Entschluß des
Jünglings (Str. 11—12). VI. Erschütternder Abschied von der Mutter
(Str. 13 und 14).
Grundgedanke. Wenn das Vaterland ruft, um seine heiligsten
Güter zu schützen, dann dürfen wir nicht zögern, Herz, Hand und Leben
seinem Dienste zu weihen. Und wenn auch Tränen das Auge verdunkeln
und der Schmerz das Herz zu zerreißen droht, kein Opfer darf zu schwer
und zu groß für das Vaterland sein.
4. Eigentümliches. Von hoher Schönheit und tiefer Wirkung
sind in dem Gedichte die kurzen Sätze, die Fragen und Antworten, die
Auslassungen zwischen den Zeilen und die Gegensätze. Vortrefflich ge-
wählt ist die Überschrift „Die Trommel". Der werbende Klang der
Trommel ist in der Tat die Seele der Dichtung, der unscheinbare Herold
der großartigsten Volkserhebung. Sie ertönt ringsum im Lande; bis an
die einsame Fischerhütte am baltischen Strande ist sie noch nicht ge-
kommen. Jetzt erklingt sie dumpf und unbestimmt in der Ferne — wie
Ahnung des Unheils für die Mutter und wie Ahnung stolzer Taten für
den Sohn. Noch kann der Ton freudiger Hochzeitsklang oder düsterer
214
II. Epische Dichtungen.
Sterbegesang sein. So legt ihn die Mutter — ohne Überzeugung —
aus und ruft damit nur des Sohnes Widerspruch wach. Näher kommt der
Ton, — immer deutlicher wird er! Nun ist kein Zweifel mehr! Da sind
die Werber, da rührt ihr Tambour die Schlegel! Der laute Trommel-
klang weckt Begeisterung im Knaben und tötet alle Hoffnungen im Herzen
der Mutter. Laut wie der Klang ruft die Kampflust im Knaben: „Hinaus,
hinaus in den Kamps!" Begeistert zieht er von hinnen und läßt die
Mutter in erstickendem Weh, aber in Gottes Hut. Der Trommelklang
verklingt nach und nach; der Sohn verschwindet in der Ferne. Das
Weib aber hüllt sich ein; denn der letzte Strahl der Erdenfreude ist er-
bleicht^ der letzte Hoffnungston verklungen. Aber hell strahlt die Sonne
über einem Lande, das solche Kinder hat. Sieg und Glück und die Hoff-
nung des Wiedersehens gehen in der Schmerzensnacht des Weibes wie
fernes Morgenrot auf.
IV. Aufgabe. Vergleiche mit der „Trommel": B. Kriegers Ab-
schied, von Ernst Moritz Arndt 1814 nach einem alten Soldatenliede
gedichtet, a) nach Ort und Zeit, b) nach Zahl, Alter und Charakter der
Personen, e) nach Gedankengang, Grundgedanken und Grundstimmung,
6) nach der dichterischen Form!
B. Krieaers Abschied.
1. O du Deutschland, ich muß mar-
schieren,
o du Deutschland, du machst mir Mut!
Meinen Säbel will ich schwingen,
meine Kugel, die soll klingen,
gelten soll's Franzosenblut!
2. Nun ade, fahr wohl, Feins-
liebchen !
Weine nicht die Augen rot,
trage dieses Leid geduldig,
Leib und Leben bin ich schuldig,
es gehört zum ersten Gott.
3. Nun ade, mein herzlieber Vater!
Mutter, nimm den Abschiedsknß!
Für das Vaterland zu streiten,
inahnt es mich nächstGott zum zweiten,
daß ich von euch scheiden muß.
4. Auch ist noch ein Klang erklungen
rnächtig mir durch Herz und Sinn:
Recht und Freiheit heißt das dritte,
und es treibt aus eurer Mitte
mich in Tod und Schlachten hin.
5. O wie lieblich die Trommeln
schallen,
und Trompeten blasen drein!
Fahnen wehen frisch im Winde,
Ross' und Männer sind geschwinde,
und es muß geschieden sein.
6. O du Deutschland, ich muß
marschieren,
o du Deutschland, du machst mir Mut!
Meinen Säbel will ich schwingen,
meine Kugel, die soll klingen,
gelten soll's Franzosenblut!
80. Auf Scharnhorsts Tod.
Mar v. Schenkendorf. Gedichte. Stuttgart und Tübingen 1815. S. 30.
(Mit Weglassung der letzten Strophe.)
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Der berühmte preußische General
Gerhard von Scharnhorst, der Sohn eines Pächters zu Bordenau in
Hannover, hat nach der Niederlage Preußens 1806 und 1807 an der
Spitze des Generalstabs das preußische Heer von Grund aus umgestaltet.
Den Offiziersstand säuberte er von untauglichen Gliedern und machte
ihn tüchtigen Männern zugänglich, wenn sie auch nicht adelig waren.
Schenkendorf: Aus Scharnhorsts Tod.
215
Da Preußen nach dem Frieden von Tilsit nur 42 000 Mann Soldaten
halten durfte, so ließ er rasch viele Rekruten einexerzieren, entließ sie
dann und bildete daraus eine starke Reserve. Nicht aus Söldnern, sondern
aus Landeskindern schuf er die neue Armee und hauchte ihr den Geist
der Ehre und der Vaterlandsliebe ein. Statt des Söldnerheeres gab es
nun ein Volksheer; die Armee war das Volk in Waffen. Durch dies
alles bereitete er die Errichtung der Landwehr und die Erhebung Preußens
vor. Nach Napoleons Niederlage in Rußland betrieb Scharnhorst eifrig
die Erhebung Preußens gegen den Tyrannen und bewog den König zur
Stiftung des „Eisernen Kreuzes". Bei Lützen am 22. Mai 1813, in der
ersten Schlacht der Befreiungskriege, wurde er gefährlich verwundet. Aber
anstatt seine Wunde zu pflegen, machte er sich auf die Reise nach Wien,
um Österreich zu bewegen, sich dem Bündnis gegen Napoleon anzuschließen.
Die Wunde verschlimmerte sich jedoch derart, daß er am 28. Juni 1813
in Prag starb, in Prag, wo der General-Feldmarschall Schwerin am
6. Mai 1757 tapfer kämpfend fiel, und wo, nach der Legende, König Wenzel
den heiligen Johann von Nepomuk, der das Beichtgeheimnis nicht ver-
raten wollte, von der Brücke in die Moldau stürzen ließ. Scharnhorsts
Leiche wurde nach Berlin gebracht und dort begraben. Groß war der
Schmerz des Königs und aller Vaterlandsfreunde über den Verlust des
ebenso klugen und umsichtigen wie bescheidenen und liebenswürdigen
Helden. König Friedrich Wilhelm III. ließ ihm vor der Hanptwache in
Berlin durch Rauchs Meisterhand eine Bildsäule errichten. Solange noch
das preußische Volk daukbar seiner Wohltäter gedenkt, so lange wird
Scharnhorst, der Freund des Königs und des Volkes, unvergessen sein.
1. In dem wilden Kriegestanze
brach die schönste Heldenlanze,
Prenßen, euer General.
Lustig auf dem Feld bei Lützen
sah er Freiheitswaffen blitzen,
doch ihn traf der Todesstrahl.
2. „Kugel, raffst mich doch nicht nieder!
Dien' euch blutend, werte Brüder;
führt in Eile mich gen Prag!
Will mit Blut um Ostreich werbeu!
Jst's beschlossen, will ich sterben,
wo Schwerin im Blute lag."
3. Arge Stadt, wo Heldeu kranke»,
Heil'ge vou den Brücken sanken,
, reißest alle Blüten ab! —
Nennen dich mit leisen Schauern
heil-'ge Stadt; nach deinen Mauern
zieht uns manches teure Grab.
4. Aus dem irdischen Getümmel
haben Engel in den Himmel
seine Seele sauft geführt, —
zu dem alten deutschen Rate,
den im ritterlichen Staate
- ewig Kaiser Karl regiert.
5. „Grüß euch Gott, ihr teuren Helden,
kaun euch frohe Zeitung melden,
unser Volk ist aufgewacht.
Deutschland hat sein Recht gefun-
den;
schaut, ich trage Sühnungswunden
aus der heil'gen Opferschlacht!"
6. Solches hat er dort verkündet,
und wir alle stehn verbündet,
daß dies Wort nicht Lüge sei.
Heer, aus seinem Geist geboren,
Jäger, die sein Mut erkoren,
wählet ihn zum Feldgeschrei!
7. Zu den höchsten Bergesforsten,
wo die freien Adler horsten,
hat sich früh sein Blick gewandt;
nur dem Höchsten galt sein Streben,
nur in Freiheit konnt' er leben, —
Scharnhorst ist er drum genannt.
8. Keiner war wohl treuer, reiner,
näher stand dem König keiner, —
doch dem Volke schlug sein Herz.
Ewig auf den Lippen schweben
wird er, wird im Volke leben
besser als in Stein und Erz.
216
II. Epische Dichtungen.
II. Erläuterungsfragen. Wie kann der Krieg mit einem Tanze
verglichen werden? Warum wird der Held Scharnhorst mit einer Lanze,
der scharfen Angriffswaffe, verglichen? Warum trugen die preußischen
Krieger Freiheitswaffen auf das Feld von Lützen? Was wird mit
dem Blitz, was mit dem Schlag verglichen? (Das Glänzen der Waffen
und das Feuer der Geschütze ist der Blitz, das sichere Treffen aber der
Schlag oder der Todesstrahl.) Wann hätte die Kugel den General völlig
niedergerafft oder niedergeworfen? Wer sind die werten Brüder?
Worin bestand die Werbung um Österreich? Welchem Ratschluß will
er sich unterwerfen? Warum heißt Prag eine arge, schlimme, und
eine heilige, geweihte Stadt? Wie lag Schwerin im Blute? Welcher
Heilige sank von der Brücke, und warum? Welche Blüten (Helden,
Freuden) sind gemeint? Warum durchbebt uns ein Schauer bei dem
Namen „Prag"? Was bilden — nach dem dichterischen Ausdruck — die
Helden im Himmel? (Eine Ratsversammlung, eine Tafelrunde, in welcher
der große Kaiser Karl in seinem ritterlichen und kaiserlichen Schmucke
(Staate) den Vorsitz führt. — Arthurs Tafelrunde. Karl im Kreise seiner
Paladine oder vornehmsten Ritter.) Welche frohe Zeitung (freudige
Botschaft oder Nachricht) meldet Scharnhorst den seligen Helden des deut-
schen Vaterlandes? Worin bestand das Erwachen des Volkes? Worin
fein Recht? Welche alte Schmach sühnten die Wunden? Was wurde
in den Schlachten des heiligen Krieges geopfert? Wer war verbündet,
um Scharnhorsts Botschaft zur Tat und Wahrheit zu machen? Wie war
das Heer aus seinem Geist geboren? Wie hatte sein Mut und seine
Begeisterung die (freiwilligen) Jäger erkoren oder zu Rettern des
Vaterlandes und zu Rächern der Schmach auserwählt? Warum sollte
sein Name das Feldgeschrei (Erkennungswort) sein? Was soll der
Horst in Scharnhorsts Namen bedeuten? Worin glich er dem Adler?
Nach welchem höchsten Ziele strebte er? (Befreiung des Vaterlandes,
sittliche Wiedergeburt des Volkes.) Wie diente er dem Könige, wie dem
Volke? Wie lebt er in Stein und Erz, wie im Volke fort?
III. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Scharnhorst wurde bei Lützen
am 2. Mai 1813 verwundet, starb am 28. Juni 1813 zu Prag und er-
hielt 1822 ein Denkmal vor der Hauptwache in Berlin. Bilder, die das
Gedicht andeutet: a) Der blutige Waffentanz bei Lützen, b) Die eilige
Reise des verwundeten Generals, e) Sein Tod in Prag, d) Seine An-
kunft im Himmel, e) Das Heer in Trauer. I) Sein Grab und sein Denk-
mal in Berlin und im Herzen des deutschen Volkes.
2. Scharnhorsts Charakter. Als scharfsinniger Leiten:
des Generalstabes schuf er das preußische Volksheer, als treuer Pa-
triot liebt er König und Vaterland, als tapferer General kämpft
und blutet er, alszuverlässigerGesandter wirbt er für das Bünd-
nis aller Guten, als Mann der Freiheit erträgt er kein Knechtesjoch,
als frommer Christ wird seine Seele von den Engeln in den Himmel
geführt, als Wohltäter des Vaterlandes wird er unvergessen sein.
3. Gedankengang. Str. 1. Scharnhorsts Fall in der ersten
Schenkendorf: Auf Scharnhorsts Tod. 217
Schlacht der Befreiungskriege. Str. 2. Seine Werbereise nach Österreich.
Str. 3. Prag, eine arge und eine heilige Stadt. Str. 4. Scharnhorsts
Botengang in den Himmel. Str. 5. Sein Gruß und seine Botschaft an
die seligen deutschen Helden. Str. 6. Das Gelübde seines Heeres, seiner
wert zu sein. Str. 7. Die Bedeutung seines Namens. Str. 8. Sein un-
vergängliches Denkmal.
Den Grundgedanken sprechen die drei letzten Zeilen aus: „Ewig
auf den Lippen schweben —Die Befreiungskriege 1813—1815 waren
ein heiliger Krieg, weil sie um die heiligsten Güter der Nation geführt
wurden. Der beste Bundesgenosse war Gott im Himmel; die besten Mit-
kämpfer waren die Heimgegangenen seligen Helden droben. Mit diesen
himmlischen Bundesgenossen und Mitkämpfern setzten sich die Kämpfer
auf Erden durch Gebet und frommes Gedenken in die lebhafteste Be-
ziehung. Aber nicht genug! Nach dem Erwachen des Volkes und der
ersten Schlacht mußten sie den Helden droben eine besondere Botschaft
senden. Der Bote kann nur der Würdigste sein. Darum trifft das Todes-
los den unvergleichlichen Scharnhorst. Ernst Moritz Arndt singt darum
in dem Liede „Scharnhorst, der Ehrenbote":
1. „Wen erlest ihr für die großen Toten, die einst ritterlich fürs deutsche
Land ihre Brust dem Eisen boten? Wen erlest ihr als den besten Boten,
Götter, für das Schattenland?
4. Nur ein Held mag Helden Botschaft tragen, darum muß Germaniens
bester Mann, Scharnhorst muß die Botschaft tragen: „Unser Joch, das wollen
wir zerschlagen, und der Rache Tag bricht an!"
4. Eigentümliches. Ein Hauch von Liebe und Wehmut, von
Schmerz und Stolz weht durch das Gedicht. Die schöne Sprache erhält
einen besonderen Reiz durch die wörtliche Rede und viele schöne Bilder.
Der Krieg — ein Tanz, der Held — eine Lanztz, der Waffenglanz und
Feuerschein — ein Blitz, die tödliche Kugel — ein Todesstrahl, die Ge-
winnung Österreichs — eine Werbung mit Blut, das Erdenleben — ein
Getümmel, der sel'ge Tod — ein sanfteA Führen der Engel, der Verein
der sel'gen Helden — ein alter deutscher Rat, die gute Nachricht — eine
frohe Zeitung, die Wunde — eine Sühne für die alte Schmach, die Schlacht
mit ihren Verlusten — ein Opfer, Scharnhorsts Geist — der Mutter-
schoß des Volksheeres, sein Name — das Feldgeschrei (Erkennungszeichen),
sein hohes Freiheitsstreben — Adlerflug, seine Schöpfungen — Adler-
horst, sein Denkmal — Lieder auf den Lippen, Liebe im Herzen, Stein
und Erz auf öffentlichem Platze.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Denke und arbeite, lebe
und stirb für König und Vaterland, dann sicherst du dir ein unvergäng-
liches Denkmal in der Liebe und Verehrung deines Volkes! — Liebe und
Treue sterben nicht. Heldentod ist der Unsterblichkeit Morgenrot.
2. Verwandtes. Gustav Adolfs Tod in der Schlacht bei Lützen
den 16. Mai 1632. Schwerins Heldentod bei Prag den 6. Mai 1757.
Karl der Große im Kreise seiner zwölf Paladine und seines Hofstaates.
Theodor Körners Heldentod (II, Nr. 106). P.
218
II. Epische Dichtungen.
90. A. Lützows wilde Jagd.
Th. Körner, Werke. Berlin, Nicolai 1877. I, 29.
1. Was glänzt dort vom Walde im
Sonnenschein?
Hör's näher und näher brausen!
Es zieht sich herunter in düsteren
Reihn,
und gellende Hörner schallen darein
und erfüllen die Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Ge-
sellen fragt:
„Das ist Lützows wilde, verwegene
Jagd!"
was schlagen die Schwerter zu-
sammen?
Wildherzige Reiter schlagen die
Schlacht,
und der Funke der Freiheit ist glü-
hend erwacht
und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Rei-
ter fragt:
„Das ist Lützows wilde, verwegne
Jagd!"
2. Was zieht dort rasch durch den
finstern Wald
uub streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt,
das Hurra jauchzt, und die Büchse knallt,
es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die schwarzen Jä-
ger fragt:
„Das ist Lützows wilde, verwegne
Jagd!"
3. Wo die Reben dort glühen, dort
braust der Rhein,
der Wütrich geborgen sich meinte;
da naht es schnell mit Gewitterschein
und wirft sich mit rüstigen Armen
hinein
und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen
Schwimmer fragt:
„Das ist Lützows wilde, verwegne
Jagd!"
4. Was braust dort im Tale die
laute Schlacht,
5. Wer scheidet dort röchelnd vom
Sonnenlicht,
unter winselnde Feinde gebettet?
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht,
doch die wackern Herzen erzittern nicht:
das Vaterland ist ja gerettet!
Und wenn ihr die schwarzen Ge-
fallenen fragt:
„Das war Lützows wilde, verwegene
Jagd!"
6. Die wilde Jagd und die deutsche
Jagd
auf Henkersblut und Tyrannen! —
Drum, die ihr uns liebt, nicht ge-
weint und geklagt;
das Land ist ja frei, und der Morgen
tagt,
wenn wir's auch nur sterbend ge-
wannen!
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nach-
gesagt:
„Das war Lützows wilde, verwegene
Jagd!"
I. Geschichtliches. Der Anfrnf des Königs von Preußen „An mein
Volk" vom 17. März 1813 hatte int preußischen und deutschen Volke
einen mächtigen Widerhall gefunden. Von allen Seiten des Vaterlandes
drängten sich Männer und Jünglinge ohne Unterschied des Standes zu
den Waffen, um das schimpfliche Joch der Franzosen abzuschütteln: die
Universitäten und die oberen Klassen der gelehrten Schulen leerten sich,
denn die Schüler und Lehrer traten unter die Waffen; der Landmann
verließ den Pflug, der Handwerker die Werkstätte, der Kaufmann das
Geschäft, kurz:
„Das Vvlk stand auf, der Sturm brach los."
Außer der Landwehr ries der patriotische Mut auch eine große
Anzahl von Freiwilligen herbei, die besondere Freikorps bildeten.
Eins der berühmtesten war das des Majors von Lützow. Es enthielt
die tüchtigsten, besten und gebildetsten Jünglinge, die Blüte der Nation.
Voll tapfern Mutes nannten sie sich das „Korps der Rache"; ihre Uni-
Körner: Lützows wilde Jagd.
219
form war schwarz, um auch äußerlich die Trauer über erlittene Knecht-
schaft auszudrücken. Bei diesen! Freikorps ließ sich auch der Dichter dieses
Liedes, Theodor Körner, einschreiben. Er hat durch seine Lieder,
seine Tapferkeit und seinen Heldentod nicht wenig dazu beigetragen, daß
die Lützowschen Jäger noch heute gekannt und geehrt sind.
Diese Freikorps, meist Jäger, verfolgten den Zweck, den Feind fort-
während zu beunruhigen, seine Verbindung mit Frankreich zu stören,
Transporte abzufangen usw. Obgleich sie, ohne ihr Verschulden, durch
allerlei Unglücksfälle den kühnen Erwartungen, welche inan gerade an
diese Korps knüpfte, nicht ganz entsprachen, so haben sie doch, lvie die
Geschichte erzählt, Bewundernswertes genug geleistet.
Obiges Gedicht stammt aus der Zeit, als dieses von den Franzosen
gefürchtete Korps entstand, und legt ein beredtes Zeugnis ab von dem
kriegerischen Geiste und ungestümen Mute, der die Schar belebte.
II. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1. Sonnenhell liegt die
Waldeshöhe vor dem Fragenden, welcher von dorther ein Glänzen von
Waffen und bald darauf dunkle, düstere Reihen von reitenden Kriegern
heranbrausen sieht. Daß es eine besondere Art von Kriegern sein muß,
erkennt man schon daran, daß sie aus dem Walde kommen, während
größere Heeresmassen die breite Landstraße aufsuchen. Das Dreinschallen
der gellenden Hörner macht uns diese geheimnisvolle Schar noch unheim-
licher, und unsere Seele wird „mit Grausen" (Furcht, Angst, Schauder)
erfüllt, auch durch den Anblick der dunkeln, ganz in schwarze Uniformen
gekleideten Gestalten. Aber dieses „Grausen" wird jetzt, da die Antwort
erfolgt, von uns genommen; denn der Dichter sagt:
„Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
„Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd!"
„Wild", d. h. in Wut gebracht, und „verwegen" (furchtlos, über-
kühn und ohne Scheu vor dem Tode) stehen sie im Kampfe. Daß sie
„wild und verwegen" waren, haben die „Lützowschen" oft genug bewiesen.
Str. 2. Gab die erste Strophe nur das allgemeine Bild der
„schwarzen Schar", so führt sie uns die zweite Strophe insbesondere als
Jäger vor. Wie die eigentlichen Jäger, welche auf Wild ausziehen,
gehen auch sie rasch durch den finstern Wald und „streifen" (bewegen
sich eilig hin und her) von Berg zu Berg, um das Wild — hier den
Feind — aufzusuchen. In der Nacht legen sie sich in den „Hinterhalt"
(dem Feinde verborgener Ort), von welchem aus sic ihm Plötzlich zu
gelegener Zeit in den Rücken fallen können. Und wenn sie den Feind
gefunden haben, dann jauchzt das Hurra, und es knallt die Büchse! Fröh-
lichen Mutes stürzen die Jäger hervor und: „Es fallen die fränkischen
Schergen." Schergen sind die willigen Werkzeuge einer ungerechten,
despotischen Regierung; sie sind der Gegensatz zu den Lützowschen, die
freiwillig für das Vaterland ihr Leben in die Schanze schlugen. Nun
wissen wir schon besser, wen wir vor uns haben, drum gibt der Dichter
zum zweitenmal die Antwort:
„Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd!"
220
II. Epische Dichtungen.
Str. 3. In dieser Strophe versetzt der Dichter seine Schar an den
Rhein, „wo die Reben glühn". Damit deutet der ahnungsvolle Dichter
an, daß der Krieg gegen die Franzosen nicht damit aufhören dürfe, daß
man sie aus dem Lande diesseits des Rheins jage, sondern man müsse
sie, wie auch Blücher vor der Schlacht bei Leipzig äußerte, in ihrem
eigenen Lande vernichten, wo der Wüterich (ein grausamer Tyrann) sich
geborgen (sicher) meinte.
Hatte die vorhergehende Strophe uns die Männer als Jäger ge-
schildert, so erscheinen sie uns hier als kühne Schwimmer; denn kaum
am Ufer angekommen, springen sie in den Rhein, durchschwimmen ver-
wegen den breiten Strom und sind die ersten, welche das bisher dem
Feinde gehörige Ufer betreten, um kühn den Krieg in das feindliche Land
zu tragen. So wird zum drittenmal nach den schwarzen Gesellen gefragt,
und zum drittenmal erfolgt in erhöhtem Selbstbewußtsein die Antwort:
„Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd!"
Str. 4. Da hält der Feind, den wir uns fliehend zu denken haben,
in seiner Flucht ein und stellt sich zur Schlacht in einem Tale seines
eigenen Landes auf. Die Entscheidungsschlacht beginnt; Mann gegen
Mann wird mit den Schwertern gefochten, wie in alter Zeit, und der
Dichter sieht im Geiste, wie die für die Freiheit des Vaterlandes
kämpfenden Freiwilligen verwegen ihr Leben in die Schanze schlagen.
Die Schlacht ist blutig; die kleine Schar befindet sich in leidenschaft-
licher Erbitterung, und deshalb nennt sie der Dichter die „wildherzigen"
Reiter.
Die Worte:
„Der Funke der Freiheit ist glühend erwacht und lodert in blutigen Flammen"
erinnern im Bilde daran, wie schon vor dem Beginne des Krieges das
Gefühl der Freiheit in der Brust jedes Kriegers vorhanden war, aber es
schlummerte der „Funke" noch tief im Innern; erst später entwickelte sich
aus diesem Funken die glühende Flamme. Diese Glut loderte auf, als
aus den Wunden der Krieger das rauchende Blut emporspritzte. —
Abermals wird nach den schwarzen Kämpfern gefragt, und abermals
wird mit noch höherer Steigerung dieselbe Antwort gegeben.
Str. 5. Die blutige Schlacht hat Opfer gekostet. Freund und Feind
liegen sterbend nebeneinander. Aber auch hier ist noch ein Unterschied
zwischen den Feinden und den patriotischen Männern, die für die Frei-
heit und das Vaterland kämpfen. Während jene in schimpflicher Angst
„winselnd" (feig wimmernd) aus dieser Welt scheiden, legen sich die kühnen
Vaterlandsverteidiger zur Ruhe, nicht nur ohne Furcht im wackern Herzen,
sondern mit dem beglückenden Troste:
„Das Vaterland ist ja gerettet!"
So erweisen sich die tapferen Krieger als Helden, nicht nur im kühnen
Kampfe mit den Feinden, sondern auch im Kampfe mit dem Tode.
Gerok: Die Geister der Helden.
221
Str. 6. In den beiden ersten Zeilen dieser Strophe faßt der Dichter
noch einmal den Inhalt des ganzen Liedes in den Worten zusammen:
„Die wilde Jagd and die deutsche Jagd auf Henkersblut und Tyrannen!"
Damit will er aber zugleich auch ausdrücken, daß diese ivilde Jagd, welche
zugleich eine deutsche ist, nicht bloß gegen den Hauptfeind Napoleon,
sondern gegen alle seine Verbündeten, die „Henker" (das waren die fran-
zösischen Schergen) und „Tyrannen" (vgl. Str. 3), zu Felde zieht.
Nachdem nun der Dichter die Schar so vollständig gezeichnet hat,
wendet er sich an die, welche die gefallenen Männer der tapfern Schar
geliebt haben, an die Eltern, Frauen, Bräute und Geschwister. Sie sollen
nicht weinen und klagen, sondern sich in ihrem Schmerze trösten durch
den Gedanken, daß das Vaterland frei ist, und daß nun eine schöne Zeit
wiederkehren werde („Der Morgen tagt"), in welcher das deutsche Volk
seinen Sitten, seinem Glauben und seinen Tugenden wieder leben kann.
Zuletzt richtet der Dichter die Aufforderung an die Kinder und
Kindeskinder, sie möchten der großen und schweren Taten, welche jene
todesmutige Schar für das Vaterland vollbrachte, gedenken. Und gewiß,
kein echtes deutsches Kind wird sich solche Undankbarkeit zu schulden kommen
lassen und der Männer vergessen, die mit ihrem Blute das Vaterland
wiedererobert haben-
III. Die Gliederung des Gedichts. 1. Einleitung. (Str. 1). All-
gemeine Schilderung des Lützowschen Korps. 2. Hauptteil (Str. 2—5).
Schilderung der Lützower als Jäger, Schwimmer und tapfere Krieger.
3. Schluß (Str. 6). Zusammenfassung des Ganzen und Aufforderung
des Dichters, nicht zu klagen, sondern der Tapferen zu gedenken.
IV. Ort und Zeit der Handlung. Im Anfange sehen wir das Korps
im Walde umherziehen und von Bergen zu Bergen streifen; dann
schwimmen sie durch den Rhein, um jenseits des Stromes den
Feind im eigenen Lande anzugreifen. Die Zeit der Handlung ist im
Jahre 1813, anfangs am Tage, dann in der Nacht und später wieder
am Tage.
V. Kurze Charakteristik des Korps. Die Jäger erscheinen in schwarzer
Uniform, mit gellenden Hörnern, blitzenden Schwertern und knallenden
Büchsen. Sie sind wild, verwegen, rasch, listig, kühn, geschickt in körper-
lichen Übungen, wildherzig, freiheitliebend, wacker. (Beweise für diese
Eigenschaften!)
VI. Schriftliche Aufgabe: Vergleichung: „Lützows wilde Jagd"
und „Die Geister der Helden".
II. Die Geister der Helden.
Karl Gerok, Deutsche Ostern. Stuttgart 1871. S. 24.
Wer reitet so spät in der stürmischen Nacht
vorbei am gewitternden Himmel?
Sind's Geistergeschwader, entboten zur Schlacht?
Jst's wandelndes Wolkengewimmel? —
Sind's Geisterschwadronen in dämmernden Reihn,
die Lüfte durcheilend im mondlichen Schein,
ihr Marschall voran auf dem Schimmel?
222
II. Epische Dichtungen.
Die Tapfern sind's aus der vorigen Zeit,
entstiegen den dumpfigen Grüften.
Trompeten hörten sie werben zum Streit,
da zwang sie's, den Rasen zu lüften;
sie reiten auf Wolken im mondlichen Schein,
hoch über die Berge hinüber zum Rhein
und reißen das Schwert von den Hüften.
Es führt sie der Blücher auf brausenden! Roß;
wie flattert sein Mantel im Winde!
Und Gneisenau folgt ihm, der treue Genoß,
daß der Rat mit der Tat sich verbinde,
und der finstere Jork und der schneidige Kleist
und der Schill, und was weiß ich, wie jeglicher noch heißt?
Sie reiten mir viel zu geschwinde!
Doch der dort auf grauem, getigertem Hengst
gleicht Württembergs tapferem Sohne;
als der Könige Nestor vertauscht' er unlängst
mit dem Sarkophage die Krone:
nun reitet er wieder so rüstig und froh,
als würf' er noch einmal bei Monterau
Bonapartes Bataillone.
Und einen noch hab' ich mit Freuden erschaut,
auf schwarzen!, gespenstigem Pferde,
ans Herz drückt er die eiserne Braut
mit jugendlich froher Gebärde:
Willkommen, o Körner, mein Sänger und Held!
Bist erwacht du vom Schlummer auf Wöbbelins Feld?
Willkommen mit Leier und Schwerte!
So kommen die Geister herüber zum Rhein
ans jagenden Wolken geflogen,
tief nuten da wälzt er im Mondenschein
am Loreleifelsen die Wogen;
sie schaun, ob die Söhne der Väter noch wert,
sie sorgen, daß nimmer das tapfere Schwert
von der Feder wird listig betrogen.
Willkominen als Helfer im heiligen Kampf,
ihr Helfer aus vorigen Tagen!
Schwebt über den Heeren im Pulverdampf,
wenn unten die Schlachten sie schlagen,
die Feinde zu schrecken mit Furcht und mit Grans,
die Freunde zu stärken im blutigen Strauß
und die Toten gen Himmel zu tragen!
W. D.
91* Abschied vom Leben.
Theodor Körner. Sämtl. Werke, herausgegeben von Streckfuß. Berlin 1874. S. 29.
I. Vorbereitung und Vortrag. Neben Ernst Moritz Arndt ist Theo-
tz o r K ö r n e r der gefeiertste Sänger der Befreiungskriege. Mit der L e i e r
(seinen feurigen Liedern) und dem Schwerte hat er für das Vaterland
gekämpft. Als König Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 den
„Aufruf an mein Volk" erließ, da entbrannte das Herz des 22 jährigen
Jünglings in heißer Glut für die Freiheit und das Vaterland. Obwohl
geborener Sachse, verließ er eine ehrenvolle Stellung und eine liebe Braut
Körner: Abschied vom Leben.
223
in Wien, die geliebten Eltern in Dresden und trat iu Breslau als Frei-
williger in die Lützowsche Freischar. Bald war er der Liebling aller und
wurde zum Offizier gewählt. Auf einem Streifzuge nach Thüringen be-
gleitete er freiwillig als Adjutant den Major von Lützow. Napoleon
lies; während des Waffenstillstandes die verhaßten Lützowfchen „Räuber"
bei Kitzen im Kreise Merseburg am 17. Juni 1813 überfallen und
größtenteils niedermetzeln. Auch Körner wurde schwer verwundet, schleppte
sich aber in ein nahes Gehölz und erwartete hier gottergeben seinen
Tod. An den Marken (Grenzen) seiner Lebenstage schaute er noch
einmal zurück auf die schönen Bilder der Liebe und Hoffnung, die
seine reiche Jugend umschwebten. Die Hoffnungen sollten sich nicht er-
füllen, sondern in einer Totenklage seiner Lieben enden. Doch mutig
hebt er den Blick zum Himmel. Die Heiligtümer seines Lebens, für
die er begeistert gesungen und gestrebt hat, Liebe, Freiheit, Vaterland
und Gott, sie können nicht mit ihm sterben, müssen droben ewig mit ihm
leben. Er sieht sie als leuchtenden Seraph (Engel) vom Throne Gottes
herabschweben. Er fühlt die Sinne schwinden, aber die Seele empor-
steigen zu den himmlischen Höhen, die in ewigem Morgenrot glänzen.
Was bei diesem „Abschied vom Leben" durch die Seele des Dichters ging,
das sagt das folgende Gedicht!
Die Wunde brennt; — die bleichen Lippen beben. —
Ich fühl's an meines Herzens matterm Schlage:
hier steh' ich an den Marken meiner Tage. —
Gott, wie du willst! Dir hab ich mich ergeben. —
Viel gvldne Bilder sah ich um mich schweben;
das schöne Traumbild wird zur Totenklage. —
Mut! Mut! — Was ich so treu im Herzen trage,
das muß ja doch dort ewig mit mir leben!
lind was ich hier als Heiligtum erkannte,
wofür ich rasch und jugendlich entbrannte,
ob ich's nun Freiheit, ob ich's Liebe nannte:
Als lichten Seraph seh' ich's vor mir stehen; —
und wie die Sinne langsam mir vergehen,
trägt mich ein Hauch zu morgenroten Höhen.
II. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Am 17. Juni 1813. Ein Schlacht-
feld mit Toten und Verwundeten; ein Gehölz stößt an die Felder; ein
verwundeter Offizier liegt im Gebüsch und lehnt den Kops an einen
Baum; die Uniform ist mit Blut überströmt; Lippen und Wangen sind
bleich; die matten Augen sind gen Himmel gerichtet.
2. Gedankengang. Str. 1. Ergeben in Gottes Willen erwartet
der verwundete Krieger seinen Tod. Str. 2. Die schönen Bilder seines
Lebens umschweben ihn als Erinnerung. Str. 3 u. 4. Seine Ideale von
Liebe und Freiheit bleiben ihm treu und begleiten seine Seele in den
Himmel.
Grundgedanke. Wahrhaft Gutes und Edles (unser Ideal) stirbt
nicht mit dem Leibe, sondern begleitet die Seele zu Gott, woher es
224
II. Epische Dichtungen.
stammt. Es ist das Glück der Erinnerung, der Trost der Gegenivart und
die Hoffnung der Zukunft.
3. Eigentüml ich es. Das kleine Gedicht ist ein Sonett; über die
Form des Sonetts s. Bd. III, Anhang IBIV/J! — Dies Sonett enthält
die Stoßseufzer eines Sterbenden, daher die kurzen Sätze, die Ausrufe
und Gedankenstriche!
III. Nachwort. Der Dichter starb nicht in dem Wäldchen bei Kitzen,
wie er meinte, sondern wurde von zwei patriotischen Bauern gefunden,
vorsichtig in das Dorf gebracht, liebevoll gepflegt und mitten unter Fein-
den verborgen gehalten. Später holten ihn Freunde nach Leipzig und ver-
schafften ihm ärztlichen Beistand. In Karlsbad, wohin sich Körner
mitten durch feindliche Heere begab, fand er völlige Herstellung seiner
Gesundheit. Noch vor Ablauf des Waffenstillstandes stellte er sich wieder
bei den Lützowern ein, die ihn mit Jubel empfingen. In einem Gefecht
bei Gadebusch in Mecklenburg fand der jugendliche Held und Sänger
seinen Tod durch einen Schuß. Eine Stunde vorher hatte er bei der
Rast in einem Gehölze das ergreifende Schwertlied gedichtet und in
sein Taschenbuch geschrieben. Der Schmerz seiner Freunde, ja aller
Deutschen war groß. Unter dem Gesänge seiner Lieder wurde er bei
Wöbbelin unter einer alten Eiche begraben. Neben ihm ruhen seine einzige
Schwester Emma, die dem geliebten Bruder schon nach zwei Jahren folgte,
sein Vater und seine Mutter. Die Grabstätte, die jedem rechten Deutschen
heilig sein muß, ist durch ein gußeisernes Gitter eingefriedigt und mit
einenl Denkmal geziert. Doch besser als Stein und Erz erhalten die
Lieder des Sängers sein Andenken im deutschen Volke.
Vergleiche „Theodor Körner
1. Bei Wöbbelin, im freien Feld
am Mecklenburger Grunde,
da ruht ein jugendlicher Held
an seiner Todeswunde.
2. Er war mit Lützows wilder Jagd
Wohl in die Schlacht gezogen;
da hat er wild und unverzagt
die Freiheit eingesogen.
3. Was ihm erfüllt die Heldenbrust,
er hat es uns gesungen,
daß Todesmut und Siegeslust
in unser Herz gedrungen.
von Förster!
4. Und wo er sang zu seinem Troß,
zu seinen schwarzen Rittern:
das Volk stand auf, der Sturm brach los
in tausend Ungewittern.
5. So sind die Leier und das Schwert,
bekränzt mit grünen Eichen,
dem Krieger wie dem Sänger wert,
ein teures Siegeszeichen.
6. Wenn uns beim Wein dein Lied
erklingt,
wenn an den Wehrgehenken
die helle Eisenbraut uns winkt:
wir werden dein gedenken!
P.
92. Das Franzosenheer 1812.
Zehn Kriegs- und Volkslieder. Halle a. S. Gedruckt in diesem Jahre.
1. Mit Mann und Roß und Wagen
so hat sie Gott geschlagen.
Es irrt durch Schnee und Wald umher
das große, mächt'ge Franzosenheer:
der Kaiser auf der Flucht,
Soldaten ohne Zucht.
2. Mit Mann und Roß und Wagen
so hat sie Gott geschlagen.
Jäger ohne Gewehr,
Kaiser ohne Heer,
.Heer ohne Kaiser,
Wildnis ohne Weiser.
Das Franzosenheer 1812.
225
3. Mit Mann und Roß und Wagen 5. Mit Mann und Roß und Wagen
so hat sie Gott geschlagen.
Feldherrn ohne Witz,
Stückleut' ohn' Geschütz,
Flüchter ohne Schuh,
nirgends Rast noch Ruh.
so hat sie Gott geschlagen.
Trommler ohne Trommelstock,
Kürassier im Weiberrock,
Ritter ohne Schwert,
Reiter ohne Pferd.
6. Mit Mann und Roß und Wagen
so hat sie Gott geschlagen.
Speicher ohne Brot,
allerorten Not,
Wagen ohne Rad,
alles müd' und matt,
Kranke ohne Wagen,
so hat sie Gott geschlagen.
4. Mit Mann und Roß und Wagen
so hat sie Gott geschlagen. .
Fähnrich ohne Fahn',
Flinten ohne Hahn,
Büchsen ohne Schuß,
Fußvolk ohne Fuß.
I. Vorbereitung. Der Lehrer versetzt zur Erzielung des vollen Ver-
ständnisses die Schüler zunächst in die rechte Situation, indem er ihnen
die Geschichtsbilder: Kaiser Napoleons Zug nach Rußland mit einer
Armee von nahezu einer halben Million Kriegern, den großen Brand von
Moskau, den Rückzug der französischen Armee im strengen Winter 1812,
den Übergang über die Beresina und die Flucht Napoleons von Wilna
durch Deutschland in recht lebendiger und anschaulicher Weise erzählt und
schildert. Dann werden sie sich auch vorstellen und begreifen können,
welche tiefen Eindrücke die Nachrichten von diesem namenlosen Kriegs-
unglücke und Elende der französischen Armee auf die gänzlich nieder-
gedrückten und schwer gebeugten Gemüter aller patriotischen Deutschen
damals machen mußten und gemacht haben. Es kämpften dabei das Mit-
leid und die christliche Liebe mit dem Gefühl der Genugtuung, mit der
hohen Freude und Hoffnung aller patriotischen Herzen, die in diesem
unheilvollen und schimpflichen Rückzüge Napoleons die Stimme Gottes:
„Bis hierher und nicht weiter" vernahmen, die daher ferner die völlige
Niederlage und den Untergang der französischen Armee als ein Straf-
gericht des Herrn ansahen und daraus die Hoffnung schöpften, endlich
nun das Joch des übermütigen Tyrannen abschütteln und das Vaterland
von seinen Schergen befreien zu können. Das Unglück der Franzosen
war unsagbar. „Wer aber den Schaden hat, braucht für den Spott nicht
zu sorgen." Die Wahrheit dieses Sprichwortes bestätigte sich 1812 hier
im großen. Der bittre, lang verhaltene Groll der Deutschen, welche sechs
Jahre lang unter dem schweren Joche des Völkerpeinigers geseufzt hatten,
der tiefe, glühende Haß, welchen die ganze Nation gegen ihn und die
Franzosen empfand, und die endliche Hoffnung auf baldige Erlösung ans
der Knechtschaft machten sich gleichsam Luft in dem obigen Volksliede,
welchem der jahrelang verstummte Humor der Deutschen, der Soldaten,
der Bürger, der Studenten, überhaupt des ganzen Volkes inimer neue
Verse zum Thema: „Mit Mann und Roß und Wagen so hat sie Gott
geschlagen" hinzufügte. Das Lied ist von keinem einzelnen Dichter ge-
dichtet, sondern es entsprang unmittelbar aus dem Geiste des Volkes.
Was jeder im Volke dachte und fühlte, das sprach sich ungesucht von Mund
zu Munde aus. Wie ein Lauffeuer ging es von Stadt zu Stadt, von Dorf
AdL. n. 8. Aufl. 15
226
II. Epische Dichtungen.
zu Dorf, und binnen wenigen Wochen war es durch kleine Flugblättchen
in ganz Deutschland verbreitet. In ihm spricht sich das Volksurteil aus:
„Nicht die Völker, nicht Hunger und Frost, sondern Gott allein hat die
Welschen und ihren Kaiser also schwer und hart geschlagen." Vox populi,
vox Dei! —
II. Erläuterung und Vertiefung. Str. 1, Z. 1. Jede Strophe be-
ginnt mit dem Refrain, d. i. Wiederholungs- oder Kehrreim, der sonst
meist am Schlüsse der Strophe steht. „Mann und Roß und Wagen"
steht für Infanterie, Kavallerie, Artillerie, überhaupt für das ganze Heer
und will sagen: sie waren gänzlich geschlagen. 2. So hat sie, d. h. die
Feinde, welche das Volkslied gar nicht nennt, da sie jeder echte Deutsche
stets und längst im Sinne und Magen hatte, Gott geschlagen und ge-
richtet. 3. Ihre ganze Armee hat sich aufgelöst. 4. Die einzelnen Heer-
haufen irrten in Schnee und Wäldern umher. 5. Der Kaiser hatte schließ-
lich sein Heer verlassen, das Kommando seinem Schwager Murat, dem
Könige von Neapel, übergeben und war in einem Bauernschlitten nach
Paris geflohen. 6. Zucht und Disziplin der Soldaten waren völlig ver-
schwunden.
Str. 2, Z. 3. „Die Jäger", bedeutet hier alle Infanteristen, hatten
ihre Gewehre längst weggeworfen. Sie dachten nicht mehr an Kampf und
Gegenwehr, sondern nur an Rettung ihres Lebens. 4 und 5 ist ein passen-
der Kettenreim. 6. Die jämmerlichen Reste des Heeres irrten in der Wild-
nis ohne Führer, ohne Wegweiser umher.
Str. 3, 3. Die Tamboure hatten Trommel und Schlegel, 4. Kürassiere
die blanken und kältenden Kürasse weggeworfen, und manch einer hatte
in der schrecklichen Kälte sich in die warmhaltenden Röcke gefallener Marke-
tenderinnen gehüllt. 5. Selbst die Offiziere hatten ihren höchsten Ehren-
schmuck, Säbel und Degen, weggeworfen, und 6. die Reiter hatten wohl
noch die Sporen, aber keine Pferde mehr, die zun: Teil gefallen und zum
Teil geschlachtet worden waren, nur um den quälenden Hunger zu stillen.
Str. 4, 3. Selbst die Fahnen und Standarten und Adler, die sonst
unveräußerlichen Ehrenzeichen der Regimenter und Bataillone, wurden
von den Fähnrichen, die sie sonst bis zum Tode verteidigten, als Hemmnis
weggeworfen und, 4. und 5. wer ja noch ein Gewehr hatte, besaß kein
Pulver und Blei dazu, hatte keine Munition mehr. 6. Am schlimmsten
jedoch waren alle die daran, die auf der Flucht zu Fuße waren. Bei der
gräßlichen Kälte hatten die allermeisten die Füße erfroren und gingen
rettungslos ihrem Untergange entgegen.
Str. 5, 3. Die wenigen Feldherren, die noch bei der Armee geblieben,
waren völlig ratlos. Ihr Scharfsinn suchte vergeblich nach Mitteln zur
Rettung. 4. Auch die Artilleristen (Stückleut) hatten ihre Kanonen längst
im Stiche gelassen. 5. Anstatt der Stiefeln, die völlig zerrissen waren,
wickelten die Flüchtigen vier- und fünffache Tuchlappen von den Uni-
formen der Erfrorenen und Verhungerten um die Füße. 6. Um das Maß
des Elends überlaufend zu machen, wurden die Ärmsten Tag und Nacht
Rückert: Auf die Schlacht an der Katzbach.
227
von beit unbarmherzigen Kosaken umschwärmt, beraubt, gefangen genom-
men und getötet.
Str. 6, 3. Allgemeine Hungersnot herrschte im Heere. Speicher
trafen sie wohl an, aber leer von Korn, Hafer, Mehl und Brot. 4. End-
lich erreichte die Not und das Elend den höchsten Gipfel. Der Übergang
über die mit Eis gehende Beresina und seine Folgen kostete vielen
Tausenden das Leben. 5. Alles war zum Sterben müd und matt, alle
waren krank, aber 6. nirgends war für die Kranken ein Wagen, nirgends
für die Verwundeten ein Arzt und Lazarett vorhanden. Die große Armee
war bis auf ein Häuflein zusammengeschmolzen. Von 500000 Mann
kehrten kaum 30000 zurück. „So hat sie Gott geschlagen!"
R. D.
93. Auf die Schlacht an der Katzbach.
Fr. Rückert. Ges. Gedichte. Bd. II. 3. Ausl. S. 26.
1. Nehmt euch in acht vor den Bächen,
die da von den Tieren sprechen,
jetzt und hernach!
Dort bei Roßbach! dort bei
Roßbach!
Dort von euren Rossen
hat man euch einst geschossen,
ist das Blut geflossen
in rechtem Bach. —
2. Nehmt euch in acht vor den Bächen,
die da von Tieren sprechen,
jetzt und hernach!
An der Katzbach! An der Katz-
bach!
Da haben wir den Katzen
abgehauen die Tatzen,
daß sie nicht mehr kratzen;
kein Hieb ging flach!
I. Vermittlung. Die Franzosen haben mit unserm Volke leider nur
zu oft blutige Kämpfe gehabt. Oft wurden die Deutschen von den Fran-
zosen geschlagen, besonders wenn die Stämme unseres Vaterlandes unter
sich nicht einig waren, aber ebenso oft schlugen unsere tapferen Krieger
auch den Erbfeind. Besonders zwei Schlachten sind es, in denen die Fran-
zosen glänzend besiegt wurden, bei Roßbach und an der Katzbach. (Hier
folgt seitens des Lehrers eine kurze Schilderung beider Schlachten und
genaue Angabe beider Schlachtfelder.)
Daß beide Schlachten durch ihre Namen an Bäche erinnern, die
nach Tieren benannt sind, veranlaßte den Dichter zur Abfassung jenes
kleinen, reizenden Gedichts, in welchem er den Franzosen spottend eine
gute Lehre gibt.
Str. 1 spricht von der Schlacht bei Roßbach, in welcher die Fran-
zosen von ihren Rossen geschossen wurden. Der Verlust war so groß,
daß das Blut der Feinde wie in einem Bache floß.
Str. 2. Die Schlacht an der Katzbach läßt den Dichter an die Falsch-
heit der Franzosen denken, die wie Katzen kratzen. Damit sie es nicht mehr
tun konnten, wurden ihnen die Tatzen abgehauen (ihre Waffen genom-
men). Kein Hieb ging flach! deutet an, wie die Preußen tüchtig drein
gehauen haben; denn flache Säbelhiebe verwunden nicht.
II. Gliederung des Inhalts. Thema: Franzosen, nehmt euch in acht
vor den Bächen, und gedenkt a) an Roßbach, wo ihr von den Rossen
geschossen wurdet, b) an die Katzbach, wo euch die Tatzen abgehauen
wurden! — W. D.
15
228
II. Epische Dichtungen.
94. Die Leipziger Schlacht 1813.
E- M. Arndt, Gedichte. Berlin 1875. S. 275.
1. Wo kommst du her in dem roten Kleid?
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?
Ich komm' aus blutigem Männerstreit,
ich komme rot von der Ehrenbahn.
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
drob müssen die Mütter und Bräute klagen,
da ward ich so rot.
2. Sag an, Gesell, und verkünde mir:
Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht?
Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
das manches Auge voll Tränen macht;
da flogen die Kugeln wie Winterflocken,
und Tausenden mußte der Atem stocken
bei Leipzig der Stadt.
Z. Wie heißen, die zogen ins Todesfeld
und ließen fliegende Banner aus?
Es kamen Völker aus aller Welt,
die zogen gegen Franzosen aus,
die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen,
und die nach dem glorreichen Österreich heißen,
die zogen all' aus.
4. Wem ward der Sieg in dem harten Streit,
wem ward der Preis mit der Eisenhand?
Die Welschen hat Gott wie die Spreu zerstreut,
die Welschen hat Gott verweht wie Sand;
viel Tausende decken den grünen Rasen,
die übriggebliebnen entflohen wie Hasen,
Napoleon mit.
5. Nimm Gottes Lohn! Habe Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut,
das klang wie himmlische Zimbeln hell,
hab Tank der Mär von dem blutigen Streit!
Laß Witwen und Bräute die Toten klagen!
Wir singen noch fröhlich in spätesten Tagen
die Leipziger Schlacht.
6. O Leipzig, freundliche Lindenstadt,
dir ward ein leuchtendes Ehrenmal:
Solange rollet der Jahre Rad,
solange scheinet der Sonnenstrahl,
solange die Ströme zum Meere reisen,
wird noch der späteste Enkel preisen
die Leipziger Schlacht.
I. Vermittlung. Das Gedicht ist ein Zwiegespräch zwischen einem
Krieger, welcher in der Schlacht bei Leipzig mitgefochten, und einem zu
Hause gebliebenen patriotischen Deutschen. Dem Dichter hat sicher Jes.
63, 1—2 vorgeschwebt: „Wer ist der, so von Edom kommt, mit rötlichen
Kleidern von Bozra?" usw.
Str. 1. Die erste Frage des Vaterlandsfreundes: „Wo kommst du
her?" wird veranlaßt durch einen daherkommenden Krieger, von dessen
Arndt: Die Leipziger Schlacht 1813.
229
Kleidern das Blut auf das Gras des grünen „Planes" (der Weide, Wiese,
des Rasens) herabfließt. Des Kriegers Antwort lautet: Ich komme aus
der blutigen Schlacht, aus dem „Mäuu er streit" (nicht bloß
Jünglinge, sondern auch Männer, die zur Landwehr gehörten und in
reiferen Jahren als freiwillige Kämpfer teilnahmen, haben mitgekämpft;
darum, sagt der Dichter, klagen nicht nur Bräute, sondern auch Weiber).
Ich komme von der „Ehrenbahn" (einem zu Ehren führenden Wege).
Str. 2. Die zweite Frage: „Wie heißt das Land (der Ort), wo
ihr schlugt die Schlacht?" beantwortet der Krieger ebenso kurz und
bündig: „Bei Leipzig trauert das Mordrevier." Die folgenden Verse
geben an, warum das Revier (Bezirk, Kreis) Mordrevier genannt wird.
Biele Augen (der Weiber, Bräute, Kinder, Väter, Mütter) wurden tränen-
voll; denn Tausenden mußte der Atem stocken (d. h. sie starben), und
die „Kugeln flogen wie Winterflocken" (d. h. so dicht und zahlreich wie
die Schneeflocken).
Str. 3. Die dritte Frage: „W ie heiße n,diezogen insTodes-
(Schlacht)feld usw.? beantwortet der Held ebenfalls vollständig. (Welche
Völker meint er?) Hier sind besonders die beiden Attribute „tapfer"
und „glorreich" zu beachten, die bei den Russen und Schweden fehlen.
„Und ließen die fliegenden Banner aus": in Friedenszeiten
und beim Marsche werden die Fahnen und Banner im Futteral getragen,
in der Schlacht aber entfaltet („ansgelassen"), daß sie flattern und fliegen.
Str. 4. Die letzte Frage: „Wem ward der Sieg in dem harten
Streit usw.? ist die wichtigste. Der Krieger beantwortet diese Frage
nicht direkt; denn es heißt: Gott hat die Welschen wie Spreu zerstreut
und verwehet wie den Sand. Damit will er sagen, daß die Verbündeten
ohne Gotteshilfe nichts hätten vollbringen können, und daß sie ihm allein
die Ehre geben sollen. Der Freude, daß die Franzosen mit ihrem Kaiser
geschlagen sind, gibt der Dichter besonders in den letzten Scherzworten
Ausdruck: „entflohen wie Hasen, Napoleon mit".
Str. 5. Der Frager ist nun befriedigt. Die freudige Kunde (der
Klang) hat sein Herz erfreut, drum spricht er aus vollem Herzen seinen
Dank aus. „Das klang wie himmlische Zimbeln hell", d. h. wie die
Musik (der Engel) im Himmel. (Zimbeln sind hohle Metallkugeln, die
gegeneinander geschlagen werden.) Die Freude über die „Mär" ist bei
dem Frager so groß, daß er die Klage über die Toten „den Witwen und
Bräuten" überläßt und als freier Mann nur fröhlich die wichtige Schlacht
besingt; denn die Folgen der Schlacht sind mit den Opfern zwar teuer
bezahlt, aber diese Opfer mußten gebracht werden, wenn das Vaterland
von dem Tyrannen befreit werden sollte.
Str. 6. Das Gespräch ist zu Ende, und der Dichter preist nun, gleich-
sam im Namen des deutschen Volkes, das glückliche Leipzig (urspr.
Lipsk, slawische Lindenstadt), welches nun für ewige Zeiten stets mit
der Schlacht zusammen genannt wird. —
II. Sprachliche und poetische Darstellung. Dadurch, daß Arndt das
.Ganze als Zwiegespräch (Dialog) uns vorführt, bekommt das Gedicht
230
II. Epische Dichtungen.
eine lebendige Frische, durch die das Interesse des Lesers und Hörers im
hohen Grade angeregt wird. Ferner tragen die zahlreichen Vergleiche
und Redefiguren sowie die gewählten Ausdrücke dazu bei, den
Leser in eine dem Stoffe angemessene Stimmung zu versetzen. Wie treffend
sind z. B. die Vergleiche: „Die Welschen hat Gott wie Spreu zerstreut,
die Welschen hat Gott verweht wie Sand", d. h. Gott hat die Fran-
zosen, gleich der vom Winde schnell fortgeführten Spreu des in der Scheune
geworfelten Getreides, auseinander getrieben; wie die Geschichte lehrt,
liefen sie in eiligster Flucht bis über den Rhein. Er hat sie, wie der Wind
den Sand vor sich herweht, teils auf den grünen Rasen niedergestreckt,
teils durch die Flucht so verschwinden lassen, daß keine Spur mehr von
ihnen zu sehen ist. Schön sind auch die verschiedenen Ausdrücke für
„S ch l a ch t": „Männerstreit, Ehrenbahn", für „S ch l a ch t f e l d: „Mord-
revier, Todesfeld" usw. — „Die Völker der ganzen Welt kamen" ist
eine Redefigur (Hyperbel oder Übertreibung), die uns auf die Menge
der an der Schlacht beteiligten Völker besonders aufmerksam machen will.
Nicht minder bemerkenswert ist auch der letzte Vers jeder Strophe, welcher
mit wenig Worten das Wichtigste der Antwort wiederholt. Endlich sei
noch die Zeile: „Solange rollet der Jahre Rad" erwähnt, welche in
hochpoetischer Weise daran erinnert, wie der Jahreswechsel durch den
Kreislauf der Erde hervorgebracht wird.
III. Verwertung. Anwendung für Herz und Leben. Ihr
Knaben, nehmt euch ein Beispiel an den deutschen Kriegern in der Schlacht
bei Leipzig, die für die Freiheit des Vaterlandes ihr Blut vergossen! —
Wir alle wollen diesen tapfern Männern, wie denen, die zu andern Zeiten,
besonders auch 1870—71, ihr Leben dem Vaterlande opferten, stets ein
ehrenvolles Andenken bewahren. W. D.
93. Auf die Schlacht bei Leipzig
Friedrich Rückert.
1. Kann denn kein Lied
krachen mit Macht,
so laut, wie die Schlacht
hat gekracht um Leipzigs Gebiet?
2. Drei Tag' und drei Nacht
ohn' Unterlaß
und nicht zum Spaß
hat die Schlacht gekracht.
Z. Drei Tag' und drei Nacht
hat man gehalten Leipziger Messen,
hat euch mit eiserner Elle gemessen,
die Rechnung mit euch ins Gleiche
gebracht.
4. Drei Nacht und drei Tag'
währte der Leipziger Lerchenfang;
hundert fing man auf einen Gang,
tausend auf einen Schlag.
5. Ei, es ist gut,
daß sich nicht können die Russen
brüsten,
daß allein sie ihre Wüsten
tränken können mit Feindesblut.
6. Nicht im kalten Rußland allein,
auch in Meißen,
auch bei Leipzig an der Pleißen
kann der Franzose geschlagen sein.
7. Die seichte Pleiß' ist von Blut
die Ebenen haben sgeschwollen,
so viel zu begraben,
daß sie zu Bergen uns werden sollen.
8. Wenn sie uns auch zu Bergen
wird der Ruhm snicht werden,
zum Eigentum
auf ewig davon uns werden auf Erden.
9i ücfcrt: Auf die Schlacht bei Leipzig.
231
1. Vorbereitung. Einst in den Jahren der Knechtschaft und De-
mütigung, als Österreich und Preußen von Napoleon besiegt zu Boden
lagen, da waren es die deutschen Dichter, die ihr Volk zur Selbsterkenntnis
führten, ihm die Ursache seines Falles zeigten, aber auch neue Begeiste-
rung zu entflammen suchten. Einer dieser Rufer zum Streite war Fried-
rich Rückert. Auf die Frage:
„Was schreibest, Dichter, du?" —
gab er die zürnende Antwort:
„In Glutbuchstaben
einschreib' ich mein' und meines Volkes Schande,
das seine Freiheit nicht darf denken wollen."
(Bd. III, Nr. 45 A.)
Im Jahre 1813 aber wurde in der Schlacht bei Leipzig die Macht
Napoleons gebrochen, die alte Schmach getilgt, Deutschlands Freiheit
erworben. Nun konnte der Dichter — und mit ihm jeder Deutsche —
Deutschlands Freiheit nicht nur denken, sie war zur Tatsache ge-
worden, er konnte sie auch laut preisen; nun durfte er in Flammen-
buchstaben Deutschlands Ehre schreiben und die Kunde von dem Leipziger
Ehrentage mit voller Stimme in die Lande hinansrufen. Er tat es in
dem Liede „Auf die Schlacht bei Leipzig".
II. Darbietung. 1. Vorlesen des Gedichtes.
2. Erläuterungen. Str. 1. Warum wünscht der Dichter ein Lied
mit dem Donnerhall der Schlacht? (Daß die Kunde von dieser Schlacht
mit gleicher Kraft hinaus in die Ohren der Völker schalle, hier Zittern,
dort Jubel erweckend.) — Str. 2. Drei Nacht: „Nacht" ist hier der
Acc. Plur. in der nicht umgelauteten Form; so mittelhd. dri naht und
dri tage (Nibelungenlied), so in Luthers Bibelübersetzung und auch noch
bei Goethe. — Nicht eine Schlacht im Frieden, nicht eine Manöver-
schlacht war es. Drei Tage dauerte sie, unterbrochen durch den schlachten-
sreien 17. Oktober. Vgl. Geibel, Am 3. September:
„Drei Tage brüllte die Völkerschlacht, . . .
drei Tage rauschte der Würfel Fall."
In Str. 3 und 4 wird nun die Schlacht und ihr Erfolg unter zwei
Bildern, Leipziger Messe und Lerchenfang, zur Darstellung gebracht.
L e i p z i g e r M e s s e: Zn ihr strömen Käufer und Verkäufer aus fast allen
Teilen Europas zusammen. Eine große Rolle spielen ans den Messen
wollene und halbwollene Waren, zu deren Ausmessung ehemals die Elle
gebraucht wurde. Bei den beiden wichtigsten der drei Leipziger Messen,
der Oster- und Michaelismesse, heißt die dritte Woche die „Zahlwoche";
bis zum Donnerstag dieser Woche müssen alle Wechsel, die auf der Messe
ausgestellt .sind, eingelöst sein. Bei der Schlachtenmesse vertreten
Schwerter, Bajonette und Lanzen die Stelle der „Elle"; mit ihnen wird
Mut und Kraft des Gegners gemessen. Deutschland hatte an die Fran-
zosen starke Forderungen wegen der Schmach von 1806, wegen Unter-
drückung vaterländischen Geistes und vaterländischer Sprache, wegen sran-
232
II. Epische Dichtungen.
zösischer Habsucht und Rachgier. Diese alte Rechnung wurde jetzt be-
glichen. — Leipziger Lerchenfang: Aus ihrem Herbstzuge wurden
und werden die Lerchen in Leipzigs Umgebung gefangen und kommen
als „Leipziger Lerchen" zum Verkauf. Zum Fangen verwendet man das
Schlagnetz und das Klebegarn, d. h. ein Netz mit weiten Maschen,
worin die Lerchen kleben bleiben; eine Reihe solcher Klebegarne heißt ein
„Gang". Die Heere der Verbündeten bildeten nun die Netzwände, in
denen die Franzosen sich fingen; wäre auch die Straße nach Weißenfels
besetzt worden, hätte das Netz keine Lücke gehabt. Gefangen genommen
wurden 15000, in den Lazaretten blieben 23000 Franzosen. — Str. 5.
Die weiten Schneegefilde („Wüsten") Rußlands und die Leipziger Ebene
sind die Gräber von Napoleons Ruhm und Heeren; dort war der An-
fang vom Ende. — Str. 6. Die Markgrafschaft Meißen bildet den Kern
der Wettinschen Lande, d. h. des jetzigen Königreichs Sachsen. — Str. 7.
Der sonst so seichte Fluß und die ganze flache Ebene verändern ihren
Charakter: der Fluß schwillt vom Blut der gefallenen Franzosen zum
Strome; die Ebene schwillt von den Leichen, die sie in den Gräbern auf-
nehmen muß, zu Bergen an. Diese Leichenberge können bleibende Sieges-
zeichen sein, wie einst die Mongolen und Türken Schädelberge als Sieges-
zeichen auftürmten. 30000 Franzosen fielen in der Schlacht. — Zu der
Bezeichnung „seichte Pleiße" vgl. Schiller, „Die Flüsse", wo die Pleiße
von sich sagt:
„Flach ist mein Ufer und seicht mein Bach, es schöpften zu durstig
meine Poeten mich, meine Prosaiker aus." —
Str. 8. Und sollte auch dies sichtbare Siegeszeichen fehlen, der Ruhm
der Leipziger Schlacht bleibt ewig.
III. Vertiefung. 1. Inhaltsangabe der einzelnen Strophen in
kurzen Sätzen.
2. Grundgedanke. Str. 1 und 8. Laut wie Schlachtendonner
soll das Lied den Ruhm der Leipziger Schlacht verkünden; ewig wird
dieser Ruhm bleiben. — Das Lied des Dichters soll ein Widerhall großer
Ereignisse sein.
3. Zur Charakteristik des Dichters: Vorliebe für eigenartige,
manchmal etwas seltsame Vorstellungen: Str. 1 und 7; volksmäßige Be-
handlung des Verses, die nicht die Silben regelmäßig zählt, sondern
wie hier in jeder Zeile 2, 3 oder 4 Hebungen betont; vgl. „Aus der
Jugendzeit" Bd. III, Nr. 28 A. — Hierzu kommt in unserem Gedichte
die eigentümliche Verkettung zweier aufeinander folgenden Strophen durch
ein Wort oder einen Ausdruck, der aus der ersten in die zweite hinüber-
genommen wird: Str. 1 und 2: Schlackt gekracht, Str. 2, 3 und 4:
Drei Tage und drei Nacht (mit Umstellung), Str. 5 und 6 nicht allein
die Russen, Str. 6 und 7 die Pleiße, Str. 7 und 8 die Ebenen zu Bergen
werden. Vgl. Psalm 121: „Ich hebe meine Augen aus zu den Bergen,
von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem
Herrn" und „O Straßburg" usw.
Arndt: Das Lied vom Feldmarschall.
233
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. E. M. Arndt, Lied vom Feld-
marschall: Bilder vom Fegen mit eisernem Besen, von der Hasenjagd
und Schwimmstunde. — K. Gerok, Des deutschen Knaben Tischgebet:
„Mac Mahon war ins Garn gegangen."
2. Rede-undStilübungen. Führe die Bilder von der Leipziger
Messe und dem Leipziger Lerchenfange aus! — Vgl. das Arndtsche
mit dem Rückertschen Liede: a) nach dem Namen der Orte, b) den
Teilnehmern, c) nach den gebrauchten Bildern, ä) nach der Eigenart der
Dichtersprache und e) nach der Schilderung und Wirkung der Schlacht!
Dr. P. Polack.
96. Das Lied vom Feldmarschall.
Ernst Moritz Arndt. Gedichte. Berlin 1865. S. 280.
1. Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus!
Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus.
Er reitet so freudig sein mutiges Pferd,
er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.
2. O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein,
drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein.
3. Der Mann ist er gewesen, als alles versank,
der mutig auf zum Himmel den Degen noch schwang!
Da schwur-er beim Eisen gar zornig und hart,
den Welschen zu weisen die deutscheste Art.
4. Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf erklang,
hei! wie der weiße Jüngling in'n Sattel sich schwang!
Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht,
mit eisernem Besen das Land rein gemacht.
5. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß,
daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus,
daß Tausende liefen dort hasigen Lauf,
zehntausend entschliefen, die nimmer wachen auf.
6. Am Wasser der Katzbach er's auch hat bewährt,
da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt:
Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab!
Und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!
7. Bei Wartburg*) an der Elbe, wie fuhr er hindurch!
Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg;
da mußten sie springen wie Hasen übers Feld,
hinterdrein ließ erklingen sein Hussa! der Held.
8. Bei Leipzig auf dem Plane, — o herrliche Schlacht!
da brach er den Franzosen das Glück und die Macht,
da lagen sie sicher nach blutigem Fall,
da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.
9. Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus!
Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus!
Dem Siege entgegen, zum Rhein! übern Rhein!
Du tapferer Degen in Frankreich hinein!
*) Wartenburg, Dorf in der Nähe von Wittenberg.
234
II. Epische Dichtungen.
I. Geschichtliches. Unser Gedicht ist zwischen dem 19. Oktober und
dem 31. Dezember 1813 geschrieben; denn an jenem Tage wurde Blücher
vom Könige Friedrich Wilhelm III. zum Feld marschall ernannt, und
in der Sylvesternacht desselben Jahres ging er bei Caub über den Rhein.
Die Schlacht bei Leipzig (16.—18. Oktober 1813) war geschlagen
und Napoleon auf der Flucht nach Frankreich. Da war es Blücher,
welcher mit Gneisenau darauf drang, daß man den Feind sofort ver-
folgen möchte, um ihn nun ganz zu vernichten. Allein Schwarzenberg,
der oberste Feldherr der Österreicher, war anderer Meinung, und Blücher
mußte warten, — bis es zu spät war. So hatte Napoleon (nur noch
einmal bei Hanau durch die Bayern aufgehalten) Zeit, mit etwa 60000
Mann am 2. November übe? den Rhein zu entfliehen. Blücher und seine
Partei drängten nun immer mehr, man möchte doch, ehe der Feind sich
wieder stärken könnte, über den Rhein ziehen und Napoleon im eigenen
Lande angreifen; allein der österreichische Minister Metternich und
sein Anhang fürchteten Preußens wachsenden Einfluß in Deutschland und
knüpften Friedensnnterhandlungen mit Napoleon an. Unterdessen ordnete
aber der letztere wieder neue Truppenaushebungen in Frankreich an.
Dies bewirkte, daß endlich die Partei Blüchers die Oberhand gewann
und nun die deutschen Heere nach dem Rheine zogen. Aber noch ließ
man zwei Monate verfließen, ehe der Befehl gegeben wurde, über den
Rhein aufzubrechen. Plötzlich, in der Nacht des 31. Dezember 1813, ging
Blücher bei Caub und Koblenz mit seinem Heere Mw den Rhein. Seine
Armee war die erste, welche die französische Grenze überschritt, und lang-
sam rückten dann auch die andern Armeen der Verbündeten nach. In
„fliegendem Saus" drang unser Held nun vor; am 27. Januar 1814
traf er mit seinem Erzfeinde zuerst bei Brienne zusammen, dann schlug
er ihn am 1. Februar bei La Rothiere. Da wurde dem Tapfersten der
Tapfern abermals von den Diplomaten Halt geboten, so daß sich Napo-
leon wiederum erholen und stärken konnte. Blücher war in hohem
Grade darüber entrüstet und ging mit dem Gedanken um, „dem Bona-
parte und den lieben Brüdern (den Österreichern) zum Trotz" auf eigene
Verantwortung vorzurücken. Nur mit Mühe konnten ihn seine Freunde
davon abhalten. Endlich aber ging es doch wieder vorwärts, und nach
harten Kämpfen hatte Blücher am 31. März 1814 die Freude zu hören,
wie die Verbündeten in Paris einzogen. Er selbst konnte dem Einzüge
wegen Krankheit nicht beiwohnen.
II. Erläuterung des Inhalts. Str. 1. Warum wird so früh schon
Reveille geblasen? fragen die erstaunten Krieger. Bald genug sollen sie
es erfahren; draußen sprengt ja der alte Held mit geschwungenem Schwerte
auf seinem mutigen Rosse daher. Er hat genug Ursache, freudig zu sein,
denn schon zu lange mußte er das Schwert in der Scheide tragen. Jetzt
kann er's wieder ziehen, um den Erbfeind zu züchtigen. Nun geht's nach
Frankreich hinein! Rasch, vorwärts! Das war von jeher Blüchers Art.
Str. 2. Die Husaren, seine Lieblingstruppe, staunen, wie der
71jährige Held an ihrer Front entlang reitet. Ha! welche Lust ist es,
Arndt: Das Lied vom Feldmarschall.
235
den gewaltigen General auf dem Pferde zu schauen! Das Auge leuchtet
klar, das schneeweiße Haar wallet im Winde, die frische Gesichtsfarbe
ist die eines Jünglings. Er ist wie greifender (alt werdender) Wein,
der, je länger er lagert, desto kräftiger und feuriger wird. Einen solchen
Greis kann man schon, wie der Dichter sagt, zum „Verwalter des Schlacht-
feldes'' machen. Mit diesen wenigen Worten gibt der Dichter, der ja
den Helden selbst gekannt hat, uns ein äußeres Bild desselben, wie es
nicht schöner sein kann. Wie zutreffend Arndts Schilderung ist, erkennen
wir auch, wenn wir diejenige eines andern Zeitgenossen damit vergleichen.
Varnhagen von Ense sagt: „Blücher war von großer Gestalt, von wohl-
gebildeten, starken Gliedern. Ein herrlicher Schädel, eine prächtige Stirn,
eine stark gekrümmte Nase, scharfe, heftig rollende und doch im Grunde
sanft blinkende Augen, dunkel gerötete Wangen, ein feiner, aber vom
starken, herabhängenden Schnurrbart fast überschatteter Mund, ein wohl-
geformtes starkes Kinn: alles dies stimmte mit einem tüchtigen Menschen-
antlitz überein, dessen ausgearbeitete Züge sogleich einen bedeutenden
Charakter erkennen ließen. Mut und Kühnheit leuchteten ans seinem
ganzen Wesen hervor." Und Arndt selbst sagt von Blücher in seinen
„Erinnerungen aus dem äußern Leben": „Trotz seines Alters trug er
eine herrliche Gestalt, groß und schnell, mit den schönsten, rundesten
Gliedern vom Kopf bis zum Fuß, seine Arme, Beine und Schenkel noch
fast wie die eines Jünglings, scharf und fest gezeichnet."
Str. 3. Mit seinen körperlichen Eigenschaften paarten sich auch die
geistigen. Als allen der Mut sank, da war er es, der mit aller Energie
und Entschlossenheit mutig den Degen noch gen Himmel schwang zum
Zeichen, daß er nicht allein aus sich vertraute, sondern auch der Hilfe
Gottes sicher war. Wem fielen hier nicht die Worte ein: „Was ist's,
daß ihr mich rühmt? Es waren meine Verwegenheit, Gneisenaus Be-
sonnenheit und des großen Gottes Barmherzigkeit!" Seinen Schwur,
„den Welschen zu weisen die deutscheste Art", hatte er schon geleistet, als
er in Lübeck 1806 das Schwert in die Scheide stecken mußte.
Str. 4. „Den Schwur hat er gehalten." Jedes Blatt der Geschichte
der Freiheitskriege bekundet das. Kaum war der Kriegsruf des Königs
vom 17. März 1813 erklungen, da saß der >,weiße Jüngling" schon im
Sattel und ließ nicht eher ab, als bis er mit eisernem Besen, d. h. den
Bajonetten und Säbeln seiner Soldaten, den „Kehraus" gemacht, d. h.
die Franzosen aus Deutschland hinausgekehrt hatte.
Str. 5. In dieser und den folgenden Strophen führt uns der
Dichter die einzelnen Schlachten vor, die Blücher 1813 gewann. Zuerst
gedenkt der Dichter der Lützener Schlacht bei Großgörschen am 2. Mai
1813. Hier ging es hart her. Die Preußen hatten fast ganz allein gegen
die Übermacht des Feindes zu kämpfen, da die verbündeten Russen mehr
wie Zuschauer als wie Teilnehmer erschienen; vielen Tausend Welschen
„ging da der Atem aus"; denn 15 000 tote und verwundete Franzosen
bedeckten das Schlachtfeld, und eine große Anzahl „liefen hasigen Lauf",
d. h. so schnell wie die Hasen davon. Auch die Verbündeten hatten große
236
II. Epische Dichtungen.
Verluste, aber die preußischen Truppen hatten sich in dieser Schlacht mit
Ruhm bedeckt, und Napoleon hatte, trotzdem er sich den Sieg zuschrieb,
keinen Vorteil. Blücher selbst war am Arme verwundet, doch hielt ihn
das nicht ab, in der dunkeln Nacht noch einen Kavallerieangriff aus-
zuführen, der wenigstens zur Folge hatte, daß der Feind die ganze Nacht
hindurch mit den Waffen in der Hand auf dem Schlachtfelde stehen bleiben
mußte. Wäre es auf Blücher und den König von Preußen angekommen,
so wäre der Feind am andern Morgen wiederum angegriffen worden.
Jedoch die russische Kavallerie war nicht mit Munition versehen und
mußte abmarschieren.
Str. 6. Am Wasser der Katzbach sollten die Franzosen den
„tollen Husaren", wie Napoleon unsern Blücher zu nennen pflegte, aber-
mals kennen lernen. Hier hat er am 26. August ihnen das Schwimmen
gelehrt, d. h. er trieb den Feind in die Katzbach und die Neiße, in deren
Fluten Tausende ihren Tod fanden und durch die Oder zur Ostsee hinab-
schwimmen konnten. Höhnend wünscht der Dichter ihnen noch ein Grab
in dem Magen der Walfische. Das Lumpengesindel, die Luuseulottss
(Ohnehosen), welches zur Zeit der Schreckensherrschaft wie Bestien in
Frankreich gewütet hatte, war keines besseren Loses wert, als den Wal-
fischen zum Fraß zu dienen.
Str. 7. Bei Wartenburg anderElbe (der Dichter sagt „Wart-
burg" des Rhythmus wegen) hatten die Franzosen ein festes Lager be-
zogen und wollten Blüchers Armee aufhalten. Allein vergebens! Die
Heldenschar Jorks fuhr am 3. Oktober buchstäblich durch deu Feind „hin-
durch", so daß dieser nach achtstündigem, hartem Kampfe fliehen und
1000 Mann und 13 Kanonen in den Händen der Preußen lassen mußte.
Die Franzosen stürmten so schnell wie Hasen über das Feld, und der
alte Blücher war der Jäger, der sein „Hussa" ihnen nachrief.
Str. 8. Endlich erwähnt der Dichter mit feierlichen Worten die
Schlacht bei Leipzig. „O herrliche Schlacht!" ruft er aus, und wir
rufen es ihm nach. Denn die „Ehrenschlacht" war ja die wichtigste und
leider auch blutigste des ganzen Krieges. Hier ging das „Glück und die
Macht" der Franzosen in Trümmer. Und abermals war es Blücher, der
den Hauptanteil am Siege hatte. „Da liegen sie sicher nach blutigem
Fall." Der Dichter, welcher das Gedicht kurz nach dieser Schlacht ver-
faßt hat, meint damit, daß sich die Franzosen nun nicht wieder zu der
früheren Macht erheben würden.
Str. 9. Zum Schluß wiederholt der Dichter nochmals die Anfangs-
worte mit der Aufforderung an den Feldmarschall, er möge „wie Winde
im Saus" nun nach Frankreich hinein ziehen. Aus der Geschichte wissen
wir, wie sehnlich es Blücher gewünscht hatte, so bald als möglich nach
dem Siege bei Leipzig die Franzosen in ihrem eigenen Lande aufzu-
suchen. — Der letzte Wunsch, daß der tapfere Degen (d. i. Held) dem
Siege entgegenreiten möchte, ging vollständig in Erfüllung; denn zuletzt
blieb er, trotz der schweren Kämpfe, doch der ruhmgekrönte Sieger.
Kopisch: Blücher am Rhein.
237
III. Gliederung des Inhalts. A. Str. 1—3: Der greife Held Blücher.
B. Str. 4—8: Die Kriegstaten Blüchers bis zur Leipziger Schlacht.
6. Str. 9: Wunsch, daß der Held seine Siege nach Frankreich hinein-
tragen möge.
IV. Sprachliche und poetische Darstellung. Inhalt und Form sind
selten in einem Gedichte so vollkommen übereinstimmend wie in dem vor-
liegenden Lobliede. Die Kraft und der Mut des Helden spiegeln sich in
den kräftigen männlichen Reimen wider, mit denen alle Verse endigen.
Die häufig angewandten Frage- und Ausrufesätze geben dem Vortrage
etwas so Lebendiges und Frisches, daß man sich nicht zu verwundern
braucht, wenn das Lied zum Lieblingsgesange der Helden der Freiheits-
kriege und der männlichen Jugend bis aus den heutigen Tag wurde. Ein
Meisterstück der Form ist die letzte Strophe. Die kurzen Ausrufesätze mit
den volltönenden Worten: Trompeten, Husaren, heraus, Feldmarschall,
Saus, Rhein, Frankreich usw. lassen dem Leser all den Mut, die Rasch-
heit, die Feindschaft gegen die welschen Bedrücker voll in das 'leibliche
und geistige Ohr dringen. Auch der Humor, welcher den alten Blücher
sogar in den furchtbarsten Schlachten nicht verließ, ist im Gedichte aus
glückliche Weise zum Ausdruck gebracht: Z. B. Str. 4 „Da ist er's —
rein gemacht". Str. 5 „liefen hasigen Lauf", Str. 6 „Da hat er — Wal-
fisch zum Grab". Str. 7 „Da mußten — übers Feld!" W. D.
97. Blücher am Rhein.
Aug. Kopisch, Gedichte. Berlin 1834. S. 47.
I. Vorbereitung. Der Sieg bei Leipzig hatte die Franzosen vom
deutschen Boden weggefegt. Den flüchtigen Feinden folgten die verbün-
deten Heere bis an den Rhein. Hier aber blieben sie stehen und wagten
sich nicht hinüber. Man fürchtete das Feldherrntalent Napoleons, die
Begeisterung der Franzosen und die Strenge des Winters. Bedenkliche
Fürsten fürchteten in Frankreich wieder zu verlieren, was sie bei Leipzig
gewonnen hatten. In einer großen Versammlung von Fürsten, Ministern
und Generalen zu Frankfurt a. M. wurde endlich nach langem Hin- und
Herreden, besonders auf Blüchers und Gneisenaus Drängen, die sofortige
energische Fortsetzung des Krieges beschlossen.
Die Heere blieben am Rheine stehn: „Der Feind? — dahier!"
Soll man hinein nach Frankreich „Den Finger drauf, den schlagen wir!
gehn? Wo liegt Paris?" „Paris? — da-
Man dachte hin und wieder nach, hier!"
allein der alte Blücher sprach: „Den Finger drauf, das nehmen wir!
„Generalkarte her! Nun schlagt die Brücken übern Rhein;
Nach Frankreich gehn ist nicht so schwer. ich denke, der Champagnerwein
Wo steht der Feind?" wird, wo er wächst, am besten sein!"
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. In einem Saale zu Frank-
furt a. M. am 1. Dezember 1813. An langer Tafel, die mit grünem
Tuch überzogen ist, sitzen die großen Herren. Blücher ist aufgesprungen.
Sein dünnes, weißes Haar flattert um den ausdrucksvollen Kopf, und
238
II. Epische Dichtungen.
der buschige, weiße Schnurrbart sträubt sich. Blücher hat eine General-
karte, d. i. eine allgemeine Übersichtskarte, nicht eine genaue und spezielle
Generalstabskarte, gefordert und vor sich ausgebreitet. Mit dem Zeige-
finger der linken Hand weist er aus verschiedene Punkte, während die
ausgestreckte Rechte dabei energische Bewegungen macht. Auch Gneisenau
bückt sich über die Karte und hilft Blücher, sich zu orientieren. Aus
Blüchers Augen und Bewegungen blitzt Mut und Entschlossenheit, ja
Entrüstung über das endlose Zögern, Hin- und Herberaten. Alle Augen
im Saale sind gespannt auf ihn gerichtet.
2. Gedankengang. V. 1—3. Bedenklichkeiten gegen den Ein-
marsch in Frankreich. V. 4—10. Blüchers summarischer Feldzugsplan
gegen Frankreich und Paris. V. 11—13. Aufforderung zum Aufbruch;
es winken Sieg und Erquickung an echtem Champagnerwein (Schaum-
wein, der aus den Trauben auf den Kreidehügeln der Champagne in
vorzüglicher Güte bereitet wird).
Grundgedanke: Fort mit den kleinlichen Bedenken, wenn ein
großes Ziel winkt! Dem Mute und der Begeisterung erscheint das
Schwerste leicht!
3. Eigentümlichkeit. Die Sprache des Gedichtes ist kurz ange-
bunden, knapp und markig wie der stramme Held der Dichtung. Das
Gedichl kann mit verteilten Rollen — Erzähler, Blücher, Antwortgeber —
und den entsprechenden Mienen und Gebärden gelesen werden.
III. Verwertung. Aufgaben: a) Erzähle, wie Blücher in der Neu-
jahrsnacht 1814 bei Canb über die vorher geschlagenen Brücken ging!
Welchen Verlauf hatte der Winterfeldzug in Frankreich?
b) Vergleiche das folgende Gedicht mit dem vorigen, und beachte dabei
folgende Punkte: 1. O r t u n d Z e i t. 2. D i e P e r s o n e n. 3. Den Zweck
der Versammlung. 4. Die Verhandlungen. 5. Blüchers Cha-
rakter. 6. Blüchers Sprache. 7. Den Eindruck seiner Worte.
8. Die Absicht der Dichtung.
Ein Wort vom alten Blücher.
Georg Hesekiel. Zwischen Sumpf und Sand. Berlin 1863. S. 77.
Sie saßen an Blüchers Tafel und hatten gut gespeist,
da lobten sie unmenschlich des alten Helden Geist
und lobten seine Taten ganz grob und ungescheit
und meinten, nur er alleine habe das Volk befreit.
Das war dem alten Blücher am Ende außerm Spaß;
er rückte mit dem Stuhle und leerte schnell sein Glas,
dann schrie er: „Donnerwetter! Ihr seid nicht recht gescheit;
ich will's euch besser sagen, wer Land und Volk befreit:
Das war der Preußen Tapferkeit,
Freund Gneisenaus Besonnenheit,
von mir ein bißchen Verwegenheit —
und Gottes große Barmherzigkeit!"
Sie saßen an der Tafel und schauten ängstlich drein,
der Alte aber lachte still in sein Glas hinein.
k.
Sturm: Belle-Alliance.
239
98. A. Belle-Alliance.
Julius Sturm, Gedichte. Leipzig 1873. 4. Stuft. S. 189.
I. Vorbereitung und Vortrag. Nach seiner Rückkehr von der Insel
Elba 1815 wurde Napoleon in die Acht Europas getan. Aus den Nieder-
landen rückten der britische (englische) Feldherr Wellington und der
deutsche Volksheld Blücher gegen ihn. Mit überlegener Macht stürzte
sich Napoleon bei dem belgischen Dorfe Ligny (Linji) am 16. Juni 1815
auf Blücher und besiegte ihn. Blüchers Roß wurde erschossen und be-
grub den greisen Helden unter seiner Last. Mit Lebensgefahr zog sein
Adjutant (Hilssosfizier zur Beförderung der Befehle) Nostiz den ge-
quetschten Helden hervor und rettete ihn. Napoleon wandte sich hierauf
am 18. Juni gegen Wellington, der auf den Höhen von St. Johann bei
Waterloo und der Meierei Belle-Alliance (Bällalliangs), d. h.
schöner Bund, den feindlichen Stößen tapfer standhielt. Wellington hatte
von Blücher zwei Armeekorps erbeten und die Antwort erhalten: „Nicht
zwei Korps, sondern die ganze Armee!" Die Beteiligung Blüchers und
seiner Deutschen an dem blutigen, aber ruhmvollen Waffentanze des
18. Juni 1815 schildert das folgende Gedicht von Julius Sturm:
Der Blücher war so lahm und
wund,
daß kaum im Bett er liegen kunut';
doch stand er auf, rief nach dem Pferd
und schnallte um sein schartig Schwert.
Da kam, um ihn erst einzureiben,
der Feldscher; doch der greise Held
rief: „Narr, laß heut' dein Schmieren
bleiben!
Denn geht's in eine andre Welt,
ist's unserm Herrgott einerlei,
ob ich einbalsamieret sei."
Rief's, stieg aufs Pferd und kom-
mandiert:
„Vorwärts, ihr Kinder, nicht geziert!
Vorwärts! laßt eure Fahnen wehn!
Was gehen soll, das muß auch gehn!
Ich hab's dem Wellington versprochen
und hab' noch nie mein Wort ge-
brochen.
Vorwärts! Und wenn zu dick die
Reih'n
der Feinde, schlagt mit Kolben drein!"
Und fort ging's mutig drauf und dran.
Da fing ein lust'ges Tanzen an;,
die Deutschen nahinen mit den Briten
viel tausend Franzen in die Mitten
und ließen sie nicht früher los,
als bis sie endlich atemlos
vom blutbefleckten Tanzplatz flohn,
voran ihr Held Napoleon.
Und als der Tanz vorüber war,
umarmte sich das Heldeupaar
und teilte ohne Neid den Kranz
des Sieges bei Belle-Alliance.
II. Vertiefung. 1. und 2. Zeit und Ort. Es ist in der Frühe des
18. Juni 1815. Blücher ist noch von dem Sturz am Abend des 16. Juni
lahm und wund, gürtet sich trotzdem sein schartiges Schwert um, in
das er bei den vielen Kämpfen tiefe Lücken (Scharten) gehauen hat, und
läßt sich auf das Pferd heben. Der Feldscher (Wundarzt) steht mit
seinem Kasten voll Salben, Pflastern und Verbandzeug verdrossen
daneben, weil der alte Held nicht einbalsamiert, d. h. mit heilendem
Balsam gerieben oder geschmiert sein will. Ringsum stehen die ver-
schiedenen Regimenter und begrüßen ihren Marschall „Vorwärts" mit
Jubel. Die Fahnen wehen (flattern), die Trompeten schmettern, die
Trommeln wirbeln, und die Pferde wiehern. Vom grauen Himmel strömt
der Regen und macht die weichen Wege grundlos. Die Soldaten sehen
240
II. Epische Dichtungen.
bedenklich an den Himmel und auf die Erde, und viele murmeln: „Das
geht heut' unmöglich!" Der alte Blücher aber scherzt: „Das sind unsere
Alliierten (Verbündeten) von der Katzbach, die dem Könige das Pulver
sparen! Heute gilt's wieder, mit dem Kolben in die dicken Haufen der
Feinde zu schlagen! Und nun vorwärts! Was gehen soll, das geht auch!
Ich habe es meinem Bruder Wellington versprochen, und ihr wollt doch
nicht, daß ich mein Wort brechen soll?"
3. Charakteristik. Weise nach, daß Blücher lahm, wund,
heiter unter Schmerzen, mutig zum Angriff, treu dem gegebenen
Worte, fest und beständig in seinen Entschließungen, siegreich im
Kampfe, neidlos bei der Verteilung des Kranzes (der Ehren) war!
Führe im Zusammenhange seine Tätigkeiten an! (Er konnte vor Schmer-
zen nicht im Bett liegen, stand auf, ries nach Schwert und Roß,
wehrte den Feldscher ab, wollte nicht einbalsamiert sein usw.)
4. Gedankengang. Vers 1—4: Der wunde Held ruft nach Roß
und Schwert. V. 5—10: Er weist die Hilfe des Wundarztes ab. V. 11
bis 18: Er besteigt das Roß, kommandiert: Vorwärts! und feuert seine
Soldaten zur Tapferkeit und Ausdauer an. V. 19—26: Deutsche und
Briten siegen in dem blutigen Waffentanze bei Belle-Allianee über Na-
poleon und seine Franzen (Franzosen). V. 27—30: Die Sieger teilen
neidlos die Ehre (den Siegerkranz).
Grundgedanke: Der rechte Heldenmut ist stark, treu und
bescheiden.
5. Eigentümlichkeit. Das Gedicht ahmt in vierfüßigen Jamben
und ohne Gliederung in Strophen den Ton und die Reimart der volks-
tümlichen Knittelverse nach und zeichnet mit wenigen kräftigen Strichen
treu den Charakter des volkstümlichen Kriegshelden. Volkstümliche, zum
Teil derbe Ausdrücke sind: kunnt statt konnte, einbalsamieren statt
verbinden, schmieren statt einreiben, Narr im gutherzigen Sinne,
Herrgott, die Vergleichung des Kampfes mit einem Tanze, der Reim
Alliance auf Kranz usw.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Sei nicht schwächlich und weichlich, wenn die Pflicht ruft! Mut und
Ausdauer überwinden alle Hindernisse. — Ist dein Werk gelungen, so
sei dankbar und bescheiden, überhebe dich nicht und gestehe neidlos auch
andern ihr Verdienst und ihre Ehre zu!
2. Rede- und Stilübungen, a) Vergleiche in Rückerts „Blü-
cher und Wellington" die beiden Helden! (Gedichte, 15. Ausl.,
Frankfurt, S. 215.)
B. Blücher und Wellington.
1. Als Blücher, der Held, und Wel-
lington
als Sieger zusammentraten,
die beiden, die sich lange schon
gekannt aus ihren Taten,
da sprach zu Wellington Blücher
bald:
„Du Held, so jung au Jahren,
an Klugheit und Bedacht so alt,
wie ich mit grauen Haaren!"
Sturm: Ein Kunststück. — Heine: Die Grenadiere.
241
Da sprach zu Blücher Wellington:
„Du Held von starker Tugend,
von Locken so gealtert schon,
das Herz so frisch von Jugend!" —
Da stand der Jüngling und der Greis,
sie gaben sich die Hände
und fragten, ob auf dem Erdenkreis
noch so ein Paar sich fände.
A. Ähnlichkeit: Beide sind berühmte Kriegshelden, die Napoleon
erfolgreich bekämpft haben. Beide sind stark an Mut, reich an Tugend,
bewundert im In- und Auslande, neidlos gegen fremdes Verdienst, voll
Bewunderung für einander, durch Achtung und Liebe ein Helden- und
Frenndespaar. L. Verschiede nheiten:Blüch er war ein echter Deut-
scher, Wellington ein rechter Brite; Bl. gegen 73, W. erst 46 Jahre
alt (gegen Blücher also fast ein Jüngling); Bl. Sieger in Deutschland,
W. besonders in Spanien; Bl. mit dünnen weißen Locken, W. mit vollem
Haar; Bl. zwar alt, aber stark, feurig, stürmisch und frisch in seinem
Herzen, W. zwar jünger, aber kühl, bedächtig, klug und gereift; Bl. mit
der Kraft und dem Feuer der Jugend im Alter, W. mit der Würde und
Weisheit des Greises im besten Mannesalter. Beide in ihrer Vereinigung
bildeten ein Paar, wie es der Erdkreis kaum noch einmal hatte.
b) Vergleiche „Ein Kunststück" von Julius Sturm, und zeige,
warum Blücher den General Gneisenau seinen „Kopf" nannte!
C. Cin Kunststück.
Der Vater Blücher saß beim Wein,
und rings ertönte laut sein Lob,
als sich der Feldmarschall erhob
und rief: „Mir fällt ein Kunststück
ein!
Ihr Herrn, die ihr so vieles wißt,
wißt ihr, wie man den Kopf sich
küßt?"
Da rieten sie wohl hin und her,
das Kunststück deuchte ihnen schwer.
Der Blücher aber lachte schlau
und küßte seinen Gneisenau.
Blücher war ein Mann der Tat, stürmisch und nicht von langer
Überlegung. Er haßte das Zögern und lange Besinnen und schalt auf
die Federfuchser, die mit der Feder wieder verderben, was das Schwert
gut gemacht hat. Sein Freund Gneisenau war der Mann des klugen
Rates und der weisen Besonnenheit. Er sann gar fein die Schlachtpläne
aus, die Blücher mit dem Schwerte ausführte. Gneisenau stellt die kluge
Überlegung des Kopfes, Blücher den feurigen Mut des Herzens und die
starke Hand zum Dreinschlagen dar. Als die englische Universität Oxford
Blücher zum Doktor ernannte, meinte er: „Nun, so müssen sie Gneisenau
zum Apotheker machen!" o) Suche andere Freundes- und Heldenpaare!
(Goethe meinte: „Was streitet sich die Welt darüber, ob Schiller oder
Goethe größer sei? Sie sollte sich freuen, daß sie zwei solche Kerle
hat!" usw.). k.
99. Die Grenadiere.
Heinrich Heine, Buch der Lieder. 36. Aufl. Hamburg. S. 56.
1. Nach Frankreich zogen zwei Grena- 2. Da hörten sie beide die traurige
dier',
die waren in Rußland gefangen,
und als sie kamen ins deutsche
Quartier,
sie ließen die Köpfe hangen.
AdL. II. 8. Aufl.
Mär:
daß Frankreich verloren gegangen,
besiegt und zerschlagen das große
Heer,
und der Kaiser — der Kaiser gefangen.
16
242
II. Epische Dichtungen.
3. Da weinten zusammen die Grena-
dier'
Wohl ob der kläglichen Kunde.
Der eine sprach: „Wie weh wird
mir!
Wie brennt meine alte Wunde!"
4. Der andre sprach: „„Das Lied ist
aus;
auch ich möcht' mit dir sterben,
doch hab' ich Weib und Kind zu
Haus,
die ohne mich verderben.""
5. „Was schert mich Weib, was schert
mich Kind!
Ich trage weit beßres Verlangen;
laß sie betteln gehn, wenn sie
hungrig sind,
mein Kaiser — mein Kaiser ge-
fangen!
6. Gewähr mir, Bruder, eine Bitt':
Wenn ich jetzt sterben werde,
so nimm meine Leiche nach Frank-
reich mit,
begrab mich in Frankreichs Erde!
7. Das Ehrenkreuz am roten Band
sollst du aufs Herz mir legen;
die Flinte gib mir in die Hand,
und gürt' mir um den Degen!
8. So will ich liegen und horchen still,
wie eine Schildwach' im Grabe,
bis einst ich höre Kanonengebrüll
und wiehernder Rosse Getrabe.
9. Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
viel Schwerter klirren und blitzen;
dann steig' ich gewappnet hervor aus dem Grab,
den Kaiser — den Kaiser zu schützen."
I. Zur Vorbereitung. Vielfach ist behauptet worden, dies Gedicht
gehöre nicht in ein deutsches Schullesebnch; es verherrliche den schlimm-
sten Feind des Vaterlandes und schädige dadurch den Patriotismus der
deutschen Jugend. Die Bedenken sind unbegründet. Kein Lied ist besser
geeignet, der deutschen Jugend begreiflich zu machen, wie die großen
Kriegstaten des Korsen Napoleon nur durch die Begeisterung der fran-
zösischen Soldaten für ihren Feldherrn möglich waren. Keines zeichnet
so scharf die beiden Nationalfehler der Franzosen, den Nationalstolz und
die Eitelkeit, verbunden mit Ruhmsucht. La gloire war ihre Abgöttin
damals wie noch heute. Außerdem ist dies Gedicht, das Heine bereits
in seinem 16. Jahre dichtete, noch völlig frei von den galligen Ausfällen
seiner Spott- und Lästersucht, die in späterer Zeit viele seiner Dich-
tungen entstellten. Mit ihrer volkstümlichen Darstellung, ihrer raschen
Entwicklung der Handlung und ihrem eigentümlichen Wohlklange ist diese
Dichtung ein unzweideutiger Beweis für das Dichtergenie Heines, der es
als Jüngling schon verstand, die glühende Vaterlandsliebe des sterbenden
Grenadiers mit so meisterhaften Zügen zu zeichnen. Heine, dessen
Schwärmerei für Napoleon mit den Jahren immer mehr wuchs, hat später
das Lied — mit der bekannten ergreifenden Melodie von Konradin
Kreuzer — dem Marschall Soult gewidmet und dafür den unpatriotischen
Ehrensold: das Kreuz der Ehrenlegion, in Empfang genommen. Wird
nun das Lied den Schülern erst dann gegeben, nachdem der Lehrer ihnen
Preußens Demütigung und Deutschlands tiefste Erniedrigung, sowie
Napoleons Rückzug aus Rußland und Preußens und Deutschlands Er-
hebung in anschaulichen Bildern klar und lebendig geschildert hat: so
wird es keineswegs den Patriotismus der Schüler schädigen, sondern
vielmehr zur rechten Würdigung und zum vollen Verständnis jenes
Heine: Die Grenadiere. 243
traurigen und doch zugleich so erhebenden Abschnittes der vaterländischen
Geschichte beitragen.
II. Vermittlung. Str. 1. V. 1. Grenadier = eig. Werfer von Hand-
granaten, hier Infanteristen von ausgesuchter Größe, zogen heim nach
Frankreich. V. 2 fehlt: gewesen. V. Z. Vor Jahren hatten sie als
Sieger Deutschland durchzogen, jetzt wurden sie als Gefangene trans-
portiert. V. 4. Darüber empfanden sie <Wam und Trauer.
Str. 2. Da erfuhren sie — 1816 —, vielleicht in Memel oder Königs-
berg, daß das große Kaiserreich nicht mehr existiere, das Königreich
Frankreich mit seinen alten Grenzen von 1789 wiederhergestellt, das
große französische Heer völlig zersprengt und besiegt und der Kaiser
Napoleon aus die Insel St. Helena verbannt sei, wo er von dem finstern
englischen Obersten Hudson Lowe streng bewacht werde.
Str. 3. Hierüber vergossen die beiden Grenadiere bittere Tränen der
Trauer und Demütigung. „Ob" veraltet = über die zu beklagende
Nachricht. „Mir ist so sterben sw eh" zumute. Ich glaube, meine
Wunde (Schuß durch die Brust) ist nach innen wieder aufgebrochen. Ich
fühle es, ich werde verbluten, ich muß sterben.
Str. 4. Der andere: „Das Lied ist aus" — alles ist nun verloren.
Auch ich habe keine Lust mehr zu leben, doch habe ich daheim Weib und
Kinder, für welche ich arbeiten und schassen muß, da sie arm sind.
Str. 5. Der erste: „Was schert" — was kümmert mich Weib und
Kind! Mein Verlangen ist auf viel Höheres gerichtet. Das Kleinere muß
sich dem Großen unterordnen. Erst kommt mein Kaiser und mein armes
Frankreich, und dann erst Weib und Kind.
Str. 6 spricht die Liebe zuin Vaterlande und den edlen nationalen
Stolz des Sterbenden aus, der geru in vaterländischer Erde ruhen möchte.
Str. 7. „Dort in Frankreich begrabt mich mit allen militärischen
Ehren: das Kreuz der Ehrenlegiou auf der linken Brust (Herz) und die
Waffen im Arm und zur Seite!"
Str. 8. Wahrer Patriotismus geht noch über das Grab hinaus.
Diese Strophe gibt dem Volksglauben an eine Wiederkehr Napoleons
und eine Wiederherstellung des Kaiserreichs Ausdruck. Erst 1851 erfüllte
sich diese Hoffnung durch einen Napoleon.
Str. 9. Die Racheträume der Napoleonisten sollten sich 1870 er-
füllen, aber der Krieg entthronte den französischen Kaiser und einte
Deutschland zu einem mächtigen Kaiserreiche.
III. Vertiefung. 1. Inhaltsangabe: a) Zwei französische Ge-
fangene kehren 1816 aus Rußland heim. b) Im deutschen Quartiere
hören sie mit Scham und Schmerz, wie Frankreich besiegt und der Kaiser
gefangen ist. e) Beide weinen bittere Tränen, und der eine fühlt die
alten Wunden aufs neue brennen. 6) Der andere möchte gleichfalls sterben,
aber die Sorge um Weib und Kind ruft ihn heim. e) Der erste will
nichts wissen von Weib und Kind und hat nur den einen Gedanken:
Mein Kaiser! I) Er bittet den Kameraden um ein ehrenvolles Soldaten-
16*
244
II. Epische Dichtungen.
grab in Frankreichs Erde. g) Da will er der Wiederkehr seines Kaisers
harren, h) will gewappnet aus dem Grabe steigen, wenn die Stunde des
Rachekrieges kommt, und will dann den geliebten Kaiser schützen.
2. Kernfragen, u) In welchem Lebensalter mögen die Grenadiere
wohl gestanden haben? Warum? b) Worauf gründete sich die Begeiste-
rung der Soldaten für ihren Kaiser Napoleon? (Er führte sie zum Siege,
schmeichelte ihrem Ehrgefühle^-stiftete einen Orden, den die Offiziere und
Gemeinen in gleicher Weise erhielten; er fragte nichts nach Adel und
Geburt, nach Namen und Stand und beförderte die Soldaten nur nach
ihren Leistungen. „In meiner Armee trägt jeder Korporal den Mar-
schallsstab im Tornister!" Fast seine sämtlichen Marschälle hatten von
der Pike auf gedient und waren wie er Emporkömmlinge.)
3. Grundgedanke. Die Verehrung der französischen Soldaten für
ihren Kaiser Napoleon grenzte an Vergötterung, drängte alle anderen
Pflichten zurück und erzeugte den Volksglauben an seine Wiederkehr und
die Wiederaufrichtung des Kaiserreichs in Frankreich. R. D.
100. A. König Wilhelm in Gms.
Georg Hesekiel. Gegen die Franzosen. Preuß. Kriegs- und Königslieder. Berlin 1871.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Der preußische Kriegsruhm 1866
hatte den französischen verdunkelt. Das wurmte die Franzosen; Preußen
sollte und mußte gedemütigt, sein Lorbeer- oder Siegerkranz zerpflückt
werden. Die Gelegenheit dazu wurde vom Zaune gebrochen. Die Spanier
hatten ihre Königin verjagt und dem Prinzen Leopold von Hohen-
zollern, einem entfernten Verwandten des preußischen Königshauses, die
spanische Krone angeboten. Da tobten die Franzosen: „Auch in Spanien
ein Hohenzoller? Nimmermehr!" Von König Wilhelm, der zur Stär-
kung seiner Gesundheit nach Bad Ems gegangen war, verlangten sie,
daß er dem Prinzen die Annahme der Krone untersage. Nun verzichtete
Leopold freiwillig auf dieselbe. Trotzdem forderte Napoleon, der König
solle ein Entschuldigungsschreiben an ihn richten und außerdem versprechen,
nie einen Hohenzoller auf den spanischen Thron zu lassen. Da sein Ge-
sandter Benedetti in zudringlicher Weise den König in Bad Ems mit
seinen Forderungen belästigte, so ließ ihn dieser endlich mit dem Bescheide
abweisen: „Er habe mit ihm über diese Sache nichts mehr zu verhandeln."
Darauf hallte ein Wut- und Racheschrei durch ganz Frankreich. „Krieg,
Krieg!" lärmte es in Straßen, Palästen und in der Abgeordnetenkammer.
Da merkte der greise König, daß der Krieg unvermeidlich sei, daß Frank-
reich denselben durch Beleidigungen und Herausforderungen um jeden
Preis erzwingen wolle. Er endete seine Kur in Ems und zog am
15. Juli 1870 heim nach Berlin, umrauscht von dem Beifall und der
Liebe seines Volkes, das auf ihn wie auf die Sonne seiner Ehre und
Hoffnung schaute. Den Augenblick seiner Abreise von Ems hat der
patriotische Dichter Georg Hesekiel in seinem Gedichte dargestellt.
Hesekiel: König Wilhelm in Ems.
245
1. Weit in die Lande leuchtet
des Königs Angesichts;
die treuen Augen funkeln2),
und bebend die Lippe spricht2):
2. „Wir hielten fest am Frieden,
wir wirkten keinen TrugZ,
wir hatten an alten Ehren 5)
und neuen Siegen genug!6)
3. Mein Haupt, vom Schnee be-
fallen Z,
neigt nun zur Ruh' sich hin —8);
wenn sie es aber vergessen,
daß ich der König bin,
4. der König vom alten Preußen,
dicht von dem Lorbeer umlaubt,
dazu in deutschen Landen
das alleroberste Haupt 9):
5. Dann zieh' ich noch einmal den
Degen,
den Degen vom alten Fritz 10),
und schleudre ihnen entgegen
den alten Schlachtenblitz.n)
6. Und zieh' ich aus den Degen —
Parole soll Roßbach fein*2),
und Gott gibt seinen Segen
wie an der Katzbach drein !"13)
II. Erläuterungen. 1) Gleichsam als Sonne der Ehre und Hoff-
nung. 2) Vor Unwillen. 3) In tiefer Bewegung. 4) Wir brüsteten uns
nicht wie die Franzosen in großen Worten mit unserer Friedensliebe,
schürten aber heimlich das Kriegsfeuer, sondern uns war es heiliger Ernst
um die Erhaltung des Friedens. 5) Z. B. die Kriegs- und Ehrentaten
des großen Kurfürsten, Friedrichs des Großen, der Befreiungskriege usw.
6) Die Siege von 1864 und 1866 gegen Dänen und Österreicher. 7) Ich
bin ein alter Mann mit schneeweißem Haar und Bart. 8) Rnhebedürftig.
9) Jeder König ist ein Wächter der Ehren und Güter seiner Vorfahren.
König Wilhelm hatte die Ehre des alten, sieggekrönten Preußen und des
ganzen Deutschland zu wahren. 10) Das scharfe, siegreiche Schwert des
größten Feldherrn unter den preußischen Fürsten. 11) Die bekannten
Blitze aus preußischen Gewehren und Kanonen. 12) Das „Wort der
Erkennung"; bei Roßbach erlitten die Franzosen am 5. November 1757
die schmählichste Niederlage. 13) An der Katzbach erfocht Blücher am
26. August 1813 einen glänzenden Sieg über die Franzosen. An Gottes
Segen ist alles gelegen!
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Am 15. Juli 1870 sieht man
die hohe Gestalt des Königs Wilhelm auf dem Bahnhöfe zu Ems. Haar
und Bart des 73 jährigen Fürsten sind weiß wie Schnee, aber fest ist
sein Tritt und bestimmt sein Gang. Dicht gedrängte Menschenscharen
stehen umher und hängen mit ihren Augen an des Königs Antlitz. Seine
Augen funkeln vor Unwillen ob der erlittenen Ehrenkränknng durch Napo-
leon; seine Lippen zittern in tiefer innerer Bewegung, und sein Mund
spricht ernste Worte. !
2. Gedankengang. Str. 1. Der König erglüht in Unwillen.
Str. 2. Er beteuert seine Friedensliebe. Str. 3. Trotz des Alters kennt
er seine Pflicht. Str. 4. Er weiß Preußens und Deutschlands Ehre zu
wahren. Str. 5. Er zieht den Degen des alten Fritz. Str. 6. Auf Gottes
Segen und Preußens guten Stern vertraut er.
Grundgedanke. Unbilliges erträgt kein edles Herz. Mit Gott-
vertrauen im Herzen, der Erinnerung an Preußens glorreiche Vergangen-
heit im Sinne und dem bewährten Degen in der Hand wird der greise
246
II. Epische Dichtungen.
König Preußens und Deutschlands Ehre gegen den Friedensbrecher
wahren.
3. Eigentümliches. Des Königs Angesicht wird mit einer leuch-
tenden Sonne für ganz Deutschland, sein weißes Haar mit dem Schnee,
der Sieg mit Lorbeerlaub, der Kriegsanfang mit dem Degenziehen ver-
glichen. Die Erinnerung an Preußens glorreiche Vergangenheit, als
Bürgschaft einer glücklichen Zukunft, wirft ihre Lichtperlen in das kleine
Gedicht: „alte Ehren, neue Siege, altes Preußen, Deutschlands oberstes
Haupt, der alte Fritz, Roßbach und Katzbach!" Den zudringlichen Fran-
zosen Benedetti, der den Ausbruch des königlichen Unwillens veranlaßt
hatte, läßt das Gedicht ganz hinter dem Vorhänge, um das schöne, ehr-
würdige Königsbild nicht durch eine häßliche Figur zu entstellen.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Führe die historischen Anklänge
des Gedichts weiter aus! 2. Weise aus dem nachstehenden Gedicht „Kaiser
Wilhelm" nach, daß es die Erfüllung der Königsworte in Ems ent-
hält! (Wo findet sich in „Kaiser Wilhelm", daß er die „leuchtende Sonne
aller deutschen Lande" ist, daß er „neue Siege und Ehren errang", daß
er das alleroberste Haupt Deutschlands ist, daß er den „Degen zog und
Schlachtenblitze schleuderte", daß Gott sein Werk mit „Segen" krönte,
daß er die angetane Schmach rächte und Deutschlands Schutz und
Hort ist?)
B. Kaiser Wilhelm.
Heinr. Hoffmann v. Fallersleben, Lieder zu Schutz und Trutz. Berlin 1871. S. 201.
(Zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871.)
1. Wer ist der greise Siegesheld,
der uns zu Schutz und Wehr
fürs Vaterland zog in das Feld
mit Deutschlands ganzem Heer?
Wer ist es, der vom Vaterland
den schönsten Dank empfing?
Vor Frankreichs Hauptstadt sieg-
reich stand
und heim als Kaiser ging?
Du, edles Deutschland, freue dich,
dein König, hoch und ritterlich,
dein Wilhelm, dein Kaiser Wil-
helm ist's!
2. Wer hat für dich in blut'ger Schlacht
besiegt den ärgsten Feind?
Wer hat dich groß und stark gemacht,
dich brüderlich geeint?
Wer ist, wenn je ein Feind noch
droht,
dein bester Hort und Schutz?
Wer geht für dich in Kampf und Tod,
der ganzen Welt zum Trutz?
Du, edles Deutschland, freue dich,
dein König hoch und ritterlich,
dein Wilhelm, dein Kaiser Wil-
helm ist's!
P.
101. König Wilhelm in der Gruft zu Charlottenburg.
Georg Hesekiel. Zuerst im „Daheim", Jahrgang 1870. S. 719.
(Den 19. Juli 1870.)
1. Zu Charlottenburg im GartenH,
in den düstern Fichtenhain,
tritt, gesenkt das Haupt, das greise,
unser teurer König ein.
2. Und er steht in der Kapelle2),
seine Seele ist voll Schmerz!
Drin, zu seiner Eltern Füßen,
liegt des frommen Bruders Herz.^)
3. An des Vaters Sarkophage Z
lehnet König Wilhelm mild,
und sein feuchtes Auge ruhet
aus der Mutter Marmorbild.
4. „Heute war's vor sechzig Jahren
leise seine Lippe spricht,
„als ich sah zum letztenmale
meiner Mutter Angesicht.
Hesekiel: König Wilhelm in der Gruft zu Charlottenburg.
247
9. Der Erlösung heilig Zeichen
leuchte vor im heil'gen Kriegs),
und der alte Gott im Himmel
schenk' dem alten König Sieg!
10. Blicke segnend, Mutterauge,
Vater, sieh, dein Sohn ist hier!
Und auch du, verklärter Bruder,
heute ist mein Herz bei dir!"
11. Leise weht es durch die Halle,
König Wilhelm hebt die Hand^o),
all die goldnen Sprüche funkeln
Sieg verheißend von der Wand.
12. Zu Charlottenburg im Garten,
aus dem düstern Fichtenhain,
tritt der König hoch und mächtig,
um sein Antlitz Sonnenschein.")
5. Heute war's vor sechzig Jahren,
als ihr deutsches Herze brach
um den Hohn des bösen Feindes,
um des Vaterlandes Schmach.
6. Jene Schmach hast du gerochen 5)
längst, mein tapfrer Vater du,
aber Frankreich wirft aufs neue
heute uns den Handschuh zu. ch
7. Wieder sitzt ein Bonaparte
ränkevoll auf Frankreichs Thron,
und zum Kampfe zwingt uns heute
wieder ein Napoleon.7)
8. Tret' ich denn zum neuen Kampfe
wider alte Feinde ein,
dann soll's mit dem alten Zeichen,
mit dem „Kreuz von Eisen", sein.ch
I. Vorbereitung. Die Erläuterung dieses patriotischen Gedichts setzt
die Kenntnis der Geschichte Friedrich Wilhelms III. und IV. sowie eine
Beschreibung des Mausoleums zu Charlotten bürg voraus. Wir
geben letztere im Auszuge nach Vogels „Germania", Leipzig 1872, S. 215,
von Karl Ramshorn: „Das königliche Schloß zu Charlottenburg ruft
große historische Erinnerungen in uns wach und lenkt unsern Blick auf
ein edles Frauenbild, die jedenfalls größte, weil deutscheste aller deutschen
Fürstinnen des vorigen Jahrhunderts: die unsterbliche Königin Luise von
Preußen. Durch deren Fürsorge wurde das Schloß, ihr Lieblingsaufent-
halt, in vielen Teilen verschönert. Die letzte und höchste Weihe aber er-
hielten später Schloß und Park durch eines der herrlichsten Bauwerke
der Neuzeit, durch das mitten im Schloßparke von dunkeln Tannen um-
gebene und von Schinkel erbaute Mausoleum, in dessen unterm Ge-
wölbe diese edelste der Fürstinnen und ihr Gemahl, König Friedrich
Wilhelm III., ruhen, während der obere Raum, magisch erleuchtet durch
das von oben durch die Kuppel hereinfallende Licht, die von Rauch
meisterhaft ausgeführten, auf Sarkophagen ruhenden Marmorbilder beider
enthält. Auf beiden Seiten sind herrliche Kandelaber, rechts die drei
Parzen von Rauch, links Horen von Tieck. Zu den Füßen der Ver-
ewigten ist in einer Marmorkapsel das Herz Friedrich Wilhelms IV. bei-
gesetzt. Das in dem prachtvollen Raume aufgestellte Kruzifix ist ein Kunst-
werk von Achtermann aus Rom. Dieser ganze Marmorbau, eine ge-
heiligte Fürstengruft, gilt seit seinem Bestehen bis auf den heutigen Tag
der erlauchten preußischen Königsfamilie nicht bloß als ein Denkmal dank-
barer Pietät, sondern auch als die Weihestätte, an welcher Kind und
Kindeskind der dort ruhenden großen Taten an allen den Tagen, an denen
sich die Herzen vorzugsweise nach dem dort schlummernden Königspaare
hingezogen fühlen, in Liebe gedenken und in stiller Andacht beten. Und
das ist auch der Ort, wo unser erhabener greiser König und Kaiser Wil-
helm betete, bevor er 1870 zum deutschen Schwerte griff, um im Sinne
seiner erhabenen Eltern und insbesondere nach dem prophetischen Geiste
248
II. Epische Dichtungen.
seiner früh Heimgegangenen, edlen deutschen Mutter dem gekränkten deut-
schen Vaterlande zu seinem guten Rechte zu verhelfen."
Nach dem Wunsch und Willen Kaiser Wilhelms des Großen ist das
Mausoleum erweitert worden und ist nun auch seiner und seiner Gemahlin
letzte Ruhestätte, ein Wallfahrtsort für alle, die das Vaterland und das
Herrscherhaus lieben.
II. Vermittlung. 1. Zu Charlottenburg im Schloßgarten, 2. im
oberen Raume des Mausoleums = Prachtgrab, Ehrengruft, wie ein
solches einst dem König M a u s 6 l u s im alten Karten von seiner Gemahlin
Artemisia errichtet wurde, 3. wo das Herz Fr. Wilhelms IV. ein-
balsamiert in einer Marmorkapsel liegt, 4. lehnt der greise König Wilhelm
an dem Sarkophage seines entschlafenen Vaters. Sarkophag, vgl.
Nr. 78, Anm. 3. 5. gerochen = gerächt. 6. Jemandem den Handschuh
hinwerfen, eine Metapher ans der Zeit des Rittertums, will sagen:
jemanden zum Kampfe herausfordern. 7. Napoleon III. war ein Sohn
von Napoleons I. Bruder Ludwig Bonaparte, ehemaligem Könige von
Holland. 8. Mit diesen Worten wird der Erneuerung der Stiftung des
„Eisernen Kreuzes" Erwähnung getan; 9. das Kreuz, das Symbol der
Christen, war schon 1813 das Ehrenzeichen der Landwehr mit der Unter-
schrift: „Mit Gott für König und Vaterland!" 10. König Wilhelm hebt
die Hand. Hier ist zu ergänzen: empor zu einem heiligen Schwure, zu
dem Gelöbnis, das Schwert nicht eher wieder in die Scheide zu stecken,
bis die dem Vaterlande angetane Schmach gesühnt und der Sieg errungen
ist. 11. Zu ergänzen: leuchtet Sonnenschein, die Weihe von oben.
III. Vertiefung. 1. Hauptgedanke: Der greise König Wilhelm be-
sucht am 60 jährigen Todestage seiner unvergeßlichen Mutter Luise und
am Vorabende des großen Völkerkrieges zwischen Franzosen und Deut-
schen die Königsgrnft zu Charlottenburg und wird durch das liebevolle
Andenken an die teuern Entschlafenen sowie in heißem Gebete wunderbar
gestärkt, getrost und siegesgewiß.
2. Gliederung des Inhalts. 1. König Wilhelm besucht am
19. Juli 1870 voll Schmerz und Sorge die Gruft seiner entschlafenen
Eltern. 2. Er gedenkt auch seines Bruders, des verstorbenen Königs
Friedrich Wilhelm IV. 3. Sein Äuge feuchtet sich mit Tränen des Schmer-
zes und der Trauer. 4. Der König gedenkt daran, daß er vor 60 Jahren
am Totenbette der teuren Mutter stand, die am gebrochenen Herzen über
des Vaterlandes Schmach starb. 5. Er gedenkt daran, daß sein Vater
Friedrich Wilhelm III. diese Schmach zwar 1813—15 an Frankreich ge-
rächt, daß aber dasselbe Frankreich Preußen abermals den Krieg erklärt
hatte. 6. Wie sein Oheim Napoleon I. trieb auch Napoleon III. sein
ränkevolles Spiel. 7. Zum Kriege gezwungen, erneuert der König den
Orden des Eisernen Kreuzes. 8. Das ist das bedeutsame Symbol der
Christen, in dem Gott Sieg verheißt. 9. Der König ist der segnenden
Zustimmung von Vater, Mutter und Bruder gewiß. 10. Er gelobt feier-
lich, zu kämpfen und zu siegen. 11. Gestärkt und voll Siegeshoffnung
verläßt er die Gruft.
Gerok: Die Rosse von Gravelotte.
249
3. Schönheiten der Dichtung. Das Gedicht ist in volkstüm-
lichem Tone, schlicht und innig, ohne Phrase, geschrieben. Es finden sich
vortreffliche Stabreime: Auf der Mutter Marmorbild — Seine Seele
ist voll Schmerz — Leise seine Lippe spricht. Heute uns den Handschuh
zu usw. — Von großer Wirkung sind die Gegensätze: neuer Kampf —
alte Feinde; altes Zeichen — neuer Orden, und die Wiederholung: hei-
liges Zeichen, heiliger Krieg; alter Gott — alter König.
R. D.
11)2. Die Noffe von Gravelotte.
Karl v. Gerok. Eichenlaub. Deutsche Gedichte aus dem Jahre 1870. Berlin 1871. S. 20.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. In dem großen Kriege zwischen
Deutschland und Frankreich 1870 und 71 war die Schlacht von Grave-
lotte, westlich von Metz, am 18. August 1870, eine der heißesten und
blutigsten. Erst nach furchtbaren Opfern an Menschenleben gelang es den
Deutschen, die Franzosen nach Metz zurückzuwerfen und in der Festung
einzuschließen. Unter den schmerzlichsten Szenen des Tages ist eine be-
sonders ergreifend: stumme Tiere legen Zeugnis von den entsetzlichen
Verlusten des Tages ab.
Als am Morgen des 18. August die Trompete den Garde-Dragonern
zur Reveille (zum Aufstehen) blies, da sammelten sich alle Reiter auf
ihren Rossen unter dem Panier (Heerfahne). (Die Regimenter der Garde
heißen Leibregimenter, weil sie insonderheit schützend die Person des
Fürsten umgeben sollen. Der Name Dragoner für leichte Reiter stammt
aus der Zeit Heinrichs IV. von Frankreich und erinnert an den Drachen,
franz. „dragon“, in ihrem Heerzeichen.) Als aber am Abend die Trom-
pete mit ihren Signalen (kurzen Tonzeichen) die zerstreuten Soldaten
zum Appell (zum Sammeln, zum Namensaufruf) zusammenrief, wie
hatte da die mörderische Schlacht aufgeräumt! Aber trotzdem wurde die
militärische Ordnung eingehalten, sogar von den Rossen, die ihre Reiter
verloren hatten. Die rührende Szene hat Karl von Gerok in einem er-
greifenden Gedichte festgehalten.
Heiß war der Tag und blutig die
Schlacht;
kühl wird der Abend und ruhig die
Nacht.
Droben vom Waldsaum nieder ins
Tal
dreimal schmettert Trompeten-
signal,
ladet so laut und schmettert so hell,
ruft die Dragoner zurück zum Appell.
Truppweis, in Rotten, zu dreien
und zwei'n
stellen die tapfern Reiter sich ein.
Aber nicht alle kehren zurück,
mancher liegt da mit gebrochenem
Blick,
kam zur Reveille frisch noch und rot,
liegt beim Appell bleich, blutig und
tot.
Ledige Rosse, den Sattel leer,
irren verwaist auf der Walstatt umher.
Doch der Trompete schmetternd
Signal
ruft aus der Ferne zum drittenmal.
Schau, und der Rappe, dort spitzt er
das Ohr,
wiehernd wirft er die Nüstern empor.
Sieh, und der Braune gesellt sich
ihm bei,
trabt ihm zur Seite wie sonst in
der Reih'.
250
II. Epische Dichtungen.
Selber der blutige Schimmel, so müd',
hinkt auf drei Beinen und reiht sich
ins Glied.
Truppweis, in Rotten, zu dreien
und zwei'n
stellen die ledigen Rosse sich ein.
Rosse wie Reiter verstehn den Appell;
ruft die Trompete, so sind sie zur Stell',
über dreihundert hat man gezählt
Rosse, zu denen der Reitersmann
fehlt.
über dreihundert, o blutige Schlacht,
die so viel Sättel hat ledig gemacht!
Über dreihundert, o tapfere Schar,
wo bei vier Mann ein Gefallener
war!
über dreihundert, o ritterlich Tier,
ohne den Reiter noch treu dem Panier!
Wenn ihr die Tapfern von Grave-
lotte nennt,
denkt auch der Rosse vom Leib-
regiment!
II. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Am Abend des 18. August
1870. Dem heißen Tage ist ein kühler Abend gefolgt; dem Lärm der
blutigen Schlacht wird die Ruhe der Nacht folgen. Am Waldessaum auf
einer Anhöhe hält der Kommandeur der Garde-Dragoner, neben ihm der
Trompeter. Letzterer läßt die bekannten Signale (Zeichen) zum Sammeln
von der Höhe ins Tal schallen. Von allen Seiten der weiten Walstatt
(d. h. Kampfplatz mit den Gefallenen, welche von Walküren nach Wal-
halla getragen wurden) sammeln sich die müden, bestäubten und blutigen
Reiter einzeln und in kleinen Trupps (Rotten). Aber wie viele bleiben
mit gebrochenen Augen auf dem Schlachtfelde liegen! Auch reiterlose Rosse
irren wiehernd, suchend, hinkend auf der Walstatt umher. Da sich beim
dritten Signal noch kein Reiter in den ledigen Sattel geschwungen hat, so
folgen sie dem bekannten Signal und stellen sich in Reih und Glied mit
den übrigen auf. Über dreihundert Rosse ohne Reiter! Entsetzliche Schlacht,
die so viel Tapfere eines Regiments tot aus den Sätteln geworfen hat!
2. Gedankengang. Dem heißen Tage von Gravelotte folgt die
kühle, ruhige Nacht. Die Trompete ruft zum Appell. In Rotten kommen
die lebenden, mit gebrochenem Blick liegen die toten Reiter auf der Wal-
statt. Ledige Rosse irren zwischen den Toten umher und suchen ihre
Reiter. Auch sie folgen dem Trompetensignale, erst der Rappe (schwarze),
dann der Braune, dann der binkende, blutige Schinimel. So stellen sich
über 300 Pferde ohne Reiter ein — ein grausiger Verlust, wenn von
vier Mann immer einer tot auf der Walstatt liegt! Den treuen Rossen
gebührt ein Andenken an den blutigen Sieg von Gravelotte.
Grundgedanke. Die Menschen schweigen in Jammer und Tränen;
die stummen Rosse reden eine laute Sprache. Welch ritterliche Treue
für das Panier! Welch sichere Ordnungsgewöhnung, und welch straffe
Disziplin! Welch erschütternder Nachweis des erlittenen Verlustes!
3. Eigentümliches. Der Dichter hat eine ergreifende Wirkung
dadurch erzielt, daß er die stummen Rosse zu Todesboten ihrer Herren
und zu Vertretern der militärischen Disziplin machte.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Vergiß nie, welche Opfer die Freiheit und Einheit des Vaterlandes ge-
kostet hat! — Die Rosse folgen dem Ordnungsrufe, dem Zwange der
Disziplin und der Fahnenpslicht, und du? — Vergiß der treuen Toten
nicht! — Sei barmherzig gegen die Tiere, die ihr Leben in deinen Dienst
gestellt haben! —
Wolff: Die Fahne der Einundsechziger.
251
2. Verwandtes. Die zerschossene Trompete von Vionville, die nur
noch klanglos wimmert. Vgl. das Gedicht von Freiligrath: Sie haben
Tod und Verderben gespie'n —. Das getreue Roß (Nr. 227) —. Der
Mollwitzer Schimtnel, der Friedrich den Großen rettete. — Das Amen
der Steine von Kosegarten. — Das blinde Roß, das in der Hungerqual
den Strick der Klageglocke zog und seinen unbarmherzigen Herrn verklagte.
P.
103 a. Die Fahne der Einundsechziger.
Von Julius Wolfs.
I. Vorbereitung. Welche Tage haben wir im Jubeljahre 1895/96
besonders festlich begangen? Den 2. September und den 18. Januar.
Jedes Regiment hat an seinem größten Ehrentage seine einstigen Mit-
kämpfer um sich versammelt. Welche Siege kennt ihr? Welche starken
Festungen wurden eingenommen? Straßburg und Metz. Wann wurde
Paris eingeschlossen? Welches Bestreben leitete die Franzosen nun? Ihre
Hauptstadt zu befreien. Aus welchen Richtungen zogen sie heran? Überall
wurden sie von den tapferen Deutschen geschlagen; aber Gambettas Feuer-
eifer erlahmte nicht. Eine gewaltige Armee unter dem General Bourbaki
sollte durch das Elsaß sich einen Weg nach Süddeutschland bahnen, in
dem wehrlosen Lande rasch vordringen, die Gefangenen befreien und da-
durch die Deutschen nötigen, Paris freizugeben, um Deutschland zu retten.
Wer stellte sich ihnen entgegen? General v. Werder. Wie lange währte
der Kampf? Drei Tage, am 15., 16. und 17. Januar. Wie uannte
Kaiser Wilhelm den Sieg Werders? Eine der größten Waffentaten aller
Zeiten. Am 18. Januar zog sich Bourbaki zurück. Die augenblickliche
Gefahr war beseitigt; um aber auch dieses Heer unschädlich zu machen,
entbrannten heftige Kämpfe um die Stadt Dijon, und in den tagelangen
Kämpfen ging.am 23. Januar 1871 die einzige deutsche Fahne verloren.
Wie sie verloren ging, schildert uns ein Mitkämpfer in folgendem Ge-
dicht. Hört zu!
II. Vortrag des Gedichts durch den Lehrer. (Pause nach der 2.,
8. und 10. Strophe.)
1. Vor Dijon war's; — doch eh' ich's
euch erzähle,
knüpf' einer doch die Binde mir
zurecht;
mich schmerzt der Arm, sie sitzt
Wohl schlecht.
So! —so! nun euer Herz sich stähle:
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
Vor Dijon war's, die Pässe der
Vogesen
bedrohte Garibaldi's bunte Schar;
Bourbaki kam von der Loire,
das hart bedrängte Belfort zu er-
lösen.
III. Behandlung. Einleitung. Wie lautet die Überschrift?
Wer ist mit den 61ern gemeint? Jeder rechte deutsche Knabe möchte
gern Soldat werden. Merkt auf, was allen Soldaten über die Bedeutung
der Fahne eingeprägt wird: „Die Fahne soll den Soldaten ein Sinnbild
der Treue und der Kriegsehre sein. Sie ist ein dem Regiment anver-
trautes heiliges Gut, um das der Soldat im Kampfe sich schart, das er
252
II. Epische Dichtungen.
nie verlassen darf, sondern mit Hingabe seines letzten Blutstropfens zu
verteidigen hat, und daL an den Feind zu verlieren, er für die höchste
Schmach ansehen muß". Welche Pflicht hat der Soldat hiernach? Als
was muß er den Verlust der Fahne ansehen? Welches Regiment verlor
seine Fahne? Dasselbe trägt heute den Namen Infanterie-Regiment
von der Marwitz (8. Pommersches) Nr. 61 und befindet sich in Thorn.
Die Franzosen verloren etwa 120 Adler und Fahnen, die Deutschen nur
diese eine.
I. Abschnitt. Str. 1 und 2. Wohin versetzt uns der Anfang des
Gedichts? Wo liegt Dijon? Wen läßt der Dichter erzählen? Einen Ver-
wundeten. Was für eine Wunde hat er davongetragen? Wie trägt er
den Arm deshalb? Wozu fordert er auf? Warum soll ihr Mut stark
werden? Weil er eine traurige Geschichte erzählen will. Welche? Wie
das 61. Regiment seine Fahne verlor. Mit welchen Worten macht er
uns mit dem Schauplatze der Geschichte bekannt? Zeigt Dijon, die Vo-
gesen, die Loire, die Festung Belfort! Welche Absicht hatte Garibaldi?
Garibaldi war kein Franzose, sondern ein Italiener, der sich um die Eini-
gung Italiens große Verdienste erworben hatte. Als Napoleon gefangen,
Frankreich eine Republik geworden und seine Heere geschlagen oder ge-
fangen waren, da ries Gambetta die waffenfähigen Männer Frankreichs
zu den Waffen, und ihm stellte sich der Italiener Garibaldi mit seinen
Söhnen Menotti und Rieeiotti zur Verfügung. Er erhielt Anfang Oktober
den Oberbefehl über die Freischaren auf dem südöstlichen Kriegsschauplätze.
Garibaldis Krieger waren aus verschiedenen Ländern zusammengeströmt;
manche hatten Uniformen, andere trugen bürgerliche Kleidung und hatten
sich vielleicht durch Jägerhüte mit wallenden Federn herausgeputzt. Unter
diesen waren viele Wilderer, Jäger und Schmuggler, also verwegene Bur-
schen. Welcher feindliche Anführer wird noch genannt? Bourbaki. Er
führte früher die kaiserliche Garde, war mit Bazaine in Metz eingeschlossen
gewesen, von dort entkommen und diente nun auch unter der Republik.
Er zog von Westen heran, um Belfort zu entsetzen, das die Deutschen
unter Tresckow belagerten und Denfert tapfer verteidigte. Warum war
die Gefahr groß? Gewaltige Übermacht, Festung Belfort im Rücken, nahe
Grenze. Da stellte sich General von Werder den Franzosen entgegen.
Unter ihm dienten viele Landwehrleute, die Weib und Kinder daheim
zurückgelassen hatten und wohl wußten, wie die Franzosen in dem wehr-
losen Lande hausen würden. Sie gelobten sich, keinen Feind hindurch-
zulassen, und die Braven haben Wort gehalten. Wieviel Tage währte
der Kampf? Wie wird die Schlacht gewöhnlich genannt? Die Schlacht
an der Lisaine. Welchen Ausgang schien die Schlacht zu nehmen? Mit
welchen Worten deutet der Dichter dies an? „Und in der Hand — Wage."
(Erinnerung an die Kaufmannswage und das Schriftwort Daniel 5, 27.)
Zu wessen Gunsten neigte sich beinahe (= schier) die Wage? Aber General
von Moltke hatte die Größe der Gefahr erkannt und ließ Verstärkungen
heranrücken, das II. Armeekorps, die Pommern, von Paris, das VII.,
die Westfalen, von Orleans. Hört, was ein Mitkämpfer von diesem
Wolff: Die Fahne der Einundsechziger.
253
Marsche erzählt: „Vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend ging
es auf spiegelglatten Wegen, bei unheimlicher Kälte und dichtem Nebel
immer vorwärts, vorwärts. Was liegen blieb, blieb liegen, denn Kranken-
wagen und Lazarette gab's hier nicht; aber wer liegen blieb, der mußte
sich auf sein letztes Ständlein gefaßt machen. Denn wenn er in die
Hände der fanatischen Bauern oder Freischaren fiel, war er einem qual-
vollen Tode sicher überliefert. Also vorwärts, solange es irgend geht!"
Warum war es ein so beschwerlicher Marsch? Weite Entfernung, bittere
Kälte, Nebel und Regen, dazu Mangel an Fußzeug, warmer Kleidung
und Nahrung, unwegsame Gegend. Welches Bestreben trieb sie zur
höchsten Eile an? Ihren deutschen Brüdern in der deutschen Gefahr bei-
zustehen.
II. Abschnitt. Str. 3—8. Wo befand sich Garibaldi? Wie wird
er im Gedicht genannt! Recke ^ Held, ein in deutschen Heldengedichten
gern benutzter Ausdruck. Wo zeigte er sich als Held? In den italieni-
schen Kämpfen. Wie stark war seine Streitmacht? Wie stark die der
Deutschen? Eine Brigade — 2 Regimenter Infanterie nebst Reiterei
und Artillerie. Wie wird Garibaldi sodann genannt? Caprera Ziegen-
insel, sein Wohnsitz, eine Insel in der Nähe Sardiniens. Wo entspann
sich nun ein mehrtägiger Kampf? Um Dijon. Schon am 21. Januar
wurden die Dörfer vor Dijon mit Sturm genommen; am 22. ruhten, von
geringen Plänkeleien abgesehen, die Waffen; am 23. versuchte General von
Kettler den Sturm auf Dijon aufs neue. Nachmittags 11/2 Uhr begann
der heldenmütige Kampf. Mit welchen Worten deutet der Dichter den
schmerzlichen Verlauf desselben an?
Welche beiden Regimenter kämpften? Wie erging es dem 21.?
Wie schildert der Dichter den Kampf derselben? Wer wurde zur Unter-
stützung abgesandt? Welchen Erfolg hatte der Kampf der Einundsechziger?
Woraus waren die Feinde vertrieben worden? In den Berichten
von Mitkämpfern wird er eine „Kiesgrube" genannt. In welcher Weise
wurden die Feinde daraus verjagt? Warum flüchteten die Deutschen in
diese Grube? Um Schutz zu suchen. Was befand sich rechts von der-
selben? Eine Fabrik. Es war eine Knochenmehlfabrik, und diese war
von einer hohen Mauer umgeben. Durch die Mauer und Wände der
Fabrik waren Löcher geschlagen, aus denen die Feinde schossen, ferner
waren im Erdboden vor der Fabrik Gräben aufgeworfen worden. Dunkle
Nacht bedeckte das Schlachtfeld; was am Tage nicht geglückt war, nämlich
die Knochenmehlfabrik zu nehmen, sollte im Schutze der Dunkelheit ver-
sucht werden. Mit welchen Worten erhält die 5. Kompagnie den Befehl
zum Angriff?
Bei einem solchen Angriff sind die Offiziere immer die ersten. Ober-
leutnant Weise, der Führer der Kompagnie, sprang, indem er den Degen
zog, aus der schützenden Kiesgrube und stürmte als erster mit weithin
schallendem: „Marsch, Marsch, Hurra!" auf den Feind. Wem folgen
die Soldaten? Warum schlägt ihnen das Herz? „Gilt's mir, oder gilt
es dir?" Die Feinde eröffnen Schnellfeuer auf die Stürmenden. Wie
254
II. Epische Dichtungen.
schrecklich sind die Verluste? Womit vergleicht der Dichter den Tod? Wie
der Schnitter die Halme mäht, so —. Der Anführer der Heldenschar,
Oberleutnant Weise, wurde verwundet. Wen raffte der Tod ferner hin-
weg? Den Fahnenträger Sergeant Pionke. Nach wenigen Schritten
sank er, von vielen Kugeln getroffen, zu Boden; noch im Tode um-
klammerte er den Schaft der Fahne. Rasch faßte sie Sergeant Breiten-
feld; doch war es ihm nicht vergönnt, sie zu erheben. Ein schneller Tod
raffte ihn und alle, die um die Fahne waren, in wenigen Augenblicken
dahin.
Alle Offiziere bis auf den jüngsten Namens Schultze waren tot oder
verwundet, und so mußte er die Führung übernehmen. Wie feuert er
den .Mut der Seinen an? Er ergreift die Fahne, ruft ihnen zu: „Mir
nach!" und eilt den Seinen voran. Wie schildert der Dichter seinen
Tod? Er wurde durch zwei Schüsse in den Kopf getötet. Wer über-
brachte gerade einen Befehl? Der Adjutant Leutnant von Puttkammer.
Warum hätte er dem Kampfe fernbleiben können? Weil er schon ver-
wundet war und nur die Pflicht hatte, den Befehl zu überbringen. In
welcher Weise nimmt er am Kampfe teil? Springt vom Pferde, ergreift
die Fahne und führt sie mit dem Rufe: „Vorwärts!" gegen den Feind.
Dicht unter den Mauern der Fabrik, von vielen Kugeln getroffen, hauchte
der letzte Träger der Fahne sein Leben aus. Mit welchen schönen Worten
schildert der Dichter seinen Tod?
Was rufen die Überlebenden? Strophe 8! Ein Unteroffizier Man-
tenffel ergriff nun das Banner, auch er fiel. Welche Worte rief er einem
andern zu? Welches Schicksal hatte auch dieser? Niemand kennt ihre
Namen; keiner der Umstehenden verließ lebend den Kampfplatz. Wie er-
ging es dem Reste der Tapferen? Mit welchen Worten schildert der Dichter
den Rückzug? Trotz des heißen Kampfes waren sie nicht ermattet, trotz
der vielen Toten nicht mutlos geworden. Wie zeigt sich ihr Mut?
III. Abschnitt. Str. 9 und 10. Was entdeckte das Häuflein am
Abend? Warum hatten sie es nicht früher bemerkt? Dunkelheit, Pulver-
dampf, Aufregung. Welcher Versuch wurde gemacht, um die Fahne zurück-
zuholen? Welches Schicksal hatten sie? Welchen Eindruck macht es auf
die Kämpfer? Wie klagen sie?
Welcher Ruf erscholl nun? Wie viele erboten sich zu dem gefähr-
lichen Unternehmen? Wovon zeugt dies? Wie viele kehrten von den
sechs Tapfern zurück? Einer, der Musketier Schumacher. Wie schildert
der Dichter dessen Rückkehr? Warum schwieg er und verhüllte sein Ge-
sicht? Welche Hoffnung müssen sie nun aufgeben? Welchen Eindruck
machte dies aus die Helden?
„Da der Feind nunmehr von allen Seiten nachdrängte und die
Signale zum Zurückgehen und Sammeln riefen, so mußten bei der immer
mehr zunehmenden Dunkelheit weitere Versuche zur Wiedererlangung der
Fahne aufgegeben werden. Der Rest der Kompagnie wurde durch den
Feldwebel Hochleitner zum Bataillon zurückgeführt. Als die vom Feld-
webel Hochleitner geführten beklagenswerten Reste der 5. Kompagnie, als
Wolff: Die Fahne der Einundsechziger.
255
die letzten von allen Abteilungen, auf dem Sammelplätze des Detache-
ments gegen 8 Uhr abends einrückten, verbreitete sich die Trauerbotschaft:
„Die Fahne des zweiten Bataillons ist verloren!" Viel Schweres hatte das
Regiment in den letzten Tagen erlitten, dies war der härteste Schlag. —
IV. Abschnitt. Str. 11. Wodurch ehrte der Feind, Ricciotti, ein
Sohn Garibaldis, den Heldenmut der Tapferen? Er schickte einen wahr-
heitsgetreuen Bericht und nannte die Gefallenen „Helden". Wie war die
Fahne gefunden worden? „Eine Heldenschar, im Tode erblaßt, hatte
über dem gesunkenen Feldzeichen die Totenwacht gehalten."
Wodurch war die Freude der Einundsechziger auf den Tag der
Heimkehr getrübt? Warum hoffen sie auf „Pardon" oder Verzeihung?
Weil der Feind die Fahne nicht erobert, sondern unter Leichen ge-
funden hat.
Gliedern ngdesGedich tes. I. Vorgeschichte des Heldenkampfes,
Str. 1, 2. II. Kampf um die Fabrik und Verlust der Fahne, Str. 3
bis 8. III. Vergebliche Versuche zur Wiedererlangung derselben, Str. 9
und 10. Meldung des Feindes und Bitte der zurückkehrenden Helden
um Verzeihung.
Grundgedanke. Uhland feiert die Tapferkeit des Götz von
Weißenheim in dem Gedicht „Die Schlacht bei Reutlingen" mit den
Worten: „Er hat es nicht gelassen, bis er erschlagen war." Das ist Treue.
Die Fahuentreue ist die erste Soldatenpflicht und die höchste Soldaten-
tugend. Die Fahne muß als Sinnbild der Treue und der Kriegerehre,
als ein dem Regimente anvertrautes Gut, bis zum letzten Blutstropfen
von jeden: Soldaten verteidigt werden. Offenb.2,10: „Sei getreu bis in
den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben."
IV.Verwertung. A. Wie urteilt die Mit- und Nachwelt
über den Verlust der Fahne?
1. Kaiser Wilhelm I. verlieh dem Bataillon am 9. August 1871
eine neue Fahne und sprach in der Allerhöchsten Ordre den heldenmütigen
Verteidigern der alten Fahne seine hohe Anerkennung aus.
2. Ricciotti ehrte den Heldenmut der Tapferen durch eine besondere
Botschaft am 24. Januar 1871.
3. Der Dichter Jul. Wolfs in Charlottenburg besang den Helden-
mut der Einundsechziger beim Verluste der Fahne in diesem herrlichen
Gedichte, und Hauptmann Maercker sammelte die Gedichte, die diesen
Stofs verherrlichen, in der Broschüre „Die Fahne der Einundsechziger".
(Thorn, C. Lambeck, 1 Mk.)
4. Maler und Bildhauer (Mattschaß und Löher) haben die Szene
dargestellt.
5. Unser Kaiser Wilhelm II. hat durch verschiedene Gnadenbeweise
an das Regiment den Heldenmut jener Tapferen anerkannt.
6. Heute erhebt sich an der für alle Deutschen geweihten Stätte ein
würdiges Denkmal: aufeinandergetürmte Granitblöcke, überragt von
einem Marmorkreuz. Das hat das Regiment seinen gefallenen Söhnen
errichtet.
256
II. Epische Dichtungen.
B. Was ist aus der also verlorenen Fahne geworden?
„Über das weitere Schicksal der Fahne ist folgendes ermittelt worden:
Ein Franktireuroffizier soll dieselbe an einen Dijoner Kaufmann für
200 Franks zu verkaufen versucht haben; eine andere Lesart sagt, Ricciotti
Garibaldi habe sie dem Finder für 200 Franks abgekauft. Demnächst
ist die Fahne von Garibaldi nach Bordeaux an den General-Postdirektor
Steenacker gesandt worden, welcher sie bis zum 14. Februar aufbewahrt
hat." „Die Fahne hängt nunmehr im Jnvalidendom zu Paris."
0. Die Annahme, daß der Dichter dieses herrlichen Lobgesanges
deutscher Treue selber an diesem ruhmvollen, wenn auch unglücklichen
Kampfe beteiligt gewesen sei, liegt nahe. Um Gewißheit zu erlangen,
wandte ich mich mit einer Anfrage an den Dichter, und seiner Freund-
lichkeit verdanke ich folgende Auskunft: „Nicht Selbsterlebtes habe ich in
meinem Gedicht „Die Fahne der Einundsechziger" geschildert, aber der
Wahrheit gemäß die Tatsachen bis in die Einzelheiten erzählt. Bei der
25 jährigen Feier jener Tage von Dijon schickte mir das Regiments-
kommando des 61. Regiments eine Broschüre mit dem dienstlichen Bericht
aus dem Regimentstagebuche, der genau mit meiner Schilderung über-
einstimmt. Ich stand damals als Landwehroffizier beim 27. Regiment in
der Cöte d’or nicht weit von Dijon, und wir hörten das Geschützfeuer
jener harten Kämpfe." Rektor Fritz Wegener.' in Wandsbeck.
(Einiges gekürzt.)
103 b. A. Die Helden vom Iltis.
Bon R. Presber (Lohmeyer, Zur See, mein Volk!)
1. Wild rast der Sturm an Chinas
Küste
aus grauer Nebel Hinterhalt;
er hat die gelbe Wasserwüste
zu flüchtigem Gebirg geballt.
Es stampft das Schiff; in allen
Bohlen
ächzt's wie ein Tier in Todesqual,
und bei des Sturmes Atemholen
schießt es vom Berg zum Wellental.
2. Vor sich den Fels, den Sturm im
Rücken —
er legt das Fernrohr aus der Hand
und steigt von der Kommando-
brücken —
zum letztenmale Kommandant!
Auf jenen glatten Felsenkanten
läßt sinnend er das Auge ruhn,
er kennt sein Schicksal: er wird
stranden —
und untergehen im Taifun.
3. „Schart euch um mich! — Wir sind
verloren,
hier hilft nicht Anker, Segel, Tau;
den wir so oft heraufbeschworen,
der Tod hält seine letzte Schau.
Kein Seufzer grüß', kein banger, leiser,
zum letztenmal die schöne Welt:
ein donnernd Hoch dem deutschen
Kaiser!
Und, Kinder, dann — wie's Gott
gefällt!"
4. Und mittendurch der Stürme Tosen
und durch der Wogen weißes Heer
tönt aus den Kehlen der Matrosen
ein letztes Grüßen übers Meer,
so kräftig, wie in frohen Tagen
es einst daheim beim Becher klang —
ein Ruck, ein Sturz — die Wellen
schlagen
zusammen über Schiff und Sang. —
5. Wir sahn euch nicht für immer
scheiden,
wir senkten euch nicht still hinab,
der Schatten deutscher Trauer-
weiden
fällt nicht auf euer Heldengrab.
Das Meer, dem ihr die Kraft er-
geben,
gab tief im Grund euch nun die Ruh,
und über eure Leichen schweben
die Schiffe eurer Heimat zu.
Presber: Die Helden vom Iltis.
257
6. Kami Liebe nicht zum Grabe wallen,
als letzteil Gruß den Kranz z>t
weihn,
so soll ein Held, im Kampf gefallen,
im Herzen uns unsterblich sein.
Des Ruhm erlischt nicht auf den
Lippen,
der als ein Stolz der Mutter schied,
dem an der Fremde öden Klippen
die Woge singt das Sterbelied.
7. Und preisen sollen frohe Töne,
— ob auch die frische Wunde
brennt —
daß noch die Jugend solcher
Söhne
Germania ihr eigen nennt. ^
Wir fürchten keines Feindes Tücken
und bieten Trotz der Stürme Wehn,
solang auf den Kommandobrücken
noch Helden euresgleichen stehn!
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Im Sommer 1896 war
das deutsche Kanonenboot „Iltis" zu einer Schießübung im gelben
Meere an der klippenreichen Südostküste der chinesischen Halbinsel Sch an-
tun g. Plötzlich brach am 23. Juli ein furchtbarer Taifun (Wirbelsturm)
aus und schleuderte das Schiff wie eine Nußschale hin und her. Kein
Anker faßte, kein Tau hielt, kein Segel half und kein Steuerruder ge-
horchte. Vergeblich waren die Befehle des Kapitäns Braun auf der
Kommandobrücke, vergeblich die übermenschlichen Anstrengungen der
Matrosen. Das Schiff brach unter ihren Füßen auseinander. Da, im
Angesichte des Todes, brachten sie auf die Mahnung des Kapitäns dem
Deutschen Kaiser ein letztes donnerndes Hoch, und der Feuerwerker stimmte
das Fahnenlied an: „Stolz weht die Flagge schwarz — weiß — rot."
Mit dem Kaiserhoch und dem Vaterlandsliebe auf den Lippen fuhren die
Helden samt den Schiffstrümmern in die Tiefe. Von 82 wurden nur
11 lebend an das Land gespült. Ein Denkmal auf Schantung, ein
Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen Flotte und die Bewunderung
der Welt ehren für immer den Mannesmnt und die treudeutsche Ge-
sinnung der Helden vom Iltis. Ihr Lob singt auch das folgende
Lied (Vortrag).
II. Vertiefung. 1. Lagebild: Das Schiff im Sturme. (Jagende
Wolken. Wildkochende gelbe Wogen. Wellenberge und Wellentäler. Grauer
Nebel. Klippen am Ufer. Ein Schiffswrack mit dem Vorderteil auf
einem Felsen gescheitert, das Hinterteil zerbrochen. Alles zertrümmert
und zerfetzt. Matrosen in den Tauen hängend, der Kapitän auf der
Kommandobrücke.)
2. Gedankengang. Das Schiff ächzt im Sturme wie ein Tier
in Todesqual. Der Kapitän sieht seinen Untergang vor Augen. Mutig,
gottergeben, begeistert und ohne Klage bringen er und die Mannschaft dem
Deutschen Kaiser ein donnernd Hoch ans. Mit dem Flaggenliede auf den
Lippen versinken die Helden samt dem Schiffe. Nicht in Heimaterde,
sondern auf dem Meeresgrunde ist ihr Grab. Aber unsterblich ist ihr
Ruhm im Vaterlande. Und Heil dem Vaterlande, daß noch immer solch
jugendliche Helden in allen Stürmen und Tücken treue Wacht halten!
3. Grundgedanke: Wie die Helden vom Iltis, so halten Ger-
manins Söhne furchtlos und pflichttreu, zu Lande und zu Wasser, in
Sturmesnot und Feindestücken, die Wacht und bringen freudig auch ihr
Leben zum Opfer.
At>L II. 8. Aust.
L
17
258
II. Epische Dichtungen.
III. Verwertung in Aufgaben: Schilderung eines Taifun. — Was
sagt das Gedicht a) über den Sturm, b) den Kapitän, o) das Kaiserhoch,
ä) den Flaggengruß und den Untergang, e) das Grab der Helden, I) ihren
unsterblichen Ruhm, g) Germanins Pflicht und Zuversicht?
Vergleiche das Gedicht: B. Die Toten von Samoa von H.
Bierordt (Vaterlandsgesänge)!
1. O klagt nicht, da so sanft wir ruhn
im Schoß des Ozeanes,
hinabgerissen vom Taifun,
den Wirbeln des Orkanes!
2. Und hielten wir auch nicht die
Wacht
am Rhein mit blanker Wehre,
war's auch kein Kampf in offner
Schlacht
für deutschen Herdes Epre;
3. Sind wir auch nicht, das Schwert
zur Hand,
Feind gegen Feind gefallen:
wir starben doch fürs Vaterland
am Riffe der Korallen.
4. Gern hätten wir die Brust gekühlt,
vertrau'nd dem Schlachtenglücke,
eh uns die Flut hinabgespült
in mitternächt'ger Tücke.
5. Ruft Kaiser Wilhelm einst sein Heer
zum ewigen Appelle,
ziehn wir im feuchten Kleid einher,
benetzt vom Schaum der Welle.
6. Wir schließen uns dem Reigen an
der bleichen Heldenscharen,
vorüberschreitend Mann für Mann
in triefend nassen Haaren.
7. Mit Streitern von dem Strand des
Rheins,
von Metz, von Gravelotte
herwallen schimmernden Gebeins
die Toten von der Flotte.
8. Nun schlummern wir in stiller Rast
in tiefem Ozeane.
Auf Meeresgrund noch wogt vom
Mast
des deutschen Reiches Fahne.
I. Zur Erläuterung. Im Hafen von Apia auf der Insel Samoa
brach am Abend des 16. März 1839 ein furchtbarer Taifun los. Er
zerriß die Ankerkette des deutschen Kanonenbootes Eber und schleuderte
es auf ein Korallenriff. Hier ging es mit Mann und Maus unter.
Ähnlich erging es dem Kreuzer Adler. Doch rettete sich ein Teil der
Mannschaft nach schwerem Kampfe mit den Wogen. Die Korvette Olga
widerstand lange dem Sturme, wurde aber endlich auch gegen das Ufer
geschleudert und strandete. Ihre Mannschaft wurde gerettet.
II. Vergleichung. Beide Gedichte preisen die Helden, die bei einem
Taifun im Stillen Ozean ihr Grab in den Meeresfluten fanden. Sie
sind ebenbürtig den Helden, die auf dem Schlachtfelde in Pflicht und
Dienst des Vaterlandes fielen. Ihr Mut, ihre Pflichttreue, ihre Vater-
landsliebe und ihr Heldentod sind begeisternde Muster für die deutsche
Jugend.
In A preisen wir Deutsche mit dem Dichter unsere Seehelden, in
B trösten uns die Toten. A schildert ausführlich den Untergang des
„Iltis", B deutet den Untergang des „Eber" im Wirbelsturme auf den
Korallenklippen um Mitternacht nur an. In A gehen die Helden mit
einem Kaiserhoch unter. In B flattert vom Mast die deutsche Fahne
vom Meeresgrunde als Zeichen der Treue und Reichshoffnung. A führt
uns an das Grab in der Fremde, B zum ewigen Appell (Namensaufruf)
bei der Auferstehung der Toten. P.
uhland: Das Singental.
259
Balladrn> Romanzen und poetische Erzählungen.
104. Das Singental.
Ludwig Uhland. Gedichte und Dramen. Stuttgart, Cotta. 1885. Teil II. S. 208.
I. Vorbereitung. Wo einst vor Jahrtausenden wilder Urwald war,
da dehnen sich jetzt wohlgepflegte Wälder, sorgsam bestellte Felder und
blühende Gärten aus. Wo einst grundlose Sümpfe und Moräste waren,
da sehen wir jetzt grüne Wiesen. Wo einst Bären und Wölfe, Auer-
ochsen und Elentiere hausten, da weiden jetzt friedliche Schaf-, Ziegen-
und Rinderherden. Wo einst nur zerstreute Hütten lagen, da finden wir
jetzt freundliche Dörfer und Städte. Wo einst nur schmale Pfade dilrch
das Dickicht und holprige Wege durch die Ebene führten, da sehen wir
jetzt feste Steinstraßen und eherne Schienenwege. Wo einst nur wilde
Jäger durch die Wälder streiften oder auf der Bärenhaut lagen, tranken
und spielten, da regen jetzt Millionen Menschen im Wetteifer der mannig-
faltigsten Arbeiten die fleißigen Hände. Wie ist das alles so geworden?
Wie haben Land und Leute so ihr Aussehen verändern können? Auf
diese Frage — nach der Entstehung unserer Kulturzustände — gibt
Uhlands Romanze „D a s S i n g e n t a I" eine sinnige Antwort. Hört sie!
II. Stoffdarbietung durch Vorlesen.
1. Der Herzog tief im Walde
am Fuß der Eiche saß,
als singend an der Halde
ein Mägdlein Beeren las;
Erdbeeren kühl und duftig
bot sie dem greisen Mann,
doch ihn umschwebte luftig
noch stets der Töne Bann.
2. „Mit deinem hellen Liede",
so sprach er, „feine Magd,
kam über mich der Friede
nach mancher stürm'schen Jagd.
Die Beeren, die du bringest,
erfrischen wohl den Gaum,
doch singe mehr! du singest
die Seel' in heitern Traum.
3. Ertönt an dieser Eiche
mein Horn von Elfenbein,
in seines Schalls Bereiche
ist all das Waldtal mein;
so weit von jener Birke
dein Lied erklingt rundum,
geb' ich im Talbezirke
dir Erb' und Eigentum."
4- Noch einmal blies der Alte
sein Horn ins Tal hinaus,
in ferner Felsenspalte
verklang's wie Sturmgebraus;
dann sang vom Birkenhügel
des Mägdleins süßer Mund,
als rauschten Engelflügel
ob all dem stillen Grund.
5. Er legt in ihre Hände
den Siegelring zum Pfand:
„Mein Weidwerk hat ein Ende,
vergabt ist dir das Land."
Da nickt ihni Dank die Holde
und eilet froh Waldaus;
sie trägt im Ring von Golde
den frischen Erdbeerstrauß.
6. Als noch des Hornes Brausen
gebot mit finstrer Macht,
da sah man Eber hausen
in tiefer Waldesnacht;
laut bellte dort die Meute,
vor der die Hindin floh,
und fiel die blut'ge Beute,
erscholl ein wild Hallo.
7. Doch seit des Mägdleins Singen
ist ringsum Wiesengrün,
die muntern Lämmer springen,
die Kirschenhaine blühn,
Fkstreigen wird geschlungen
im goldnen Frühlingsstrahl;
und weil das Tal ersungen,
so heißt es Singental.
260
II. Epische Dichtungen.
Erläuterungs- und Sinnfragen. Wie unterscheiden sich die
beiden Hauptpersonen nach Alter, Geschlecht, Aussehen, Aufenthaltsort
und Beschäftigung? — Wie schlugen die Töne des Liedes den greisen
Herzog in ihren Bann und sangen seine Seele in heitern Traum?
Welches war des Schalls Bereich und welcher des Liedes? Warum
wird der Horn schall mit Sturmgebraus und des Mädchens Lied
mit Engelsflügeln verglichen? Wie wird der Siegelring zum
Pfande? Wie wurde der Erdbeerstrauß im Ring von Golde getragen?
Welche Laute hört man im Waldtale zur Zeit der Jagd? Was ist M e u t e,
Hindin, Beute, Hallo? Was sah und hörte man im Waldtale, seit-
dem es von dem Mägdlein ersungen war?
III. Vertiefung. 1. Lagebild. Tiefes Waldtal. Eine gewaltige,
knorrige Eiche im Grunde. Daran gelehnt der greise Herzog im Jagd-
gewande. In der Hand ein elfenbeinern Horn, an einem Finger ein
goldener Siegelring. Sonnige Abhänge mit Erdbeeren. Oben im Tal
Felsspalten. Eine Birke, die weiße Braut des Waldes, auf einem Hügel.
Vor dem Herzog ein liebliches Mädchen, das ihm Erdbeeren reicht.
2. Gliederung und Gedankengang. I. Der fürstliche
Jäger und die singende Beerenleserin: Str. 1. Den jagen-
den Herzog erfreut das Mägdlein durch Erdbeeren und durch Gesang.
Str. 2. Die Erdbeeren laben den Gaumen, aber das Lied beglückt sein
Herz. II. Der Wettkampf zwischen Hornschall und Lieder-
klang. Str. 3. Das Lied vom Birkenhügel macht dem Hornschall die
Herrschaft im Tale streitig. Str. 4. Der Hornschall verbraust in Fels-
klüften, der Liederklang schwebt engelgleich über dem still gewordenen
Grunde. III. Der Besitzwechsel. Str. 5. Mit dem Siegelring über-
gibt der Herzog dem Mägdlein den Jagdgrund als Eigentum. IV. Das
verwandelte Tal. Str. 6. Im Tale verstummt der bisherige Jagd-
lärm. Str. 7. Das ersungene Tal wird eine Stätte der Kultur uud
der Freude.
Grundgedanke: Kunst, Gesittung, fleißiges wirtschaftliches Wal-
ten verwandelt die wilden, einsamen Jagdgründe in Stätten der Kultur,
des Friedens und der Freuds
3. Poetische Schönheiten sind besonders die Gegensätze: der
greise Herzog und die jugendliche Maid; der Jäger und die Beerenleserin;
die Erdbeeren und das Lied als Labemittel für Leib und Seele; der
Hornschall und der Liederklang; die knorrige Eiche im Grunde, die milde
und weiche Birke auf dem Hügel; der Erdbeerstrauß und der Siegelring;
der Jagdgrund und das angebaute Tal; Wild und Herden; Waldnacht
und Frühlingsschein; die flüchtige Hindin und die muntern Lämmer; das
Jagdhallo und der Festreigen. —
IV. Verwertung. 1. Verwandtes und Bekanntes. Chidher
v. Rückert (Bd. III, Nr. 110). (Wie sich die Stätten der Erde wandeln.)
David bannt durch Gesang uud Harfenspiel den bösen Geist in Saul.
Bertran de Born (Bd. III, Nr. 5}. Die Macht des Gesanges, Bd. III,
Hagedorn: Johann der Seifensieder. 261
S- 1—73. Ein schauriges Gegenstück: Die Tochter der Herodias ertanzt
sich das Haupt Johannes' des Täufers.
2. Rede - und Stilübungen. Das Tal als Jagdgrund und als
Kulturstätte (Vergleichung). — Das Tun des Mägdleins als Vorbild
für Mädchen. — Wo und wie hat sich die Macht des Gesanges (in der
Bibel, in der Sage, in der Geschichte und in Gedichten) erwiesen?
?.
103. Johann der Seifensieder.
Friedrich von Hagedorn. Bibliothek deutscher Klassiker. Hildburghausen 1863.
Band III. S. 513. (Etwas gekürzt.)
I. Einführung. Der griechische Fabeldichter Äsopus wurde in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Burkard Waldis (geb. vor 1500
Zu Allendorf an der Werra, gest. 1586 als Pfarrer zu Abterode in Hessen)
mit vielem Geschick nachgeahmt. Ihn haben Hagedorn und Gellert benutzt.
Wie ersterer selbst angibt, hat er aus der 87. Fabel des vierten Buches
des „Esopus“ von B. Waldis, in welcher ein Schuhflicker die Haupt-
person ist, den Stoff zu seinem Gedichte entlehnt: „Johann der Seifen-
sieder."
Johann, der muntres Seifensieder,
erlernte viele schöne Lieder
und sang mit unbesorgtem Sinn
vom Morgen bis zum Abend hin.
Sein Tagwerks konnt' ihm Nahrung
bringen3),
und wenn er aß, so mußt' er singen,
und wenn er sang, so war's mit Lust,
aus vollem Hals und freier Brust.
Beim Morgenbrot, beim Abendessen
blieb Ton und Triller ^) unvergessen!
Der schallte recht, und seine Kraft
durchdrang die halbe Nachbarschaft?)
Mau horcht, man fragt: „Wer frugt
schon wieder?
Wer ist's?" — Der muntre Seifen-
sieder!3)
Es wobntc diesem in der Nähe
ein Sprößling eigennütz'ger EheH,
der, stolz und steif und bürgerlich3),
im Schmausen keinem Fürsten wich9);
der stets zu halben Nächten saß")
(Orig, fraß)
uiti) seiner Wechsel oft vergaß.")
Kaum hatte mit den Morgenstunden
sein erster Schlaf sich eingefunden,
so ließ ihm den Genuß der Ruh
der nahe Sänger nimmer zu.
"Jum Henker! lärmst du dort schon
wieder,
vermaledeiter Seifensieder? 13)
Ach, wäre doch zu meinem Heil
der Schlaf hier wie die Austern
feil.'"")
Den Sänger, den er früh ver-
nommen,
läßt er an einem Morgen kommen")
und spricht: „Mein lustiger Johann"),
wie geht es Euch?16) Wie fangt Jhr's
an?")
Es rühmt ein jeder Eure Ware!")
Sagt, wieviel bringt sie Euch im
Jahre?" —
„Im Jahre, Herr? ") Mir fällt nicht
bei,
wie groß im Jahr mein Vorteil sei?3)
So rechn' ich nicht!") Ein Tag be-
scheret33),
was der, so auf ihn kommt, verzehret:
das folgt33) im Jahr, ich weiß die
Zahl,
dreihundertfünfundsechzig mal." —
„Ganz recht! Doch könnt Ihr mir's
nicht sagen,
was pflegt ein Tag wohl einzu-
tragen?" u)
„Mein Herr, Ihr forschet allzu sehr!
Der eine wenig, mancher mehr,
so wie's denn fällt! jedoch zur Klage
bringt mich nicht mancher33) meiner
Tage."
Dies schien den Reichen zu er-
freun.33)
„Hans," spricht er, „du sollst glücklich
sein.")
Jetzt bist du nur ein schlechter33)
Prahler,
da hast du bare fünfzig Taler,
262
II. Epische Dichtungen.
nur unterlasse den Gesang!
Das Geld hat einen bessern Klang."
Er dankt und schleicht mit scheuem
Blicke,
mit mehr als dieb'scher Furcht zu-
rücke.^)
Er herzt den Beutel, den er hält,
und zählt und wägt und schwenkt das
Geldso),
das Geld, den Ursprung seiner
Freude 31)
und seiner Augen neue Weide.33)
Es wird mit stummer Lust beschaut33)
und einem Kasten anvertraut,
den Band und starke Schlösser hüten,
beim Einbruch Dieben Trotz zu bieten,
den auch der karge Tor bei Nacht
aus banger Vorsicht selbst bewacht.3Z
Sobald sich nur der Haushund reget,
sobald der Kater sich beweget35),
durchsucht er alles, bis er glaubt,
daß ihn kein frecher Dieb beraubt.
Er lernt zuletzt, je mehr er spart36),
wie oft sich Sorg' und Reichtum paartS7)
und manches Zärtlings dunkle Freu-
den 38)
ihn ewig von der Freiheit scheiden39),
die nur in reine Seelen strahlt")
und deren Glück kein Gold bezahlt.")
Dem Nachbar, den er stets gewecket"),
bis er das Geld ihm zugestecket43),
dem stellt er bald aus Lust zur Ruh")
den vollen Beutel wieder zu
und spricht: „Herr, lehrt mich bess're
Sachen"),
als statt des Singens Geld bewachen!
Nehmt immer Euren Beutel hin
und laßt mir meinen frohen Sinn!
Fahrt fort, mich heimlich zu beneiden46),
ich tausche nicht mit Euren Freuden.
Der Himmel hat mich recht geliebt,
der mir die Stimme wieder gibt.")
Was ich gewesen, werd' ich wieder:
Johann, der muntre Seifensieder."
II. Zum Verständnis des Einzelnen. 1. Munter heißt zunächst
soviel als „nicht schläfrig, wach", dann „nicht träge, lebhaft", ferner
„frisch und gesund", endlich auch „heiter, fröhlich" (ja selbst „Frohes
verkündend" Schiller im Ring des Polykrates: Und mit des Lorbeers
muntern Zweigen). Welche Bedeutung hat nun hier munter? Be-
achte V. 3: „mit unbesorgtem Sinn" und die Anrede des Reichen V. 31:
„Mein lustiger Johann"! Johann hatte sich seinen Beinamen erworben,
weil er sang: vom Morgen bis zum Abend hin — den ganzen Tag. —
2. Die tägliche Beschäftigung, die sein Handwerk mit sich brachte, —
3. brachte ihm so viel ein, daß er auskam und ohne Kummer und
Sorge leben konnte, daher er auch sang „mit unbesorgtem Sinn". —
4. Die mehrmalige geschwinde Abwechselung zweier Töne. — Von welchem
Vogel pflegt man zumeist zu sagen: er trillert in den Lüften? — 5. Die
meisten seiner Nachbarn hörten ihn. — 6. Hier folgen im Original die
folgenden Verse, die einen Blick auf die Sitten und Bestrebungen der
Zeit werfen: „Im Lesen war er anfangs schwach; er las nichts als den
Almanach: doch lernt' er auch nach Jahren beten, die Ordnung nicht zu
übertreten. Und schlief, dem Nachbar gleich zu sein, oft singend, öfter
lesend ein. Er schien fast glücklicher zu preisen als die berufnen sieben
Weisen, als manches Haupt gelehrter Welt, das sich schon für den achten
hält." — 7. Reicher Eltern Kind. „Ein Sprößling eigennütz'ger Ehe",
d. h. der Sohn von Eltern, die sich aus Eigennutz, um des Geldes
willen geheiratet hatten. — 8. Geldstolz, gezwungen (in Stellung und
Gebärde), um vornehm zu erscheinen, um für was Rechtes gehalten.zu
werden, keineswegs adlig, sondern wie der Seifensieder dem Bürgerstande
angehörig. — 9. Ihm nichts im Essen und Trinken nachgab, nicht weniger
leistete. — 10. Bis spät in die Nacht hinein. Es war ein sogenannter
Gutschmecker, der so seine Speisen kannte und verzehrte, wie solche sonst
Hagedorn: Johann der Seifensieder.
263
nur Fürsten zukominen. Sein Wunsch V. 28 zeigt, daß ihm z. B. Austern
nicht unbekannt waren, sondern daß er sich diesen Genuß wohl öfters
gönnte. — 11. Im Original stehen statt der letzten 2 die folgenden
4 Zeilen: „Ein Garkoch richtender Verwandten, der Schwäger, Vettern,
Nichten, Tanten, der stets zu halben Nächten fraß und seiner Wechsel
oft vergaß." Er lud — gleichsam als Garkoch — zu seinen üppigen
Gastmählern seine Verwandten ein, die mit ihren bösen Zungen alles
bekrittelten. Er schwelgte halbe Nächte hindurch und machte leichtsinnig
Schulden. — 12. Er ist über Johann so ärgerlich, daß er ihn verflucht
(vermaledeit) und zum Henker (an den Galgen) wünscht, seinen Gesang
aber nur Lärm und Geschrei nennt. — 13. Wäre der Schlaf, wenn
imlnerhin auch teuer, so doch wenigstens für Geld zu haben, zu erkaufen
möglich! — 14. Schon längst hatte er darüber nachgedacht, wie er den
Sänger, der sich intmer so früh hören ließ, zur Ruhe bringen könnte;
jetzt hatte er endlich das rechte Mittel gefunden. — 15. Der Zweck, den
er verfolgt, liegt ihm so sehr am Herzen und so stark im Sinne, daß er
durch seine Anrede doch bald zu erkennen gibt, weshalb er den Johann
habe zu sich kommen lassen. — 16. Ist seine Freundlichkeit und Teil-
nahme eine offene und ehrliche, wohlmeinende? — 17. So sorgenfrei und
lustig leben zu können. — 18. Selbst zur Schmeichelei nimmt der reiche
Mann seine Zuflucht, um 'Johann für sich zu gewinnen. — 19. Die
Frage überrascht den Seifensieder, weil er bisher ganz zufrieden war,
daß ihin sein Handwerk den nötigen Unterhalt gab und daher keine
ängstliche Sorge für die Zukunft aufkommen ließ. — 20. Wie die Jahres-
einnahme ausfällt, welches Ergebnis sich in bezug auf meine Einnahme
jährlich herausstellt. — 21. Er hat noch nie sich veranlaßt gesehen, sich
eine derartige Frage vorzulegen. — 22. Ich bin zufrieden, wenn ich einen
jeden Tag soviel einnehme, als ich am folgenden Tage auszugeben nötig
habe; ich will nichts zurücklegen, sondern nur mein Auskommen haben.
— 23. Da dies 365 mal erfolgt — geschieht, so komme ich eben das ganze
Jahr aus, habe jeden Tag im Jahre mein Auskommen. — 24. Wie
groß ist die Tageseinnahme? Der Reiche hat nicht jeden Tag eine be-
sondere Einnahme, sondern kann sich seine Tageseinnahme nur nach der
Höhe der jährlich einzunehmenden Zinsen seines Kapitals berechnen. An-
ders rechnet also Johann, anders der Reiche. — 25. Selten, ja nie ver-
anlaßt mich ein Tag zur Klage, denn ich bin zufrieden, wenn ein Tag
bescheret, was der folgende verzehret. Im Original stehen statt der letzten
zwei Zeilen die folgenden sechs: „So wie's denn fällt: Mich zwingt zur
Klage uichts als die vielen Feiertage, und wer sie alle rot gefärbt, der
hatte wohl. wie Ihr geerbt; dem war die Arbeit sehr zuwider, der war
gewiß kein Seifensieder." — 26. Er stellte sich so, als ob er über Johanns
Anspruchslosigkeit erfreut sei, tatsächlich aber war es ihm angenehm, zu
hören, daß die Einnahme Johanns keine bedeutende war, denn er konnte
nun um so eher hoffen, seinen Zweck zu erreichen. — 27. Bisher hat
er Johann mit „ihr" angeredet, jetzt plötzlich mit „du"; er will einer-
seits dadurch größeres Vertrauen erwecken, andererseits zeigt er, wie er
264
II. Epische Dichtungen.
bereits von dem stolzen Siegesbewußtsein erfüllt ist, sein Plan könne
nicht mehr fehlschlagen. Nach des Reichen Ansicht macht nur der Besitz
des Geldes glücklich; er hält daher den Johann für einen Prahler, der
mit seiner Zufriedenheit sich nur brüste, sich selbst und andere nur täusche.
— 28. Schlichter — das Eigenschaftswort statt des Umstandswortes:
lediglich, schlechterdings, du prahlst ja doch nur. — 29. Es überkommt
ihn ein so drückendes Gefühl, daß er sich schlimmer vorkommt als ein
Dieb, daß er alle sichere Haltung verliert und unbemerkt nach Hause zu
kommen sucht. — 30. Zu Hause angekommen, gibt er sich übergroßer,
ungemessener, kindischer Freude hin, die der Dichter durch das Poly-
syndeton (Häufung von Bindewörtern) trefflich malt (vgl. Schillers:
,,Und es wallet und siedet und brauset und zischt), zumal in unmittel-
barer Verbindung mit der Epanalepsis (Wiederholung von Wörtern oder
Satzteilen innerhalb eines Satzes oder Verses): schwenkt das Geld, das
Geld. — 31. Das Geld macht ihm nicht nur an und für sich große
Freude, sondern er denkt auch daran, ivie es das Mittel sei, sich Freuden
zu verschaffen. — 32. Nach dieser Überlegung gibt er sich immer anss
neue dem bisher ungewohnten, freudigen Anblick der Geldstücke hin. —
33. Er ist in den Anblick so vertieft und versunken, daß er keinen Laut
von sich gibt. — 34. Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz; das
Herz des plötzlich zum kargen (geizigen) Toren gewordenen Mannes ist
von Besorgnis erregt, sein Schatz könne ihm entwendet werden. —
35. Beiin geringsten Geräusch meint er, dieses werde durch den Einbruch
der Diebe verursacht. Im Originale folgt hier: „Bis oft gestoßen, oft
geschmissen, sich endlich beide packen müssen: sein Mops, der keiner Kunst
vergaß und wedelnd bei dem Kessel saß! sein Hinz, der Liebling junger
Katzen, so glatt von Fell, so weich von Tatzen!" — 36. Je länger er
das Geld in Verwahrung hält; er hatte ja sein Auskommen, brauchte das
Geld also nicht anzugreifen, sondern nur wie Erspartes hinzulegen. —
37. Mit deni Reichwerden stellen sich auch sofort die Sorgen ein. —
38. Der Geizige hat seine größte Freude nur hinter verschlossenen Türen
und Fenstern; nur da kann er sich ungestört seiner Augenweide hingeben,
die er auch im dunklen Kasten ruhen läßt, weil er bei jeder Berührung
des Geldes schon eine Verringerung desselben ängstlich befürchtet. Außer-
dem sind die Freuden des Geizhalses und Wucherers durch den Gedanken
getrübt (verdunkelt), wie viele Tränen der Armut wohl an jedem seiner
Goldstücke hängen. Ein Zärtling oder Weichling ist jeder, der seine
Begierden nicht zähmen kann, sondern ihr willenloser Sklave wird. —
39. Das fortwährende Bewachen, die stete Angst vor Verlust irgendwelcher
Art, die nie ruhende Sorge um Vergrößerung des Schatzes rauben jede
Spur von Freiheit und machen den Menschen zum Sklaven seiner selbst.
— 40. Die von Geiz, Habsucht und andern Lastern frei sind. — 41. Frie-
den in sich und um sich. — 42. Durch seinen Gesang. — 43. Bis dahin,
als dieser ihm das Schweigegeld aufgedrungen. — 44. Zu der Ruhe,
die aus der Zufriedenheit entspringt. — 45. Ein Vorwurf. — 46. Johann
sah jetzt ein, daß der reiche Nachbar nicht vom Wohlwollen, sondern nur
Kopisch: Maley und Malone.
265
iw, Neid und Mißgunst gegen ihn erfüllt gewesen war. — 47. Ich danke
Gott, daß er mich zu der rechten Erkenntnis hat kommen lassen, und daß
ich meine Stimme, d. h. den unbeschränkten Gebrauch derselben, zu frohem
Gesänge, wieder habe.
III. Gliederung und Grundgedanke. 1. Der arme, aber sorgen-
lose, sangeslustige Johann (V. 1—14) und der reiche, schwelgerische
Nachbar (V. 15—28). 2. Die verkaufte Sangeslust (S. 29—52).
3. Der sorgengeplagte, stille Johann (V. 53—73). 4. Der wieder freie,
sorgenlose und sangeslustige Johann (V. 74—89).
Grundgedanke: Reichtum ist nicht das größte Glück auf Erden;
höheren Wert haben Zufriedenheit und Frohsinn.
IV. Zum Vergleich. Welches Lied aus dem Lesebuche würdest du
dem munteren Seifensieder vor allem empfehlen? „Was frag' ich viel
nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin!" — Der Seifensieder spricht:
„Herr, lehrt mich bess're Sachen!" Der lockige Knab' im Holzhacker von
Chr. Schund: „Ich wollte, du hättest was Bess'res begehrt." — Der
Seifensieder will nicht noch länger „Gold bewachen". Der Schatzgräber
(in Goethes Gedicht) erhält die Weisung:
„Grabe hier nicht mehr vergebens! Tages Arbeit! Abends Gäste!
Saure Wochen! frohe Feste! sei dein künftig Zauberwort."
Dies heißt nämlich: Arbeit und Erholung in richtigem Wechsel sei
die Grundlage deiner Zufriedenheit, das „künftige Zauberwort" deines
Glückes. Dr- Regent.
106. I Maley und Malone.
August Kopisch. Gesammelte Werke, Bd. I. Berlin 1865. S. 257.
1. Auf einer Insel im Meere Z,
da lebten der Hirten zwei,
der eine hieß Malone,
der andre hieß Maley.
2. Sie hatten eine Herde
von Schafen beid' ererbt 2),
die Erbschaft hat Malonen
so wie Maleyn verderbt?)
3. Erst trieben sie zusammen^),
doch wie im Kriege ging's^):
der wollte rechtshin treiben,
der trieb dann wieder links.
4. Und endlich kam's zum Teilen,
da blieb zuletzt ein Schaf;
der Zank um dieses brachte
sie erst um Ruh' und Schlafs)
7. „„So scher' ich meine Seite,
scher du die andre dann!""
Malone wollt's nicht leiden,
doch hat's Maley getan.
8. Nun fiel das Schaf vom Winde
in einen Felsenspalt,
man zog es vor am Morgen,
da war es tot und kalt.
5. Malone wollt' es schlachten:
„Wir haun es dann entzwei!"
„„Erst soll es Wolle geben!""
behauptete Maleh.
6. Maley bedurfte Strümpfe:
„„Komm, scheren wir es heut!''
Malone meint', es wäre
zum Scheren nicht die Zeit.
9. „Maley, das Schaf erfror da,
weil du's geschoren hast!"
„ „ Nein,"" sprach Maley, „es stürzte,
weil es der Sturm gefaßt.
10. Hätt'st du es auch geschoren,
so faßte Sturm es nicht.
Und, faßt' er's auch, es hielt sich
doch mehr im Gleichgewicht.""?)
11. Sie gehen vor die Richter
und klagen mit großem Schall?)—
„Ei", sagten da die Herren,
„Welch int'ressanter Fall!"^
12. Sie schlugen nach die Bücher,")
man zankte manch ein Jahr,
bis Maley und Malone
ohne Schafe und Wolle war.")
266
II. Epische Dichtungen.
1. Jniskea bei Irland. 2. Bon einem gemeinsamen Verwandten.
3. Die Erbschaft hat sie um Besitz, Frieden, Glück und Freundschaft ge-
bracht. 4. Sie hüteten gemeinsam die vereinigte Herde. 5. Im Kriege
sucht ein Gegner die Pläne des andern zu durchkreuzen und zu vereiteln.
6. Bei innerer Entzweiung gibt die geringste Sache Gelegenheit zu Streit.
7. Einer macht dem andern Vorwürfe und schiebt ihm die Schuld an
den Unfällen zu, will aber selbst keineu Anteil an der Schuld haben.
Das ist die beste Weise, nie aus Zank und Streit herauszukommen.
8. Sie bringen ihre Klagen mit lauten und vielen Worten an. 9. Die
Richter sind erstaunt und erfreut über den verwickelten Rechtsfall, fragen
aber nichts nach dem Seelenzustande der beiden Kläger. 10. Sie suchten
in allen möglichen alten und neuen Rechtsbüchern, ob ein ähnlicher Fall
schon vorgekommen und wie er entschieden worden sei. 11. Der Prozeß
dauerte so lange und kostete so viel, daß die beiden Gegner zuletzt um
Hab und Gut kamen.
II. Der kluge Richter.
Joh. Peter Hebel. Werke. Berlin 1869. G. Grote. Bd. I. S. 207. -
Daß nickt alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, das
haben wir schon einmal gehört. Auch folgende Begebenheit soll sich da-
selbst zugetragen haben usw. (Da die Erzählung fast in allen Lesebüchern
steht, so möge hier eine Inhaltsangabe genügen!)
Ein Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme verloren, die in ein Tuch
eingenäht war. Er versprach dem Finder, der sie wiederbringen würde, eine
Belohnung von 100 Talern. Ein ehrlicher Mann brachte das gefundene
Päckchen. Der schelmische Verlierer wollte den Finder um die verheißene Be-
lohnung bringen: er öffnete darum das Päckchen, zählte das Geld und sprach:
„Es waren 800 Taler eingenäht, ich finde aber nur 700; ihr werdet also eine
Naht aufgetrennt und eure 100 Taler gleich herausgenommen haben; das ist
recht; ich danke!" Dem Finder lag weniger an dem Gelde als an seinem guten
Rufe; er sprach deshalb: „Nein, das habe ich nicht getan. Ich bringe das
Päckchen genau so, wie ich's gesunden habe!" Zuletzt brachten sie ihren Streit
vor den Richter. Dieser erkannte die ehrliche Gesinnung des Finders und die
spitzbübische des Verlierers und entschied kurz und gut: „Da jener 800 Taler
verloren, dieser nur 700 Taler gefunden hat, so kann das Päcklein nicht das
nämliche sein. Warte du, Verlierer, also geduldig, bis sich der Finder von
deinen 800 Talern meldet; du aber, ehrlicher Finder, behältst das Geld, bis
der Verlierer der 700 Taler kommt." Bei diesem Urteilspruche blieb es.
1. Vertiefung. 1. Hauptinhalt und Ähnlichkeiten. Zwei
Männer geraten in Streit, suchen ihre Zuflucht vor Gericht und werden
durch einen unerwarteten Ausgang überrascht.
2. Schauplatz. Das erste Ereignis soll sich aus einer kleinen Insel
bei Irland, das andere im Morgenlande zugetragen haben.
3. PersonenundGedankengang:JnI sind die Personen zwei
Hirten und ein Richterkollegium, in II ein Verlierer, ein Finder und ein
Richter. In I sind die Hauptpersonen gute Bekannte, die sich über eine
Erbschaft entzweien, in II ein paar Fremde, die durch einen Fund in
Berührung kommen. Die strittigen Gegenstände sind: in I ein Schaf
Hebel: Der kluge Richter.
267
von einer ganzen Herde, in II 100 Taler aus einem Päckchen von
800 Talern. In I wird das Schaf geschoren, vom Sturm in den Ab-
grund geworfen und vom Frost getötet, in II das Geld eingenäht,
verloren, gefunden und wiedergebracht. In I gibt einer dem andern den
Tod des Schafes Schuld; in II beschuldigt der Eigentümer den Finder,
eine Naht aufgetrennt und 100 Taler herausgenommen zu haben, der
Finder aber bestreitet dies und beteuert seine Ehrlichkeit. In I haben
die Richter nur Interesse für den Rechtsfall; in II hat der Richter In-
teresse für die Gesinnung der beiden Kläger. In I werden die Rechts-
bücher aufgeschlagen und der Prozeß in die Länge gezogen; in II ent-
scheidet der Richter kurz und rasch nach seinem Rechtsgefühle. In I
verlieren die beiden streitsüchtigen Kläger Hab und Gut; in II wird der
unehrliche Finder durch den Verlust seines Geldes bestraft, der ehrliche
Finder durch die gefundene Geldsumme belohnt.
4. Nutzanwendung. In I: Ein magerer Vergleich ist besser als
ein fetter Prozeß. Jeder Prozeß ist zu teuer; wenigstens raubt er uns
Frieden und Glück. Friede ernährt, und Unfriede verzehrt. In II: Ehr-
lich währt am längsten, und Untreue schlägt ihren eigenen Herrn. Wer zu
viel gewinnen will, verliert oft alles. Geiz ist eine Wurzel alles Übels.
II. Rede- und Stilübungen. 1. Suche aus der biblischen Geschichte
und dem Lesebuche Beispiele von Friedfertigkeit und Streitsucht, von Un-
eigennützigkeit und Eigennutz, von ehrlicher und betrügerischer Gesinnung,
von Prozessen und Vergleichen! 2. Vergleiche den
„Prozeß um des Esels Schatten".
Nach: Wieland in den „Abderiten".
Die Stadt Abdera in Thracien war im Altertume durch ihre einfältigen
und lustigen Streiche bekannt wie in Deutschland Schöppenstedt und Schilda.
Zu den lustigsten Geschichten gehört der Prozeß um den Schatten des Esels.
Ein Zahnarzt, der auf alle Märkte zog, mietete eines Tages für ein be-
stimmtes Geld einen Esel als Reittier. Der Besitzer begleitete ihn, um das
Tier abends heimzubringen. Der Weg ging in der Sonnenglut über eine dürre
Heide. Der Reiter lechzte nach Erquickung, aber kein Baum noch Strauch
spendete Schatten. Da hielt er den Esel an> stieg ab und setzte sich in den
Schatten des Esels. „Was macht ihr da?" fragte der Eseltreiber. „Ich ruhe
ein wenig im Schatten des Esels, denn die Hitze will mir den Schädel spren-
gen!" antwortete der Zahnarzt. „Ja, dann müßt ihr dafür apart bezahlen!
Ich habe euch zwar den Esel, nicht aber seinen Schatten vermietet!" rief jener.
„Was?" schrie der Zahnarzt, „ich habe den Esel und damit auch seinen
Schatten bezahlt, denn der Schatten gehört zum Esel, und ich werde mich sein
erfreuen, solange es mir gefällt!" „So?" rief der Eseltreiber, „das wollen
wir doch sehen! da müßte ja keine Gerechtigkeit in der Welt sein! Kommt vor
die Obrigkeit von Abdera, da werden wir sehen, wer recht hat!" Damit riß
der starke Mann den Esel herum, und wohl öder übel folgte ihm der schwächere
Zahnarzt vor den Richter von Abdera. Und nun hob ein langwieriger, bitter-
böser Prozeß an, in dem die Advokaten und Richter alle Kunst und Gelehrsam-
keit ausboten, die ganze Stadt aber sich in zwei Parteien, die „Esel" und die
„Schatten", spaltete. Der Frieden unter den Bürgern war zerstört und aller
Verkehr gelähmt. Endlich nahte der Tag der letzten Entscheidung. Alles ver-
sammelte sich in höchster Aufregung im Gerichtssaale. Der verhängsnisvolle
268
IT. Epische Dichtungen.
Esel wurde hereingeführt. „Da ist der unglückselige Esel, der uns alle zu-
grunde richtet! Auf ihn! Er soll die Zeche bezahlen!" schrie ein Kesselflicker.
Alles stürzte auf den Esel und zerriß ihn in tausend Stücke. Schadeil und
Kosten wurden aus dem Stadtsäckel bestritten, und der böse Prozeß hatte ein
Ende. Allmählich beruhigten sich die empörten und entzweiten Gemüter. —
P.
107* Das Pferd als Kläger. (Um 1370 n. Chr.)
Karl Joseph Simrock. Gedichte. Leipzig, 1844.
I. Vorbereitung. „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes, aber das
Herz der Gottlosen ist unbarmherzig." Der Mensch darf die Tiere in
seinem Dienste gebrauchen, aber er darf sie nicht quälen. Treue Dienste
darf er nicht vergessen, sondern er muß sie lohnen. Undankbarkeit, auch
gegen Tiere, schändet jeden Menschen. In unserer Zeit haben sich überall
Vereine gegen die Tierquälerei und für den Schutz und die Pflege der
Tiere gebildet. Ja, das Gesetz nimmt die Tiere in seinen Schutz und
bestraft die Tierquäler. Ein Beispiel von Undank gegen Tiere und von
gerechter Bestrafung desselben erzählt eine Sage aus der Zeit Karls
des Weisen von Frankreich (1356—1388). Sie warnt noch heute vor
dem Undank gegen Tiere und bedroht den Tierquäler mit der verdienten
Strafe. Der Dichter Simrock hat die Sage poetisch behandelt und sie
in die Form einer Gerichtsverhandlung eingekleidet. Der Kläger
ist ein lahmes und blindes Roß, der Verklagte ein vornehmer Ritter.
1. In jenen Zeiten, die wir preisen,
davon noch gern die Sage spricht,
da hielt mit König Karl, dem
Weisen,
als Schöffe mancher Held Gericht.
2. Ein Glöckchen hing im Waldes-
schatten,
man hört' im Schlosse, wenn es
klang;
da kamen, die zu klagen hatten,
und zogen an der Glocke Strang.
3. „Wohlauf, das Glöckchen hör' ich
schallen;
laßt schauen, wer Gerichts be-
gehrt!"
Sie traten aus des Schlosses
Hallen,
da zog den Strick ein lahmes
Pferd.
4. „Das ist ein wunderlicher Kläger;
wer will dem Stummen Stimme
leihn?
Der Armen und der Waisen
Pfleger-
du, Eckart, sollst sein Anwalt
sein!" —
„Der besten Redner bin ich keiner,
Eckart ist allem Hader feind.
Hier, Eurer Ritter ist es einer,
den dieses Tieres Klage meint.
6. Es hat ihn feurig einst getragen
von Schlacht zu Schlacht, von Sieg
zu Sieg;
man sah es stolz die Schwelle
schlagen,
wenn er's im Wasfenschmuck be-
stieg.
7. Die Ehre dankt er hohem Streben,
er dankt den Ruhm dem tapfern
Arm;
dem Rosse schuldet er das Leben:
es trug ihn aus der Feinde
Schwarm.
8. Da gab er ihm viel Schmeichel-
namen
und Leckerbissen mannigfalt;
doch Jahre gingen, Jahre kamen,
auch dieses edle Roß ward alt.
9. Run lahmt sein Fuß zu raschem
Lause,
blind schwankt es an der Grube
Rand;
II. Stoffdarbietung durch guten Vortrag.
Simrock: Das Pferd als Kläger.
269
da gönnt er ihm vor seiner Raufe,
vor seiner Krippe keinen Stand.
10. Es irrt, aus seinem Stall ver-
wiesen,
umher und sucht ein Hälmchen
Stroh,
und niemand ist auf Feld und
Wiesen
des ungebetenen Gastes froh.
11. Gescheucht, geworfen und ge-
schlagen,
lief es hierher und fand den
Strang;
der Hunger trieb's, ihn zu be-
nagen,
bis diese Glocke sich erschwang.
12. Die Glocke fühlte mit dem Armen,
ihr war der schnöde Undank leid,
zum Himmel rief sie um Er-
barmen,
zum König um Gerechtigkeit.
13. Ihr weisen Richter mögt erkennen,
was diesem edlen Tier gebührt;
den Ritter will ich nicht benennen,
ich warn' ihn nur, daß er's voll-
führt."
14. Da rief der letzte wie der erste,
da rief der schuld'ge Ritter auch:
„Bis an den Bauch in goldne
Gerste,
in goldues Korn bis an den
Bauch!"
Erläuterungssragen: Warum preisen wir die sagenhaften
Zeiten des Mittelalters? Wie war es damals jedem möglich, sich Ge-
rechtigkeit zu verschaffen? Was hat der König Karl, was der Anwalt
Eckart, was der Gerichtshof gefugt? Was hat ein Anwalt zu tun?
Waruni nennt sich Eckart keinen guten Redner? (Er liebt den Frieden,
will niemand kränken und scheut deshalb die Anklage.) Woher wußte er
die Geschichte des Pferdes? Wie schlug das Roß stolz die Schwelle?
Wie dankte der Ritter die Ehre seinem Streben, den Ruhm seinem Arm
und sein Leben dem Rosse? Nenne einige Schmeichelnamen und
einige der mannigfachen Leckerbissen! Warum verlor das Roß
des Ritters Gunst? Wie zeigte er seine Härte und Undankbarkeit? Warum
war niemand des ungebetenen Gastes froh? Welche Steigerung
liegt in scheuchen, werfen und schlagen? Wie wird die Glocke als
Person behandelt? Um was ries sie Gott, um was den König an? Worin
sollte das Erbarmen des Himmels und die Gerechtigkeit des Königs be-
stehen? Wie „erkennen" die Richter? (Sie erkennen Recht und Un-
recht und fällen ein Erkenntnis oder Urteil.) Wozu mahnt der Anwalt
den ungenannter:, aber bekannten Ritter? („Daß er's vollführt", d. h. daß
er der: Richterspruch ausführt, widrigenfalls das Auge der Gerechtigkeit
ihn finden und der Arm der Gerechtigkeit ihn treffen wird.) Wer ist
der erste, wer der letzte Richter? (Der jüngste wie der älteste, der geringste
wie der vornehmste.) Was muß man sich zu dem Richterspruche hinzu
denken, anknüpfend an „gebührt"?
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Ein Wald in der Nähe des könig-
lichen Schlosses. Ein offenes Glockenhaus. Oben die schwingende Glocke,
unten der herabhängende Strang. Ein lahmes, blindes und abgemagertes
Roß hält den Strick im Maule und zerrt daran. Umher stehen der
König als Richter, die Ritter als Schöffen und Eckart als Anwalt in
der Nähe des blinden Rosses. Er hat die Hand erhoben und die Augen
nach oben gerichtet.
2. Gliederung und Gedankengang. I. Der Gerichtshof
Str. 1 und 2. II. Der Kläger und sein Anwalt Str, 3 und 4.
270
II. Epische Dichtungen.
III. Der Beklagte Str. 5—8. IV. Die Klage Str. 9—12. V. Der
Strafantrag Str. 12 und 13. VI. Der Richterspruch Str. 14.
Kurzer Inhalt: Str. 1: König Karl der Weise hielt selbst Gericht
mit seinen ritterlichen Schöffen. Str. 2: Jeder Kläger durste die Klage-
glocke im Walde beim Schlosse ziehen und so die Richter zusammenrufen.
Str. 3: Einst tönte die Klageglocke; die Richter kamen und sahen ein
lahmes und blindes Roß den Strick ziehen. Str. 4: Eckart, der Waisen-
pfleger, wurde als Anwalt des stummen Klägers bestellt. Str. 5: Er
wollte als friedlicher Mann den Verklagten nicht nennen, kannte ihn aber.
Str. 6: Das stolze Roß hatte ihn oft in die Schlacht und zum Siege
getragen. Str. 7: Einmal rettete es ihm durch Schnelligkeit das Leben.
Str. 8: Der anfängliche Dank wurde endlich vergessen. Str. 9: Das
erblindete und gelähmte Pferd jagte man aus dem Stalle. Str. 10:
Hungrig und mißhandelt irrte es umher. Str. 11: So kam es ins offene
Glockenhaus und benagte den Strick. Str. 12: Die Glocke ertönte, rief
die Richter und bat um Erbarmen und Gerechtigkeit für das blinde Roß.
Str. 13: Der Anwalt bat die Richter um günstigen Spruch, mahnte den
Verklagten, ihn auszuführen, und warnte vor Unterlassung. Str. 14:
Einstimmig wurde dem blinden Kläger die sorgfältigste Pflege durch den
Verklagten zugesprochen.
3. Charakterzeichnung. Wie zeigt sich der Gerichtshof allen
zu gänzlich, der König gerecht, der Kläger bejammernswert,
der Anwalt mutig, warmherzig und rücksichtsvoll, die Klage
wohlbegründet, der Beklagte beschämt und reuevoll, das
Schöffengericht einsichtig, wohlwollend und gerecht?
IV. Verwertung in Aufgaben. Erzähle die Sage in Prosa und setze
statt Wald eine Stadt, statt des Ritters einen Kaufmann, statt des
Kriegsrittes einen Ritt durch den Wald und eine Rettung aus Räu-
berhänden, statt des Alters eine Erhitzung und Erkältung als
Ursache der Erblindung! Suche verwandte Beispiele vom Undank
und seiner Strafe! — Gib Beispiele von Diensten und von der Dank-
barkeit der Tiere an, so vom Löwen des Androklus! — Vergleiche die
Femgerichte mit der Klageglocke! — Wie zeigt sich das gottlose
und wie das barmherzige Gemüt gegen die Tiere? P.
108. A. Lied eines Armen.
L. Uhland, Werke. Berlin 1863. I. 15.
1. Ich bin so gar ein armer Mann Ich möchte wohl nur einmal noch
und gehe ganz allein. recht frohen Mutes sein usw.
(Das Gedicht findet sich in vielen Lesebüchern.)
I- Einführung in Stoff und SUmmung. Dieses Lied führt uns die
Klage und den Trost eines Armen vor.
A. Die Klage Str. 1—4. Der arme Mann beklagt, a) „daß er
allein geht", d. h. weder Freunde noch Verwandte hat, „Geteilter Schmerz
Uhland: Lied eines Armen.
271
ist halber Schmerz"; b) daß er sich vergeblich „frohen Mut" wünscht;
o) daß er nach einer frohen Jugend früh die Eltern verlor und seitdem
nichts als Kummer fand; 6) daß er überall reiche und glückliche Besitzer
von Gärten und Feldern sieht, selbst aber nichts besitzt als den unfrucht-
baren Weg, auf dem die Menschen in Mühen und Sorgen hin und her
rennen. „Etliches fiel auf den Weg und ward zertreten"; e) daß er
auch im Kreise froher Menschen eines stillen Wehs nicht Herr werden kann.
B. Der Trost Str. 4—8. Der Arme hat auch seine bescheidenen
Freuden: a) Neidlos bewegt er sich im Kreise froher Menschen und grüßt
sie herzlich; b) im Gebete findet er Trost und Freude von oben; o) in
der Kirche freut er sich am Orgelklang und Chorgesang; ä) der gestirnte
Himmel wird ihm zu einer Zwiesprache mit Gott; e) er hofft, daß sich
einst der himmlische Freudensaal seiner Sehnsucht öffnen soll. So findet
er Trost bei Gott im Gebete, im Gotteshause, in der Natur
und in der Hoffnung auf den Himmel.
II. Vertiefung. 1. Lagebild: Der Arme an einem Sonntagabend.
(Ein Dörflein im Schmuck der Gärten und umgeben von goldenen Saat-
feldern. Die Kirche mit dem Turm erhebt sich über die Häuser. Orgel-
klang und Gesang ertönt. Frohe Menschen ergehen sich im Freien. Ein
ärmlich gekleideter Wanderer steht mit kummervollem Antlitz auf dem fest-
getretenen Wege. Sein Haupt ist entblößt, sein Auge zum Himmel auf-
gerichtet; seine Hände sind gefaltet. Im Westen sinkt die Sonne, und im
Osten steigt der Mond auf.
2. Charakter d e s A r m e n. Er ist a r m, denn nur der harte Weg
gehört ihm. Einsam, ohne Freunde und Verwandte, geht er durchs
Leben. Neidlos sieht er fremdes Glück. Bescheiden ist er zufrieden
mit dem Lose, das ihm Gott beschieden. Nicht verbittert ist sein
Gemüt, sondern nur wehmütig gestimmt. Höflich und herzlich
grüßt er jeden Begegnenden. Gottergeben trägt er sein Geschick.
Fromm betet er, und fleißig besucht er die Kirche. Hoffnungsfroh
tröstet er sich der Seligkeit des Himmels.
3. Gliederung des Inhalts. I. Teil. Die Klage des
Armen- (Str. 1—4.) Str. 1. Verlassensein und Freudenlosigkeit. Str. 2.
Sein jetziges und sein früheres Los. Str. 3. Seine Armut und anderer
Reichtum. Str. 4. Seine neidlose Stimmung.
II. Teil. (Str. 5—8.) Der Trost des Armen. Str. 5. Der
Gedanke an Gott. Str. 6. Die Teilnahme am Gottesdienste. Str. 7.
Der Blick auf das Himmelszelt. Str. 8. Die Hoffnung auf ein schöneres
Leben nach dem Tode.
III. Verwertung. 1. Rede- und Stilübungen. Die Lebens-
geschichte des Armen (Eine Erzählung.) 2. Was beklagt der Arme? 3. Was
tröstet ihn? 4. Die Gegensätze des Einst und Jetzt in seinem Leben! 5. Ver-
gleichung des folgenden Gedichts! W. D., umgearbeitet von P.
272
If. Epische Dichtungen.
B. Der Bettler und sein Hund
A. v. Chamisso. Werke. Berlin 1879. S. 209.
1. „Drei Taler erlegen für meinen
Hund?
So schlage das Wetter mich gleich in
den Grund!
Was denken die Herrn von der Polizei?
Was soll nun wieder die Schinderei?
2. Ich bin ein alter, ein kranker
Mann,
der keinen Groschen verdienen kann;
ich habe nicht Geld, ich habe nicht Brot,
ich lebe ja nur von Hunger und Not.
3. Und wann ich erkrankt, und wann
ich verarmt,
wer hat sich da noch meiner erbarmt?
Wer hat sich, warm ich auf Gottes
Welt
allein mich fand, zu mir gesellt?
4/Wer hat mich geliebt, wann ich
mich gehärmt?
Wer, wann ich fror, hat mich ge-
wärmt?
Wer hat mit mir, wann ich hungrig
gemurrt,
getrost gehungert und nicht geknurrt?
5. Es geht zur Neige mit uns zwei'n,
es muß, mein Tier, geschieden sein;
du bist, wie ich, nun alt und krank,
ich soll dich ersäufen, das ist der Dank.
6. Das ist der Dank, das ist derLohn!
Dir geht's wie manchen! Erdensohn.
Zum Teufel! Ich war bei mancher
Schlacht,
den Henker hab'ich noch nicht gemacht.
7. Das ist der Strick, das ist der
Stein,
das ist das Wasser —es muß ja sein!
Komm her, du Köter, und sieh mich
nicht an!
Nur noch ein Fußstoß, so ist's getan."
8. Wie er in die Schlinge den Hals
ihm gesteckt,
hat wedelnd der Hund die Hand ihm
geleckt;
da zog er die Schlinge sogleich zurück
und warf sie schnell um sein eigen
Genick;
9. lind tat einen Fluch gar schau-
derhaft
und raffte zusammen die letzte Kraft
und stürzt' in die Flut sich, die tönend
stieg,
im Kreise sich zog und über ihm
schwieg.
10. Wohl sprang der Hund zur Ret-
tung hinzu,
wohl heult' er die Schiffer aus ihrer
Ruh,
wohl zog er sie winselnd und zerrend
her:
wie sie ihn fanden, da war er nicht
mehr.
11. Er ward verscharret in stiller
Stund',
es folgt' ihm winselnd nur der Hund;
der hat, wo den Leib die Erde deckt,
sich hingestreckt und ist da verreckt.
1. Wovon erzählen uns beide Gedichte? Von armen Männern, die
über ihr Unglück klagen.
2. Wodurch unterscheiden sich die Klagen der beiden Männer? Die
Klagen des Bettlers in Uhlands Liede sind ohne Erbitterung ausge-
sprochen, denn er denkt noch dankbar an das Gute, das er unter den
Menschen genossen hat, und erinnert sich mit gewisser Freude an seine
glückliche Jugendzeit. Auch die Gegenwart hat für ihn noch einige Freu-
den, die er besonders in der Natur und in der Religion findet. Ganz
anders sind die Klagen des Bettlers in Chamissos Gedichte. Der Schmerz
desselben ist ein bitterer Groll, seine Klagen sind Anklagen gegen das
Schicksal. Aus feiner Vergangenheit tauchen ihm nur trübe Bilder auf,
und auch in der Gegenwart findet er nichts, was ihn beglückt.
3. Wodurch unterscheiden sich die beiden Bettler in bezug auf den
Trost, welchen sie suchen?
Bürger: Die Kuh.
273
a) Der Bettler Chamissos findet einen Trost in der Gesellschaft seines
Hundes, wie der Arme Uhlands ihn findet in der Natur und in der
Religion. Aber wie verschieden ist doch dieser Trost! Dort, bei Uhland,
Erhebung des Gemüts und Ergebung in das Schicksal, und hier Grimm
und Haß gegen die Welt, Verfluchung seines Lebens und seines Schicksals
und grauenvolle Verzweiflung, die mit dem Selbstmorde endet.
b) Während der Arme Uhlands als größtes und schmerzvollstes Weh
sein Alleinstehen in der Welt ansieht, hat der Bettler Chamissos noch
Trost in der Treue, welche ihm sein Hund bis in den Tod bewahrt;
aber dennoch fühlt er sich unglücklicher als jener. Ihm fehlt das Gott-
vertrauen, welches uns an dem Armen Uhlands so wohl gefällt.
4. Welchen Eindruck macht der Inhalt der beiden Gedichte auf den
Leser? Das Uhlandsche Gedicht bewirkt bei dem Leser ein wohltuendes
und beruhigendes Gefühl, das Chamissosche dagegen läßt von Anfang bis
zu Ende einen schrillen Mißklang hören, dem jede Versöhnung fehlt.
5. Wodurch unterscheiden sich die Charaktere der Bettler? Während
Uhlands Armer ein edler Mensch ist, der sich so weit überwunden hat,
daß ihm die Freuden anderer, glücklicherer Menschen wiederum selbst
Freude machen, erblicken wir in dem Bettler Chamissos einen Unglück-
lichen, dem alle Bedingungen fehlen, die dem menschlichen Willen die
Kraft verleihen, sich über das Geschick zu erheben. W. D.
109. Die Kuh.
G. A- Bürger. Sümtl. Gedichte. Herausgegeb. von Jul. Tittmann. Leipzig 1869. S. 169.
1. Frau Magdalis weint auf ihr letztes Stück Brot,
sie konnt' es vor Kummer nicht essen.
Ach, Witwen bekümmert oft größere Not,
als glückliche Menschen ermessen!
2. „Wie tief ich auf immer geschlagen nun bin!
Was hab' ich, bist du erst verzehret?"
Denn, Jammer! ihr Eins und ihr Alles war hin,
die Kuh, die bisher sie ernähret.
Z. Heim kamen mit lieblichem Schellengetön
die andern, gesättigt in Fülle;
vor Magdalis' Pforte blieb keine mehr stehn
und rief ihr mit sanftem Gebrülle.
4. Wie Kindlein, welche der nährenden Brust
der Mutter sich sollen entwöhnen,
so klagte sie Abend und Nacht den Verlust
und löschte ihr Lämpchen mit Tränen.
5. Sie sank auf ihr ärmliches Lager dahin
in hoffnungslosem Verzagen,
verwirrt und zerrüttet an jeglichem Sinn,
an jeglichem Gliede zerschlagen.
6. Doch stärkte kein Schlaf sie von Abend bis früh;
schwer abgeniüdet im Schwalle
von ängstlichen Träumen, erschütterten sie
die Schläge der Glockenuhr alle.
AdL. II. 8. Aufl.
18
II. Epische Dichtungen.
7. Früh tat ihr des Hirtenhornes Getön
ihr Elend von neuem zu wissen.
„O wehe! Nun hab' ich nichts aufzustehn!" —
So schluchzte sie nieder ins Kissen.
8. Sonst weckte des Hornes Geschmetter ihr Herz,
den Vater der Güte zu preisen;
jetzt zürnet und hadert entgegen ihr Schmerz
dem Pfleger der Witwen und Waisen.
9. Und horch! Auf Ohr und aus Herz wie ein Steiu
siel's ihr mit dröhnendem Schalle.
Ihr rieselt ein Schauer durch Mark und Gebein:
es dünkt ihr wie Brüllen im Stalle!
10. „O Himmel, verzeihe mir jegliche Schuld
und ahnde nicht mein Verbrechen!"
Sie wähnt, es erhübe sich Geistertumult,
ihr sträfliches Zagen zu rächen.
11. Kaum aber hatte vom schrecklichen Ton
sich mählich der Nachhall verloren,
so drang ihr noch lauter und deutlicher schon
das Brüllen vom Stalle zu Ohren.
12. „Barmherziger Himmel, erbarme dich mein,
und halte den Bösen in Banden!"
Tief barg sie das Haupt in die Kissen hinein,
daß Hören und Sehen ihr schwanden.
13. Hier schlug ihr, indem sie im Schweiße zerquoll,
das bebende Herz wie ein Hammer;
und drittes, noch lauteres Brüllen erscholl,
als wär's vor dem Bett in der Kammer.
14. Nun sprang sie mit wildem Entsetzen heraus,
stieß auf die Laden der Zelle.
Schon strahlte der Morgen; der Dämmerung Graus
wich seiner erfreulichen Helle.
15. Und als sie mit heiligem Kreuz sich versehn:
„Gott helfe mir gnädiglich, Amen!"
da wagte sie's zitternd, zum Stalle zu gehn
in Gottes allmächtigem Namen.
16. O Wunder! Hier kehrte die herrlichste Kuh,
so glatt und so blank wie ein Spiegel,
die Stirne mit silbernem Sternchen ihr zu;
vor Staunen entsank ihr der Riegel.
17. Dort füllte die Krippe frisch duftender Klee
und Heu den Stall, sie zu nähren;
hier leuchtet ein Eimerchen, weiß wie der Schnee,
die strotzenden Euter zu leeren.
18. Sie trug ein zierlich beschriebenes Blatt
um Stirn und Hörner gewunden:
„Zum Troste der guten Frau Magdalis hat
N. N. hierher mich gebunden." —
19. Gott hatt' es ihm gnädig verliehen, die Not
der Armen so wohl zu ermessen.
Gott hatt' ihm verliehen ein Stücklein Brot,
das konnt' er allein nicht essen. —
*
Bürger: Die Kuh.
275
20. Mir deucht, ich wäre von Gott ersehn,
was gut und was schön ist, zu preisen.
Daher besing' ich, was gut ist uud schön,
in schlicht-einfältigen Weisen.
21. „So", schwur mir ein Maurer, „so ist es geschehn!"
Allein er verbot mir den Namen.
Gott lass' es dem Edlen doch wohl ergehn!
Das bet' ich herzinniglich, Amen!
I. Vorbereitung. Frau Magdalis, eine arme Witwe, stand ohne
jegliche Stütze in der Welt. Durch harte Arbeit und tägliche Entsagung
hatte sie ihr Leben gefristet. Doch immer trüber wurde ihre Lage.
Schulden, welche während der langen Krankheit ihres Mannes erwachsen
waren, konnte sie nicht bezahlen, und so ließen hartherzige Gläubiger ihre
Habe Stück um Stück verkaufen. Aber noch war ihr Mut nicht ganz
gebrochen, war ihr doch die Kuh geblieben als letzte Hilfe in der Not! Wie
der nie versiegende Olkrug die Witwe von Zarpath in der Teuerung erhielt,
so fristete das unerschöpfliche Euter der Kuh das anspruchslose Leben der
Frau Magdalis. Aber auch das Bitterste sollte ihr nicht erspart bleiben!
Wieder erschien der gefürchtete Diener der Obrigkeit, um auch ihr Letztes zu
pfänden. Die Kuh, „ihr Eins und Alles", wurde verkauft wie alles übrige.
Ihr blieb als einziges Besitztum nur — ein Stück trockenes Brot! —
II. Erläuteiungsfragen. Warum weint Frau Magdalis? Warum
aß sie das letzte Stück Brot nicht? Warum sind Kummer und Not der
Witwen oft größer, als glückliche Menschen denken? Mit wem spricht
Frau Magdalis in der zweiten Strophe? Warum glaubt sie sich auf
immer geschlagen (vernichtet)? Woher kommen die Kühe? Warum
tragen sie Schellen (Kupfer- und Messingglocken)? (Damit sich keine im
Walde von der Herde verirrt.) Wie erinnert das heimkehrende Vieh die
Witwe von neuem an ihre Not? Worin gleichen die Klagen denen eines
Kindes, das von der Mutterbrust entwöhnt ist? (Sie hat mit der Kuh
wie das Kind mit der Mutterbrust die einzige Ernährungsquelle ver-
loren. Sie weiß sich so wenig wie ein Kind zu beherrschen, klagt und
weint wie ein Kind Tag und Nacht.) Worin besteht das hoffnungslose
Verzagen? (Sie kann das Ende ihrer Not nicht absehen und verliert
darum allen Mut und alle Hoffnung.) Wie wurde sie verwirrt und
zerrüttet an jeglichem Sinn? (Das viele Weinen, Grübeln und Sorgen
hat ihre Augen getrübt, das Gehör betäubt, den Kopf eingenonunen und
alle Kräfte geschwächt. Nun tut ihr alles weh, und die Glieder sind
wie zerschlagen.) Welche weiteren Umstände verschlimmern ihre Lage?
(Das ärmliche Lager, — der unruhige Schlaf mit seinen beängstigenden
Träumen, die gleich einer Flut, einem Wasserschwalle sie überfallen, —
das Getön des Hirtenhornes am Morgen.) Beschreibe den Abend und die
Nacht der Frau Magdalis, und weise nach, daß sich ihr Zustand bis zur
Verzweiflung steigert! Wie zeigte sie sich früher nach ihrem Erwachen im
Vergleich zu jetzt? Welches Gebot übertritt sie? Weise es nach! Welcher
Umstand verwandelt plötzlich ihren maßlosen Kummer in Furcht und Ent-
18*
276
II. Epische Dichtungen.
setzen? Wozu treibt sie die Angst? (Zur Buße und zum Gebet.) Wem
schreibt sie das Brüllen im nahen Stalle zu? (Strafenden Geistern.) Wie
steigert das dreimalige Brüllen die krankhafte Erregung der Frau Mag-
dalis? Aus welche Weise wird ihr Irrtum zugleich die Strafe (Ahndung)
für ihre genannte Sünde? (Die eingebildete Nähe der Geister und des
Bösen sTeufelss treibt sie zum Entsetzen.) Wie ist es erklärlich, daß sie
trotzdem den Gang zum Stalle wagt? (Der hereinbrechende Morgen
mäßigt ihre Angst, und das Vertrauen auf Gottes Schutz, in den sie sich
durch das Kreuzzeichen und ein Stoßgebet befiehlt, gibt ihr den nötigen
Mut.) Berichtige den Irrtum der Frau Magdalis! Wie war der gute
Geber? Wer redet in der vorletzten Strophe? Was teilt uns der Dichter
über seinen Beruf noch mit? Was wünscht er dem wohltätigen Menschen-
freunde?
III. Vertiefung. 1. Situationszeichnung. Unser Gedicht
entrollt zwei Bilder: a) Die armselige, kleine Stube der Witwe,
welche zugleich Schlafkammer ist. Es ist Nacht. Die Fensterläden sind
geschlossen. Auf dem alten, wurmstichigen Tische brennt ein düsteres Öl-
lämpchen. Vor dem Tische sitzt auf einem zerbrechlichen Schemel eine
blasse Frau in ärmlichem Anzuge, ein Bild des Jammers. In der
mageren Hand hält sie ein Stücklein Brot. Tief bekümmert schaut sie es
unverwandt an, ohne einen Bissen davon zu nehmen, und schwere Tränen
rollen über die Wangen auf dasselbe herab. Im Zwielicht der Ecke,
dem baufälligen Kachelofen gegenüber, gewahren wir mit Mühe das arm-
selige Nachtlager der einsamen Witwe. Sonst ist alles kahl und leer,
und die beängstigende Stille wird nur durch das einförmige Geräusch
einer verräucherten hölzernen Wanduhr unterbrochen. Gern möchten wir
der Unglücklichen und Verlassenen Trost zusprechen; aber auf ihrem Ge-
sicht lagert ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, gegen
den alle Trostworte ohnmächtig erscheinen. Die Unterschrift des trau-
rigen Bildes könnte das Goethesche Wort sein:
„Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte."
d) Der Stall der Witwe. Es ist ein kleiner, aber sauber ge-
haltener Raum. Vor der Krippe steht eine spiegelglatte Kuh mit strotzen-
dem Euter. Sie ist braungefärbt und hat aus der Stirn einen weißen
(silberfarbigen) Stern. Sie scheint fremd zu sein, denn sie blickt sich
ängstlich und brüllend um. Der Raum hinter ihr ist mit Heu angefüllt.
Das schneeweiße Milcheimerchen an ihrer Seite läßt uns nach der Melkerin
umschauen. Im Rahmen der Stalltür erblicken wir eine Frau, beschienen
von dein frühen Morgenstrahl, der seinen Weg durch die Luke gefunden
hat. Es ist die bekümmerte Witwe des vorigen Bildes. Der kummer-
volle Ausdruck ihres Gesichts ist einem freudigen Erstaunen gewichen.
Verwundert ruht ihr Blick auf der schönen Kuh, während ihrer Hand
der Riegel der Stalltür entfällt.
Bürger: Die Kuh.
277
Die Unterschrift dieses Bildes könnte heißen:
„Er wird dein Herze lösen von der so schweren Last."
2. Gliederung des Gedichts. A. Die äußerste Not treibt die
Witwe zur Verzweiflung (1—8). a) Worin besteht die Not (1—6)?
b) Wie äußert sich die Verzweiflung? (7—8). R Die vermeintliche
Strafe führt sie zur Reue (9—15). a) Das erste Gebrüll führt sie zur
Erkenntnis ihrer Sünde; b) das zweite zur Bitte um Erbarmen; c) das
dritte zum Gottvertrauen und zur mutigen Tat. 6. Die Errettung aus
ihrer Not (16—19). a) Die Gabe (15—17), b) der unbekannte Geber
(18 und 19). D. Die Aufgabe des Dichters und sein Wunsch für den
ungenannten Wohltäter (20—21).
Grundgedanke. Während sich der Dichter bemüht, unsere Teil-
nahme für die Witwe zu erregen, tritt der edle Menschenfreund in den
Hintergrund, gleich der göttlichen Vorsehung, die uns mit Wohltaten
überhäuft und unser Lebensgeschick leitet, ohne daß wir sie sehen und
verstehen. Die Idee des Gedichtes ist: Denk nicht in deiner Drangsals-
hitze, daß du von Gott verlassen seiest!" — Wenn die Not am größten,
ist Gott am nächsten! Ps. 127, 2. Es ist umsonst, daß ihr frühe auf-
stehet und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn
seinen Freunden gibt er es schlafend.
IV. Verwertung in Rede- und Stilübungen. 1. Umwandlung
des Gedichts in Prosa. (Tiefer Seelenkuntmer erpreßt einer Witwe heiße
Tränen, die auf ihr letztes Stück Brot fallen. Die größte Not hat sie
getroffen, denn ihre letzte Ernährerin, die Kuh, ist ihr genommen. Zwar
kehrt die Herde allabendlich wie früher zurück, aber an ihrem Stall
gehen alle Kühe vorüber. Früher eilte sie auf den Ruf der Kuh in den
Stall. Jetzt muß sie — ohne Arbeit, weinend und klagend — ihr
ärmliches Lager aufsuchen. Doch erquickenden Schlaf findet der matte
Körper nicht, und das geringste Geräusch schreckt sie aus ihren beängstigen-
den Träumen. Wohl weckte früher der Ton des Hirtenhornes ihr Herz zum
Loben und Danken, doch jetzt erinnert er die verlassene Witwe nur jeden
Morgen von neuem an ihre traurige Lage. Der Verzweiflung nahe,
zürnt und hadert sie mit Gott. Da ist ihr plötzlich, als höre sie Brüllen
int nahen Stalle. Schauder durchrieselt ihren Körper. Sie ist sich ihrer
Sünde bewußt und bittet Gott um Vergebung; aus dem Brüllen glaubt
sie strafende Geister zu hören. Doch das Gebet scheint keine Erhörnng
gefunden zu haben, denn lauteres Brüllen vernimmt sie. Da glaubt sie
den Teufel selbst zu vernehmen und vergräbt sich tief in die Kissen, um
den schrecklichen Ton nicht wieder zu hören. Aber auch jetzt noch weiß
das Brüllen den Weg zu ihren Ohren zu finden. Aufs äußerste entsetzt,
springt sie auf und öffnet die Fensterladen. Der hereinbrechende Morgen
beruhigt sie etwas. Versehen mit dem heiligen Kreuz und gestärkt durch
ein letztes Gebet, geht sie zitternd zum' Stall. Wie groß ist aber ihr
Erstaunen, als sie eine wunderschöne Kuh erblickt! Die Krippe ist mit
Klee gefüllt, und der Stall enthält genug Heu, die Kuh den Winter hin-
278
II. Epische Dichtungen.
durch zu füttern. Selbst das weiße Milcheimerchcn steht bereit, den Inhalt
des vollen Enters aufzunehmen. An der Stirn trägt die Kuh ein Blatt
mit der Inschrift: „N. N. hat mich zum Troste der guten Frau Magdalis
hierher gebunden." Gott hat diesem unbekannten Wohltäter nicht nur
Reichtum, sondern auch ein mitleidiges Herz geschenkt. Der Dichter er-
kennt seine Lebensaufgabe darin, das Gute und Schöne zu preisen. Er
besingt deshalb auch diese edle Tat. Den Namen des Wohltäters zu
nennen, ist ihm verboten, doch erfleht er Gottes Segen für ihn.)
2. Wie hat der Wohltäter das Bibelwort erfüllt: „'Laß deine linke
Hand nicht wissen, was die rechte tut"?
3. Vergleiche Frau Magdalis und die Witwe zu Zarpath! (1. Kön.
17, 10—24.)
(Beide Witwen leben in größter Armut. Sie sind beim letzten Mahl
littb dann dem Hungertode preisgegeben. Sie sehen hoffnungslos in die
Zukunft. Da greift Gott helfend ein, dort durch den Propheten, hier
durch den stillen Geber. — Erstere hat noch ein Kind, diese ist allem.
Erstere kommt durch Teuerung, letztere durch unglückliche Familienverhält-
nisse in Not. Die Witwe von Zarpath trägt ihr Los ruhig und ergeben;
Magdalis läßt sich von Verzweiflung dahinreißen. Erstere rettet ein
Wunder, letztere eine gute Tat.)
4. Suche Sprüche, Sprichwörter, Liederstrophen und Geschichten, die
von großer Not und wunderbarer Errettung handeln! K. 0 Beetz.
110, Rübezahl.
Ferd. Freiligrath. Ein Glaubensbekenntnis. Mainz 1844. S. 227.
1. „Nun werden grün die Brom-
beerhecken.
Hier schon ein Veilchen — welch'
ein Fest!
Die Arnsel sucht sich dürre Stecken,
und auch der Buchfink baut sein
Nest.
Der Schnee ist überall gewichen,
die Koppe nur sieht weiß ins Tal;
ich habe mich von Haus geschlichen,
hier ist der Ort — ich w a g s einmal:
R ü b e zahl!
2. Hört er's? Ich seh' ihm d r e i st
entgegen;
er ist nicht bös. Auf diesen Block
will ich mein LeinwandPäckchen
legen;
es ist ein richt'ges, volles Schock;
und fein! Ja, dafür kann ich
stehen!
Kein bess'res wird gewebt im
Tal. —
Er läßt sich immer noch nicht sehen!
Drum frischen Mutes noch einmal:
Rübezahl!
3. Kein Laut! — Ich bin ins Holz
gegangen,
daß er uns hilft in unsrer Not.
O! meiner Mutter blasse Wangen
im ganzeil Haus kein Stückchen Brot!
Der Vater schritt zu Markt mit Flu-
chen —
fänd' er auch Käufer nur eiumal!
Ich will's mit Rübe zahl versuchen.—
Wo bleibt er nur? Zum dritten-
mal: Rübezahl!
4. Er half so vielen schon vor-
zeiten —
Großmutter hat mir's oft erzählt.
Ja, er ist g u t den armen Leuten,
die unverschuldet Elend quält.
So bin ich froh denn hergelaufen
mit meiner richt'gen Ellen zahl;
ich will nicht betteln, will ver-
kaufen.
O, daß er käme! Rübezahl! Rü-
bezahl!
5. Wenn dieses Päckchen ihm ge-
fiele,
vielleicht gar bät' er mehr sich aus.
Freiligrath: Rübezahl.
279
Das wär' mir recht! Ach, gar §u
viele,
gleich schöne liegen noch zu Haus!
Die nährn' er alle bis zum letzten;
ach, fiel auf dies doch seine Wahl!
Da löst' ich ein selbst die v e r s e tz t e n
das wär' ein Jubel! Rübezahl!
Rüb ezahl!
6. Dann trät' ich froh ins kleine
Zimmer
und riefe: Vater! Geld genug!
Dann flucht' er nicht, dann sagt' er
nimmer:
Ich web' euch nur ein Hungertuch!
Dann lächelte die Mutter wieder
und tischt' uns auf ein reichlich Mahl;
dann jauchzten meine kleinen
Brüder.
O käm', o käm' er! Rübe zahl!
Rüb ezahl!"
7. So ries der dreizehnjähr'ge Knabe,
so stand und rief er matt und bleich,
umsonst, nur dann und wann ein
Rabe
flog durch des Gnomen altes Reich.
So stand und paßt' er Stund' ans
Stunde,
bis daß es dunkel ward im Tal
und er halblaut mit zuckendem Munde
ausrief durch Tränen noch einmal:
Rübezahl!
8. Dann ließ er still das busch'ge
Fleckchen
und zitterte und sagte: Hu!
Und schritt mit seinem Leinwand-
päckchen
dem Jammer seiner Heimat zu.
Oft ruht' er aus auf moos'gen
Steinen,
matt von der Bürde, die er trug.
Ich glaub', sein Vater webt dem
Kleinen
zum Hunger- bald das Leichen-
tuch. Rüb ezahl!
I. Vorbereitung. Unsere deutschen Sagen und Märchen schließen sich
vielfach an gewisse Örtlichkeiten an, deren eigentümliche Erscheinungen
zu Personifikationen und Handlungen Veranlassung gegeben haben. Im
alten Griechenland hatte jeder Ort, jeder Hain, jeder Fluß, ja jedes
Haus seine besonderen Götter, die der Eigentümlichkeit jeder Örtlichkeit
entsprachen: Nymphen (Flußgöttinnen), Dryaden (Waldgöttinnen) usw.;
der Himmel hatte seinen Gott, Zeus, das Meer seinen Nereus, die Unter-
welt ihren Pluto. Auch die alten Deutschen hatten ihre Götter, welche
meistens Personifikationen der Naturgewalten waren, und aus dieser
Götterlehre (Mythologie) stammen viele unserer Sagen und Märchen,
die sich im Laufe der Zeit freilich wesentlich geändert haben. Die alt-
deutsche Götterwelt stellt sich später dar als Sagen und Märchen, welche
wunderbare Helden, Könige, Prinzessinnen, Riesen, Zwerge usw. vor-
führen. Besonders reich an solchen Sagen sind die Gebirgsgegenden, weil
da die Kraft der Natur dem schwachen Menschen eindringlich predigt, daß
höhere Gewalten wirken und walten. So hat denn auch das Riesengebirge,
das in seinem Namen schon auf außergewöhnliche Wesen, „Riesen", hin-
weist, Veranlassung zu solchen Märchen gegeben; der Naturdienst hat sich
hier mit dem alten Wotandienste vereinigt in der Schaffung jenes ge-
waltigen Berggeistes, der in ganz Deutschland unter dem Namen „Rübe-
zahl" bekannt ist, und von dem viele Streiche, ernste und lose, erzählt
werden. Namentlich nahm er sich armer, rechtlicher Leute an, welche über
das Gebirge kamen oder Kräuter und Holz im Gebirge sammelten und
dergleichen mehr. Einst ging ein armer Familienvater über das Gebirge,
um bei seinen Verwandten für seine hungernde und darbende Familie
eine Unterstützung zu erbitten. Aber er wurde von den reichen Leuten
barsch abgewiesen und ging nun in tiefem Kummer übers Gebirge zu-
280
II. Epische Dichtungen.
rück. Da begegnete ihm Rübezahl, und der arme Mann klagte ihm seine
Not. Rübezahl entläßt ihn reich beschenkt, so daß in der armen Familie
Wohlstand einkehrt, der durch Fleiß und Sparsamkeit sich immer ver-
größert. Solche Geschichten erzählt man sich viele. Kein Wunder, daß
die armen Leute des Gebirges in Rübezahl ihren Freund und Helfer
sahen. Wie ein armer Weberknabe in der äußersten Not bei dem Berg-
geiste Hilfe suchte und ihn immer und immer wieder rief, das schildert
Freiligraths ergreifendes Gedicht „Rübezahl".
II. Stoss und Stimmung. Da das Gedicht Freiligraths die Kennt-
nis der Sagen von Rübezahl voraussetzt, so wird der Lehrer die Kinder
mit einigen derselben bekannt machen müssen. Es ist aber auch nötig, auf
die Armut hinzuweiseu, die vielfach im Gebirge herrscht, wo der Boden
wenig Frucht bringt, und wo auch sonst nicht viel Verdienst ist, weil
weite Strecken unfruchtbar daliegen. Da müssen sich denn die Leute durch
andere Beschäftigungen ihren Lebensunterhalt erwerben, namentlich durch
Weberei. Aber der Verdienst ist gering, und die schlesischen Weber sind
wegen ihrer Armut bekannt, wie die schlesische Leinwand wegen ihrer
Güte und Weise, die durch die reine Gebirgsluft und das klare Wasser
hervorgebracht wird, berühmt ist. Wenn die Leinwand guten Absatz findet,
dann hat eine solche arme Webersamilie wohl notdürftig zu leben, aber
cs kommen auch böse Zeiten, wo Gewerbe und Handel stocken, und dann
kehrt die bitterste Not in die Hütten der armen Weberfamilien ein, und
kommen dann noch Krankheiten dazu, dann ist das Elend unbeschreiblich.
Im Jahre 1846 sind viele solche arme Familien am Hungertyphus unter-
gegangen; reihenweise lagen manchmal die Sterbenden und die Toten an
den Straßen. In eine solche trübe Zeit führt uns das Gedicht ein.
Eine arme Weberfamilie ist in die bitterste Not geraten. Trotz alles
Fleißes ist es dem Vater nicht möglich gewesen, auch nur das Nötigste
für seine Familie, seine Frau und seine Kinder, anzuschaffen. Sie leiden
bittern Mangel; nicht ein Stückchen Brot ist mehr im Hause, und die
fertig gewebte Leinwand will niemand kaufen. Und so geht es schon
längere Zeit; die Mutter härmt sich und vergießt bittere Tränen; der
Vater ist stets trostlos vom Markte heimgekehrt und flucht und sagt zu
den Kindern: „Ich webe euch das Hungertuch!" Da hat der älteste
Knabe sich aufgemacht mit einem Stück Leinwand; er hat die Erzählungen
von Rübezahl gehört, wie der so manchmal armen Leuten geholfen hat;
er denkt und hofft — denn in der Not hofft man oft das Unmögliche —,
Rübezahl könne und werde auch ihm helfen, und da läßt er im Gebirgs-
walde laut seinen Ruf nach Rübezahl erschallen, aber kein Rübezahl er-
scheint, wie oft und wie laut er auch ruft. Zitternd und verzagt nimmt
er endlich bei einbrechender Nacht sein Päckchen und wandert wieder nach
Hause; er muß oft ausruhen, so matt ist er, und was ihn erwartet und
all seine Lieben, das ist der Hungertod!
Der Dichter stellt uns also nicht eine Sage von Rübezahl dar, son-
dern die Not des Lebens in einem ergreifenden Bilde. Darin liegt auch
die Idee des Gedichtes. Gerade die Naivetät des dreizehnjährigen Knaben,
Freiligrath: Rübezahl.
281
mit der er an eine Hilfe Rübezahls glaubt, wirkt hier erschütternd. Das
Gemüt will der Dichter erwärmen für alle Notleidenden, und das erreicht
er in hohem Maße. So hat das Gedicht eine ethische Wirkung, und diese
kommt wohl am besten zur Geltung, wenn es gut vorgetragen wird.
Um den Eindruck nicht zu stören, würde ich sprachliche Erörterungen
gar nicht an dieses Gedicht anknüpfen, sie sind auch nicht nötig, denn bie
Sprache ist einfach, die Gliederung des Gedichts ist klar und durchsichtig.
Nur ein Wort dürfte vielleicht zu erklären sein: Gnom, d. i. Berggeist.
In den ersten sechs Strophen spricht der Knabe und stellt uns die traurige
Lage dar, in der Eltern und Geschwister sich befinden, sowie seine Absicht,
Hilfe bei Rübezahl zu suchen; d'ie beiden letzten Strophen erzählen uns
die Erfolglosigkeit seiner Bemühung.
III. Vortrag. Da bei diesem Gedichte alles auf den guten Vortrag
ankommt, so haben wir durch gesperrten Druck diejenigen Wörter be-
zeichnet, aus denen der Satzton ruht. Die Modulation der Stimme läßt
sich leider nicht darstellen. Was aber den Satzton betrifft, so ist er nach
zwei Grundprinzipien festgesetzt: 1. In jedem Satze ist nur ein Haupt-
ton. Die einzelnen Satztöne stufen sich natürlich wieder gegeneinander
ab (man achte hier namentlich auf das Schlußwort der Strophe Rübe-
zahl!", das eine ganz verschiedene Betonung verlangt); mancher Satz
ist mehr, mancher weniger hervorzuheben, mancher tritt ganz zurück, und
in solchen habe ich auch den Satzton gar nicht bezeichnet. In dieser
Beziehung wird noch sehr viel in Schulen gefehlt; man betont vielfach
noch falsch, man betont oft zu viel. Übrigens tritt dieser Fehler auch in
vielen gedruckten Werken zutage; es wird da oft so viel betont, daß man
fragen möchte, welches Wort denn den eigentlichen Ton hat. 2. Der
zweite Hauptgrundsatz zur Betonung lautet: Den Hauptton erhält die
letzte wesentliche Bestimmung, also das Wort, welches zuletzt hinzu-
gekommen ist, mag es nun in der Mitte oder am Ende stehen. Was
die letzte wesentliche Bestimmung ist, muß allerdings der Leser selbst ent-
scheiden, und es ist da seiner Auffassung freier Spielraum gelassen, woher
denn auch eine verschiedene Betonung sich ergeben kann. Ob ich sagen
will: „Die Rose riecht sehr schön" oder „Die Rose riecht sehr schön"
ist ganz meiner Auffassung überlassen, je nachdem ich das „sehr" als
eine wesentliche oder als eine unwesentliche Bestimmung auffasse. Die
letztere Regel bildet vielfach Ausnahmen, namentlich bei Gegensätzen, die
sehr oft vorkommen. Da lautet die Regel: 3. Bei Gegensätzen erhält das
im Gegensatze stehende Wort den Hauptton. Ich kann den obigen Satz
auch betonen: „Die Rose riecht sehr schön", wenn ich die Rose in Gegen-
satz zu andern Blumen setzen will. Durch eine richtige Betonung beim
Borlesen wird oft mehr erklärt als durch lange wörtliche Auseinander-
setzungen. Dies ist in hervorragender Weise bei diesem Gedichte der Fall,
das den Pulsschlag eines der Verzweiflung nahe gebrachten Herzens hören
und fühlen läßt; darum kommt hier alles auf den guten Bortrag an.
Nur hüte man sich vor theatralischem Pathos, das in keinem Falle für
die Schule paßt. L. W. Seyffarth.
282
II. Epische Dichtungen.
111* Die Gottesmauer.
Fr. Rückert, Gedichte. Frankfurt 1884. S. 218.
1. O Mutter, wie stürmen die Flocken
vom Himmel!
Es wird uns der Schnee noch be-
graben.
Und mehr noch als Flocken im Dorf
ein Gewimmel
von Reitern, die reiten und traben.
Hätten wir nur Brot im Haus,
macht' ich mir so viel nicht draus,
im Quartier ein Paar Reiter zu
haben."
2. „Es nachtet, o Kind, und die
Winde sie wüten,
geh, schließe die Tür und den Laden!
Gott wird vor dem Sturme der Nacht
uns behüten
und auch vor den Feinden in Gnaden.
Kind, ich bete; bete mit:
Wenn uns Gott der Herr vertritt,
so vermag uns der Feind nicht zu
schaden."
3. „O Mutter, was soll nun das
Beten und Bitten?
Es kann vor den Reitern nicht helfen.
Horcht, Mutter, die Reiter, sie kom-
men geritten,
o hört, wie die Hündelein belsen!*)
Geht zur Küch' und rüstet, ihr,
wenn sie kommen ins Quartier,
euch, so gut es will gehn, zu be-
helfen !"
4. Die Mutter sitzet und geht nicht
vom Orte,
der Keller ist leer und die Küche;
sie hält sich am letzten, am einzigen
Hortes,
sie betet beim Lämplein im Buche:
„Eine Mauer um uns bau',
daß davor den Feinden grau'!"
Sie erlabt sich am tröstlichen Spruche.
5. „O Mutter, den Reitern zu Rosse
zu wehren,
wer wird da die Mauer uns bauen?
Sich lassen die Reiter, wohin sie be-
gehren,
vor Wällen und Mauern nicht
grauen."
„Kind, bedenk' als guter Christ:
Gott kein Ding unmöglich ist,
wenn der Mensch nicht verliert das
Vertrauen."
6. Es betet die Mutter, es lachet
der Knabe,
er horcht an verschlossener Pforte,
er höret die Reiter, sie reiten im Trabe,
es rennen die Bauern im Orte.
Türen krachen dort und hie.
„Jetzt gewiß, jetzt kommen sie
auch an unsre, der Mutter zum
Torte"3).
7. Nichts kommt an die Tür als des
Windes Gebrause,
ein Wehen und Weben und Wogen.
Die Reiter, verteilet von Hause zu
Hause,
vor diesem vorüber gezogen.
Stiller wird es dort und hier.
„Alle, scheint's, sind im Quartier,
und wir sind um die Gäste betrogen."
8. „Kind, möge dich Gott für den
Frevel nicht strafen,
daß Glaube dein Herz nicht bewohnet!
Mit Reue bitt ab ihm und lege dich
schlafen;
er hat mein Vertrauen belohnet."
„Ei, der Vetter Schultheiß 4) hat
wohl, wie er schon manchmal tat,
aus besonderer Gunst uns verschonet."
9. Einschlummert der Knabe mit
weniger Ruhe,
die Mutter mit vollem Vertrauen.
Drauf ist er schon wiederum auf in
der Frühe5),
den Abzug der Reiter zu schauen.
Wie er auf das Türlein zieht,
sieht er, staunt und staunt und sieht,
daß der Himmel doch Mauern kann
bauen.
10. Das hat nicht der Vetter, der
Schultheiß, gerichtet,
die Diener des Himmels, die Winde,
sie haben im stillen die Mauern ge-
schichtet,
statt Steinen aus Flocken gelinde.
Eine Man'r ums Häuslein ganz
steht gebaut aus schnee'gem Glanz,
zum Beweis dem ungläubigen Kinde.
11. Da muß es der Mutter nun
sagen der Knabe,
er weckt sie vom Schlaf mit der
Kunde;
da hört er die Reiter, sie ziehen im
Trabe,
Rü ckert: Die Gottes mauere
283
und möchte sie sehen zur Stunde.
Doch zur Straf' es ihm geschieht,
daß er nicht die Reiter sieht,
denn die Mauer, sie steht in die
Runde b).
12. Da macht es die Mutter zur
Strafe dem Knaben,
den Weg durch die Mauer zu brechen,
1. Vermittlung. 1. Quelle. Dem Gedichte liegt eine wahre Be-
gebenheit zugrunde, die sich am 5. Januar 1814 ereignete. Die Einzel-
heiten der Erzählung gibt das unten beigefügte Gedicht von El. Brentano
so genau an, daß hier nur noch folgende geschichtliche Notiz zum Ver-
ständnis genügen wird. Im Jahre 1814 war Dänemark mit Frankreich
im Bunde gegen Schweden, Deutschland und Rußland. Im Januar des
genannten Jahres standen die Schweden und Russen in der nächsten Um-
gebung von Schleswig, und täglich fürchteten die Bewohner der Stadt,
daß die räuberischen Kosaken in dieselbe einrücken würden. Am 5. Januar
besetzten sie auch wirklich die Stadt und die Umgebung derselben, aber
das Häuschen der alten Frau verschonten sie.
2. Erklärung einig er ungewöhnlich er Ans drücke: 1. Bel-
fen oder belfern drückt eine Wiederholung aus und bedeutet demnach
soviel als viel und oft bellen. 2. Hort ist eigentlich ein Ort, der
etwas sicher bewahrt, oft auch der Schatz, welcher verborgen ist, z. B.
der Nibelungen Hort. Hier bedeutet Hort soviel als etwas Festes, zu-
verlässige Sicherheit und Schutz Gewährendes, in bibl. Sinne also der
letzte und sicherste Hort, d. i. Gott. 3. Zum Torte — zum Trotze, zum
Nachteile. 4. Schulze, Ortsvorsteher. 5. Frühe. 6. Versperrt rundum
dem Neugierigen die Aussicht.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Der Glaube der Witwe an
Gottes Hilfe und der Unglaube des Sohnes (Str. 1—8). 8. Gottes
Mauer um das Haus der gläubigen Witwe (Str. 9 und 10). C. Die
doppelte Strafe des ungläubigen Knaben (Str. 11 und 12).
2. Grundgedanke. Ein vertrauensvolles, gläubiges
Gebet wird von Gott erhört. Oder: Rufe mich an in der Not,
so will ich dich erretten usw. Oder: Bittet, so wird euch gegeben usw.
3. Charakter der Personen. Die Mutter, ein armes Weib,
hat keinen anderen Anker in ihrer Not als Gott, auf den sie auch fest
vertraut:
„Wenn uns Gott der Herr vertritt, so vermag uns der Feind nicht zu schaden."
Ihr Vertrauen äußert sich in andächtigem Gebet:
„Eine Mauer um uns bau', daß davor den Feinden grau'!"
Aber es genügt ihr noch nicht, selbst fromm zu sein, sondern sie ermahnt
auch den Knaben zum Gebet und warnt ihn vor Frevel gegen Gott, der
ihn für seinen Unglauben leicht strafen könne. Sie ist überzeugt, daß ihr
Gebet erhört wird, und verteidigt deshalb ihr Gottvertrauen auch gegen
den ungläubigen Sohn. So ist das Weib ein Bild echter Frömmigkeit.
da muß er nun schaufeln, da muß er
nun graben;
und als er mit Hauen und Stechen
dnrch ist, sind die Reiter fort,
und die Nachbarn stehn am Ort,
die sich über das Wunder be-
sprechen.
284
II. Epische Dichtungen.
Der Sohn ist das entschiedene Gegenteil der Mntter. Ihm fehlt
nicht nur das Gottvertrauen, sondern auch die Gotteserkennt-
nis, denn er hält den Herrn für viel zu schwach, als daß er helfen könne
(Str. 3 und 4). Geradezu gottlos zeigt er sich, als er über das Gebet
der Mntter lacht:
„Es betet die Mutter, es lacht der Knabe."
Und als die Mutter ihr Vertrauen schöil belohnt sieht, da meint er,
die Hilfe käme nicht von Gott, sondern von Menschen. So sehen wir in
dem Knaben das Bild eines u n g l ä u b ig e n Z w e i s l e r s, der mit seinem
blöden Auge alles zu ermessen und zu durchschauen vermeint. Ihm ist
mit dem Vertrauen auch die Hoffnitltg und der wahre Wert des Lebens
geraubt.
4. Poetische Darstellung. Das rege Leben in der Erzählung
ist nicht nur durch die vorherrschend angewandte Gesprächsform, sondern
auch durch den eigentümlichen Wechsel im Metrum hervorgebracht.
Während nämlich die vier ersten Zeilen und die letzte in jambisch-anapä-
stischem Rhythmus mit weiblichen Reimen leicht dahin fließen, haben die
trochäischen Verse (5 und 6) mit tnännlichen Retinen etwas Kräftiges
und dabei Ruhiges, was besonders in der vierten Strophe bei den Haupt-
worten:
„Eine Mauer um uns bau', daß davor den Feinden grau'!"
trefflich zum Ausdruck kommt.
Wie in noch höherem Maße in vielen anderen seiner Dichtungen, so
hat Rückert auch hier einige schöne Gleichklänge, besonders die Allite-
ration, gebraucht:
Z. B. Str. 1, 4: Von Reitern, die reiten und traben.
Str. 2, 1 : Es nachtet, o Kind, die Winde, sie wüten.
Str. 3, 1: O Mutter, was soll nun das Beten und Bitten?
Str. 3, 3: Die Reiter, sie kommen geritten.
Str. 5, 1: O Mutter, den Reitern zu Rosse zu wehren.
Str. 7, 2: Ein Wehen und Weben und Wogen usw.*)
*) Ein Meisterstück in der Alliteration ist das kleine Gedicht Rückerts
„Roland zu Bremen" (vgl. Gödicke, Elf Bücher deutscher Dichtung, Leipzig
1849. III. S. 399). —
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
steht er im Standbild standhaft und wacht.
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
Kämpfer einst Kaiser Karls in der Schlacht.
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
männlich die Mark einst hütend mit Macht.
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
wollten ihm Welsche nehmen die Wacht;
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
wollten ihn Welsche werfen in Nacht;
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
lehnet an langer Lanz' er und lacht.
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
Ende ward welschem Wesen gemacht.
Roland der Ries', am Rathaus zu Bremen,
wieder wie weiland wacht er und wacht!
Brentano: Die Gottesmauer.
285
III. Vergleichung des Gedichts mit dem folgenden: „Die Gottes-
iit au er."
In a) ist Zeit und Ort vollständig unbestimmt gelassen, in b) da-
gegen genau angegeben, a) spricht von Mutter und Sohn, b) von Enkel
und Großmutter. In a) wird der Sohn ein Knabe genannt, in b) ist
er ein zwanzigjähriger Jüngling. In a) singt das Mütterlein nur ant
Abend, bis die Krieger im Quartier sind, in b) singt es die ganze Nacht
hindurch. In a) meint der Knabe, daß „der Vetter Schultheiß" das
Haus vor Einquartierung geschützt habe, in b) behauptet der Enkel, daß
Gott nicht so geschwinde eine Mauer bauen könne. In b) bekehrt sich
der Enkel, in a) muß er zur Strafe Schnee schaufeln. W. D.
L12. Die Gottesmauer.
Cl. Brentano, Gesammelte Schriften. Herausgegeben v. Christian Brentano.
Frankfurt a. M. 1852. S. 238.
I. Vorbereitung und Vortrag. Im Anfang der Befreiungskriege
stand Dänemark aus der Seite Frankreichs. Im Januar 1814 rückten
die Russen und Schweden in Schleswig ein und standen in der Nähe
der Stadt. Mit Angst und Bangen erwarteten die Bewohner stündlich
den Einmarsch der raublustigen Kosaken. Am 5. Januar marschierten
sie wirklich bei Frost und Schneetreiben ein und besetzten die Stadt. Wie
dabei das Häuschen einer frommen, alten Witwe wunderbar verschont
wurde, erzählt das folgende Gedicht.
1. Drauß i) bei Schleswig vor der Pforte wohnen armer Leute viel.
Ach, des Feindes wilder Hördes werden sie das erste Ziel!^)
Waffenstillstand ist gekündet; Dänen ziehen ab zur Nachts:
Russen, Schweden sind verbündet, brechen her mit wilder Macht.
Drauß bei Schleswig weit vor allen steht ein Hüttlein ausgesetzt?)
2. Drauß bei Schleswig in der Hütte singt ein frommes Mütterlein:
„Herr, in deinen Schoß b) ich schütte alle meine Sorg' und Pein!"
Doch ihr Enkel ohn' Vertrauen, zwanzigjährig, neuster Zeit?),
will nicht aus den Herren bauen, meint, der liebe Gott wohnt weit.
Drauß bei Schleswig in der Hütte singt das fromme Mütterlein.
3. „Eine Mauer um uns baue!" singt das fromme Mütterlein;
„daß dem Feinde vor uns graue, hüll' in deine Burg uns ein!"s)
„„Mutter, — spricht der Weltgesinnte — eine Mauer uns ums Haus
kriegt unmöglich so geschwinde euer lieber Gott heraus!""
„Eine Mauer um uns baue!" singt das fromme Mütterlein.
4. „Enkel, fest ist mein Vertrauen! Wenn's dem lieben Gott Lefällt,
kann er uns die Mauer bauen; was er will, ist wohl bestellt!"
Trommeln rondidom rings prasseln; die Trompeten schmettern drein;
Rosse wiehern, Wagen rasseln; ach, nun bricht der Feind herein!
„Eine Mauer um uns baue!" singt das fromme Mütterlein.
5. Rings in alle Hütten brechen Schwed' und Russe mit Geschrei,
fluchen, lärmen, drängen, zechen; doch dies Haus ziehn sie vorbei.
Und der Enkel spricht in Sorgen: „Mutter, uns verrät das Lied!"
Aber sieh, das Heer vom Morgen bis zur Nacht vorüberzieht.
„Eine Mauer um uns baue!" singt das fromme Mütterlein.
286
II. Epische Dichtungen.
6. Und am Abend tobt der Winter, an das Fenster stürmt der Nord.
„Schließt den Laden, liebe Kinder!" spricht die Alte und singt fort.
Aber mit den Flocken fliegen vier Kosakenpulke9) an;
rings in allen Hütten liegen sechzig, auch wohl achtzig Mann.
„Eine Mauer um uns baue!" singt das fromme Mütterlein.
7. „Eine Mauer um uns baue!" singt sie fort die ganze Nacht.
Morgens wird es still: „O schaue, Enkel, was der Nachbar macht!" —
Auf nach innen geht die Tür, nimmer käm' er sonst heraus:
daß er Gottes Allmacht spüre, liegt der Schnee wohl mannshoch drauß.
„Eine Mauer um uns baue!" sang das fromme Mütterlein.
8- „„Ja, der Herr kann Mauern bauen; liebe, gute Mutter, komm,
Gottes Mauer anzuschauen!"" rief der Enkel und ward fromm.
Achtzehnhundertvierzehn war es, als der Herr die Mauer baut',
in der fünften Nacht des Jahres. Selig, wer dem Herrn vertraut!
„Eine Mauer um uns baue!" sang das fromme Mütterlein.
II. Erläuterungen. 1) Draußen vor dem Tore, in der nächsten
Umgebung der Stadt. 2) Die wilde Horde sind die raublustigen,
umherschweifenden Kriegerschwärme, Russen und Schweden. 3) Ihre
Häuser werden beim Einmarsch der Feinde zuerst besetzt und geplün-
dert. 4) Der Waffenstillstand ist aufgekündigt, abgelaufen. Die Dänen,
welche bisher die Stadt beschützten, sind dem Feinde nicht gewachsen und
ziehen ab. 5) Das Hüttlein ist zuerst der Plünderungsgefahr aus-
gesetzt. 6) Schoß ist bildlich der Ort des Schutzes und der Liebe. „Laß
uns, wenn Not und Trübsal blitzen, in deinem Schoße sitzen!" 7) Es
war die Zeit der Aufklärung und Glaubenslosigkeit. 8) „Ein' feste Burg
ist unser Gott." 9) Heeresabteilungen von Kosaken, die wegen ihrer
Unsauberkeit und Raublust im schlechtesten Rufe standen.
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild: Die Gottesmauer um das Haus
der Witwe. Weites Schneegefilde. Wildes Schneetreiben. Häuser und
Türme der Stadt Schleswig. Durch die Tore ziehen Soldaten ein.
Weitab von der Stadt an der Straße ein hoher Schneewall (Schnee-
wehe), der ein Haus völlig einschließt und den Blicken der Wanderer aus
der Straße entzieht. Drinnen die Läden der Fenster geschlossen. In
der nach innen geöffneten Tür ein Jüngling mit erstauntem Antlitz.
Hinter ihm eine alte Frau mit dem Gesangbuch in der Hand.
2. Gedantengang. Str. 1: Russische und schwedische Soldaten-
horden nähern sich als Feinde der Stadt Schleswig. Str. 2: Ein from-
mes Mütterchen in einer Hütte vor dem Tore der Stadt fleht Gott um
Schutz an, ihr aufgeklärter Enkel aber hält das Gebet für wirkungslos.
Str. 3: Ja, er spottet darüber, daß die Großmutter vom lieben Gott
eine Mauer um ihr Haus erbittet. Str. 4: Sie läßt sich nicht irre
machen, ja betet brünstiger, als die Gefahr näher rückt. Str. 5: Singend
und betend verbringt sie den Tag, ohne daß einer der vorbeiziehenden
Feinde in ihr Haus kommt. Str. 6: Ein furchtbares Schneewetter tobt
am Abend, und alle Nachbarhäuser liegen voll Kosaken. Str. 7: Betend
und singend durchwacht das Mütterlein die Nacht, der Enkel aber ent-
deckt am Morgen eine hohe Schneemauer um das Haus. Str. 8: über-
Vogl: Das Erkennen. 287
wältigt von der sichtbaren Gebetserhörung, bekehrt er sich und vertraut
fortan Gott.
Grundgedanken: „Bittet, so wird euch gegeben!" „Du erhörest
Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir." „Je größer die Not, je näher
Gott." „Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut."
3. Eigentümlichkeiten. Gleichsam als Grundton klingt das Lied
der Großmutter: „Eine Mauer um uns baue, daß dem Feinde davor
graue!" durch das ganze Gedicht und durch den Wechsel der Ereignisse
fort. Es ist ihr Trost-, Schutz- und Jubellied. Das Lied ist von Joh.
Heermann und beginnt: Treuer Wächter Israel. Die siebente Strophe
tautet vollständig: ^su. der du Jesus heißt,
als ein Jesus Hilfe leist!
Hilf mit deiner starken Hand,
Menschenhilf' hat sich gewandt.
Eine Mauer um uns bau',
daß dem Feinde davor grau'
und mit Zittern sie anschau'!
Schöne Gegensätze sind: die Unruhe draußen und der Friede
drinnen, der Glaube der Großmutter und der Unglaube des Enkels, das
gläubige Gebet und die wunderbare Erhörung.
IV. Verwertung in Aufgaben. 1. Suche in Sprüchen, Lieder-
strophen und Sprichwörtern Nutzanwendungen für Herz und Leben!
2. Gib aus der biblischen Geschichte oder dem Lesebuche Beispiele wun-
derbarer Errettung und Gebetserhörung an! P.
113. Das Erkennen.
I. N. Vogl, Balladen usw. Wien 1846. S. 303.
1. Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand
kommt wieder heim aus dem fremden Land.
Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt:
Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
2. So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor!
Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
oft hatt' der Becher die beiden vereint.
3. Doch siehe, Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.
Und weiter wandert nach kurzem Gruß
der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
4. Da schaut aus dem Fenster sein Schätze! fromm:
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!"
Doch sieh! — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
5. Und weiter geht er die Straß' entlang,
ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang'.
Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her.
„Gott grüß Euch!" so spricht er und sonst nichts mehr.
6. Doch sieh! — das Mütterchen schluchzet vor Lust:
„Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust.
Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
288
II. Epische Dichtungen.
I. Erläuterung des Inhalts. Str. 1. Ein Wanderbursch ist's, den
uns der Dichter vorführt, nicht einer, der, wie es heute vielfach geschieht,
im bequemen Eisenbahnwagen von einer großen Stadt zur andern fährt,
um sich Arbeit zu suchen, sondern ein echter Wanderbnrsch, dessen
einzige Reisebequemlichkeit der stützende Wand er stab ist. Er „kommt
wieder heun aus dem fremden Land". Lange Jahre war er fort ge-
wesen, um die Kunst seines Handwerkes bei andern Meistern kennen zu
lernen. Endlich treibt ihn die Sehnsucht nach Haus, zum Freunde, zur
Braut, zur Mutter. „Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt,"
das sind die Zeichen der langen Wanderschaft. Am letzten Tage ist er
vom frühetl Morgen bis zum späten Abend gewandert, um noch vor
Nacht das mütterliche Haus betreten zu können. Der lange Weg war
staubig, und dieser Staub lag nicht nur auf seinen Kleidern, sondern auch
ans seinem Bart- und Haupthaar. Doch unser Wanderbnrsch war das
Wandern mit dem Ränzel aus dem Rücken und dem festen Stocke in
der Hand gewohnt, das erkennen wir an dem von der Sonne verbrannten
Antlitz. — Endlich ist er dem heimatlichen Städtchen nahe; da denkt er
bei sich: Wer wird dir wohl zuerst begegnen, und wer wird dich wohl
zuerst erkennen? Was werden deine Freunde und deine Braut bei deiner
Rückkehr sagen? Wie wird's deinem Mütterlein gehen? In den langen
Jahren seiner Abwesenheit hatte er sich ja körperlich ganz bedeutend ver-
ändert; denn als unbärtiger Jüngling war er ausgezogen, und als Mann
kam er wieder.
Str. 2. „So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor;
am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor."
„So", d. h. in der eben beschriebenen Weise und mit den oben an-
gedeuteten Gedanken und Gefühlen, „tritt er ins Städtchen durchs alte
Tor", wo er sonst als Kind auch oft aus- und eingegangen ist. Da
saß früher immer der Zolleinnehmer, der jedem Ans- und Eingehenden
den Schlagbaum öffnete. Gerade so (just) war es auch heute. Das alte
Tor war noch da, auch der Schlagbanm fehlte nicht; ja sogar den Zöllner
sah er noch. Aber es war nicht mehr der alte, sondern ein jüngerer
Mann, in dem Alter des Wanderburschen. Und siehe! als er genau hin-
sieht, bemerkt er, daß es sein Jugendfreund ist, mit dem er oft genug
am Feierabend beim Glase Bier oder Wein sich vergnügt hat.
Str. 3. Der Wanderbnrsch grüßt den Freund; aber dieser erkennt
den von der Sonne gebräunten Burschen nicht; sein Gegengruß klingt kalt,
so wie man ihn zu einem Unbekannten spricht. Das befremdet den Wan-
derburschen, und er geht deshalb nach kurzem Gruße weiter, ohne sich zu
erkennen zu geben, „und schüttelt den Staub vom Fuß", d. h. hier nicht,
wie in der Bibel, zum Zeichen, daß er keine Gemeinschaft mehr mit dem
alten Freunde haben wollte, sondern er reinigt die Füße vom Reisestaube,
weil er in die Stadt eintritt und durch die Straßen nicht mit gar zu
unsauberen Schuhen wandern will.
Str. 4. Sein Gang geht nun gewiß absichtlich an dem Hause seiner
Braut („Schätzet", süddeutscher Ausdruck für Schatz, Schätzchen) vorüber.
Vogl: Das Erkennen.
289
Schon aus der Ferne sieht er, wie das „fromme" Mädchen nach voll-
endeter Arbeit aus dem Fenster schaut. Mit kräftiger Stimme ruft er
ihr entgegen: „Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!" Aber
das Mädchen kennt ihn nicht und ruft ihm deshalb auch kein Willkom-
men! zu. Ja, sie tritt wohl gar zurück vom Fenster und wundert sich,
wie der fremde Mann sie in einem so vertraulichen Tone grüßen kann.—
Str. 5. Betrübt geht der Wanderbursch weiter. Weder Freund
noch Braut haben ihn erkannt. Hat er sich denn gar so sehr verändert,
daß ihn seine Jugendbekannten nicht mehr kennen, oder wollte ihn viel-
leicht das Mädchen, dem er in der Fremde in Treue und Liebe zugetan
blieb, nicht erkennen? „Ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang'",
als sich die Jungfrau von ihm abwendet. Aber nicht lange soll er be-
trübt sein. Vom Kirchsteig wankt ein altes Mütterchen her. Sein Blick
erkennt die Frau sofort. „Gott grüß euch!" ruft er ihr entgegen, und
dann schweigt er. Wollte er vielleicht abwarten, ob auch sie ihm als
Fremden mit gleichgültigem Worte danken würde? Oder "fürchtete er,
daß, wenn sie, die alte Frau, den süßen Ruf „Mutter" hörte, sie vielleicht
gar vor Freude erschrecken würde? Wir wissen's nicht.
Str. 6. Aber beide Bedenken waren unnötig. Denn kaum hört
die Mutter die alte, bekannte Stimme, da sinkt sie schon mit dem Freuden-
rnfe: „Mein Sohn!" und mit Freudentrünen dem Langersehnten an die
Brust. Ihr Mutterauge ließ sich durch das sonnenverbrannte Antlitz des
Sohnes und die bestäubten Kleider nicht irre führen. Sie, die so oft in
das liebe Auge geschaut hatte, erkannte es trotz ihrer durch das Alter
schwach gewordenen eigenen Augen sofort wieder. Der Ton der Stimme
war ihr noch so bekannt, als ob sie den Ruf auch während der langen
Abwesenheit des Sohnes immer gehört hätte.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Eine bange Frage. Str. 1:
Von wem wird der heimkehrende Bursch wohl zuerst erkannt? B. a) Zwei
schmerzliche Antworten: Er wird nicht erkannt von dem Freunde
(Str. 2 und 3), nicht von der Braut (Str. 4). b) Eine beglückende
Antwort. (Str. 5 und 6): Er wird erkannt von der Mutter.
2. Hauptgedanke. Keine Liebe auf Erden kommt der Mutter-
liebe gleich; sie sieht am schärfsten — schärfer als Freundes- und Braut-
liebe —, verändert sich am wenigsten und liebt am treuesten.
3. Charakteristik. Die Hauptperson ist der Wand erb ursch.
Er steht in dem kräftigen Alter von ungefähr 30 Jahren; denn sein
Freund, der Zöllner, wird ein Mann, feine Braut eine blühende Jung-
frau, seine Mutter ein wankendes Mütterchen genannt. Er hat Liebe
zu seiner Heimat, denn er kehrt zurück und freuet sich, seine Freunde
und seine Mutter wiederzusehen. Er ist ein treuer Mensch, der weder
den Freund noch die Braut vergessen hat. Ja, er weint sogar, als ihm
die gehoffte Gegenliebe nicht dargebracht wird. Er war in der Welt viel
herumgekommen und ein bescheidener, echter Wanderbursch, der es
verschmäht, anders als zu Fuße seine Reise zu unternehmen. Er muß
auch ein guter, folgsamer Sohn gewesen sein, da seine Mutter über
AdL. II. 8. Aufl. 19
290
II. Epische Dichtungen.
seine Rückkehr so unaussprechliche Freude hat. Einen Vater hatte er wohl
nicht mehr, denn seine Mutter kommt vom Kirchhof her; wahrscheinlich
hat sie dort das Grab ihres Gatten besucht.
III. Ausgaben. 1. Der Wanderbursch erzählt seinem Freunde die
Wiederkehr. 2. Vergleichung dieses Gedichts mit dem folgenden:
A. Ähnlichkeiten: a) Beide Gedichte preisen die Mutterliebe.
Inwiefern? b) In beiden Gedichten ist es der Sohn, gegen den sich die
Liebe äußert, e) Beide Sohne sind verändert nach ihrem Äußern, aber
nicht im Herzen. Inwiefern? ck) Beide Mütter waren gute, fromme
Frauen. Inwiefern?
B. Verschiedenheiten: a) Nach Zeit und Ort. b) Nach den
Personen, e) Nach dem Charakter der Mütter und der Söhne, ä) Nach
dem Gedankengange, s) Nach dein Grundgedanken. I) Nach dem Cha-
rakter der Dichtung. W. D.
114. Gin Friedhofsbesuch.
I. N. Voal. Balladen „sw. Wien 1846. S. 313.
1. Beim Totengräber pocht es an:
„Mach auf, mach auf, du greiser
Mann!
2. Tu auf die Tür und nimm den
Stab,
mußt zeigen mir ein teures Grab !"
3. Ein Fremder spricht's mit strupp'-
gem Bart,
verbrannt und rauh, nach Krieger-
art.
4. „Wie heißt fber Teure, der euch starb
und sich ein Pfühl bei mir er-
warb?"
5. „Die Mutter ist es, kennt ihr nicht
der Marthe Sohn mehr am Ge-
sicht?"
6. „Hilf, Gott, wie groß! wie braUn-
gebrannt!
Hätt' nun und nimmer euch erkannt.
7. Doch kommt und seht! hier ist der
Ort,
nach dem gefragt mich euer Wort.
3. Hier wohnt, verhüllt von Erd' und
Stein,
nun euer totes Mütterlein."
9. Da steht der Krieger lang und
schweigt,
das Haupt hinab zur Brust ge-
neigt.
10. Er steht und starrt zum teuren
Grab
mit tränenfeuchtem Blick hinab.
11. Dann schüttelt er das Haupt und
spricht:
„Ihr irrt, hier wohnt die Tote
nicht;
12. wie schloss' ein Raum, so eng und
klein,
die Liebe einer Mutter ein!"
I. Einführung in Stofs und Stimmung. Wohin werden unsere
Toten begraben? Was ist das für sie? (Die letzte Ruhestätte, das letzte
Schlafkämmerlein, das letzte Bett, oder der letzte Pfühl, d. h. Kopf-
kissen.) Womit werden sie zugedeckt oder verhüllt? (Mit Erde und
Stein.) Warum heißt die Begräbnisstätte Kirchhof, Friedhof und Gottes-
acker? Welche Pflichten hat der Totengräber? (Er macht und füllt
die Gräber, hütet sie vor Frevel, zeigt sie den Besuchern und sorgt für
Schmuck und Ordnung auf dem Friedhofe.) Woran erkennt man schon
äußerlich, ob die Hinterbliebenen den Dahingeschiedenen ein treues An-
denken bewahren? (Sie schmücken die Gräber mit Denksteinen oder
Vogl: Ein Friedhofsbesuch. 291
Kreuzen und Blumen, besuchen sie häufig und beten dort.) Einen Fried-
hossbesuch erzählt das folgende Gedicht.
II. Unmittelbare Darbietung, a) Durch guten Vortrag, b)Durch
Kernfragen. Woraus geht hervor, daß der Besucher ein Kriegsmann
war? Warum pocht er beim Totengräber an? Welche Tiir soll der
letztere auftun und wozu den Stab nehmen? Warum will er sich das
Grab „zeigen" lassen? Warum fragt der Totengräber nach dem Namen
der Gestorbenen? Warum hat ihn der Fremde nicht gleich genannt?
Worüber wundert sich der Totengräber? Wie erfüllt er den Wunsch des
Kriegers? Was spricht er dabei? Wie äußert sich Schmerz und Liebe
des Kriegers am Grabe der Mutter? Was können die Tränen bedeuten?
(Liebe, Dank; Reue, daß er die einsame Mutter wider ihren Willen ver-
lassen hat und unter die Soldaten gegangen ist.) Welche Gewißheit emp-
findet er im Herzen? (Sie hat ihm vergeben; sie hat ihm die alte Liebe
über Tod und Grab hinaus bewahrt.) In der Erinnerung an all das
Gute, das sie ihm lebenslang erwiesen, erscheint ihm ihre Liebe unendlich
groß und noch immer lebendig; was kann er darum nicht glauben? (Daß
sie in dem engen Grabe eingeschlossen liegt.)
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Die Schatten der Nacht senken
sich hernieder. Die Sonne ist untergegangen und vergoldet nur noch
schwach die Säume der höchsten Wolken. Still wird's im Städtchen.
Noch stiller ist's stuf dem Fried hose, der an die Stadtmauer stößt. Die
weißen Grabsteine schimmern im Dämmerlicht; auf manchem Grabe stehen
Kreuze mit Goldschrift. Wohin man blickt, beraste Grabhügel oder Blu-
menschmuck. An einem Ende sind die frischen Gräber; das letzte ist noch
offen. An einem ungepflegten Grabe steht ein kräftiger, rauher Kriegs-
mann, sonnverbrannt, mit struppigem Bart, den Schlapphut in der Hand.
Sein Kopf ist auf die Brust geneigt; schweigend starrt er nieder; tränen-
feucht ist sein Blick. Hinter ihm steht der greise Totengräber, auf seinen
Spaten gestützt, und blickt nicht ohne Teilnahme auf den schmerzversun-
kenen Krieger.
2. Gliederung. I. Der fremde Soldat am Hause des Toten-
gräbers. Str. 1. Ein Fremdling pocht an die Tür des Totengräbers.
Str. 2. Dieser soll ihm ein Grab zeigen. Str. 3. Der Fremde hat
das Aussehen eines Kriegsknechtes. Str. 4. Der Totengräber fragt nach
dem Namen des Toten. Str. 5). Der Krieger nennt sich als der alten
Marthe Sohn. Str. 6. Der Totengräber verwundert sich über sein ver-
ändertes Aussehen. II. Der heimgekehrte Sohn am Grabe der Mutter.
Str. 7. Der Totengräber heißt den Krieger folgen. Str. 8. Er führt
ihn zum Grabe seiner Mutter.. Str. 9. Der Krieger neigt schweigend
sein Haupt. Str. 10. Mit feuchten Augen starrt er auf das Grab.
Str. 11. Endlich erwacht er aus seinem Sinnen. Str. 12. Er hält es
für unmöglich, daß die größte Mutterliebe in diesem engen Grabe ein-
geschlossen sei. —
st. Grundgedanke. Die rechte Mutterliebe ist so groß und un-
vergänglich, daß sie ein Grab nicht einschließen, Erde und Stein nicht
19*
292
II. Epische Dichtungen.
verschütten kann. Sie ist ein himmlisches Gut, muß zum Himmel führen
und im Himmel ewig dauern. Sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich
nicht erbittern und überdauert Tod und Grab.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Tausend Wasser mögen die (Mutter-) Liebe nicht auslöschen. Vergleiche
„Erkennen"! 1. Kor. 13, 8: Die Liebe höret nimmer auf.
2. Rede- und Stil Übungen, a) Wie zeigt der K r i e g s m a n n
seine Reue, seinen Glauben und seine Liebe? d) Woraus sieht man
des Totengräbers Alter, Treue im Beruf, Bereitwilligkeit, Erstaunen
und Teilnahme? c) Laß den Totengräber das Erlebnis einem Freunde
mitteilen! G. Schmerbach.
113 Das Schloß am Meer.
Ludwig Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. II, 19.
I. Vorbereitung. Ein Wanderer kehrte von seiner Reise zurück,
besuchte einen Freund und erzählte ihm von den Ländern, die er durch-
zogen, und von den Menschen, die er getroffen hatte. Als er eine Gegend
erwähnte, die der Gastfreund etwa vor Jahresfrist auch besucht hatte, da
fiel ihm dieser in die Rede mit der hastigen Frage: „Hast du dort auch
das herrliche Königsschloß, hoch am Meere, gesehen?" Die Erinnerung
an dies herrlich gelegene Schloß, an die Pracht, die er darin geschaut,
an den Jubel, der damals dort (über die Verlobung der Königstochter)
geherrscht, und an die Freude, die er über das alles empfunden hatte,
beglückte ihn noch heute und riß ihn zu einer begeisterten Schilderung
der Lage und Schönheit des Schlosses hin. Der eben heimgekehrte Freund
antwortete, daß er das Schloß wohl gesehen, aber nicht in dem geschilderten
Glanze, sondern im Nebel und von falbem Mondenschein eigentümlich
beleuchtet. Begeistert fährt der erste fort: Den frischen, melodischen Wellen-
schlag des Meeres an den Grundmauern und den Jubelschall (der Hochzeit)
in den Hallen des Schlosses wirst du wohl gehört haben?
„Nein!" antwortete der zweite. „Auf dem Meere herrschte Stille,
und aus den Hallen des Schlosses drang ein erschütterndes Klagelied!"
Da ruft der erste: „Aber den König und seine Gemahlin wirst du
doch im königlichen Schmuck und voll Freude, die strahlend schöne Tochter
an ihrer Hand (im Brautkleide), gesehen haben?"
„Ja!" erwiderte der zweite. „Die Eltern sah ich beide — aber in
schwarzen Trauerkleidern. — Die Jungfrau sah ich nicht!"
II. Vortrag. Die herrliche Ballade, zu welcher Uhland diesen Stoff
in Form eines Zwiegespräches gestaltet hat, ist von zwei Schülern zu lesen
und vorzutragen. Der erste spricht frisch und feurig, der zweite langsam,
gemessen und mit gehaltenem Tone.
Hast du das Schloß gesehen,
das hohe Schloß am Meer?
Golden und rosig wehen
die Wolken drüber her.
2. Es möchte sich nieder neigen
in die spiegelklare Flut,
es möchte streben und steigen
in der Abendwolken Glut.
Uhland: Das Schloß am Meer.
293
3. „Wohl hab' ich es gesehen,
das hohe Schloß am Meer,
und den Mond darüber stehen
und Nebel weit umher."
4. Der Wind und des Meeres Wellen,
gaben sie frischen Klang?
Vernahmst du aus hohen Hallen
Saiten und Festgesang?
5. „Die Winde, die Wogen alle
lagen in tiefer Ruh;
einem Klagelied aus der Halle
hört' ich mit Tränen zu."
0. Sahest du oben gehen
den König und sein Gemahl,
der roten Mäntel Wehen,
der goldnen Kronen Strahl?
7. Führten sie nicht mit Wonne
eine schöne Jungfrau dar,
herrlich wie eine Sonne,
strahlend im goldnen Haar?
8. „Wohl sah ich die Eltern beide
ohne der Kronen Licht,
im schwarzen Trauerkleide;
die Jungfrau sah ich nicht."
III. Bertiefung. 1. Zeit und Ort. Die beiden Freunde haben das-
selbe Schloß zu verschiedenen Zeiten und unter ganz verschiedenen Um-
ständen gesehen, der erste an einem Freuden-, der andere an einem
Tranertage; deshalb weicht die Beschreibung so voneinander ab. a) Das
Schloß amFreuden- (Verlobungs-)T a g e: Am Ufer des weiten Mee-
res erhebt sich auf Felsengrund hoch und stattlich ein prächtiges Schloß.
Darüber hin ziehen in leisein Luftznge leichte Wolken, die von der Abend-
sonne rosig und golden angehaucht sind. In die tiefe, klare Meeresflut
neigt es sich, spiegelt sich da ab und badet sich gleichsam darin; in die
Glut des Abendhimmels steigt es hinauf, und weit in die Lande leuchten
seine Fenster und Zinnen. Ein frischer Wind kräuselt die Wellen des
Meeres, daß sic heranwallen und melodisch klingend gegen das Fundament
des Schlosses schlagen und plätschern. In den hohen Hallen und ge-
schmückten Sälen herrscht frohes Leben und Treiben. Saitenspiel iinb
Festgesang dringt heraus zu den Lauschern in den Gärten und auf den
Stufen. Der König und die Königin haben ihren besten Schmuck airge-
legt, den Purpurmantel und die Krone. Aber heller als das Gold und
edle Gestein in der Krone glänzen die Augen vor Freude. An den Händen
führen sie ihre herrliche Tochter im goldnen Haar und köstlichen Braut-
schmuck dem erwählten Bräutigam entgegen. — b) Das Schloß am
Trauer-(Begräbnis-)Tagc; Dasselbe Schloß hoch am Meer, aber
Nebel, mit dem falbes, ungewisses Mondlicht ringt, verhüllt es. — Auf
dem Meere Windstille; in beit Hallen Klagegesang; König und Königin
in schwarzen Tranergewändern, ohne fürstlichen Schmuck; die Königs-
tochter nirgends zu sehen!
2. G e d a n k e n g a n g. Die Ballade ist ein Zwiegespräch zwischen zwei
Reisenden, die das Königsschloß zu verschiedenen Zeiten gesehen haben.
Der erste schildert begeistert in Str. 1 und 2 die herrliche Lage und
große Pracht des Schlosses, in Str. 4 das fröhliche Festgelag in seinen
Hallen und in Str. 6 und 7 das Glück der Bewohner. Der zweite
berichtet kühl, ja mit verhaltenem Schmerze in Str. 3: Nebel und fahler
Mondenschein verhüllen das Schloß; Str. 5: Windstille auf dem Meere,
erschütternde Klagen im Schlosse; Str. 8: das Elternpaar in Trauer,
die Tochter — verschwunden!
294
II. Epijche Dichtungen.
3. Grundged a u k e. Die Königstochter war die Sonne des Königs-
schlosses. Ihre Schönheit verklärte, ihre Güte belebte und beglückte das
Schloß und seine Beivohner. Nun ist die Sonne untergegangen, die Freude
verstummt. — Den erschütternden Gegensatz: „Leben und Glück, — Tod
und Jammer im Schlosse!" hat Uhland meisterhaft gezeichnet.
4. Eigentümliches. Der Dichter führt uns nicht mitten in die
Handlung, läßt uns nicht unmittelbar den schroffen Wechsel des Geschicks
mit erleben, sondern zeigt ihn nur in den Gemütern der beiden Erzähler
abgespiegelt. Zwischen dem erschütternden Ereignis und der Erzählung
läßt er den Schleier der Ferne niedersinken. Dadurch wird das grelle
Licht gemildert, aber die geheimnisvolle Wirkung erhöht. Was der Dichter
sagt, ist schön und bedeutend; was er aber verschweigt, und was man
zwischen den Zeilen lesen muß, ist noch ergreifender. Den ganzen Jammer
der Krankheit, den Schmerz des Todes, vielleicht an gebrochenem Herzen,
das Begräbnis, den jähen Wechsel des Glücks, die Vernichtung aller
Wünsche und Hoffnungen faßt er in die paar Worte: Die Jungfrau
sah ich nicht!
Die poetische Fo r m der Ballade ist die neue Nib eln ng e nst r o p h e
(s. Bd. III, Anhang I B IV). Diese schmiegsame Strophe ist für den Aus-
druck wechselnder Empfindungen besonders geeignet. Uhland hat sie tu
freier Weise so umgebildet, daß er je zwei Zeilen zu vier Versen mit
gekreuzten Reimen gemacht hat. Auch diese Form der Ballade paßt vor-
trefflich zu dem Inhalte und verrät beu Meister. P.
116 Der blinde König.
Ludwig Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. T. II, S. 16.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Nördlich von Schottland liegen
die 67 felsigen Orkney-Inseln, in denen manche das T Hille der Alten
sehen wollen. (Goethe: Es war ein König in Thule —.) Die Inseln
waren früher dichter als heute bevölkert und standen unter eigenen Fürsten.
Die 'Bewohner waren kühne Schiffer und tapfere Fechter (Kämpfer).
Raub- und Fehdezüge >varen ihre Lust. Auf einzelnen sonst unbewohnten
Jnselchen hausten trotzige und sehr starke Riesen, die von Raub lebten
ilnd sich um den König nicht kümmerten. Viele der'Inseln luaren nur
durch schmale Meeresarme getrennt, so daß bei Windstille der Ruf der
lnenschlichen Stinline von der einen auf die andere drang.
Auf eine dieser Inseln führt uns >vohl Uhland in seiner Ballade
„Der blinde König". Auf dem steilen Rande oder Borde steht ein blin-
der König. Er stützt sich auf einen Stab; das Haupt ist weit vorgeneigt,
und das lange, graue Haar hängt um sein Gesicht. Um ihn steht eine ganze
Schar von Rittern und Knappen (Fechtern) und schaut mit äußerster
Spannung hinaus ins Meer. Unweit der Insel, nur durch einen schmalen
Meeressaum getrennt, liegt ein kleines Eiland, auf dem ein ungeschlachter
Riese in unterirdischen Felsenkammern (Schluchten oder Klüften) haust.
Er hat die liebliche Tochter des blinden Königs bei einem Tanze ant grünen
Uhland: Der blinde König.
295
Strande überfallen, tu einem Boote auf seine Insel geschleppt und dort
in ein Felsb erlies (d. h. unterirdisches Gefängnis, das sich in dunkler
Tiefe dem Auge verliert oder verliest) gesperrt. Dort soll sie so lange
schmachten, bis sie einlvilligt, sein Weib zu werden.
Drüben steht nun der Riese und schwingt unter Schreien und Toben
sein Hünen- (d. h. Riesen-)Schwert gegen einen schönen, gewandten
Jüngling, den Sohn des blinde,t Königs. Der Jüngling hält in der
linken Hand den blanken Schild zum Schutze gegen des Riesen wilde
Streiche, in der Rechten aber blitzt die Klinge seines früher so tapferen
Vaters, die von den Skalden oder nordischen Sängern so oft ge-
priesen worden und unter allen Schwertern den Preis davongetragen
hatte. An, Strande der Rieseninsel schaukelt auf den stillen Fluten ein
Kahn, der den Königssohn hinübergetragen hat. (Vortrag des Gedichts.)
1. Was steht der nord'schen Fechter
Schar
hoch auf des Meeres Bord?
Was will in seinem grauen Haar
der blinde König dort?
Er ruft in bittrem Harme,
auf seinen Stab gelehnt,
daß überm Meeresarme
das Eiland widertönt: usw.
II. Vertiefung. 1. Charakterzeichnnng. Der König ist alt,
erblindet, hilflos, tief gebeugt über den Verlust der Tochter, ent-
rüstet über die Frechheit des Riesen, unwillig über die Feigheit der
Ritter, besorgt um den einzigen Sohn, vertrauend auf des Sohnes
edles Mark und die Güte des Schwertes, gefaßt zu sterben, gespannt
ans den Ausgang des Kampfes, freudigbang beim Erklingen seines
Schwertes, beglückwünscht durch die Fechter, beglückt durch die Ret-
tung von Sohn und Tochter, sterbtnsfreudig. Weise diese Eigen-
schaften aus den, Gedichte nach!
Der Sohn ist j u n g, von edler Art, liebevoll gegen Vater und
Schwester, ehrliebend, mutig, zum Kampf entschlossen, ge-
schickt im Rudern, gewandt und siegreich im Kampfe. Weise dies
nach!
Die Tochter ist jung, blond und schön, leutselig gegen die
Altersgenossen, keusch und züchtig, entschlossen, geschickt in
Saitenspiel und Gesang, erst gefangen, dann befreit, und die Wonne
des Vaters. (Nachweis!);
Der Riese ist groß von Gestalt, stark an Kraft, gut bewaffnet,
in einer Kluft einsam hausend, raub- und kampflustig, höhnisch
gegen den Greis, wild und laut im Kampfe, gefällt wie ein Eichbaum,
bestraft nach Verdienst. (Nachweis!)
Die Fechter zeigen sich als Wächter unachtsam, in der Gefahr
mutlos und unentschlossen, gespannt und aufmerksam wäh-
rend des Kampfes und erfreut über den Sieg des Königssohnes.
(Beweis!)
2. Gedanken gang. Str. 1. Der blinde König steht unter seinen
Fechtern auf einem Felsvorsprunge der Insel. Str. 2. Er fordert von
dein räuberischen Rieselt seine geraubte Tochter zurück. Str. 3. Der Riese
296
II. Epische Dichtungen.
verhöhnt ihn und seine Ritter. Sir. 4. Der Sohn des Königs erbietet
sich zum Kampfe. Str. 5. Er fegt über und kämpft mit dem Riesen.
Str. 6. Der König ahnt und die Ritter verkünden den Fall des Riesen.
Str. 7. Der Sieger kehrt mit seiner befreiten Schwester zurück. Str. 8.
Der Vater hofft von seinen Kindern ein wonniges Alter und ein ehren-
volles Grab.
3. Grundgedanke. Liebe macht stark, und Treue siegt! Unrecht
und Gewalt finden stets ein: Halt! — Gute, liebevolle Kinder sind für
ihre Eltern ein Stab im Leben, ein Schirm int Unglück, der Augen Licht,
des Herzens Freude und des Grabes schönstes Denkmal.
4. Besondere Schönheiten. Die ganze Handlung entwickelt sich
vor unsern Augen und Ohren wie eine Szene auf der Bühne. Wir
sehen als Zuschauer von erhöhtem Standpunkte alle Personen, jede in
ihrer eigentümlichen Rolle, von Anfang bis zu Ende handeln und reden,
hören mit unsern Ohren, was sie reden, und sehen mit unsern Augen,
was geschieht. Es ist ein herrliches Bild von eigenartigster Färbung,
voll Leben, Handlung und Wechsel, das die Seele erst tief aufregt nnd
dann hoch befriedigt. Welch ein Konflikt: auf die Schwertspitze gestellt
das Leben des Königs nnd seines Sohnes, das Geschick der Tochter und
des Reiches, die Ehre der Krone und des königlichen Stammes!
Welch ein Kontrast: der König blind, hilflos, allein, von den Rit-
tern im Stiche gelassen, der Tochter beraubt, von dem Räuber verhöhnt,
der Sohn im Zweikampfe mit dem übermächtigen Unholde, Ehre, Krone
und Leben aufs äußerste gefährdet — und dann: der Sohn im Glanze
der Ehre, die Tochter im Glanze der Treue und Lieblichkeit, das Alter
und das Grab im Glanze der Hoffnung, Krone und Thron auf neu-
befestigtem Fundament!
Und wie schön und zahlreich sind die Gegensätze in der dichterischen
Sprache: Der greise, gebrochene König ruft, von Schmerz bewegt, so laut
und kraftvoll, daß das Eiland widerhallt. — Dir Schande, mir Gram!
— Der ruhmreiche, jetzt hilflose König und die feige Fechterschar. —
Die achtlosen Wächter und der schlaue, wachsame Räuber. — Der Tanz
am niedrigen, grünen Strande und der unglückliche König auf hohem Fels-
ufer. — Hier eine feige Fechterschar, dort ein übermütiger, einsamer Riese.
— Der greise König und der junge Sohn. — Des Königs Frage: Bin
ich denn ganz allein? und die zahlreichen Ritter um ihn. — Seine toten
Augen, aus denen Unwille flammt, und die niedergeschlagenen Blicke der
Ritter. — Die Riesenstärke des Räubers und das edle Mark im Königs-
sohn. — Die edle Art und das gute Schwert. — Des Sohnes möglicher
Fall und des Vaters freiwilliger Tod. — Das plätschernde Meer und die
lauschenden Ritter hüben, Kampfgeschrei, Toben und dumpfer Widerhall
drüben. — Des Schwertes hoffnungsreiches Klingen und des Riesen Fall.
— Der Sohn im Waffenschmnck intb die Tochter im Schmuck der Schön-
heit. — Droben auf dem Stein der wartende König, drunten der landende
Kahn. — Das Alter wonnig und das Grab ehrenvoll durch die Tapfer-
keit des Sohnes und die Lieblichkeit der Tochter. —
297
Bernhardt: Der Löwe in Florenz.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes: Ps.
112, 4: Den Frommen gehet das Licht auf in der Finsternis von dem
Gnädigen, Barmherzigen und Gerechten. — 1. Petr. 5, 5: Gott wider-
stehet den Hoffärtigen. — 2. Kor. 12, 9: Laß dir an meiner Gnade ge-
nügen —.
Wie die Aussaat, so die Ernte; wie die Taten, so der Lohn! —
Hochmut kommt vor dem Fall. Wenn die Not am größten, ist die Hilfe
arn nächsten.
Uhlands „Schwert": „Der Jüngling spricht's, ihn Kraft durchdringt,
das Schwert er hoch in Lüften schwingt." — „Sängers Fluch": „Da faßt
er seine Harfe, sie aller Harfen Preis —."
Goliath und David. — Theseus und sein Vater.
2. Rede- und Stilübungen, a) Erzählung in Prosa, b) Ver-
gleiche die Geschichte „David und Goliath" und „Der blinde König"!
?.
117. A. Der Löwe in Florenz.
Heinrich Bernhards. Taschenbuch znm geselligen Vergnügen auf das Jahr 1819.
Leipzig. S- 233.
„Der Löw' ist los, der Löw' ist frei,
die ehernen Bande riß er entzwei! —
Zurück! — daß ihr den vergeblichen Mut
nicht schrecklich büßet im eigenen Blut!"
5 Und jeder suchte mit scheuer Eil'
in des Hauses Jnnerm Schutz uud Heil;
auf Markt und Straßen all umher
ward's plötzlich still und menschenleer.
Ein Kindlein nur, das unbewußt,
10 verloren in des Spieles Lust,
fern von der sorglichen Mutter Hand,
saß auf dem Markt am Brunnenrand.
Wohl viele schauten von oben herab,
sie schauten geöffnet des Kindleins Grab.
15 Sie rangen die Hände und weinten sehr
und blickten nach Hilfe zag umher,
doch keiner wagte das eigene Leben
uni des fremden willen dahin zu geben;
denn schon verkündet nahes Gebrüll
20 das Verderben, das jegliches meiden will.
Und schon mit der rollenden Augen Glut
erlechzt der Löwe des Kindleins Blut,
ja, schon erhebt er die grimmige Klau' —
o qualvoll herzzerreißende Schau!
25 So rettet nichts das zarte Leben,
dem gräßlichsten Tode dahingegeben?
Da plötzlich stürzet aus jenem Haus
mit fliegenden Haaren ein Weib heraus. -
„Um Gottes willen, o Weib, halt ein!
30 Willst du dich selbst dem Verderben weihn?
Unglückliche Mutter! Zurück den Schritt!
Du kannst nicht retten, du stirbst nur mit!"
Doch furchtlos fällt sie den Löwen an,
und aus dem Rache» mit scharfem Zahn
298
II. Epische Dichtungen.
35 nimmt sic das unversehrte Kind
in ihren rettenden Arm geschivind.
Der Löwe stutzt, und unverweilt
mit dem Kinde die Mutter don dannen eilt.
Da erkannte gerührt so jung wie alt
40 des Mutterherzens Allgewalt
und des Leuen großmütigen Sinn zugleich.
Doch manche Mutter, von Schrecken bleich,
sprach still: „Um des eigenen Kindes Leben
hätt' ich mich auch dahingegeben!"
I. Borbereitung und dann Bortrag. In der schönen Stadt Florenz
am Arno in Mittelitalien >var eine Menagerie (Tierbude), in der allerlei
wilde Tiere gezeigt wurden. Besonders erregte ein stattlicher Löwe oder
Leu durch seine Schönheit und Wildheit die Neugier und das Erstaunen.
Ruhelos wanderte das königliche Tier hinter den Eisenstäben seines Käfigs,
den Fesseln seiner Freiheit, hin und her. Aus den rollenden Augen
warf er glühende Blicke durch das Gitter aus den Schwarm der Gaffer.
Grimmig suchte er die ehernen Stäbe seiner Gefängniszelle zu brechen,
indem er seine Klauen (Tatzen) hineinschlug, daran wild in die Höhe
sprang oder sich brüllend dagegen legte, daß sie knackten und loszubrechen
drohten; alles wich dann scheu zurück. Der „Löwe" war das Stadt-
gespräch. Da läuft eines Tages die Schreckenskunde durch die Stadt:
„Der Löwe ist ausgebrochen! Er rast durch die Stadt! Rette sich, wer
kann! Widerstand ist unmöglich und vergeblich!" Alles flüchtet in die
Häuser, verschließt die Türen und sieht zagend (zag) aus den Fenstern
in die still gewordenen Straßen und auf den menschenleeren Markt. Näher
kommt das Gebrüll des Löwen; Furcht und Entsetzen malt sich aus allen
Gesichtern. Da fesselt ein entsetzliches Schauspiel den Blick und macht
die Wangen bleich vor Schrecken: am Brunnen aus dem Markte spielt
sorglos ein Kind; es weiß nichts von der Gefahr; es ist so in sein Spiel
vertieft, daß es die Warnrufe nicht gehört oder nicht verstanden hat.
Der Löwe naht; er ist hungrig und lechzt nach Blut; das Kind must
seine sichere Beute werden. Welch ein herzzerreißendes Schauspiel wird
die nächste Minute bringen? Da fliegt die Mutter des Kindes herbei,
und ihre Liebe wagt, dem Löwen seine sichere Beute streitig zu machen.
Den Heldenmut der Mutterliebe besingt das nachfolgende Gedicht.
Höret es!
II. Vertiefung. 1. Gesamtbild. Ein weiter, menschenleerer Markt-
platz, von Palästen und hohen Häusern umgeben. Aus allen Fenstern
schauen angstvolle, schreckensbleiche Gesichter. In der Mitte ein schön ein-
gefaßter Brunnen, der aus mehreren Röhren frisches Wasser in ein Becken
(Bassin) sprudelt. Einige Stufen ringsum führen empor zu dem Wasser-
behälter. Auf einer Stufe sitzt ein Kind und ist so in sein Spiel ver-
tieft, daß es nicht merkt, was umher vorgeht. Ein stattlicher, fahlgelber
Löwe mit flatternder Mähne, rollenden Augen und geöffnetem Rachen
stürzt heran und wird in wenigen Augenblicken das Kind mit seinen
Tatzen fassen und mit seinen scharfen Zähnen zerfleischen. Bon der andern
Scherer: Die Machi der Tränen.
299
Seite ist aus einer geöffneten Tür ein Weib gestürzt und fliegt mit auf-
gelösten Haaren und ausgebreiteten Armen über den Marktplatz dein
Kinde zu, um es aus dem Rachen des Löwen zu reißen oder das eigene
Leben zu opfern.
2. Gedankengang. I. Die Flucht vor den: entfesselten Löwen
(V. 1—8): a) Der Löive befreit sich (1—2). b) Alles flüchtet vor ihm
in die Häuser (3—8). II. Die Lebensgefahr des Kindes (V. 9—26):
a) Ein Kind spielt sorglos am Marktbrunnen (9—12). b) Mitleidig,
aber untätig bejammert man sein Schicksal (13—18). c) Der Löwe stürzt
blutlechzend auf das Kind los (19—26). III. Die mutige Rettung durch
die Mutter (V. 27—44): aj Die Mutter fliegt dem Löwen entgegen
(27—28). b) Sie achtet auf keine Warnung (29—32). c) Sie nimmt
das Kind dem Löwen aus dem Rachen (33—36). d) Der Löwe stutzt,
und die Rettung gelingt (37—38). e) Alles preist den Heldenmut der
Mutterliebe und die Großmut des Löwen (39—41). I) Manche Mutter
beteuert, daß sie für ihr eigenes Kind ebenso gehandelt hätte (42—44).
3. Grundgedanke. Die Liebe einer Mutter ist stärker als der
Grimm eines Löwen. Oder: Wenn in der Gefahr die Feigheit zagt und
das Mitleid klagt, dann h a n d e l t die Mutterliebe furchtlos für ihr Kind.
III. Verwertung. 1. Winke für Herz und Leben. Nicht zagen
und klagen, sondern mutig handeln soll man in der Gefahr. In dem
mutigen Entschluß liegt halbe Rettung. Frisch gewagt ist halb gewonnen.
— Mehr als sich selbst liebt eine Mutter ihre Kinder. Um ihres Kindes
Leben zu retten, schlägt sie das eigene in die Schanze.
2. Aufgaben. Suche Sprüche, Sprichwörter, biblische Beispiele
und Erzählungen aus dem Lesebuche, die von der aufopfernden Liebe
einer Mutter handeln!
3. Vergleiche: B. Die Macht der Tränen.
Georg Scherer, „Jungbrunnen". 3. Aufl. Berlin 1875. S. 135.
4. Und als die Mutter ihr Kind er-
blickt,
Volkslied.
t. Es kam von einer Neustadt H her
eine Witfrau?) sehr betrübet;
es war gestorben ihr liebes Kind,
das sie von Herzen geliebet.
2. Sie ging einmal ins Feld hinaus,
ihre Traurigkeit zu lindern3 *);
da kam das liebe Jesulein
mit vielen weißen Kindern H.
3. Mit weißen Kleidern angetan,
mit Himmelsglanz verkläret,
mit einer schönen Ehrenkron'
war'n diese Kinder gezieret.
schnell tät sie zu ihm laufen:
„Was machst du hier, mein liebes
Kind,
daß du nicht bist beini Haufen?"5)
5. „Ach, Mutter, liebste Mutter mein,
der Freud' muß ich entbehren6);
hier hab ich einen großen Krug,
muß sammeln Eure Zähren.
6. Habt Ihr zu weinen aufgehört,
vergesseil Eure Schmerzen,
so find' ich Ruh' in dieser Erd' H,
das freute mich von Herzen."
1. Neustadt ist der gewöhnlichste Städtename; also aus irgendeiner
Stadt, die nicht näher bezeichnet werden soll. 2. Eine Witwe, d. h. eine
Frau, deren Mann gestorben ist. Die Mutter des Jünglings zu Nain.
300
II. Epische Dichtungen.
3. Sie will sich zerstreuen, ihre Gedanken von ihrem Verluste ablenken.
4. Weißgekleidet Off. 4, 4. 5. Das Kind hält sich getrennt von der Schar
der seligen Kinder. 6. Die Freude mit den Seligen kann ich nicht teilen,
weil Euer Schmerz, liebe Mutter, mich nicht froh werden läßt. 7. In
meinem Grabe.
C. Heimweh?)
Paul Hepse. Deutscher Musen-Almauach für das Jahr 1851. Herausgegeben
von Gruppe. Berlin. S. 113.
1. So lveich itnd warm
hegt?) dich kein Arm,
als wenn die Mutter dich umfängt.
Kein Trost so traut
dich übertaut ^),
als wenn ihr Aug' an deinem hängt.
2. Und wenn ergreift 0,
in treuem Geist
du manch ein Jugendbild °) bewahrst,
vor allem hoch
beglückt dich doch,
daß deiner' Mutter Kind du warst6).
3. Drum sei gesinnt
als wie ein Kind?),
daß sie dich sterbend segnet eilt!8)
Sonst, ob auch Lieb'
und Freundschaft blieb, —
bist dennoch mutterseelenallein9).
1. Schmerzliches Sehnen und Verlangen nach der Heimat; hier-
nach dem Mutterarm und Mutterherzen, der schönsten Heimat jedes
Menschen. 2. Hegen bedeutet schützen und pflegen. 3. Wie die welke
Pflanze vom Tau erfrischt, so wird das Herz im Leide von den Mutter-
blicken und Muttertränen getröstet und erhoben. 4. Wenn du zum
Greise geworden bist. 5. Erinnerungen an die Jugend, ihre Freuden
und Freunde. 6. Daß du eine solche Mutter gehabt hast, die dich so
erzogen hat. 7. Bewahre dir den Kindessinn dein Lebenlang! 8. „Des
Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet
sie nieder." Ohne den Segen der Mutter würde dein Leben arm sein.
Eine Mutter, die nicht mit dem Segen, sondern mit.Klagen über ihr
Kind aus den Lippen starb, bleibt ein lebenslanger Vorwurf für das
Kind und ein Stachel im Gelvissen. 9. Selbst ein liebes Weib und ein
treuer Freund kann die Mutterliebe nicht ersetzen. Ohne sie, ohne die
Erinnerung an ihre Liebe und ihren Segen wirst du muttcrseeleu-
alle in, d. h. völlig allein, von allen Menschen, sogar von der Seele der
Mutter verlassen sein.
1. Ähnlichkeiten zwischen den drei Gedichten. Sie zeigen
die Innigkeit, Macht und Ausdauer der Mutterliebe in Not und Tod,
das Kind hilfsbedürftig, die Mutter hilfsbereit.
2. Verschiedenheiten. A preist den Heldenmut der Mutter-
liebe in Gefahr, B die Tiefe des Mutterschmerzes beim Verluste des
Kindes, C die Innigkeit und Unentbehrlichkeit der Mutterliebe in
allen Lagen des Lebens. — A versetzt uns auf den Markt in Florenz,
B aus das Feld bei einer Neustadt, C an keinen bestimmten Ort. — In
A sehen wir außer Mutter und Kind die Zuschauer an den Fenstern, in
B den Heiland mit der seligen Kinderschar, in C die Geliebte und den
Freund. — A zeigt das Kind bedroht, B gestorben und ohne selige Ruhe,
0 bereits gealtert. — In A droht das Unglück von dem grimmigen
Hebbel: Das Kind am Brunnen.
301
Löwen, in B kam es vo'n dem bittern Tode, in C von der Not des Lebens.
— In A hat das Kind seine Mutter wirklich noch, in B zählt es in
Schmerz und Unruhe die Tränen der Mutter, in 0 erinnert es sich der
Mutterliebe und des Muttersegens. — In A beglückt die Mutter das
Kind durch die Rettung seines Lebens, in B durch die Beherrschung von
Schmerz und Tränen, in 6 durch ihren Segen. B.
" 118* Das Kind am Brunnen.
Friede. Hebbel, Gedichte. Hamburg 1875. T. I, S. 71.
1. Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht! Doch die liegt ruhig
im Schlafe. Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht, am Hügel weiden die
Schafe.
2. Frait Amme, Frait Amme, das Kind steht auf, es wagt sich weiter
und weiter! Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf, da stehen Blumen und
Kräuter.
3. Frau Amme, Frait Amme, der Brunnen ist tief! Sie schläft, als
läge sie drinnen. Das Kind läuft schnell, wie es nie noch lief, die Blumen
locken's von hinnen.
4. Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel, nun pflückt es die
Blunren sich munter; doch bald ermüdet das reizende Spiel, da schaut's in
die Tiefe hinunter.
5. Und unten erblickt es ein holdes Gesicht, mit Augen so hell und so
süße. Es ist sein eignes, das weiß es noch nicht. Biel stumme, freundliche
Grüße!
6. Das Kindlein winkt, der Schatten geschwind winkt aus der Tiefe ihm
wieder. „Herauf! herauf!" so meint's das Kind, der Schatten: „Hernieder!
hernieder!"
7. Schon beugt es sich über den Brunnenrand — Frau Amme, du schläfst
noch immer! Da fallen die Blumen ihm ans der Hand und trüben den
lockendeti Schimurer.
8. Verschwunden ist sie, die süße Gestalt, verschluckt von der hüpfenden
Welle. Das Kind durchschauert's freiitd und kalt, ilnd schnell enteilt es der
Stelle.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Im Sonnenschein liegt ein statt-
liches Haus und ein schöner Garten. Im Schatten einer Laube steht ein
geflochtenes Korbwügelein, in dem auf weichen Betten ein liebliches Kind
von etwa drei Jahren liegt und schläft. Daneben auf einer Bank sitzt
die Anime, die das Kind anstatt der Mutter gesäugt und gepflegt hat
und es nun hüten soll. Die Hitze des Sommers und die Stille des
Gartens haben sie eingeschläfert. In den Büschen und Bäumen zwitschern
die Vögel. An einem Hügel hinter dem Garten weidet ein Schäfer seine
Herde. In der Mitte des Gartens ist ein Brunnen mit niedriger Ein-
fassung, um den allerlei schöne Blumen stehen.
Inzwischen erwacht das Kind, steigt aus seinem Bettchen, spielt um-
her, sieht die Blumen am Brunnen und läuft dahin.
Viermal ertönt der Warnruf: „Frau Amme, Frau Amme! das Kind
ist erwacht! — Es steht auf! — Der Brunnen ist tief! — Es beugt sich
über den Brunnen!" — Wer rief die Warnung? War es ein Engel?
Der Dichter? Oder nur der Schäfer am Hügel? Man >veiß es nicht!
Aber ruhig schläft die Wärterin weiter, so tief und fest, als läge sie tot
302
II. Epische Dichtungen.
und begraben im Brunnen und keine Stimme dränge zu ihr. Wer soll
nun das Kind warnen und es vor dem drohenden Unglück behüten? Wo
Menschenrat und Menschenhilse endet, da sängt die Hilfe des Herrn an.
„Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerslammen."
Das zeigt das Hebbelsche Gedicht in ergreifender Weise (Vortrag).
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1. Der Tag ist schön;
die Amme schläft; das Kind erwacht. Str. 2. Das Kind eilt zum Brunnen.
Str. 3. Die Blumen dort locken es. Str. 4. Es pflückt sie und schaut
in den Brunnen. Str. 5. Da erblickt es unten sein Spiegelbild und grüßt
es freundlich. Str. 6. Es winkt ihm herauf zu kommen; das Spiegel-
bild winkt hinab. Str. 7. Die Blumen fallen aus der Hand ins Wasser
und zerstören das lockende Bild. Str. 8. Das Kind erschrickt und eilt
gerettet hinweg.
2. Grundgedanke: Ps. 91, 11. 12. Der Herr hat seinen Engeln
befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie
dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößest.
3. Schönheiten des Gedichts. Der sorglose, feste Schlaf der
Amme, das fröhliche Spiel des glücklichen Kindes, die unbekannte drohende
Gefahr und die wunderbare Rettung durch ein paar fallende Blumen,
ohne daß Kind und Amme von Gefahr und Rettung etwas wissen: das
sind die Tatsachen, welche der Dichter äußerst glücklich zu einem er-
greifenden Gedichte zu verknüpfen gewußt hat. Der heitere Vorder- und
der düstere Hintergrund, das fröhliche Kinderspiel mit Blumen und da-
hinter der lauernde Tod im Brunnen, die Sorglosigkeit der Amme und
die behütende Sorgfalt des Vaters im Himmel: das sind Gegensätze von
packender Wirkung. Viermal erschallt die Warnung: „Frau Amme, Frau
Amme!" jedesmal, wenn die Gefahr sich steigert; aber sie schläft, schläft
und schläft! Das Kind ist auf dem Gipfel seines Glücks, als es die freund-
liche Gespielin aus der Tiefe heraufziehen will und sich darum über den
niedrigen Brunnenrand beugt und reckt. Aber auch die Gefahr ist aus
dem Gipfel und kann jeden Augenblick in ein unsägliches Unglück um-
schlagen. Da spricht der himmlische Hüter und Wächter der Kinder sein
Halt. Wie unbedeutend erscheint der rettende Umstand! Im Eifer, das
freundliche Kind aus der Tiefe zu ziehen, läßt das Kind oben ein paar
Blumen in den Brunnen fallen. Sie trüben den Spiegel des Wassers,
und im Nu ist das Kind unten wie verschluckt. Da durchschauert eiu
Schreck das Kind, und es eilt, aus drohender Lebensgefahr gerettet, hin-
weg. „Es ist dem Herrn gleich, durch viel oder wenig zu helfen."
III. Verwertung. 1. Verwandtes. Ps. 127, 1—2. Wo der Herr
nicht —. Kindergebet: „Heiliger Schutzengel mein, laß mich dir be-
fohlen sein —." Liederstrophe: „Ach Hüter unsres Lebens, fürwahr es
ist vergebens mit unsrem Tun und Machen, Ivo nicht dein' Augen wachen."
Ps. 91: Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet —.
2. Aufgaben, a) Erzähle den Inhalt des Gedichts in Prosa!
b) Erzähle Beispiele, wie Gott durch fseine Umstände und Mittel aus
großen Gefahren errettet hat! P.
Seidl: Hans Euler. 303
119♦ Hans Euler.
Ivh. Gabriel Seidl. Ges. Schriften. Herausgegeb. von Hans Max. Wien 1877. I, S. 117.
1. „Horch, Marthe, draußen pocht es! geh, laß den Mann herein!
Es wird ein armer Pilger, der sich verirrte, sein.
Grüß Gott, du schmucker Krieger! nimm Platz an unserm Tisch!
Das Brot ist weiß und locker, der Trank ist hell unb frisch."
2. „ „Es ist nicht Trank, nicht Speise, wonach es not mir tut;
doch so ihr seid Hans Euler, so will ich euer Blut.
.Wißt ihr, vor Monden hab' ich euch noch als Feind bedroht;
doch hatt' ich einen Bruder, den Bruder schlugt ihr tot.
3. Und als er rang am Boden, da schwor ich ihm es gleich,
daß ich ihn wollte rächen, früh oder spät, an euch!""
„Und hab ich ihn erschlagen, so war's im rechten Streit,
und kommt ihr, ihn zu rächen — wohlan! ich bin bereit.
4. Doch nicht im Hause kämpf' ich, nicht zwischen Tür und Wand:
im Angesichte dessen, wofür ich stritt und stand!
Den Säbel, Marthe, weißt du, womit ich ihn erschlug!
Und sollt' ich nimmer kommen, Tirol ist groß genug."
5>. Sie gehen miteinander den nahen Fels hinan.
Sein gülden Tor hat eben der Morgen aufgetan;
der Hans voran, der Fremde recht rüstig hinterdrein,
und höher stets mit beiden der liebe Sonnenschein.
6. Nun stehn sie an der Spitze, — da liegt die Alpenwelt,
die wunderbare, große, vor ihnen aufgehellt;
gesunkne Nebel zeigen der Täler reiche Lust,
mit Hütten in den Armen, mit Herden an der Brust.
7. Dazwischen Riesenbäche, darunter Kluft an Kluft,
daneben Wälderkronen, darüber freie Luft
und, sichtbar nicht, doch fühlbar, von Gottes Ruh' umkreist,
in Hinten und in Herzen der alten Treue Geist.
8. Das sehn die beiden droben, — dem Fremden sinkt die Hand;
Hans aber zeigt hinunter aufs liebe Vaterland:
„Für das hab' ich gefochten, dein Bruder hat's bedroht;
für das hab' ich gestritten, für das schlug ich ihn tot!" —
fl. Der Fremde sieht hinunter, sieht Hansen ins Gesicht,
er will den Arm erheben, den Arm erhebt er nicht:
„„Und hast du ihn erschlagen, so war's im rechten Streit;
und willst du inir verzeihen, komm, Hans, ich bin bereit!""
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Als sich im Jahre 1809 das
Tiroler Volk unter Andreas Hofer gegen die Fremdherrschaft erhob (vgl.
Nr. 83 lind 86), da geschah's auch, daß Tiroler (im bayerischen Heere)
gegen Tiroler (in Hofers Heer) kämpften. In einem dieser Kämpfe er-
schlug der Tiroler Haus Euler (uach eiuer Mitteilung des Barons Hor-
mayr) einen von zwei Tiroler Brüdern, die im bayerischen Heere standen.
Monate später erschien der überlebende Bruder in Hans Eulers Hause,
um den Tod seines Bruders zu rächen. Er ivurde als verirrter Pilger
mit dem schönen Gruß „Grüß Gott!" und mit dem traulichen „Dil"
304
II. Epische Dichtungen.
gastlich aufgenommen. Der Gast aber lehnte jede Freundlichkeit ab und
forderte nur Hans Eulers — Blut! Dieser erschrickt nicht, leugnet seine
Tat nicht. Das traute „Du" wandelt er jetzt in „Ihr". Er läßt sich den
Degen reichen, befiehlt sein treues Weib dem lieben, großen Vaterlande
Tirol, das für die Witwe eines seiner Kämpfer gewiß ein Obdach, einen
Tisch und Trost haben wird, und führt den Gast nun als Feind hinaus
auf den Felsen (Schlernkofel bei Bozen), wo er den Bruder im ehrlichen
Kampfe erschlug. Da, im Angesichte des Vaterlandes und nicht im gast-
lich geöffneten Hause, will er dem Feinde Genugtuung geben.
Es ist ein herrlicher Morgen, der sein Tor der ausgehenden Sonne
öffnet, und im Glanze seiner eigentümlichen Schönheit zeigt sich das
Tiroler Land seinen beiden Söhnen, die sich als Feinde gegenüberstehen.
Die Berge mit ihren Wälderkronen stehen wie schützende Riesen umher,
und die Täler sind wie Mütter, die in ihren Armen die Hütten und
an der Brust die Herden gleich geliebten Kindern halten. Der Rächer
blickt schweigend auf das herrliche Land und dann auf den treuen, furcht-
losen Mann, der sein Leben für die Unabhängigkeit dieses Vaterlandes
in die Schanze geschlagen hat, und sein Haß schmilzt dahin wie das Eis
im Sommer. Er reicht gerührt dem Feinde die Hand der Versöhnung
und gewinnt in ihm einen Freund und Bruder. Hans Eulers Hand hat
die Feinde geschlagen und das Vaterland befreit; Hcms Eulers Blick und
Wort hat den Rächer besiegt und sein Herz gewonnen. Das ist die
Wunderkraft der rechten Vaterlandsliebe!
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1. Der fremde Wandrer
wird gastlich aufgenommen. Str. 2. Er verschmäht die Gastfreundschaft
und fordert Genugtuung für den erschlagenen Bruder. Str. 3. Hans
Euler rechtfertigt seine Tat und stellt sich dem Rächer. Str. 4. Doch nicht
im Hause, sondern im Angesichte des Vaterlandes soll der.Streit aus-
gekämpft werden. Sein liebes Weib verweist Hans Enler an die Treue
und Liebe seiner Landsleute. Str. 5. Die beiden Gegner steigen den Fels
hinan. Str. 6 und 7. Die Höhen und die Tiefen des Tiroler Landes
zeigen ihre Schönheit unverhüllt dem Auge; der Geist der alten Treue
macht sich den Herzen fühlbar. Str. 8. Hans Euler zeigt auf das herr-
liche Land, für das er gekämpft und des Gegners Bruder erschlagen hat.
Str. 9. Da schwindet der Groll im Angesicht des Vaterlandes und eines
solchen Gegners, und die Feinde versöhnen sich.
2. Grundgedanke: Persönlicher Groll und Hader schwindet wie
Nebel vor der Sonne im Angesichte des Vaterlandes und seiner Ver-
teidigung.
3. Schönheiten. Der schlichte, treue Tiroler Charakter, die Schön-
heit des Tiroler Landes und der Umschwung im Gemüte des Rächers
sind ergreifend und schön dargestellt.
4. Aufgaben, a) Eine Charakteristik Hans Eulers! — b) Eine
Schilderung des Tiroler Landes! — c) Verwandlung des Gedichts in
eine Prosa-Erzählung! — d) Beispiele von Versöhnungen! ?.
12V. Das Gewitter.
G. Schwab, Gedichte. Stuttgart 1851. II, 370.
1. Urahne, Großmutter, Mutter und Großmutter spinnet, Urahne gebückt
. Kind sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. —
in dumpfer Stube beisammen sind. Wie wehen die Lüfte so schwül! —
Es spielet das Kind, die Mutter sich usw.
schmückt,
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Geschichtliches. Die Anregung zu dieser erschütternden Ballade
gab dem Dichter eine kurze Bemerkung im „Schwäbischen Merkur" vom
Jahre 1828: „Am 30. Juni 1828 schlug der Blitz in ein von zwei
armen Familien bewohntes Haus der Württembergischen Stadt Tuttlingen
und tötete von zehn Bewohnern desselben vier Personen weiblichen Ge-
schlechts: Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erste 71, die
letzte 8 Jahre alt."
II. Vermittlung des Verständnisses. „Unstreitig", sagt Gude, „ge-
hört die eben mitgeteilte Ballade zu den wirkungsreichsten Gedichten, die
wir von Schwab besitzen. Schon die Tatsache, daß vier Menschen zugleich
vom Blitz getroffen und mit einem Schlage getötet sind, hat etwas Er-
schütterndes. Erhöhet wird das Tragische dieses Ereignisses noch dadurch,
daß alle vier Glieder einer Familie sind und dabei allen Altersstufen
angehören, und daß ferner der Dichter diese verschiedenen Lebensalter nach
ihren Freuden und Leiden, ihren Wünschen und Hoffnungen mit in das
Ereignis verwoben hat, wodurch notwendig die Empfindung in eine größere
Mitleidenschaft für die Betroffenen gezogen und die vernichtende Gewalt
des Schreckens um so erschütternder wird. Das Tatsächliche, welches dem
Gedichte zugrunde liegt, findet sich in der ersten und letzten Strophe."
Str. 1. Vier Personen, die die vier verschiedenen Lebensstufen dar-
stellen: das Greisenalter (die Urahne), das Mannesalter (die Großmutter),
das Jünglingsalter (die Mutter), das Kindesalter (das Kind), sind in
dumpfer Stube beisammen. Warum aber ist die Stube dumpf? Das
hören wir aus dem letzten Verse: „Wie wehen die Lüfte so schwül!"
Also die schwüle Luft und die drückende Hitze, welche einem Gewitter
vorausgehen, machen auch das Zimmer dumpf. Aber der Dichter nennt
uns nicht nur die Personen und ihren Aufenthaltsort, sondern er ncacht
uns auch mit ihrem Tun bekannt: das Kind spielt, die Mutter
schmückt sich, die Großmutter arbeitet, und die Urgroßmutter ruhet
im bequemen Stuhle von ihrer Lebensarbeit aus. In wenigen Worten
schildert hier der Dichter nicht nur diese vier Personen in entsprechender
Weise, sondern auch das Tun jeder der Altersstufen im allgemeinen.
Während so alle vier Personen beschäftigt sind und vielleicht die Vorgänge
in der Natur nicht ahnen, deutet der Dichter uns schon in der letzten
Zeile das Grauenhafte in dem aus gepreßter Brust hervorgestoßenen
Seufzer an: „Wie wehen die Lüfte so schwül!"
Str. 2. Zuerst wird das Kind redend eingeführt. Der Satz „Es
spielet das Kind" wird vom Dichter in der zweiten Strophe weiter aus-
AdL. II. 8. Aufl. 20
306
II. Epische Dichtungen.
geführt. Zwar spielt es fast immer, am Feiertag aber will es sich ganz
dem Spiele hingeben. Es will im „Hag" (im Haine) und auf dem Anger
im Tale und auf der Höhe umherspringen und hüpfen, Blumen pflücken
und sich freuen, wie es seinem Alter entsprechend ist. Die mahnende.
Frage: „Hört ihr's, wie der Donner grollt?" geht an des Kindes ahnungs-
losem Ohr und Herzen unbeachtet vorüber.
Str. 3. „Die Mutter sich schmückt" heißt es in der ersten Strophe,
und in der dritten wird auch dieser Satz weiter ausgeführt. Die junge
Frau, welche noch Freude an geselligen Vergnügungen hat und noch „ans
äußere Anmut und freundliche Zier hält", rüstet ihren Sonntagsstaat, um
unter fröhlichen Menschen am Sonntage selbst mit froh zu sein. Also
auch ihr ist der kommende Sonntag ein freundlicher Tag, an dem ihr
sogar die Sonne schöner scheint als an den Wochentagen, die ihr unter
der Arbeit vergangen sind. Auch sie überhört das Grollen des Donners
im Gedenken an die Lust, die dem Leide folgt, was sie also auch schon
erfahren hat.
Str. 4. Ganz anders spricht die Großmutter. Sie hat keinen Feier-
tag in dem Sinne, wie ihn die Mutter und das Kind sich denken. Sie
ist dem Spiel, dem Schmuck und ähnlichen Freuden der Jugend nicht mehr-
zugänglich, sie hat den Ernst des Lebens empfunden, kennt die schweren
Sorgen und sorgt auch am Sonntag für die notwendigen Bedürfnisse
des Hauses. Aber auch auf das Himmlische ist ihr Sinn gerichtet, und
wie eine Ahnung dessen, was da kommen wird, ruft sie aus: „Wohl dem,
der tat, was er sollt'!"
Str. 5. Je näher das Gewitter heranrückt, desto mehr richtet der
Dichter unser Augenmerk auf den nahenden Tod. Die Urahne gebeugt,
gelähmt durch das Alter am ganzen Körper, krank und schwach, sitzt hinter
dem Ofen im Pfühl. Sie kann nicht mehr schaffen und arbeiten, noch
weniger spielen und scherzen. Sie hält sich für unnütz auf der Welt und
wünscht, daß der morgende Tag für sie ein ewiger Feiertag werde.
Und kaum hat sie seufzend das Wort gesprochen: „Was tu' ich noch auf
der Welt?" da entladet sich die verhängnisvolle Wolke, die drohend am
Himmel gestanden, und früher noch, als sie es selbst gewünscht, ereilt sie
der Tod, ja das ganze Gebäude menschlicher Wünsche wird mit einenr
Schlage durch den zuckenden Strahl vernichtet" (Gude). Mit diesem Er-
eignis ändert sich auch der bisherige Kehrreim: „Hört ihr's, wie der
Donner grollt!" in die Worte: „Seht ihr, >vie der Blitz dort fällt?"
Str. 6. Doch keine der vier Personen kann diese letzte Frage be-
antworten, denn die ganze Stube ist ein Feuer, und alle vier liegen als
Leichen da, getroffen vom Blitze. Noch einmal stellt uns der Dichter den
schroffen Gegensatz dar, den er am Ende aller Strophen anbrachte, aber
jetzt nicht mehr so furchtbar, sondern wie eine versöhnende Stimme von
oben: „Vier Leben endet ein Schlag — und morgen ist's Feiertag." Zwar
ist's nicht der Feiertag, den die vier Menschen erwarten, der irdische:
aber es ist auch ein Feiertag, und zwar ein größerer, schönerer als alle
Feiertage der Welt, es ist der große Feiertag, der alle Wünsche erfüllt,
Uhland: Das Glück von Edenhall.
307
alle Seufzer stillt und Freuden bietet, wie wir sie hier auf Erden kaum
ahnen.
III. Erklärung der ungewöhnlichen Ausdrücke. 1. Urahne oder Ur-
großmutter. Der Ahn oder Ahne ist der Großvater oder Stammvater.
Die Ahnen nennt man die Vorfahren, Voreltern. Die Ahne ist also die
Großmutter usw. Die Vorsilbe „Ur" deutet auf den ersten Anfang. Ur-
ahne ist also die Mutter der Großmutter, die Urgroßmutter. 2. Pfühl
cht größeres schwellendes Kissen, Polster und so — als Teil das Ganze
bezeichnend — auch Lager, Bett, Sitz. Hier bedeutet es so viel wie ein
bequemer Polsterstuhl, der sich hinter dem Ofen befindet. 3. Hag =
niedriges Buschwerk, Gebüsch. Eigentliche Bedeutung: die Einfriedigung,
Hecke, Zaun. 4. Anger ist ein unbebautes, grasbewachsenes Land, Vieh-
weide, Rain, Brink. 5. Gelag, ein Mahl, wobei die Gäste lustig schmau-
sen und zechen.
IV. Gliederung des Gedichtes. 1. Die Einleitung (Str. 1) macht
uns mit den Personen und mit dem Orte der Handlung (die dumpfe Stube)
bekannt.
2. Der Hauptteil. Das Gespräch der vier Personen (Str.
2—5). Str. 2 die Worte des Kindes. Str. 3 die Worte der Mutter. Str. 4
die Worte der Großmutter. Str. 5 die Worte der Urahne.
3. Der Schluß (Str. 6) erzählt das plötzliche Ende der vier Per-
sonen. Grundgedanke. Das Gedicht veranschaulicht in erschütternder
Weise die beiden Gedanken: „Der Mensch denkt, Gott lenkt", und
„Denk an den Tod, o Mensch, du seist alt oder jung."
W. D.
121. Das Glück von Gdenhall.
Ludwig Uhland.
I. Vorbereitung. Nach altgermanischem Volksglauben hatte alles,
was das Auge des Menschen in der Natur sah, Berg, Wald, Wiese,
Quelle, Fluß und See, ein geheimnisvolles Leben für sich; Nixen und
Elfen, Riesen und Zwerge hausten neben den Menschen im Wasser, in
und auf der Erde. Das Ehristentum scheuchte diese Geistergestalten in
die Schatten der Dämmerung und das Dunkel der Nacht, aber sie ver-
schwanden nie ganz aus dem Glauben und den Erzählungen des Volkes.
Bald fügten sie den Menschen bitteres Leid zu, als Strafe für ihren
Abfall vom alten Glauben, und trieben ihr Koboldspiel mit ihnen (vgl.
„Die wilde Jagd" und „Der getreue Eckart", „Erlkönig", „Rübezahl");
bald standen sie ihnen hilfreich zur Seite, den einzelnen sowohl wie ganzen
Geschlechtern. Die Gaben, die sie spenden, erhalten eine besondere Be-
deutung durch die beigefügten Prophezeiungen. Davon wissen auch unsere
deutschen Märchen und Sagen genug zu erzählen. So lesen wir z. B.
in den deutschen Sagen der Gebrüder Grimm I, 39: „Dem Grafen
von Hoia reicht ein Zwerg ein Schwert, ein Salamanderlaken und einen
güldenen Ring . . - mit Anzeigung, diese drei Stücke sollte er und seine
Nachkömnilinge wohl verwahren, und solange sie dieselben beieinander
hätten, würde es einig und wohl in der Grafschaft zustehen; sobald sie
20*
308
II. Epische Dichtungen.
aber voneinander kommen würden, sollte es ein Zeichen sein, daß der
Grafschaft nichts Gutes vorhanden wäre . . Ähnliches wird daselbst
vom Geschlechte derer von Rantzau und von Alvensleben (S. 45
und 75) berichtet. Ein verwandter Stoff ist es auch, der dem Gedichte
Uhlands „Das Glück von Edenhall" zugrunde liegt. Die Sage führt
uns auf außerdeutschen Boden, nach Nordengland in das Gebiet von
Cumberland; dort liegt an dem Flusse Eden der kleine Ort Edenhall.
Vor Zeiten herrschte in dem Tale ein reiches, edles Geschlecht, die Lords
oder Grafen von Edenhall. — Höret nun das Gedicht!
II. 1. Darbietung des Gedichtes durch Vorlesen (S. 144).
2. Erläuterungen. Str. 1. „Nun her mit dem Glücke von
Edenhall!" Trunken sind die Gäste von der Festfreude und dem
Wein, trunken auch der Gastgeber, der junge Lord. So ist er denn in
der rechten Stimmung, den Gästen das kostbarste, merkwürdigste Stück
des Familienschatzes zu zeigen; er darf auf ihren Beifall rechnen. —
Str. 2. Weshalb vernimmt der Schenk ungern den Spruch? (Er sieht,
daß sein junger Gebieter trunken, in Weinlaune ist, und befürchtet Un-
heil für das kostbare Gefäß.) Was deutet die seid ne Hülle an? (Die
Kostbarkeit des Inhalts.) — Das Zögern des treuergebenen Dieners
könnte dem Lord eine Warnung sein; er übersieht sie. — Str. 3. Was
heißt: dem Glas zum Preis? (Zu der kostbaren Form gehört ein
köstlicher Inhalt.) — Zitternd, nicht nur vor Alter, sondern auch vor
innerer Angst, gießt der Greis Rotwein in das Glas. — Str. 4. Die
Erzählung des Lords beweist, daß er mit den Sagen seines Geschlechtes
und der Bedeutung des Kristallglases wohlvertraut ist. — Wie kommt
das Glas zu dem Namen „Glück von Edenhall"? (Das Glück des Ge-
schlechtes ist nach dem Spruch der Fee an das Glas geknüpft, so wird
es selbst zum „Glück".) — Str. 5. Die Gabe ist dem Lord ein Sinn-
bild des Geschlechtes, das volle Becher und lauten Becherklang („wir
läuten gern") liebt. Er ist ein echter Sohn seiner Väter; das Fest,
die Gäste, die Stimmung des Lords legen davon Zeugnis ab. — Str. 6.
Der Klang des Glases, das wundersame Anschwellen vom milden Nachti-
gallentone bis zum Donnerhalle, könnte wiederum den Lord warnen.
— Str. 7. Der Frevel erreicht hier seinen Höhepunkt, von den Worten
geht der Lord zur Tat über. Im Gefühl seiner Kraft und Jugend miß-
achtet er das Geschenk der Fee und verachtet die daran geknüpfte Pro-
phezeiung; er will sein Glück nicht einem zerbrechlichen Glase, sondern
seiner eigenen Kraft zu danken haben. Auch dünkt er sich erhaben über
den Aberglauben der Vorfahren. Und doch ist er nicht ganz frei davon:
wäre er es, er würde das Glas ruhig zur Seite stellen und als ein ur-
altes, wertes Familienerbstück aufbewahren. So liegt aber doch noch ein
Reiz in ihm, das Geheimnis, wenn ein solches vorhanden, zu ergründen.
Daher sein Wort: versuch' ich! — Str. 8. Unaufhaltsam, rasend schnell
bricht das Verhängnis, die Strafe, herein. — Mit dem gellenden, kla-
genden Tone des zerspringenden Glases zerspringt das Gewölbe. Der
Dichter scheint — entsprechend dem sagenhaften Charakter seines Stoffes
Uhland: Das Glück von Edenhall.
309
— das Springen des Gewölbes in wunderbaren ursächlichen Zusammen-
hang mit dern Springen des Glases zu bringen. — Str. 9. Mitten in
dem Grause der Zerstörung steht der Lord allein, willenlos, !vie betäubt.
Den Fuß des zersprungenen Glases hält er fest umspannt; es ist, als
ob er sich von den Trümmern seines „Glückes" nicht trennen könnte.
So sieht er das Strafgericht hereinbrechen, so fällt er. — Str. IO. Das
Gebein des Lords und die Scherben des Glücks gehören auch im Tode
zueinander; der Greis will sie zusammenbetten. — Str. 11. Den Glanz
des Geschlechtes hat der Greis gesehen: hier hat er den jähen Fall, die
Vergänglichkeit alles Irdischen vor Augen, und das entlockt ihm die
Klage. Str. 12: Alles Feste, alles Hohe muß vergehen; was der
Erde Stolz und Glück ist, gleicht ja doch nur dem zerbrechlichen Glase.
— In dieser Klage ist das eine Moment nicht beachtet, das doch in dem
Gedichte gerade die Hauptrolle spielt: der frevelhafte Übermut des Men-
schen, der das Geschick herausfordert und sein Glück selbst zertrümmert. —
III. Vertiefung. 1. Gliederung. a)^Str. 1—3. Das „Glück von
Edenhall" und sein strahlendes Licht, b) Str. 4—6. Seine wunderbare
Geschichte und sein wunderbarer Klang, e) Str. 7—9. Sein Untergang
durch des Lords Frevel und die Strafe des Lords, ä) Str. IO und 11.
Der greise Schenk auf der Trümmerstätte und seine Klage.
2. Charakterzeichnung: a) Des Geschlechtes. Es ist ein
freudiger Stamm, der frohen Lebensgenuß (volle Becher und lauten
Becherklang) im Kreise fröhlicher Menschen liebt; dazu ist es auch ein
k ü h n G e s ch l e ch t. Sie haben es verstanden, des Hauses „Glück" zu hüten.
b) Des Schenken. Er ist des Hauses ältester Vasall, ein
Greis, vertritt die Vergangenheit des Geschlechts, ist von der ge-
heimnisvollen Bedeutung des Bechers überzeugt. Er vernimmt ungern
den Spruch, nimmt zögernd das Glas, schenkt mit Händezittern
ein —• das Bild des stummen, treuen Warners —, will seinem Herren
die letzte Ehre erweisen, klagt um das zersprungene Glück.
o) Des jungen Lords. Er ist der Sohn und Erbe seines Ge-
schlechtes, dessen Gegenwart er darstellt: lebensfroh, gesellig, kühn.
Eine Zukunft hat das Geschlecht in ihm nicht, da er von den Grund-
sätzen desselben anderseits abweicht: er ist ohne Scheu vor der durch
das Alter geheiligten Familienüberlieferung, voll trotzigen Vertrauens auf
eigene Kraft, voll frevelhafter Selbstüberhebung. Er versucht das Glück,
fordert damit die Rache des Schicksals heraus und zertrümmert so mit
eigener Hand sein und seines Geschlechtes Glück. — In seiner Handlungs-
weise zeigt sich die Steigerung des Frevels: er läßt das Glas seiner
sichern Hülle zur Benutzung entnehmen, einschenken, stößt an und versucht
endlich das Glück; dies der Höhepunkt seines Frevels und Übermutes!
Um so jäher ist auch der Fall: er steht Plötzlich verlassen, sieht den Grans
der Vernichtung, fällt wehrlos vom Schwerte des Feindes.
3. Grundgedanke. Das Glück einer Familie, eines Menschen ist
ein heimliches, zerbrechliches Ding; es will wohl gehütet sein. Wehe dem,
der ohne Scheu vor den: altehrwürdigen Bätererbe, voll Trotz auf seine
310
II. Epische Dichtungen.
eigene Kraft, voll frevelhaften Übermutes das Schicksal versucht! Mit
eigener Hand zerstört er sein Glück.
4. Eigentümliches. Ganz allmählich werden wir int Beginn mit
dem Helden des Gedichtes, dem „Glücke von Edenhall", bekannt gemacht.
In Str. 1 hören wir den Namen; voll Spannung warten wir, was für
ein „Glück" das ist, das man sichtbarlich darreichen kann; in Str. 2 er-
fahren wir, was das „Glück" eigentlich ist, kennen seine Bedeutung noch
nicht, müssen aber einen geheimnisvollen Zusammenhang vermuten!
Str. 3 läßt uns die Eigenschaften, Str. 4 endlich die Bedeutung des
Glases kennen lernen. So wird noch einmal die Geschichte des Glases,
seine Schönheit in Glanz und Klang vorgeführt; bald darauf liegt es in
Scherben. — Ähnliche Steigerungen haben wir in der Handlungs-
weise des Lords, im Klange des Glases (Str. 6), im Springen desselben
(„mit dem brechenden Glücke" Str. 8, „das zersprungene Glück" Str. 9,
„die Scherben des Glücks" Str. 10). — Str. 10 enthält eine Reihe der
schroffsten Gegensätze zu Str, 1: von der glänzenden, jugendlich frohen
Festversammlung ist nur der Greis übrig, von dem herrlichen Schlosse
nur grause Trümmer, von des Lords jugendfrischer Gestalt nur verbrannt'
Gebein, von des Glücks leuchtendem Glase nur Scherben. — Von be-
sonderer dichterischer Kunst zeugen die Verwertung des Kehrreims („Glück
von Edenhall") und der durchgehende Reim ans „—hall".
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Ehre das Erbe der Väter!
Poche nicht auf eigne Kraft! Versuche das Schicksal nicht!
2. Verwandtes. Schiller, Der Taucher; Lied von der Glocke, Ab-
schnitt IV gegen Ende. — Böttger, Stavoren (Bd. II, 7. Ausl. Nr. 148).
— Heine, Belsazer.
3. Rede- und Stilübungen. Schildere den Schauplatz und die
handelnden Personen nach Str. 1 und 2, nach Str. 10! Vergleiche unser
Gedicht mit „Der Taucher" von Schiller: Was hat der junge Lord ge-
mein mit dem Knappen? Worin unterscheiden sie sich? (Beide versuchen
das Glück und stürzen dabei ins Verderben; der eine versucht das Schicksal
aus frevelnder Überhebung, der andere, um ein unerreichbar hohes Glück
zu gewinnen.) — Vergleiche „Das Glück von Edenhall" mit „Belsazer"
von H. Heine nach Schauplatz, handelnden Personen, Handlungen (Fest-
mahl, Frevel in Wort und Tat, Strafe)! Dr. P. Polack.
122. A. Der Wanderer in der Sägemühle.
Just. Kerner, Lyrische Gedichte. Stuttgart 1854. S. 456.
l. Dort unten in der Mühle und sah dem Räderspiele
saß ich in süßer Ruh' und sah den Wassern zu usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1 führt den Hörer in die
Situation ein. Ein Wanderer befindet sich an einem Ort, von dem aus
er alles, was in der Schneidemühle zu sehen ist, überschauen kann. Die
Mühle denken wir uns im Tale; ein lebendiger Bach treibt sie. Da saß
Kerner: Der Wanderer in der Sägemühle.
31-1
der Wanderer in „süßer Ruh'", also nichts tuend, nichts sorgend und sich
um nichts kümmernd. Die Räder sind in Tätigkeit, sie spielen gleichsam
miteinander, die großen und kleinen Räder, von denen eins schnell, das
andere langsam läuft. Er sah den „Wassern" zu, d. h. den von Stufe zu
Stufe herabfallenden Wassermassen und Wassertropfen.
Str. 2. Der Wanderer sah aber auch der blanken Säge zu, wie sie
lange Wege in einen Tannenbaum bahnte. Diese Tätigkeit der Säge hat
etwas so Einförmiges, daß dadurch die Seele gleichsam in Träumereien
versenkt wird. Im Traume aber arbeitet die Phantasie: die Säge und
die Tanne sind für den Wanderer nicht mehr leblose Dinge, sondern etwas
Persönliches; die Säge bahnt lange Wege in den Tannenbaum, es
>vird ihr also gleichsam ein Wille, eine selbständige Tätigkeit zugeschrieben,
wie sie nur ein lebendes Wesen, eine Person, hat.
Str. 3. Auch der Tannenbaum wird personifiziert, er singt eine
Tranermelodie: der schneidende, schrillende Schall, welcher vom
Baume beim Durchschneiden erklingt, kommt ihm wie Wehklagen und
Seufzen vor. Gar schön ist auch der Vers: „Durch alle Fasern bebend";
ist es doch, als fühlten wir mit, wie der scharfe Schnitt der Säge gleich-
sam durch das Herz der Tanne geht. Und warum klagt und trauert die
Tanne? Das sagen die folgenden Strophen.
Str. 4. Um ihr Klagelied recht eindringlich zu machen, redet die
Tanne den Wanderer direkt an. Sie sagt, er kehre zur rechten Stunde bei
ihr ein, um von ihr zu erfahren, daß die aus ihr entstandenen Bretter
für ihn zum Sarge bestimmt sind. Die rechte Stunde aber, um an den
Tod zu denken, soll für uns jede Stunde sein; denn wir wissen ja nicht,
in welcher Stunde der Tod an uns herantritt. Vergl. Schillers Worte:
„Rasch tritt der Tod den Menschen an."
Diese Predigt der Tanne gilt jedem Menschen. Für uns alle dringt die
Säge ins Herz der Tanne, denn jeder wird einst in den ans tannenen Bret-
tern gezimmerten Sarg gelegt.
Str. 5. Noch weiß der Wanderer nicht, warum die Tanne sich in
Bretter trennen läßt, erst in dieser Strophe erfährt er es bestimmt: Nach
kurzer Wanderung wird das Holz für dich ein Schrein zur langen
Ruh' im Grabe. Diese Gegensätze, kurze Wanderung und lange Ruh',
geben dem ernsten Wanderer viel zu denken. Wie alt wir auch werden,
unsere Erdenwanderung ist doch immerhin nur von kurzer Dauer im Ver-
hältnis zur ewigen Ruhe im Schoße der „Erden" (alte Form des Genitivs).
Str. 6. Kaum hat die Tanne dies ausgesprochen, da sieht auch der
Wanderer die vier Bretter seines Sarges fallen. Wie sollte es ihm nun
nicht „schwer ums Herz" werden? — denn auch der frömmste und gläu-
bigste Mensch bangt vor der Todesstunde. Ja, das Herz ward dem Wan-
derer so schwer, daß er nicht einmal, wie er wollte, ein Wörtlein mehr lallen
konnte. War's vielleicht eine Frage oder ein Dankesivort, welches er der
Tanne auszusprechen wünschte? Wir wissen's nicht; denn in dem Augen-
blicke, wo der Wanderer das Wort sprechen wollte,
„da ging das Rad nicht mehr".
312
II. Epische Dichtungen.
Auch das Rad unseres Lebens wird bald nicht mehr gehen, d. h.
auch unsere Wanderung auf dieser Welt wird bald genug vollendet sein.
Wohl uns, wenn wir die Predigt der Tanne, ihr memouto mori, zu Herzen
nehmen!
II. Grundgedanke. Das kleine Volkslied ist bereits durch die lieb-
liche Melodie des schönen Liedes „In einem kühlen Grunde, da geht ein
Mühlenrad" in die Schulen und in das Volk eingedrungen. Und das ist
recht! Denn das Sittlich-Veredelnde, das in diesem Liede liegt, kann nicht
genug im Volke verbreitet werden. Das Lied stellt uns hier die Tanne
als Predigerin vor, welche jedem zuruft: Nornonto mori! d. i. Denk'
an den Tod!
III. Gliederung, a) Der Wanderer in der Sägemühle (Str. 1 u. 2).
b) Die Predigt der Tanne und ihre Wirkung auf den Wanderer (Str. 3
bis 6).
IV. Vergleiche damit:
B. Der Fichtenbaum. (Siehe Nr. 123!)
1. In beiden Gedichten sind Tanne*) und Fichtenbauin Prediger
des Todes.
2. Der Baum in der Sägemühle ist zum Zerschneiden schon vor-
bereitet, der Fichtenbaunr dagegen ist noch auf der Höhe einsam schwankend
und lebend.
3. Die verschiedenen Bäume predigen verschiedenen Personen. Die
Tanne, welche bald ihren Zweck, als Material zum Sarge zu dienen,
erreicht hat, spricht zu einem erwachsenen, dem Tode nahen Menschen; die
noch lebendig grünende Fichte auf der Höhe predigt einem noch lebens-
frischen Knaben.
4. Wanderer und Knabe sind in ernster Stimmung.
5. Bei dem Wanderer ist sie hervorgerufen durch das eintönige Rau-
schen des Wassers, das Klappern der Räder und das Knirschen der Säge,
bei dem Knaben dagegen durch das einförmige Plätschern des Wassers,
welches er durch die taktmäßigen Bewegungen des Ruders erregt, und
die Stille, welche ihn auf dem blauen See umgibt.
6. In A wie B sind die Bäume personifiziert, d. h. sie werden lebend
und redend eingeführt: der Baum in der Sägemühle sang, er bebte;
der Baum auf der Höhe träumte, sprach leise, bewegte trauernd
die Zweige und sann, tief in Träumen versunken.
7. Die Predigt ber beiden Bäume unterscheidet sich etwas: in A
verkündet die Tanne dem Wanderer einen baldigen Tod, indem sie sagt,
daß die Bretter zu seinem Sarge schon zugeschnitten sind. In B gibt
die Fichte auf der Höh' dem Knaben noch eine kurze Frist. In A spricht
zuerst die Tanne und dann der Wanderer, in B fordert der Knabe den
Baum zum Sprechen auf.
*) Der Unterschied, welchen die Botanik zwischen Tanne und Fichte macht,
hat hier selbstverständlich keine Bedeutung.
Scheurlin: Der Fichtenbaum.
313
8. Der Erfolg der Predigt ist in A und B ziemlich gleich. Weder
der Wanderer noch der Knabe haben eine Antwort daraus; der Wanderer
versucht es zwar, allein es will ihm infolge der eben gehörten traurigen
Worte nicht gelingen.
9. Die Sprache ist in beiden Liedern schlicht und einfach, entbehrt
aber nicht ganz des Schmuckes; besonders schön sind die Gegensätze, so
in A: „Wenn kurz gewandert du" und „ein Schrein zu langer
Ruh'". In B enthält jede der ersten drei Strophen einen Gegensatz,
z. B. Str. 1: Die alte Fichte ans der Höl/, der Knabe unten ans
dem Wasser. Str. 2: Die Fichte oben träumend, der See unten
schäumend und bewegt. W. D.
123. A. Der Fichtenbaum.
Georg Scheurlin, Gedichte. Ansbach 1852. S. 117.
1. Die alte Fichte schwanket
einsam auf grauer Höh';
der Knabe zieht im Nachen
entlang den blauen See.
2. Die Fichte, tief versunken
in dunklen Träumen, sinnt;
der Knabe kost der Welle,
die schäumend niederrinnt.
3. „O Fichtenbaum dort oben,
du finsterer Gesell,
was schaust du stets so trübe
auf mich zu dieser Stell'?"
4. Da rühret er mit Trauern
der Zweige kühlen Saum
und spricht mit leisen Schauern
der alte Fichtenbaum:
5. „Daß bald die Axt mich suchet
zu deinem Totenschrein,
das macht mich stets so trübe,
gedenk' ich, Knabe, dein."
1. Vertiefung. 1. Lagebild. Ein blauer See liegt zwischen Bergen.
Darüber gleitet ein Kahn. Darin sitzt ein Knabe und plätschert mit der
Hand im Wasser, über dem See auf grauer Felshöhe schwankt einsam
eine alte, dunkle Fichte im Winde. Der Knabe blickt zu ihr empor und
fragt sie; die Fichte blickt hinab und antwortet ihm.
2. Charakterbilder. Die Fichte steht einsam und alleiil ans
der kahlen, grauen Felshöhe. Geduldig läßt sie sich von den Stürmen
hin und her zerren und zerraufen. Träumend und sinnend schaut sie
zurück in ihr Leben, teilnehmend hinab auf den Knaben und pro-
phetisch in seine Zukunft. Die Einsamkeit hat sie trübe, ja finster ge-
stimmt, ihr aber nicht die Teilnahme für fremdes Geschick geraubt. Der
Knabe ist das heitere Gegenbild zu der. ernsten Fichte. Er kost der
Welle, d. h. läßt das Wasser plätschernd über seine Hände rinnen. Ge-
schickt rudert er den Kahn über den See. Teilnehmend fragt er
die Fichte nach dem Grunde ihres Trübsinns. Bewegt hört er die Mah-
nung an den Tod.
3. Gedanken gang. Str. 1 u. 2: Die Fichte steht einsam und
tranmversunken auf der Höhe; der Knabe gleitet spielverloren über den
See. Str. 3 u. 4. Es entspinnt sich ein Zwiegespräch zwischen dem Knaben
und dem Baume. Str. 5. Prophetisch sagt der Baum sein und des Kna-
ben nahes Ende voraus.
314
II. Epische Dichtungen.
Grundgedanke: Sei täglich und stündlich auf den Tod gerüstet;
auch die Jugend ist nicht sicher vor ihm.
4. P o e t i sch e S ch ö n h e i t e n. Tiefe und Höhe sind verbunden durch
ein sinniges Zwiegespräch, durch gegenseitige Teilnahme und ein ähn-
liches Geschick. Die Fichte ist verpersönlicht. Schöne Gegensätze sind: die
graue Felshöhe und der blaue See, das sonnenhelle Knabenwesen und
der düstere Fichtencharakter, droben die Stürme und drunten die plät-
schernden Wellen; droben ein Versunkensein in Sinnen und Träumen,
drunten heiteres Knabengeplauder; droben eine ernste Todesmahnung,
drunten ein blühendes Leben voll Hoffnungen. Der Knabe glaubt sich
von der Fichte angeblickt und fragt sie teilnehmend. Die Fichte antwortet
durch das Rühren der Zweigsäume, d. h. der Nadeln; das ist ihre
Sprache. Ihr baldiges Ende nennt sie „Besuch der Axt". Es bedeutet
den frühen Tod des Knaben; ihr Holz gibt seinen Sarg.
II. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, aber bedenke stets anch das
Ende! — Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, hin geht die Zeit, her
kommt der Tod. — Ein rascher Reiter ist der Tod, er hat Gewalt vom
höchsten Gott. —
2. Rede- und Stil Übungen. Was wird an der Fichte ver-
menschlicht? — Was eint die Tiefe und die Höhe? — Vergleiche: Ilhlands
„Die Kapelle" und „Die Rache", Kerners „Wanderer in der Sägemühle"
und das nachstehende Gedicht!
11. Preis der Tanne.
I. Kerner, Lyrische Gedichte. Stuttgart 1854. S. 6.
1. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe
mit der Tanne sprach und schalt:
„Stolze! hininielwärts dich hebe,
dennoch bleibst dn starr und kalt.
2. „Spend' anch ich nur kargen
Schatten
Wegemüden, gleich wie du,
führet doch mein Saft die Matten,
o wie leicht! der Heimat zu.
3. „Und im Herbste — welche Wonne
bring' ich in des Menschen Haus!
Schaff' ihm eine neue Sonne,
wenn die alte löschet aus."
4. So sich brüstend, sprach die Rebe,
doch die Tanne blieb nicht stumm,
säuselnd sprach sie: „Gerne gebe
ich dir, Rebe, Preis und Ruhm.
5. „Eines doch ist mir beschieden:
mehr zu laben, als dein Wein,
Lebensnlüde; — welchen Frieden
schließen meine Bretter ein!"
6. Ob die Rebe sich gefangen
gab der Tanne, weiß ich nicht;
doch sie schwieg, und Tränen
hangen
sah ich ihr am Auge licht.
Vergleichung von A intb B. Beide Gedichte sind Zwiegespräche,
A zwischen einer Fichte und einem Knaben, B zwischen einer Tanne und
einer Weinrebe. Beide verpersönlichen Pflanzen. Die Bäume sprechen
durch das Säuseln der Zweige, rühmen ihr Holz als Stoff zu Särgen,
erinnern an den Tod und wecken eine ernste Stimmung. In A sind Fichte
und Knabe weit auseinander, aber durch Teilnahme verbunden, in B
Tanne und Rebe nahe zusammen, aber durch einen Wettstreit über ihren
Wert entzweit. In A fragt der Knabe die Fichte nach dem Grunde ihres
Uhland: Die Kapelle.
315
Trübsinns, und die Fichte antwortet mit einem prophetischen Ausblicke
ans ihr und des Knaben nahes Ende. In B schilt die Rebe den Tannen-
baum stolz und kalt, rühmt dagegen ihren belebenden und erfreuenden
Saft. Bescheiden gesteht die Tanne der Rebe den Vorrang zn, erinnert
aber daran, daß sie Lebensmüden zwischen ihren Brettern den ersehnten
Frieden gebe. In A bewegt ein Schauer der Teilnahme die Fichte, in B
P.
eine tiefe Rührung die Rebe.
124. A. Die Kapelle.
Ludwig Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. I. 15.
stille sind die frohen Lieder,
und der Kilabe lauscht empor.
1. Droben stehet die Kapelle,
schauet still ins Tal hinab;
drunten singt bei Wies' und Quelle
froh und hell der Hirtenknab'.
die sich freuten in dem Tal.
2. Traurig tönt das Glöcklein nieder, Hirtenknabe, Hirtenknabe,
schauerlich der Leichenchor; dir auch singt man dort einmal.
1. Vorbemerkung. Anton Schurz erzählt in der Biographie seines
Schwagers Nikolaus Lenau, daß dieser und sein Freund, der Oberjustizrat
Mayer ans Waiblingen, im Jahre 1831 Ludwig Uhland in Tübingen
besucht und mit ihm einen gemeinsamen Lustgang nach der „Wurmlinger
Bergkapelle" unternommen hätten. Durch die herrliche Lage der Kapelle
und den schönen Umblick wären sie so entzückt lvorden, daß jeder die
Kapelle zu besingen sich vorgenommen hätte. Das Gedicht „Die Wnrm-
linger Kapelle" wurde im Jahre 1832 von Lenau an Mayer geschickt
und war infolge jener Anregung entstanden. Die Uhlandsche „Kapelle"
wurde aber schon im Jahre 1805 gedichtet.
II. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Als Zeit muß — besonders auch
im Hinblick auf das Lenausche Gedicht — ein Abend im Herbst ange-
nommen werden. Gegen Abend finden meist die Begräbnisse statt. Im
Herbst weiden die Schafe auf den Wiesen, und der Herbst stimmt die
Seele besonders ernst. Auf einem Hügel erhebt sich eine altersgraue Ka-
pelle. Sie liegt mitten auf dem Gottesacker und ist von Grabhügeln,
Leichensteinen und Kreuzen umgeben. Aus dem Dache hängt frei ein
Glöcklein und läßt seine Klänge weithin erschallen. Ein Leichenzug be-
wegt sich den Berg hinan und betritt durch das geöffnete Tor den Fried-
hof. Ein Kruzifix wird vorangetragen. Dahinter geht der Geistliche, ihm
folgt der Leichenchor, der ernste Grablieder singt. Dann folgen die Träger
mit dem Sarge, und dahinter gehen die Leidtragenden. — Am Fuße des
Berges liegt ein grünes Tal, das ein Bächlein dnrchrinnt, und in
dem ein Hirtenknabe seine kleine Herde weidet und zu der Kapelle
emporschaut.
2. Charakterzeichnung. Der noch jugendliche Hirt weilt
einsam bei seiner Herde, singt fröhlich helle Lieder, richtet aufmerk-
sam den Blick zn der Höhe, lauscht teilnehmend dein Grabgesange, hält
ergriffen mit seinen frohen Liedern ein, gedenkt ernst und fromm
des eignen Todes.
316
II. Epische Dichtungen.
3. Gedankeugaug. Str. 1. Die Kapelle steht still auf dein Berge,
der Knabe singt laut im Tale. Str. 2. Droben erschallt Grabgesang,
und drunten verstummen die frohen Lieder. Str. 3. Das Leichenbegängnis
droben mahnt den Knaben drunten an seinen Tod.
Grundgedanke: Leid und Freude, Leben und Tod grenzen hie-
ntcbeit dicht aneinander. Gedenke des Todes! (Nemsnto mori!)
4. Eigentümliche Schönheiten. Das schlichte Lied ist von er-
greifender Wirkung, besonders durch die Gegensätze: droben die Kapelle,
drunten der Knabe; droben kahle Hänge, drunten frische Wiesen; droben
verfallene Grabhügel, drunten lustige Schäflein; droben Stille, drunten
laute, frohe Lieder; droben Glockenklang, drunten das Murmeln der
Quelle; droben düsterer Gesang des Leichenchors, drunten Verstummen der
frohen Lieder; droben Worte ernster Mahnung am Grabe; drunten ein
lauschendes Ohr und ein empfängliches Herz. Ergreifend wirkt auch der
Wechsel der Szene: erst droben Stille des Todes und drunten laute Freude
des Lebens, dann droben die Laute des Schmerzes und drunten das
Schweigen der Wehmut und der Teilnahme. Und wie schön sind die Gegen-
sätze ausgeglichen! Der Friedhofsweg verbindet und vereinigt das
Tal und den Kapellenhügel, der Tod das Kind und den Greis, das Grab
den Armen und den Reichen, die Teilnahme den Glücklichen und den
Unglücklichen, der Glaube und die Hoffnung — den Himmel und
die Erde.
Die Kapelle ist personifiziert als stiller Wächter und Mahner auf
dein Berge. Zu ihr schaut die Gleichgültigkeit, die Neugier, der Schmerz,
die Teilnahme und die Andacht, jedes auf seine Weise, empor.
Statt „der Knabe verstummt" heißt es „die Lieder sind stille".
III. Verwertung. 1. Verwandtes.
Ps. 90, 5. 6: Du lässest sie dahin fahren —. Ps. 103, 15. 16:
Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras —. Pred. Sal. 12, 8: Es ist
alles ganz eitel.
Lied von Ämilie Juliane, Gräfin v. Schwarzburg-Rudolstadt: Wer weiß,
wie nahe mir mein Ende! Hin geht die Zeit, her kommt der Tod. Ach, wie
geschwinde und behende kann kommen meine Todesnot! Mein Gott, ich bitt'
durch Christi Blut, mach's nur mit meinein Ende gut!
Lied von Johann Heermann (So wahr ich lebe, spricht dein Gott, Str. 6):
Heut' lebst du, heut' bekehre dich! eh morgen kommt, kann's ändern sich. Wer
heut' ist frisch, gesund und rot, ist morgen krank, ja wohl gar tot.
2. Vergleiche: B. Die Wurmlinger Kapelle.
Nikolaus Lenau, Gedichte. Stuttgart 1871. S. 56.
1. Luftig wie ein leichter Kahn
auf des Hügels grüner Welle Z
schwebt sie lächelnd himmelan,
dort die liebliche Kapelle.
2. Einst bei Sonnenuntergang
schritt ich durch die öden Räume,
Priesterwort und Festgesang
säuselten um mich wie Träume2).
3. Und Marias schönes Bild
schien vom Altar sich zu senken,
schien in Trauer, heilig mild,
alter Tage zu gedenken.
Lenau: Die Wurmlinger Kapelle.
317
4. Rötlich kommt der Morgenschein,
und es kehrt der Abendschimmer
treulich bei dem Bilde ein,
doch die Menschen kommen nimmer *).
5. Leise werd' ich hier umweht
von geheimen, srohen Schauern,
gleich als hätt' ein fromm' Gebet
sich verspätet in den Mauern^).
6. Scheidend grüßet hell und klar
noch die Sonn' in die Kapelle,
und der Gräber stille Schar
liegt so traulich vorder Schwelle5).
7. Freundlich schmiegt des Herbstes
Ruh'
sich au die verlaßnen Grüfte;
dort dem fernen Süden zu
wandern Vögel durch die Lüfte6).
8. Alles schlummert, alles schweigt;
mancher Hügel ist versunken;
und die Kreuze stehn geneigt
auf den Gräbern — schlafestrunken.
9. Und der Baum im Abendwind
läßt sein Laub zu Boden wallen,
wie ein schlafergriffnes Kind
läßt sein buntes Spielzeug fallen?).
10. Hier ist all mein Erdenleid
wie ein trüber Duft zerflossen;
süße Todesmütigkeit
hält die Seele hier umschlossen^).
I. Erläuterungen. 1. Der Hügel erscheint als Welle des Bodens,
die Kapelle als ein darauf schwimmender Kahn. 2. Die Gottesdienste in
der Kapelle haben aufgehört, aber die Vorstellung davon umschwebt den
Dichter undeutlich, jedoch schön wie ein Traum. 3. Die Verehrung der
Heiligen hat aufgehört; von Morgen- und Abendsonne wird das Bild
beglänzt, von andächtigen Menschen aber nicht mehr besucht. 4. Das Ge-
bet ist personifiziert und mit einem Vogel verglichen, der sich abends in die
Kapelle verirrt hat und nun mit leisem Flügelschlag hindurchschwebt.
5. Die Kapelle ist gleichsam Hüterin und Hirtin der Gräber. 6. Wie die
Vögel im Herbst dem Süden zustreben, so sind die Seelen der Schläfer
zu Gott geflogen. 7. Wundervolles Bild: von dem herbstlichen Baume
rieselt still das rötliche Laub, wie das bunte Spielzeug aus der kraftlosen
Hand eines Kindes fällt, das mitten im Spiele vom Schlafe übermannt
wird. Ebenso treffend ist die Vergleichung der geneigten Kreuze mit einem
schlaftrunkenen Menschen, der unwillkürlich mit dem Kopfe niederwärts
nickt. 8. Der Friede des Gottesackers stimmt die Seele friedlich nnd weckt
in dem Besucher die Sehnsucht nach dem ewigen Frieden.
Als der Dichter Lenau geisteskrank in der Irrenanstalt Winnenthal
bei Stuttgart war, da schrieb ihm Uhland am 16. November 1844: „Die
Anwesenheit Deines Schwagers (Schurz) benutzten wir, ihn mit der hiesigen
Gegend bekannt zu machen, an der uns manches liebe Andenken Deiner
früheren Besuche haftet. Wir zeigten ihm, wenn auch nur aus der Ferne,
die Bergkapelle, wo Du in der Abendstille das schöne Lied dichtetest, dessen
Worte sich auch jetzt an Dir erfüllen mögen: Hier ist all mein Erdenleid
wie ein trüber Duft zerflossen."
II. Rede- und Stilübuugen. a) Suche Gedichte und Geschichten, in
denen eine Kirche, eine Kapelle, ein Grab, ein Kreuz, ein Stein, ein Baum
usw. eine ernste Mahnung ins Herz ruft! b) Was enthält das Lenausche
Gedicht Eigentümliches über die Zeit, den Berg, die Umgebung,
das Äußere und Innere der Kapelle, die Personen, den Gedan-
ke n g a n g und den Grundgedanken? P.
318
II. Epische Dichtungen.
123. Siegfrieds Schwert.
L. Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. IV. 163.
1. Jung Siegfried war ein stolzer Knab',
ging von des Vaters Burg herab usw.
(Das Gedicht steht iu alle» Lesebüchern.)
I. Geschichtliches. Uhland behandelt in seinen Balladen mit Vorliebe
mittelalterliche Stoffe. So hat er auch in obigem Gedichte eine Sage
aus dem Leben des Helden Siegfried im Nibelungenliede bearbeitet. „Das
Gedicht," sagt Kehr mit vollem Rechte, „ist mit seiner kurz angebun-
denen Ausdrucksweise und seinem kecken, trotzigen Tone ein Lieblings-
gedicht unserer Schuljugend und eine Herzenserqnicknng für gesunde,
naturgemäß erzogene Knaben."
Als Grundlage zum Gedichte diente dem Dichter folgender Abschnitt
aus der Jugendgeschichte unseres Helden: Im Niederlande wohnte in
uralter Zeit ein König, namens Siegmund, der weithin berühmt war durch
seine große Macht. Dessen Sohn hieß Siegfried; der Knabe aber war
von unbändiger Kraft, und all sein Trachten ging dahin, daß er in die
Fremde zöge, um Abenteuer zu bestehen. Endlich gab der König dem
Wunsche seines Sohnes nach und ließ ihn ziehen. — Siegfried kam bald
in ein Dorf, das vor einem Walde lag. Dort verdang er sich bei einem
Schmiede, um Waffen schmieden zu lernen. Aber er schlug so gewaltig
ans das Eisen, daß dieses zersprang und der Amboß in die Erde getrieben
ward. Der Meister fürchtete sich deshalb vor ihm und suchte des wilden
Gesellen sich wieder zu entledigen. Er schickte ihn deshalb in den nahen
Wald zu einem Köhler; aber unterwegs mußte Siegfried an der Höhle
eines greulichen Drachens oder Lindwurms vorüber, und dieser, dachte der
Meister, würde den jungen Helden töten. Wirklich fuhr der Drache ans
den nichts ahnenden Wanderer los, aber Siegfried wehrte sich und erschlug
ihn. Darauf ging er weiter und geriet bald in eine Wildnis, in welcher
es von Drachen, Kröten und anderem giftigen Gewürm wimmelte. Ohne
sich zu besinnen, riß er eine Menge der stärksten Bäume aus der Erde,
warf sie auf die Untiere und zündete dann den Holzstoß an. Aber von
der Glut begann die Hornhaut der Untiere zu schmelzen und floß in
einem Strome daher. Darin badete sich Siegfried und bekam dadurch
eine Haut hart wie Horn (daher: der gehörnte oder hürnene Sieg-
fried), also daß kein Schwert ihn verwunden konnte. Nur zwischen den
Schultern war eine Stelle geblieben, welche, zur Zeit des Bades mit einem
Lindenblatte bedeckt, verwundbar war. Diese Stelle sollte später die Ur-
sache seines frühen Todes sein.
II. Gedankengang. Str. 1. Siegfrieds Ansgang aus dem Vaterhanse.
Str. 2. Siegfried sehnt sich in die weite Welt. Str. 3. Siegfried begegnet
gerüsteten Rittern. Str. 4. Er ist betrübt, daß er nur einen Stecken trägt.
Str. 3. Siegfried geht deshalb in eine Schmiede im Walde. Str. 6.
Dort sieht er Material und Feuer zur Anfertigung der Waffen. Str. 7.
Er bietet sich zum Gesellen bei dem Meister an. Str. 8. Er will lernen,
Uhland: Das Schwert.
319
wie Schwerter angefertigt werden. Str. 9. Er beweist seine Geschicklichkeit
und große Kraft. Str. 10. Er schlägt mit lautem Schalle alles Eisen in
Stücke. Str. 11. Nur die letzte Stange verarbeitet er zu einem großen
Schwerte. Str. 12. Siegfried hat nun ein gutes Schwert und hält sich
für einen tüchtigen Ritter. Str. 13. Nun kann er die größten Heldentaten
verrichten.
III. Gliederung, a) Str. 1—4: Jung Siegfrieds Wanderlust und
Trauer um das mangelnde Ritterschwert, b) Str. 5—8: Jung Siegfrieds
Einkehr in die Waldschmiede und Bitte um Unterricht in der Schwert-
schmiedekunst. e) Str. 9—13: Siegfrieds Meisterstück und Heldenpläne.
IV. Siegfrieds Charakter. Er ivar ein stolzer, d. h. prächtiger,
stattlicher, tüchtiger Knabe; er war ehrgeizig, stark, lernbegierig, geschickt,
furchtlos. (Inwiefern?)
V. Poetische Form. Daß in diesem Gedichte die Form dem In-
halte so trefflich angepaßt ist, können auch schwächere Schüler erkennen.
Es können z. B. die Kinder aufmerksam gemacht werden auf die kurzen
Strophen (je zwei Verse), auf die kräftigen, männlichen Reime jeder
Strophe, auf die kurze Ausdrucksweise (Hinweglassung aller unwichtigen
Wörter, z. B. der Pronomen und Artikel), auf die eigentümlichen Aus-
drücke und Wortstellungen (jung Siegfried, stolzer Knab', wollte
rasten nicht, manch Ritter wert, liebster Meister mein, schwingen
k u n n t falte Form), Schwert, s o b r e i t u n d l a n g, m i t f e st e m S ch i l d,
lustig Feuer usw.). Dann dürften die Schüler auch auf die knappe
Darstellung aufmerksam zu machen sein. In Str. 2 z. B. ist bloß
die Absicht Siegfrieds zur Wanderung ausgesprochen, und in Str. 3 be-
findet er sich schon auf der Wanderung. Ebenso ist in Str. 6 und 7 die An-
kunft und das Gespräch mit dem Meister ohne Verbindung, so daß auch
hier des Lesers Phantasie noch beschäftigt wird. Nicht minder ist es dem
Leser überlassen, es sich zwischen Str. 8 und 9 auszumalen, wie Siegfried
das Schmieden so schnell lernte, und zwischen Str. 11 und 12 ist eben-
falls ein Zeitraum auszufüllen.
G. H. Hiecke sagt in seinen „Gesammelten Aussätzen" über die Form
des Gedichtes: „Der Ton ist vortrefflich, ganz den unbändigen Herren-
trotz malend, in Sprache und Versmaß knapp, kurz angebunden, schroff,
in allem ein kecker und sicherer Dichtergrisf. Wie schön ist das voran-
gestellte Verbum: „Begegnet ihm manch Ritter wert!" Und wie prächtig
steht dem Gedichte die trutzige Form: „Siegfried den Hammer schwingen
knnnt", gleichsam wie einem alten Schwerte ein ehrwürdiger Rostflecken!"
W. D.
126. Das Schwert.
L. Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. T. II. S. 162.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. In alten Zeiten erhoben sich
ans vielen Anhöhen feste Burgen, die heute von der Erde verschwunden
oder zu Ruinen verfallen sind. Darin hausten tapfere Ritter, die sich
fleißig in den Waffen übten und Jagd und Krieg besonders liebten. Wer
320
II. Epische Dichtungen.
Mut im Herzen, Kraft im Arm und Geschick im Gebrauch der Waffen
hatte, der galt als ein rechter Ritter und Held. Weil der Erfolg in den
ritterlichen Kämpfen nicht wenig von der Güte der Waffen abhing, so
standen die Ritter in freundlichem Verkehr mit den Waffenschmieden, die
meist auch im Waffenhandwerk wohl erfahren waren. Die Söhne der
Ritter, Junker (von Jungherr) genannt, wurden schon früh in den Waf-
fen geübt. Erst wenn sie kräftig und geschickt den Speer schleudern, das
Schwert schwingen und das Roß regieren konnten, waren sie der
Väter wert.
In jene Zeit des Mittelalters versetzt uns Uhlands Gedicht „Das
Schwert".
1. Zur Schmiede ging ein junger Held;
er hatt' ein gutes Schwert bestellt:
doch als er's wog in freier Hand,
das Schwert er viel zu schwer erfand.
2. Der alte Schmied den Bart sich streicht:
„Das Schwert ist nicht zu schwer noch leicht;
zu schwach ist Euer Arm, ich mein',
doch morgen soll geholfen sein."
3. „Nein, heut', bei aller Ritterschaft,
durch meine, nicht durch Feuers Kraft!"
Der Jüngling spricht's, ihn Kraft durchdringt,
das Schwert er hoch in Lüften schwingt.
II. Erläuterungsfragen. Warum heißt der Jüngling Held? Wo-
her kam er wohl? Was für eine Schmiede war es? Worin be-
steht die Güte eines Schwertes? (Blank und scharf, fest und wuchtig,
uicht zu schwer und nicht zu leicht.) Wie wog der Jüngling das Schwert
in der freien Hand? (Er faßte es mit der Hand, die gleichsam seine
Wage war, hob und senkte es und versuchte es zu schwingen). Wie fand
er es? Was konnte er nicht damit? (Es im Kreise uni den Kopf schwingen.)
Warum streicht der Ä^hmied den Bart? (Um mit der müßigen Hand
etwas zu tun, oder aus Gewohnheit, oder aus Behagen, oder um das
spöttische Zucken in den Mundwinkeln zu verdecken.) Wie hieße es deut-
licher statt nicht zu schwer noch leicht? (Weder zu schwer noch zu leicht.)
Wie also? (Gerade recht.) Was meint der Schmied bei dem Vorwurfe
des Jünglings? (Der Arm des Jünglings sei noch zu schwach.) Worüber
habe er sich getäuscht? (Über die Kraft und Stärke des Jünglings.) Was
tadelte der Jüngling? (Die Schwere und Plumpheit des Schwertes.) Was
der Schmied? (Die Schwäche des Jünglings.) Wie will der Schmied
bis m o r g e n dem Fehler abhelfen? (Er will das Schwert mit Hilfe des
Feuers leichter machen, indem er etwas Stahl abnimmt und es kürzer,
dünner und schmäler macht.) Was empfindet der Jüngling bei dem Tadel
des Schmiedes? (Scham.) Was erwacht in seinem Herzen? lMut und
Ehrgefühl.) Wie ist sein Ausruf: Nein, heut'! zu ergänzen? (Nein,
Eure Meinung ist falsch; noch heute will ich dem Mangel abhelfen.) Was
bedeutet die Beteuerung bei aller Ritterschaft? (So wahr ich ein
Ritter bin und Rittertum und ritterliche Gesinnung und Taten aufs höchste
Uhland: Das Schwert.
321
schätze.) Welche andere Beteuerungen hört man? (Bei Gott, bei meiner
Ehr' und Seligkeit, bei meiner Treue usw.) Wie und wann will der junge
Held das Schwert passend machen? (Sogleich und durch eigene Kraft.)
Woher hat er plötzlich die Kraft? (Er schämt sich über den Tadel des
Schmiedes; sein Ehrgefühl erwacht, und er faßt einen begeisterten
Entschluß.)
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild. In eitler Waffenschmiede sehen
wir einen hochgewachseircn Jüngling unb einen greisen Schmied. Der
Jüngling prüft ein Schtvert, indem er es in der Hand wiegt unb um
den Kopf zu schwingen versucht; sein Gesicht verrät Unmut über das Ge-
tvicht desselben. Der Schmied schaut ruhig zu, streicht seinen langen Bart,
und es geht etwas wie gutmütiger Spott über seiir Gesicht. In der Mitte
der Schmiede steht der Amboß und an der Seite der Blasebalg, der das
Feuer schürt. An den Wänden hängen allerlei Waffen, und umher liegen
allerlei Werkzeuge. Durch ein Fenster sieht man aus dem Berge eine
stattliche Burg.
2. Gedanken gang: Str. 1. Der junge Held prüft das jüngst be-
stellte Schwert und findet es zu schwer. Str. 2. Der alte Schmied sucht die
Ursache davon in dem schwachen Arm des Jünglings und verspricht Ab-
hilfe. Str. 3. Der Jüngling ist beschämt und gelangt durch seinen festen
Willen zum Vollbesitz der Kraft. (Andere Gliederung: I. Der vor-
schnelle Tadel des Jünglings. II. Der begründete Tadel des Meisters.
III. Die Kraftprobe des Helden.)
3. Grundgedanke: Entschlossener Mut im Herzen gießt Kraft in
die Arme.
4. E i g e n t ü m l i ch k e i t e n. Wie fast in allen Uhlandschen Dichtungen
finden sich auch in diesem kleinen, markigen Gedichte allerlei Auslas-
sungen, die dem Geiste des Lesers freien Spielraum lassen, und schöne
Gegensätze, welche die Klarheit der Vorstellungen erhöhen. — Aus-
lassungen: Woher kam der Jüngling? Warum heißt er Held, da er
doch noch jung und sein Arm noch schwach ist? Was liegt in dem Bart-
streichen des Schmiedes? Worin lag der Irrtum des Schmieds? Was
will er von heute aus morgen tun? Was ist hinter nein, heute!
R i t t e r s ch a f t, m e i n e! zu setzen ? Wie verhalten sich s p r e ch e n, d n r ch -
dringen und schwingen zueinander? — Gegensätze: Burg und
Schmiede, junger Held und alter Schmied, schweres Schtvert und schwacher
Arm, der Unmut des Jünglings und der gutmütige Spott des Alten,
weder zu schwer noch zu leicht, die Hilfe durch Feuerskraft bis morgen
und durch eigene Kraft schon heute, das mutige Wort und die kraft-
volle Tat.
IV. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben. Urteile
nicht vorschnell! — Unterschätze deine Kraft nicht! — Wolle nur ernst-
lich, und du wirst können! — Suche den Grund von Mißerfolgen nicht
in anderen, sondern zuerst in dir! —
2. Verwandtes. Siegfrieds Schwert (S. 318). — Selber ist der
Mann. Wollen ist Können. Wo ein Wille, da ist ein Weg. Frisch ge-
AdL. II. 8. Aufl. 21
322
II. Epische Dichtungen.
wagt ist halb gewonnen. Frische Fische, gute Fische. „In diesem Acker
liegt ein Schatz — grabt nur! —" David im Kampfe gegen Goliath.
Friedrich der Große im Kampfe gegen eine Welt in Waffen.
3. Aufgaben, a) Woran konnte es liegen, daß der Jüngling das
Schwert nicht zu schwingen vermochte, und auf welche Weise war dem
Fehler abzuhelfen? (Der Junker konnte schwächer sein, als der Schmied
gedacht hatte; dann war das Schwert wirklich für ihn zu schwer und mußte
mit Hilfe des Feuers umgeschmiedet und leichter gemacht werden. Oder der
Junker kannte die eigene Kraft noch nicht hinlänglich und hatte sie noch
nie mit eifenfestem Willen eingesetzt; dann mußte sie geweckt, geübt und
unter die Macht eines festen Willens gestellt werden. Der leichte Tadel
und Spott des Schmieds weckte das Scham- und Ehrgefühl des Jüng-
lings und brachte seine Kraft zur höchsten Entfaltung.) b) Vergleiche
den jungen Helden mit jung Siegfried! ?.
127. Lied eines deutschen Knaben
F. L. v. Stolberg, Werke.
1. Mein Arm wird stark und groß
mein Mut,
gib, Vater, mir ein Schwert;
verachte nicht mein junges Blut!
Ich bin der Väter wert.
2. Ich finde fürder keine Ruh'
im weichen Knabenstand;
ich stürb', o Vater, stolz wie du,
den Tod fürs Vaterland!
3. Schon früh in meiner Kindheit war
mein täglich Spiel der Krieg;
im Bette träumt' ich nur Gefahr
und Wunden nur und Sieg.
Hamburg 1827. I. 45.
4. Mein Feldgeschrei erweckte mich
aus mancher Türkeuschlacht;
noch jüngst ein Faustschlag, welchen
ich
dem Bassa zugedacht.
5. Da neulich unsrer Krieger Schar
auf dieser Straße zog
und, wie ein Vogel, der Husar,
das Haus vorüberflog:
6. Da gaffte starr und freute sich
der Knaben froher Schwarm;
ich aber, Vater, härmte mich
und prüfte meinen Arm.
7. Mein Arm ist stark und groß mein Mut;
gib, Vater, mir ein Schwert!
Verachte nicht mein junges Blut!
Ich bin der Väter wert.
I. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1. Ein deutscher Knabe
fordert von feinem Vater ein Schwert, weil er Kraft, Mut
und Ehrgefühl besitzt. Er fühlt Kraft im Arm, Mut im Herzen und
trotz seiner Jugend die keimenden Tugenden seiner Ahnen: Tapferkeit,
Vaterlandsliebe, Ehrgefühl usw.
Str. 2. In dem Gefühle der Kraft, des Mutes und der
Ehre findet der Knabe keine Ruhe in ehr und versichert, daß
er fürs Vaterland zu sterben bereit ist.
Im „weichen", d. h. bequemen und untätigen Knabenleben findet er
keine Genüge mehr.
Str. 3 und 4. Des Heldenknaben Dichten und Trachten
i st v o n K i n d h e i t a n n n r a u f d e n K r i e g g e r i ch t e t g e w e s e n.
Stolberg: Lied eines deutschen Knaben.
323
Kriegsspiele (auch beim Turnen) sind für mutige Knaben die Lieb-
lingsspiele. Sie beleben den Mut und stahlen den Körper. Nicht nur
am Tage, sondern auch nachts im Traume beschäftigte er sich mit Kämpfen,
ein Zeichen, daß der Krieg sein ganzes Denken und Sinnen beherrschte.
Gefahren reizten und Wunden ehrten ihn. Von Türkenkriegen träumte
er, weil diese damals die gefährlichsten und blutigsten waren. So sehr
beseelte den Knaben der Kampfeseifer, daß er im Traume dem Bassa oder
Pascha, d. i. einem Oberbefehlshaber, einen Faustschlag versetzen wollte.
Str> 5 und 6. Als eine Kriegerschar auf der Straße zog,
wurdederHeldenknabe,dersichseinerStärkebewußtwar,
betrübt, während die anderen Knaben die Schar angafften
und sich nur über den Anblick freuten. Der Heldenknabe kommt
hier zum Jünglingsbewußtsein. Während die andern Knaben die
vorüberziehende Kriegerschar nach Kinderart neugierig „starr angaffen",
d. h. mit aufgesperrtem Munde ansehen, da stürmt sich der junge Held,
ö. h. seine Seele empfand einen tiefen Schmerz darüber, daß er nicht mit-
ziehen und mitkämpfen konnte. Er prüfte seinen Arm, ob derselbe wohl
stark genug sei, das Schwert zu führen und das Roß zu lenken. Diese
letzte Prüfung läßt ihn seine Bitte wiederholen.
Str. 7. W i e d e r h o l u n g d e r B i t t e u m d a s S ch w e r t. Die Bitte
wird dringlicher. Alle inneren und äußeren Bedingungen zur Führung
eines Schwertes sind geprüft und erfüllt. Der Knabe sagt nicht mehr „mein
Arm wird stark", sondern „ist stark". Nim muß und wird der Vater die
Bitte erfüllen.
II. Hauptgedanke. Was ein Häkchen werden will, krümmt
sich beizeiten, oder: Ein echter Held zeigt schon in seiner Jugend, daß
er Mut und Kraft hat.
III. Gedankengang. 1. Ein deutscher Knabe bittet seinen Vater um
ein Schwert (Str. 1). 2. Er begründet seine Bitte (Str. 1—6). 3. Zum
Schlüsse wiederholt er die Bitte (Str. 7).
IV. Vergleichung. „Lied eines deutschen Knaben" und „Sieg-
frieds Schwert" von Uhland. (B siehe Nr. 125!)
In beiden Gedichten zeigen Heldenknaben schon früh Kraft und Mut
zu Heldentaten, verlangen dringend nach einem Schwerte, fühlen sich stark
genug, es zu tragen, finden im Baterhause keine Ruhe und sehnen sich
nach Taten.
Der deutsche Knabe, dessen Namen nicht genannt ist, erbittet ein
Schwert von seinem Vater, Siegfried dagegen will es sich selbst anfertigen.
Ersterer will für das Vaterland kämpfen, Siegfried das Land von Riesen
und Drachen befreien. Den deutschen Knaben müssen wir uns in die
Zeit nach den Türkenkriegen, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, versetzen.
Siegfried ist eine sagenhafte Person aus der Zeit des Mittelalters. Sieg-
fried sehen wir im Besitz des selbstgeschmiedeten Schwertes, dem deutschen
Knaben wünschen wir eins von seinem Vater. W. D.
21
324
II. Epische Dichtungen.
128. A. Des Knaben Berglied.
L. Uhland, Werke. Stuttgart 1863. I. S. 33.
1. Ich bin vom Berg der Hirtenknab',
seh' auf die Schlösser all' herab.
Die Sonne strahlt am ersten hier,
am längsten weilet sie bei mir.
Ich bin der Kn ab' vom Berge! Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Grundlage des Liedes. „Aus den Bergen ist Freiheit! Wer nur
aus einige Tage in der Alpenregion gewandert und die reine, frische, scharfe
Luft des Hochgebirgs geatmet hat, der weiß auch, wie diese Berglnft
auf sein ganzes Wesen befreiend wirkt, den Schritt leichter und elastischer,
den Blick heller, den Sinn geweckter macht. Unser Mut hebt sich, wie wir
uns räumlich erheben; mit freierem, stolzerem Sinn blicken wir von oben
herab aus die Welt zu unseren Füßen, auf die Bewohner des flachen
Landes" (Grube). So fühlte sich auch unser Hirtenknabe, welchen uns'
Uhland in diesem frischen Liede voll Wahrheit und Leben vorführt. „Wenn
man das Gedicht liest," sagt Hiecke, „gleich wird einem zumute, als würde
nmn aus der Leib und Seele erdrückenden Stubenluft mit einem Schlage
hinaus entrückt auf die kühle, alle Sinne und Kräfte neu belebende Berges-
höhe. So frisch und leicht, so hoch ist der Ton, so klar und sicher ausge-
prägt die Gestalt des Burschen da droben, daß wir auf einmal dicht bei
ihm stehen und dem unbefangenen Übermut seines Liedes lauschen."
II. Vermittlung des Inhalts. (Nach Kehr.) In der ersten Strophe
erzählt uns der Knabe zuerst, wer er ist, und wo er ist. Mau merkt
es den Worten dieser Strophe an, wie sehr der Knabe sich über die köst-
liche Aussicht und über den Auf- und Untergang der Sonne freut.
Man kann deshalb sagen, daß uns Str. 1 den zufriedenen und fröh-
lichen Hirtenknaben darstellt. Er ist zufrieden; denn er schaut
neidlos auf die prächtigen Schlösser hinab, die unter ihm glänzen, und
er verrät dabei keine Spur von Sehnen und Verlangen nach den Freuden
und Lustbarkeiten der vornehmen Bewohner jener Burgen. Ihm ist die
schöne, frische Natur mit all ihren Gaben mehr wert als alle Pracht
menschlicher Gebäude und aller Luxus verwöhnter Menschen. Aber der
Knabe ist nicht allein mit der Einsamkeit seines Berg- und Hirtenlebens
zufrieden, sondern er betrachtet sich auch als einen vor vielen andern
Bevorzugten. In diesem Bewußtsein wurzelt die Freude, in der er
das liebliche Los besingt, das ihm die Gottheit beschert. In diesem Ge-
fühle der Freude erzählt er uns, daß er viel höher wohne als all die
vornehmen Herren in ihren Schlössern da drunten, daß er weiter in das
Land und in Gottes schöne Welt hinausschauen könne als jene vornehmen
Menschen, daß ihm am frühen Morgen die Sonne früher und am späten
Abend später scheine als jenen. All diese Vorzüge stimmen den Hirten-
knaben so freudig, fröhlich und heiter, daß er mit Stolz in den
Ruf ausbricht: „Ich bin der Kn ab' vom Berge!" Mit diesem kecken
Rufe schließt er die erste Strophe. Und so keck wie er ihn das erste Mal aus-
Uhland: Des Knaben Berglied. 325
ruft, ebenso kühn und frei fügt sich dieser Refrain an alle anderen
Strophen.
Auch Str. 2 gibt uns von diesem Stolze des Knaben Kunde. Hoch
oben aus dem Berge, den der Knabe bewohnt, haben die Ströme ihre
Quellen. („Hier ist des Stromes Mutterhaus" — das ist ein schönes
Bild für den Ursprung des Flusses.) Aus der frischen Bergesquelle, aus
beut klaren Brunnen stillt er seinen Durst. Wieviel besser daran ist er
also gegenüber den Bewohnern des flachen Landes, denen es nicht ver-
gönnt ist, den Labetrunk aus der Quelle („vom Stein heraus") zu ge-
nießen! Sein Selbstbewußtsein wird aber noch um ein Bedeutendes
erhöht, wenn er bedenkt, daß er es ist, der den Strom in seiner Gewalt
hat; denn er ist es ja, der die Felsenquelle, die als flinkes Wässerchen
den Berg hinabeilt, mit seinen Armen aufhalten kann. Unten muß man
große Dämme bauen, um die Ströme in ihren Ufern zu halten, und
hier oben genügt sein Arm, den Lauf des Wassers zu hemmen. Das ist
sein Stolz!
Str. 3 Dazu kommt sein starkes Freiheitsgesühl und das Be-
wußtsein seiner Kraft. Er lebt auf seinem Berge wie ein Herrscher,
und kein Mensch in der Welt macht ihm den Besitz des Berges, „sein
Eigentum", streitig. Nur die Stürme sind neidisch aus ihn und suchen
ihn zu vertreiben; die kalten Nordstürme wie die heißen Südstürme ziehen
darum rings um den Berg herum, aber vor ihrem Heulen fürchtet sich
der mutige Knabe nicht, und ihr Toben ist nicht imstande, ihn zu s ch r e ck e n.
Sein sonnengebräuntes Gesicht und sein stahlharter Arm sind gleich seiner
kräftigen Brust abgehärtet gegen die Einflüsse der Witterung und gegen
der Stürme Gewalt. Sein Lied: „Ich bin der Knab' vom Berge!" schallt
hell und froh durch die Berglust und übertönt der Stürme Toben.
Str. 4. Die Kraft und das Selbstbewußtsein seines Wesens
sind in Str. 4 noch gesteigert. Während andere Menschenkinder Blitz
und Donner über sich sehen, sieht der Hirtenknabe diese Gewalten unter
sich. Darum betrachtet er sich auch gleichsam als den Herrscher der unter
seinen Füßen hin und her wogenden Gewitterwolken. Er kennt die furcht-
bar zerstörende Gewalt des Blitzes und das erschütternde Rollen des
Donners, aber er fordert von den Gewalten der Natur Achtung und Liebe
gegen sein Vaterhaus und seine Heimat. Von den prächtigen Schlössern
der Vorberge hat er mit stolzer Verachtung gesprochen, aber von seinem
Vaterhause redet er in sorgender Liebe. Sein stolzes, keckes Selbstgefühl
weicht beim Gedanken an die Allmacht und Liebe Gottes dem Zuge einer
natürlichen Frömmigkeit und erhält dadurch eine echt sittliche Grund-
lage, die dem Gemüte des furchtlosen und frommen Hirtenknaben einen
ebenso hohen Adel verleiht wie der reine Natursinn seines frohen Gemütes.
Str. 5. Diese letzte Behauptung bestätigt auch die Schlnßstrophe,
welche den nachdrücklichen Beweis dafür liefert, daß dies stolze Selbst-
bewußtsein des Knaben nicht im schnöden Egoismus wurzelt, und daß
er, der sonst zu jeder Gemeinschaft zu stolz ist, dem Vaterlande seine
liebsten Neigungen zum Opfer zu bringen gesonnen ist; denn wie er das
326
II. Epische Dichtungen.
Vaterhaus lieb hat, so trägt er auch das Vaterland in treuem
Herzen. Wenn die Sturmglocken erschallen unb das Feuer auf den
Bergen wallt, so ist dies ein Zeichen, daß der Feind in das Land ein-
gebrochen ist, und daß die Bewohner der Berge zum Kampfe gegen ihre
Unterdrücker aufgefordert werden. Sobald dann dieser Ruf ertönt, will
der Hirtenknabe seine Einsamkeit verlassen, von seinen Bergen hernieder-
steigen, sich in das Heer der Vaterlandsverteidiger und Vaterlandsbefreier
einordnen lassen, als ein tapferer Soldat sein Schwert schwingen und
seine Waffe gebrauchen, dem Feinde zum Verderben und dem Vaterlande
zum Segen. Dann aber sollen es auch die Feinde an der Kraft seines
Armes erfahren, daß er ein Recht hatte, mit stolzem Mute und heiliger
Begeisterung zu singen:
„Ich bin der Knab' vom Berge!"
So ist denn also der Uhlandsche Knabe vom Berge in seiner Munter-
keit und seinem Frohsinn, seiner Sang es ln st und Bescheiden-
heit, seiner Kraft und Frömmigkeit, seiner Vaterlandsliebe
und seinem Selbstbewußtsein ein schönes Vorbild für jeden deutschen
Knaben.
Eine schöne Schilderung eines solchen Hirten gibt A. W. Grube in
Bd. II seiner ästhetischen Vorträge: „Man vergegenwärtige sich einen
Geißbuben in der Schweiz. Mit seiner Herde, von der jedes Stück ein
lustiger Springinsfeld ist, zieht er in die mit Grasstreifen wie mit grüneil
Bändern durchzogenen SteingMlde des Hochgebirges; ärmlich gekleidet,
ohne Strümpfe und Schuhe und barhaupt bietet er der Hitze und Kälte,
dem Wind und Wetter Trotz und kehrt, tvenn er Milchziegen zu hüteu
hat uud sein Dorf den Alpentriften nahe liegt, vergnügt des Abends
heim. Besteht seine Herde aus jungen Ziegen und Böcklein, so gilt es,
diese zu übersvmmern, und er nimmt dann von seinem Dorfe aus ganze
vier Monate Abschied, um noch weit über die grünen Rinderalpen in
jene unwirtliche Region emporzusteigen, too nur zwischen Felstrümmeru
ein Kräutlein sproßt. In seinen! Schnappsacke trägt er einen kleinen
Vorrat von Salz für seine Ziegen, trocknes Brot und trocknen Käse für
sich selber. Von Zeit zu Zeit bringt ihiri dann ein Altersgenosse davon
frischen Vorrat aus dem Tale auf seine Bergresidenz hinaus. Der kalte,
reine Bergguell»ist sein Trank. Aber Wind und Wetter bräunen nicht
bloß seine Haut, sie halten auch seinen Magen bei guter Eßlust, und er
hat von seinem kärglichen Mahle wohl noch mehr Genuß als ein ver-
wöhntes Stadtkind von der überreich besetzten Tafel. An Bewegung
fehlt's ihm nicht, besonders wenn eine allzu waghalsige Geiß sich ver-
sprungen hat auf einem jäh abfallenden Felsabhange uud weder auswärts
noch vorwärts kann. Der junge Hirt, der den Schwindel nicht kennt,
klettert seinem Tiere nach, rutscht auf dein Bauche in seine Nähe und
rettet es aus der Gefahr. Wenn langes Regenwetter oder gar Schnee-
gestöber eintritt, dann ist allerdings auch für den Buben keine lustige
Zeit. Er zieht sich in seine Felshöhle zurück und kauert sich zusammen
Kühne: Der Knabe auf dem Berge.
327
und zittert vor Frost; doch das verleidet ihm sein einsames, rauhes und
dürftiges Leben keineswegs. Gesund und frohen Mutes rückt er mit an-
brechendem Herbste von Stufe zu Stufe wieder seinem Tale zu und
nimmt fröhlich seinen höchst geringen Hüterlohn in Empfang. Nicht wenige
dieser Geißbuben, obwohl sie auf andere Art sich mehr verdienen könnten,
ziehen dennoch ihr armseliges Hirtenleben jedem anderen vor und sehnen
sich nach der schönen Jahreszeit, wo es wieder bergan geht. Wie das
Alpenvieh, wenn es aus den dumpfen Winterställen entlassen wird und
merkt, daß es wieder auf die Alpen geht, seine freudige Erregung brüllend
und springend zu erkennen gibt, so freut sich der Hirtenknabe auf das
Leben im wilden Hochgebirge, denn er fühlt, was ihn der Dichter ans-
sprechen läßt; was das Lied auf poetische Weise in Worte faßt, das
hat er und genießt es, wenn auch unbewußt. Es zieht ihn auf die Berge,
wie nach einer schöneren Heimat, denn dort oben ist er Freiherr; da hat
er sein Reich, in welchem er unumschränkt gebietet, darum darf er sich,
wie ein König nach seinem Lande, kühn den „Knaben vom Berge" nennen,
darum ist der Refrain so treffend, weil darin das ganze stolze, freudige
Bewußtsein seines Hirtenlebens zusammengefaßt ist."
III. Anwendung für He^ und Leben. Der Zufriedene ist glücklich.
— Zum Glück gehört kein Reichtum. — Was ein Häkchen werden will,
krümmt sich beizeiten.
IV. Vergleichung. „Des Knaben Berglied" und „Der Knabe auf
dem Berge".
B. Der Knabe auf dem Berge.
Ferdinand Gustav Kühne. Gedichte. Leipzig 1862.
1. Hoch auf des Berges Rücken,
da hat er sich hingestellt,
ttnl fröhlich hinabzublicken
in die bunte, lichte Welt.
2. Da hat er lange gestanden
mit reichen!, schwellendem Sinn,
bis die Fernen all entschwanden
in die wallenden Nebel hin.
3. Und als er nun geblicket
in die Länder allznmal,
hat er manchen Gruß geschicket
still in das weite Tal;
4. Und alle die Berge gegrüßet
in der Nebel Riesentanz
nnd die Engel all geküsset
im wogenden Wolkenkranz;
5. nnd alles, alles gedrücket
ans Herze rings umher
nnd endlich ausgeklicket
zuni lichten Sternenmeer.
6. Ihm war, als täten sie neigen
ihr Aug' ins Herze sein;
ihm war, als müßt' er steigen
in den blauen Himmel hinein.
In beiden Gedichten schauen fröhliche, fromme Knaben von einem
hohen Berge hinab in die Täler und bewundern die Schönheit ihrer
Heimat. Uhlands „Knabe vom Berge" ist frohsinnig, sanglustig, selbst-
bewußt, fromm, während Kühnes „Knabe ans dem Berge" sich sinnig,
fröhlich und fromm zeigt. Eins zeichnet den Uhlandschen „Knaben vom
Berge" aus: er liebt sein Vaterland über alles und ist bereit, Kraft und
Leben in seinen Dienst zu stellen, wenn ihm Gefahr droht. W. D.
328
II. Epische Dichtungen.
129. Der kleine Hydriot.
Wilhelm Müller. Gedichte. II. T. Leipzig 1868. S. 106.
I. Vorbereitung. In dem griechischen Jnselmeere liegt die kleine
Felseninsel Hydra. Die Bewohner heißen Hydrioten und sind als tüchtige
Seeleute und mutige Krieger bekannt. Das Meer ist ihre Wiege, Schule,
Werkstätte und oft auch ihr Grab. Jahrhunderte lang hatten die Türken
alle Griechen unterjocht, ihr Vaterland verwüstet und ihren christlichen
Glauben verhöhnt. Da empörten sich endlich die Unterdrückten und führten
gegen ihre Dränger von 1821 bis 1827 einen blutigen Krieg, der mit
der Befreiung Griechenlands vom türkischen Joche endigte. In diesem
Befreiungskämpfe zeichneten sich die Hydrioten durch Tapferkeit und Opfer-
willigkeit aus. Sie allein rüsteten 100 Schiffe mit 2000 Kanonen aus und
ließen sie gegen den Erbfeind auslaufen. Knaben und Greise wetteiferten
in dem heiligen Kampfe mit den Männern um den Preis der Tapferkeit.
Der Dichter der schönen „Griechenlieder", Wilhelm Müller in Dessau,
läßt in dem Gedichte „Der kleine Hydriot" einen Knaben von Hydra er-
zählen, wie ihn sein Vater zu einem Kämpfer für Gott und Vaterland er-
zogen und endlich durch Überreichung des Schwertes wehrhaft gemacht habe.
II. Vortrag des Gedichts. 1. Vorlesen, Nachlesen, Einzel-
lesen, Chorlesen, Einlesen.
Ich war ein kleiner Knabe, stand fest kaum auf dem Bein,
da nahm mich schon mein Vater mit in das Meer hinein
und lehrte leicht mich schwimmen an seiner sichern Hand
'und in die Fluten tauchen bis nieder auf den Sand.
Ein Silberstückchen warf er dreimal ins Meer hinab,
und dreimal mußt' ich's holen, eh er's zum Lohn mir gab. —
Dann reicht' er mir ein Ruder, hieß in ein Boot mich gehn,
er selber blieb zur Seite mir unverdrossen stehn,
wies mir, wie man die Woge mit scharfem Schlage bricht,
wie man die Wirbel meidet und mit der Brandung ficht. —
Und von dem kleinen Kahne ging's flugs ins große Schiff,
es trieben uns die Stürme um manches Felsenriff.
Ich saß auf hohem Maste, schaut' über Meer und Land,
es schwebten Berg und Türme vorüber mit dem Strand.
Der Vater hieß mich merken auf jedes Vogels Flug,
auf aller Winde Wehen, auf aller Wolken Zug;
und bogen dann die Stürme den Mast bis in die Flut,
und spritzten dann die Wogen hoch über meinen Hut:
da sah der Vater prüfend mir in das Angesicht —
ich saß in meinem Korbe und rüttelte mich nicht.
Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot:
„Glück zu auf deinem Maste, du kleiner Hydriot!" —
Und heute gab der Vater ein Schwert mir in die Hand
und weihte mich zum Kämpfer für Gott und Vaterland.
Er maß mich mit den Blicken vom Kopf bis zu den Zeh'n:
mir war's, als tät sein Auge hinab ins Herz mir sehn.
Ich hielt mein Schwert gen Himmel und schaut' ihn sicher an
und deuchte mich zur Stunde nicht schlechter als ein Mann.
Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot:
„Glück zu mit deinem Schwerte, du kleiner Hydriot!"
Müller: Der kleine Hydriot. . ¿29
2. Erläuterungsfragen. Wie unterscheidet sich das Boot von
dem Schisse? Wie wird das Boot durch die schaufelsörmigen Ruder-
bewegt und gelenkt? Was sind Wirbel im Wasser? (Kreisförmige Be-
wegungen, die alles in die Tiefe ziehen.) Wie entsteht die Brandung?
(Wenn die Wogen schäumend an die Felsenufer klatschen und emporsteigen.)
Was sind Riffe? (Felsenbänke, meist an den Küsten, die wenig oder
gar nicht aus dem Wasser ragen.) Was ist der Mastkorb? (Eine Platt-
form oben am Mastbaume aus Planken und Brettern.) Worin unter-
richtete der Vater den Sohn? Was geschieht beim Sturm? Warum wurde
der Vater zweimal „rot wie Blut"? (Vor Freude über das Geschick und
den Mut des Knaben.)
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Das Gedicht führt uns im Geiste
auf das griechische Jnselmeer. Wir sehen es bald in sanften Wellen dahin--
gleiten, bald im Sturme haushohe Wogen auswerfen. Kähne und Schiffe
beleben es. In den Booten oder Kähnen handhaben die Schiffer ihre
Ruder. An den Masten der Schiffe blähen sich die weißen Segel (d. h.
an Tauen befestigte Leinwandstücke, in denen sich der Wind sängt und so
das Schiff treibt). Auf einem Maste in einer Art Verschlag aus Brettern
schaut ein Schiffsjunge nach Meer und Land aus. In dem Tauwerk an
den Masten klettern die Matrosen auf und ab. Über das Wasser streichen
kreischend die Möven. Fern zeigt sich die Felsenküste der Insel Hydra,
auf der sich Berge und Türme, aber keine Bäume erheben. An der Felsen-
küste schäumt die weiße Brandung. Zwischen den Rissen sind Wirbel
oder Strudel.
2. Charakter der Personen. Der Sohn lernte wie eine Ente
schwimmen, wie ein Wasserhuhn tauchen, mit dem Ruder den Kahn
lenken, die Woge brechen, den Wirbel meiden, gegen die Brandung
fechten, auf dem Maste sitzen, Land und Meer scharf überschauen,
den Flug der Vögel, das Wehen der Winde und den Zug der Wolken
verstehen, im Sturme unerschütterlich bleiben, das Schwert
schwingen, den scharfen Blick des Vaters fest erwidern und sich als
Mann fühlen. Der Vater nahm den Knaben mit aufs Meer, lehrte
ihn an seiner Hand und dann allein schwimmen und tauchen, warf
dreimal ein Geldstück ins Meer und gab es dann den: glücklichen Finder
als Lohn. Er hieß den Knaben ins Boot gehen, reichte ihm das Ruder,
stand unverdrossen an seiner Seite, lehrte ihn die Wogen brechen,
die Wirbel meiden und die Brandung bekämpfen. Er führte den
Sohn ins große Schiff, lehrte ihn die Zeichen des Meeres bemerken
und benutzen, sah in Gefahr den Knaben prüfend an, ward rot
vor Freude über des Sohnes Mut und wünschte ihm Glück als See-
mann. Dann gab er ihm ein Schwert, weihete ihn für den heiligen
Kampf, maß ihn von Kopf bis Fuß, ja schaute ihm ins Herz, las
darin Mut und Begeisterung, errötete abermals und wünschte dem
Sohne Glück als Krieger.
3. Gedanken gang. Der Vater erzieht seinen Sohn zum See-
mann und Soldaten und damit zum Kämpfer für Gott und Vater-
330
II. Epische Dichtungen.
land. Seine Schule ist das Meer. Die einzelnen Klassen sind S ch w i m m c it
und Tauchen im flacheren Wasser der Küste, Rudern im Kahne, Aus-
schauen und Segeln im Schiffe, Fechten mit dem Schwerte.
(Schwimm-, Tauch-, Ruder-, Segel-, Fechtklasse!) Mit dem Gruße: Glück
zu auf deinem Maste! ist der Seemann, mit dem Gruße: Glück zu
mit deinem Schwerte! ist der Krieger fertig. Jenes ist gleichsam der
Mei st erbrief, dieses der R itt ersch la g.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Was ein Häkchen werden
will, krümmt sich beizeiten. Jung gewohnt, alt getan. Im Frieden rüste
dich für den Krieg! Gott und dem Vaterlande gehört unser Herz und
unser Arm. Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!
2. Verwandtes. Der Hirtenknabe David tötete den Riesen Goliath
und rettete sein Volk von der Knechtschaft der Philister. In den Be-
freiungskriegen 1813—15 traten Jünglinge und sogar Jungfrauen in
die Reihen der Kämpfer. Die Jungfrau von Orleans befreite Frank-
reich von den Engländern.
3. Rede- und Stilübuttgen. a) Erzähle den Inhalt des Ge-
dichts ! b) Die Schule des kleinen Hhdrioten. o) Gib Beispiele von Volks-
erhebungen aus der Geschichte an! (Die Makkabäer, die Engländer unter
Alfred d. Gr., die Sicilianer, die Schweden unter Gustav Wasa, die Nieder-
länder unter Wilhelm von Oranten, die Amerikaner unter Washington
und Franklin, die Deutschen 1813, die Belgier 1831, die Schleswig-Hol-
steiner usw.). ?.
130. Wie schön leuchtet der Morgenstern!
Des alten Schulmeisters liebstes Lied.
Julius Sturm, Gedichte. Leipzig 1873. S. 211.
Wie schön leuchtet der Morgen-
stern !
Hab' doch kein andres Lied so gern!
Mit Tränen füllt sich jedesmal
mein Auge, spiel' ich den Choral. —
5 's war damals, als der alte Fritz
noch stritt um Schlesiens Besitz;
hier in den Schluchten lag sein
Heer,
der Feind dort auf den Höhn um-
her.
Da sah's im Dorf gar übel aus,
10 die Scheuern leer, kein Brot im
Haus,
im Stalle weder Pferd noch Kuh
und vor dem Feind die Furcht
dazu.
So hatt' ich eben eine Nacht
mit Seufzen und Gebet durchwacht
15 und stieg beim ersten Morgen-
graun
den Turm hinauf, um auszu-
schaun,
wie's draußen stünd'! 's war still
umher,
und ich sah keine Feinde mehr.
Da zog ich still mein Käpplein ab,
20 dem lieben Gott die Ehre gab.
Horch! plötzlich trabt's ins Dorf
herein,
der Himmel woll' uns gnädig sein!
Ein alter Schnauzbart jagt im
Trab
nach meinem Hans, dort steigt
er ab!
25 Kaum bin ich unten, schreit er:
„Lauf,
schließ mir geschwind die Kirche
auf!"
Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes
Gut,
was man vertraut hat meiner Hut,
und Kirchenraub bestraft sich
schwer."
30 Doch er schrie wild: „Was schwa-
felt Er?
Sturm: Wie schön leuchtet der Morgenstern!
331
Flink aufgeschlossen, sonst soll
Ihn-!"
Schon wollt er seinen Säbel ziehn,
da dacht' ich bang an Weib und
Kind
und öffnete die Kirch' geschwind
35 und trat dann zagend mit ihm ein,
mein Weib schlich weinend hinter-
drein.
Er ging vorüber am Altar,
hinauf dann, wo die Orgel war;
dann stand er still: „Gesangbuch
her!
40 Hier den Choral da spielet Er,
und daß Sie brav die Bälge tritt!
Marsch! vorwärts jetzt und zögert
nit!"
Ich fing mit einein Vorspiel an,
wie ich's mein Lebetag getan.
45 Da fiel der Alte grimmig ein:
„Was soll mir das Geklimper sein ?
Hab' ich's denn nicht gesagt dem
Herrn:
,Wie schön leuchtet der Morgen-
stern'!"
„'s ist nur das Vorspiel!" —
„Dummes Zeug!
50 Was spielt er den Choral nicht
gleich!"
So spielt' ich denn, weil er's befahl,
ganz ohne Vorspiel den Choral;
der alte Schnauzbart sang das
Lied,
ich und mein Weib, wir sangen
mit.
55 Das Lied war aus, still saß der
Mann,
ein heißer Strom von Tränen rann
ihm übers braune Angesicht,
die funkelten wie Demantlicht.
Dann stand er aus und drückte mir
60 die Hand und sprach: „Da, nehmt
das hier!"
Es war ein großes Talerstück,
ich wies das Geld beschämt znrück,
er aber rief: „Was soll das, Mann?
Bei Gott, es klebt kein Blut daran!
65 Gebt's an die Armen in dem Ort!"
Drauf gingen wir zusammen fort.
Und noch im Gehen sprach er weich:
„Kein Lied kommt diesem Liede
gleich;
es hat mich in vergangner Nacht
70 zum lieben Gott zurückgebracht.
's rief gestern Abend der Major
vor unsrer Front: ,Freiwill'ge vor!
's soll ein verlorner Posten stehn
dem Feinde nah, dort auf den Höhn;
75 hat keiner Lust, hat keiner Mut?'
Das trieb mir ins Gesicht das
Blut.
,Da müßten wir nicht Preußen
sein!‘
Ich rief’S und trat rasch aus den
Reihn;
drei meiner Söhne folgten mir:
80 ,Gehst du, so gehen wir mit dir!‘
So zogen wir nach jenen Höhn,
um dort die ganze Nacht zu stehn.
Es blitzte hier, es krachte da,
es war der Feind uns oft so nah',
85 daß er uns sicherlich entdeckt,
wenn uns nicht droben der versteckt.
Ja, Mann, ich hab' so manche Nacht
im Feld gestanden auf der Wacht,
doch war mir nie das Herz so schwer,
90 's kam nur von meinen Jnngens
her; —
ihr habt ja Kinder, — nun da wißt
ihr selbst-, was Vaterliebe ist.
Drum hab' ich auch emporgeblickt
und ein Gebet zu Gott geschickt;
95 und wie ich noch so still gefleht,
da ward erhört schon mein Gebet,
denn leuchtend ging im Osten fern
aus einmal auf — der Morgen-
stern,
und mächtig mir im Herzen klang
100 der längst vergess'ne fromme Sang.
Hätt' gern gesungen gleich das
Lied,
doch schwieg ich, weil's uns sonst
verriet.
Zugleich siel mir auch manches ein,
was anders hätte sollen sein!
105 Vor allem, daß ich dieses Jahr
noch nicht im Gotteshanse war.
Das machte mir das Herz so
schwer.
Das war's, das trieb mich zu Euch
her."
Der Alte sprach's, bestieg sein
Pferd
110 Und machte munter Rechtsum-
kehrt. —
Seht! drnm hab' ich das Lied so
gern:
„Wie schön leuchtet der Morgen-
stern !"
uub spiel' noch heute jedesrnal
ganz ohne Vorspiel den Choral,
115 und wenn ich spiel', sitzt immer-
dar
mir dicht zur Seite der Husar:
ich höre seinen kräft'gen Baß,
und da — wird mir das Auge naß.
332
II. Epische Dichtungen.
1. Borbereitung. Um tu den Besitz Schlesiens zu gelangen, mußte
Friedrich der Große zu den Massen greifen und schwere Kriege — die
beiden Schlesischen und beu Siebenjährigen — führen. Viele deutsche
Länder und besonders auch die Provinz Schlesien selbst hatten durch jene
Kriege viel zu leiden. Wo die feindlichen Heere miteinander gerungen,
lagen Städte und Dörfer irr Trümmern; die Bewohner waren entweder
umgekommen oder geflohen, und die Äcker blieben unbebaut. Heereszüge,
welche die Proviuz uach allen Himmelsgegendeit durchkreuzten, trugen
auch in die entlegensten Teile derselben Not und Elend. Mancher wußte
aus jenen Tagen der Not zu erzählen, so auch ein Lehrer in einent
schlesischen Dorfe, der alle Kriegsleiden und Gefahren mit durchlebt hatte.
Eine Geschichte aus jenen Tagen konnte er nicht vergessen, und wenn er
den Choral: „Wie schön leuchtet der Morgenstern!" in der Kirche zu
spielen hatte, trat sie ihm immer Uneber von neuem lebendig vor die
Seele. Höret diese Geschichte!
II. Vermittlung. 1. Vorlesen des Gedichts. 2. Erläuterungen.
B- 5, 6: Zur Zeit des Schlesischen (1740—1742, 1744—1745) und
des Siebenjährigen Krieges (1756—1763). V. 17, 20: verrichtete ein
Dankgebet. V. 23: Ein alter Soldat mit starken: Schnurrbart. V. 27:
Kirchengut. V. 30: Was für törichtes Zeug spricht Er! V. 33: Ich dachte
daran, daß ich Weib und Kind zu ernähren habe. V. 41: Die Blasebälge
in Bewegung setzen, welche den Orgelpfeifen den nötigen Wind zuführen.
V. 43: Ein Spiel auf der Orgel, das auf den folgenden Choral vorbe-
reiten, ihn einleiten soll. V. 58: Die Augen glänzten von Tränen. V. 64:
Ich habe es nicht durch Gewalt an mich gebracht, nicht geraubt. V. 68:
Es ist mein Lieblingslied. V. 70: An Gott und seine Allmacht erinnert.
V. 72: Front = Stirnseite der aufgestellten Soldaten. V. 73: Ein Posten,
eine Schildwache, welche in gefahrvoller Nähe des Feindes Stellung zu
nehmen und diesen in seinen Bewegungen zu beobachten hat. V. 85: Wenn
Gott nicht die Finsternis der Nacht herausgeführt und uns geschützt hätte.
V. 97, 98: Der im Osten aufgehende Morgenstern verkündet den nahenden
Morgen. V. 102: Dem Feind unsere Stellung verraten, wenn wir ge-
sungen hätten. V. 115, 116: Wenn ich heute den Choral spiele, sehe ich int
Geiste noch immer den Soldateir mir zur Seite sitzen und höre ihn mit
tiefer, bewegter Stimme mitsingen. V. 118: Es treten mir vor Rührung
Tränen in die Augen.
III. Vertiefung. 1. Schilderung eines Dorfes zur Zeit des
Krieges (5—14): a) Wann das Dorf von Kriegsnot heimgesucht wurde
(5 und 6); b) wo Friedrichs Heer stand (7); e) wo die feindlichen Heere
lagen (8); ä) wie es in den Straßen aussah (9); e) wie in Scheunen
und Ställen (10 und 11); I) was die Menschen zu bulben hatten (10
und 12).
2. Charakteristik des Soldaten. Weise aus dem Gedicht nach,
daß der Soldat war: a) alt, aber rüstig, d) in seinen Worten kurz
und bestimmt, e) mutig und entschlossen, 6) rauh in Wesen und
Sitten, aber dennoch weichen Gemüts, 6) ein guter Vater seiner
Sturm: Wie schön leuchtet der^MorgensternI ZZZ
Kinder, f) ein ehrlicher Soldat, g) erfüllt Don Frömmigkeit und
Gottvertrauen, ti) eingedenk des Schicksals der Krieger: „Gestern
noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen, morgen in das
kühle Grab!"
3. Gliederung des Inhalts. ^..Einleitung: Die Gefühle,
welche der Choral: „Wie schön leuchtet usw." in dem Lehrer erweckt (1—4).
6. Die Geschichte selbst, a) Schilderung der Kriegsgefahr und Hofs-
nung aus Befreiung aus derselben (5—20). b) Das Zusammentreffen
des Lehrers mit dem Soldaten: aa) Ankunft des Soldaten (21—24),
bb) dessen Forderung und Weigerung des Lehrers, sie zu erfüllen (25—29),
cc) Drohung des Soldaten und Nachgiebigkeit des Lehrers (30—34),
ää) Eintritt ins Gotteshaus (35—38), ee) Aufforderung an den Lehrer,
den Choral ohne Vorspiel zu spielen (39—50), ff) der Gesang des Liedes
(5l—54), gg) Rührung des Soldaten (55—59), hh) Aufforderung zur
Annahme einer Belohnung und Verwendung derselben (60—66), ii) An-
gabe, was den Soldaten zur Abhaltung des Gottesdienstes bestimmte
(67—108), kk) Abschied des Soldaten (109-110). 6. Schluß: Noch-
maliges Hervorheben der Gefühle und Vorstellungen, die der Choral
immer von neuem in dem Lehrer erweckt.
IV. Verwertung. 1. Vergleichung des Gedichts mit der Er-
zählung :
Wie schön leuchtet der Morgenstern.
„Wir waren wohl oft in großer Not" usw.
(Preus; und Vetter, Pr. Kinderfreund. 96. Aufl. S- 76.)
Das Gedicht und die Erzählung stimmen in den Hauptmonienten
überein, weichen aber in den Einzelzügen voneinander ab. Weise letzteres
nach in bezug a) ans den Eingang und Schluß beider; b) auf den Auf-
enthalt des Lehrers auf dem Kirchturme; e) auf die Aufgabe über dia
Persönlichkeit des Soldaten; ä) auf die näheren Angaben über die Kirchen-
güter; 6) auf die Frau des Lehrers ; f) auf das Eintreten des Soldaten
in die Kirche und dessen Gang zum Chore; g) auf das Vorspiel; h) auf
die Zahl der Singenden; 1) auf das Geld, welches der Soldat zurückläßt;
k) auf die Ausführung der Gründe, welche den Soldaten zur Abhaltung
seines Gottesdienstes bestimmen; I) ans die Erzählung des Erlebnisses ans
der Wacht!
2. Nutzanwendung für Herz und Leben, a) Sei eingedenk des
Spruches: Ruse mich an in der Not, so nult ich dich erretten, so sollst
du mich preisen! (Ps. 50, 15). b) Nenne Helden, die nach überstandener
Gefahr Gott auch die Ehre gaben!
3. Rede-undStilübunge n. a) Der Soldat schreibt seiner Frau,
was er ans der Wache erlebt hat. (Liebe Frau! Durch Gottes Hilfe bin
ich mit unseren drei Jungen wieder einmal aus großer Not und Gefahr
errettet worden. Gestern ließ unser Major die Kompagnie in Reih und
Glied antreten und fragte, wer freiwillig einen verlorenen Posten be-
ziehen wollte. Keiner rührte sich im Gliede; denn jeder kannte die Ge-
334
II. Epische Dichtungen.
fahr, die damit verbunden war. Da trat ich vor und meldete mich, und
unsere braven Söhne folgten meinem Beispiele usw. Auf der Wacht; Ge-
bet zu Gott; Aufgang des Morgensterns; Gedenken des Liedes; Gelöbnis;
Erfüllung desselben; Schluß.) b) Das Gedicht und die Erzählung. Eine
Vergleichung. A. Hentschel.
131. A. Das Lied vom braven Mann.
Von G. A. Bürger. Gedichte. Leipzig 1869. S. 94.
1. Hoch klingt das Lied vom braven Gottlob, daß ich singen und preisen
Mann kann,
wie Orgelton und Glockenklang. zu singen und preisen den braven
Wer hohen Muts sich rühmen kann, Mann!
den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
(Da das Lied sich in allen Lesebüchern findet, ist sein Abdruck hier nicht nötig.)
I. Geschichtliches. Die Tatsache, welche dem Gedichte zugrunde liegt,
ist nach Zöllner folgende: „Durch eine heftige Ergießung der Etsch wurde
zu Verona eine von den prächtigsten Brücken, die dort über den Fluß
gehert, hinweggerisfen. Nur der mittlere Bogen stand noch und auf dem-
selben ein Haus mit einer zahlreichen Familie. Diese Unglücklichen, die
ihren jammervollen Untergang vor Augen sahen, streckten ihre Hände
gen Himmel und flehten die Zuschauer am User um Rettung und Hilfe
an. Die Wellen tobten mit schrecklicher Gewalt, und der Bogen, auf
dem das Haus stand, fing an zu wanken. Unter den Zuschauern war keiner,
der nicht für die Unglücklichen gezittert hätte, aber auch keiner, der sein
Leben für sie wagen wollte. Als mit jedem Augenblick die Gefahr größer
ward, hielt der Graf von Spolverina einen Beutel empor und rief:
„Zweihundert Pistolen für den, der die Unglücklichen rettet!" Während
er dieses Versprechen immer lauter wiederholte, strömten neue Zuschauer
herbei, unter ihnen auch ein geringer Arbeitsmann. Kaum sah dieser die
Gefahr, als er sich in ein Fahrzeug warf, mit dem Strom und den Wellen
aus allen Kräften kämpfte und, durch das Gefühl der Würde seiner Tat
gestärkt, den Bogen erreichte. Die unglückliche Familie ließ sich an Stricken
zu ihm hinab, und kaum hatten sie ihre Wohnung verlassen, als diese
samt dem Bogen, worauf sie stand, in den Abgrund stürzte. Das dadurch
verursachte neue Toben und Schäumen der Wellen war ein neuer Schrecken
für die Geretteten, aber ihr Erretter sprach ihnen Mut ein und arbeitete
mit verdoppelten Kräften, bis er sie alle glücklich ans Ufer brachte. Freu-
denvoll lief ihm der Gras entgegen und reichte ihm die verheißene Be-
lohnung. „Nein," sprach der Edle, „für Geld werde ich mein Leben nie
verkaufen. Gott hat mir gesunde Hände gegeben; ich verdiene mit meiner
Arbeit so viel, als ich zu meinem und der Meinigen Unterhalt brauche.
Geben Sie das Geld an die Armen hier, die es jetzt nötiger haben als ich!"
II. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1. „Das Gedicht beginnt
mit einer hochgehenden Ankündigung der Geschichte" und mit der
Freude des Dichters, den hohen Mut (Sinn, Gesinnung) des Braven
rühmen und preisen zu können.
Bürger: Das Lied vom braven Mann.
335
Str. 2 schildert den Tauwind. „Er kam vom Mittagsmeer",
d. h. vom Mittelländischen Meere im Süden, das die warmen Lüfte den
nördlichen Ländern zuführt. Er „schnob durch Welschland", d. h. durch
Italien; „Welsche" heißen alle romanischen Völker, besonders die
Italiener und Franzosen. „Schnob" kommt her von schnauben —heftig
wehen. „Wie wenn der Wolf die Herde scheucht" ist eine Verkürzung
statt: „Wie die Herde flieht, wenn der Wolf sie scheucht."
Str. 3 schildert in trefflicher Weise den Eisgang: zunächst das
Schmelzen des Schnees in den Alpen (Hochgebirgen), das Zusam-
menströmen von „tausend Wassern" in den Gebirgstälern, die Über-
schwemmung der Täler, endlich das Anschwellen der Etsch, die wegen ihrer
Größe, und weil ihr von allen Seiten Bäche und Flüsse zueilen, des
Landes Heer ström (Hauptstrom) genannt wird; ferner das Rollen
der großen Wogen, die gewaltige „Felsen von Eis", d. h. die größten
Eisschollen, mit sich führen.
Die Str. 4 beginnt mit der Beschreibung der B r ü cke und des Häus-
chens, welches aus der festen Brücke stand und vom Zöllner, der das
Brückengeld (den Zoll) einnimmt, bewohnt war. Diese Beschreibung der
Brücke, die so stark „aus Quadersteinen von unten aus" gebaut war, ver-
anschaulicht uns ganz besonders auch die Gewalt des Stromes, der im-
stande war, einen solchen Bau zu zertrümmern. In der letzten Zeile
deutet der Dichter durch seinen Ausruf: „O Zöllner, o Zöllner, entfleuch
geschwind!" ganz im allgemeinen die Gefahr an, in welcher sich der
Mann befindet, und leitet so auf das Kommende über.
Str. 5. Der Sturm und die Wogen, welche das Haus umbrausen,
dröhnen dumpf, d. h. sie lassen es erzittern, so daß der Zöllner in seiner
Angst während des Tumults (Aufruhrs) auf das Dach steigt und bei
seiner Umschau ausruft: „Barmherziger Himmel, erbarme dich! Verloren!
verloren! Wer rettet mich?" Auch hier deutet uns der Dichter nur un-
bestimmt die Gefahr an, in welcher sich der Zöllner befindet; aber das
„Verloren! verloren!" beweist uns, wie groß die Not des Mannes ist.
Durch diese unbestimmten Andeutungen wird die Phantasie des Lesers
und Hörers in hohem Grade erregt und beschäftigt.
Str. 6 und 7 schildern in wenigen, aber treffenden Worten den nach
und nach stattfindenden Einsturz der Brücke. Die Eisschollen kommen
rasch und gewaltig („Schuß aus Schuß") heran, prallen „Stoß auf Stoß"
wider Bogen und Pfeiler, zerbrechen die letzteren und reißen die Trümmer
mit sich fort. „Im Gegensatz zu dem kalten, tosenden, einen sichern Bogen
und Pfeiler nach dem andern wegreißenden, alles herzlos vernichtenden
Elemente bildet das Ende jeder Strophe die Erwähnung des unglücklichen
Zöllners, der aus angsterfüllter Brust umsonst seine Jammer- und Hilfe-
rufe in den Donner des Sturmes und Stromes hinausschallen läßt."
(Kriebitsch.)
Str. 8. Mit dieser Strophe beginnt der 2. Teil des Gedichts. —
Zwar steht ein „Schwarm von Gaffern" an dem Ufer; diese beweisen
auch durch Hünderingen und Schreien ihre Teilnahine an bent schrecklichen
336
II. Epische Dichtungen.
Lose des Zöllners und seiner Familie, aber Rettung zu bringen und das
Leben um ihretwillen daran zu setzen, dazu hat keiner Mut: „Doch mochte
niemand Retter sein."
Str. 9. Hier unterbricht der Dichter die Schilderung und sucht durch
seine Fragen des Lesers Teilnahme an der Angst des Zöllners zu erhöhen.
Durch die Schlußworte: „Bald nahet der Mitte der Umsturz sich: O braver
Mann, braver Mann, zeige dich!" wird das folgende vorbereitet.
Str. 10. Der Graf Spolverini kommt rasch herangeritten und
bietet dem Retter des Zöllners 200 Pistolen (Goldstücke), das sind un-
gefähr 3000 Mark.
Str. 11. Der Dichter hält den Grafen für einen braven Mann, aber
er weiß noch einen braveren, den er mit steigender Angst herbeiwünscht,
was besonders durch den wiederholten Ausruf: „O braver Mann, braver
Mann, zeige dich" veranschaulicht wird.
Str. 12 und 13. Die Gefahr wird immer größer; der Dichter wünscht
sehnlichst den Retter herbei, und der Graf bietet wiederholt sein Geld,
aber: „Vergebens durchheulte mit Weib und Kind der Zöllner nach Ret-
tung den Strom und Wind."
Str. 14 und 15. Endlich kommt der Retter in der Person eines
einfachen und schlichten Bauern, dem man aber in seiner Haltung („An
Wuchs und Antlitz hoch und hehr") den hohen Sinn und Adel der Seele
ansieht. Er hat kaum die Worte des Grasen gehört, so springt er auch
in den nächsten Kahn, der leider zu klein ist, um alle Personen aus ein-
mal zu retten.
Str. 16. Drum muß er dreimal hin und her fahren, ehe er die ganze
Familie des Zöllners an sichern Port (eigentlich Hafen, hier so viel als
sicheren Zufluchtsort) bringt.
Str. 17. Der Dichter unterbricht hier, wie in der 9. Strophe, die
Handlung, indem er uns die Größe der Tat und die Ursache, aus welcher
sie der Bauer vollbringt, recht anschaulich zu machen sucht*).
Str. 18. Der Gras bietet dem Bauer das versprochene Geld an.
Str. 19. Der Bauer schlägt die Belohnung zugunsten des Zöllners
aus und geht so schlicht und einfach, wie er gekommen, wieder davon.
Str. 20. Zum Schluß spricht der Dichter nochmals seine Freude
aus, daß es ihm vergönnt ist, die schöne Tat des braven Mannes durch
sein Gedicht unsterblich zu machen. Und das ist Bürger gelungen; denn
sein Gedicht ist wirklich ein Lieblingsgedicht der deutschen Nation gewor-
den und wird es bleiben, solange die Poesie im deutschen Volke hoch ge-
halten wird.
III. Gliederung des Inhalts.
I. Einleitung lStr. 1). Ankündigung der Heldentat. — 2. u) Str.
3—7: Der Eisgang und der rasch erfolgende Einsturz der Brücke.
*) Diese Strophe kann, wie Götzinger bemerkt, ohne Schaden weg-
bleiben; denn sie wirkt nur störend in die Begeisterung, die wir für den braven
Mann gewonnen haben. Ebenso auch die letzten Worte der 18. Strophe,
welche dein Grafen so starkes Lob spenden.
Bürger: Das Lied vom braven Mann.
337
b) Str. 8—13: Die rat- und tatenlosen Gaffer und der edle Graf, e) Str.
14—r9: Der brave Mann und seine Tat. — 3. Schluß (Str. 20).
Preis der Heldentat.
IV. Charakteristik der Personen. In seiner „Anweisung zur Behandlung
deutscher Lesestücke" charakterisiert Kehr die Personen in folgender Weise:
1. DieGafferamUfer. Die Gaffer (von gaffen, den Mund auf-
sperren) sind vorsichtige Leute; sie stehen hoch am fernen Ufer. Ihre
Zahl ist bedeutend (es ist ein Schwarm von Gassern). Alle Lebens-
alter sind vertreten („groß und klein"). Wohl fehlt es ihnen nicht an
Mitleid („und jeder schrie und rang die Hände"), und ebensowenig
fehlt es ihnen an mancherlei Entschuldigungen. Welcher Art mögen
dieselben wohl gewesen sein? Was ihnen aber fehlt, das ist vor allem
die Tatkraft der barmherzigen Liebe, die Aufopferungsfähig-
keit und der heilige Mut zur Rettung einer schwerbedrängten Familie.
Es sind eben nur Gaffer. Wie unendlich mehr wert als dieses tatenlose
Händeringen ist doch die Opferwilligkeit des Grafen Spolverini!
2. Der Graf. Der Graf Spolverini ist bereit, für die Rettung der
bedrängten Zöllnerfamilie'eine große Summe zu opfern; denn er ist
nicht nur ein reicher Mann, sondern er hat auch ein Herz für die Not
der Unglücklichen. Er bietet darum dem Retter der Zöllnerfamilie 200
Pistolen. Der Dichter nennt den Grafen einen braven Mann, einen
edlen Grafen. Und in der Tat, sein rasches Herbeieilen, sein opfer-
williges Anerbieten zeugt von der aufrichtigen, herzlichen Teilnahme,
welche sein Gemüt bewegt. Allein mit totem Gelde ist hier nicht zu
helfen, „denn setzest du nicht das Leben ein, nie wird dir das Leben ge-
Wonnen sein". Leider hat der Graf zur Aufopferung seines Lebens ent-
weder nicht die Lust oder nicht den Mut. Das Leben für arme Mitmenschen
einzusetzen, wie der bei Frankfurt a. O. verunglückte Herzog von Braun-
schweig es getan hat, dazu war der Graf nicht fähig. Vielleicht fehlte
es ihm, wie gesagt, an Mut, vielleicht an Geschicklichkeit, vielleicht stellte
er auch sein eigenes Wohl höher als das des Nächsten. Während aber
der Graf sein Geld ausbot, wurde die Gefahr größer, und das Verderben
kam mit jedem Augenblick näher. Recht anschaulich zeigt uns dies der
Dichter in der Darstellung der sich steigernden Angst und Gefahr, welcher
er in einfachen, kurzen Sätzen Ausdruck gibt: Und immer höher schwoll
die Flut, und immer lauter schnob der Wind, und immer tiefer sauk
der Mut. Der Untergang der Zöllnerfamilie schien unvermeidlich. Da
erscheint im Augenblicke der höchsten Not der Retter.
3. Der Bauersmann. Im Gegensatz zu dem wilden, tobenden
Elemente, zu der gaffenden, zaghaften Menge am Ufer, zu dem auf hohem
Rosse dahersprengendeu und doch nichts weiter als Geld und gute Worte
bereit habenden Grafen tritt das Bild des schlichten Landmannes außer-
ordentlich vorteilhaft in die Erzählung ein. Er kommt nicht auf hohem
Rosse (wie der edle Graf), er schreitet au seinem Wanderstabe daher.
Er hat nicht prächtige Kleider, nicht Orden und Uniform, sondern er ist
angetan mit einem groben Kittel. Er braucht nicht viel Worte, sondern
AdL. II. 8. Au ft. . 22
338
II. Epische Dichtungen.
er ist schlicht und einfach. Nur eius hat er mit dem Grafen gemein, den
hohen Wuchs und das edle Antlitz. Als der einfache, schlichte Bauers-
mann erfährt, um was es sich hier handelt, und als er das nahe Ver-
derben mit raschem Auge überblickt, da ist er auch sofort zur Tat bereit.
Diese gründet sich nicht aus Übermut oder Leichtsinn; nein, ans Gottes
Beistand vertrauend und „kühn in Gottes Namen" springt er in den
nächsten Fischerkahn. Mit starker Hand überwindet er die drei Hindernisse,
die ihn nicht zum Ziele kommen lassen wollen, und welche in den Zu-
schauern für das glückliche Gelingen der Tat wohl gerechte Besorgnis wach-
gerufen haben mögen: 1. Wirbel, 2. Sturm, 3. Wogendrang. Noch schlim-
mer als diese Hindernisse aber mag der Umstand gewesen sein, daß sein
Nachen zur Aufnahme der Zöllnerfamilie zu klein war, und daß der
brave Mann deshalb dreimal die kühne Fahrt (gegen Wirbel, Sturm und
Wogendrang) wagen mußte. Indes, die edle Tat gelang. Der brave
Mann rettete die gesamte Zöllnerfamilie. Kaum war ihm sein Werk ge-
lungen, und kaum hatte er die letzten Glieder der Familie am sichern
Port, so stürzte der letzte Pfeiler krachend zusammen. Es war die höchste
Zeit zur Rettung gewesen. Der Graf nannte den Bauer nun nicht allein
„seinen wackern Freund", sondern bot ihm auch den Beutel mit Gold
gefüllt als Lohn seiner ebenso kühnen als christlich-schönen Tat dar.
Allein der Bauer hatte die Tat weder um der Ehre noch um des Geldes
»villen vollbracht. Unter seinem groben Kittel schlug ein edleres
Herz. In schmuckloser Rede, iin Tone eines echten Biedermannes
»vies er daruin das Anerbieten des Grafen zurück. „Ich bin zwar arm",
— sagt er — „aber ich habe satt zu essen. Der aller seiner Habe und seines
Gutes beraubte Zöllner braucht das Geld notwendiger als ich, — gib
ihm das Geld!" In dieser Antwort zeigt der Biederinann den hohen
und „hehren" Sinn. Auch gibt er in der Antwort zu verstehen, daß ihm
sein Leben ebenso lieb war wie dein Grafen das seine, denn für Geld
hätte er es auch nicht hingegeben. Der Lohn der Tat war für ihn nur
die Überzeugung, daß er seine Schuldigkeit getan ltitb eine ganze Familie
von» Verderben gerettet habe. Darum ging er still und bescheiden fort,
»vie er gekominen war. Niemand hat seinen Namen erfahren. Ein Höherer
aber weiß ihn und hat ihn in das Buch des Lebens eingeschrieben.
V. Poetische und sprachliche Darstellung. An dein vorstehenden Ge-
dichte läßt sich vortrefflich der Unterschied zwischen Prosa und Poesie
den Schülern deutlich machen. Es wird zu diesem Zwecke die Quelle
des Gedichts mit dem Gedichte selbst verglichen.
a) Die Quelle ist uns in der Sprache des Lebens gegeben. Diese
Sprache unterliegt hauptsächlich den Gesetzen des Verstandes und hat
den Zweck, Wahrheiten sprachlich richtig darzustellen.
b) Die poetische Darstellung wendet sich mehr an das Gefühl und
die Phantasie des Lesers; daher benutzt der Dichter schöne Wortver-
bindungen (Str. 1, V. I und 2, Str. 2, V. 5 und 6 usw.), wählt
schön klingende Worte (Orgelton, Glockenklang, Heerstrom usw.), beson-
ders auch treffende und bedeutsame Attribute, Beiwörter und Zeit-
Giesebrecht: Der Lotse
339
wörter (z. B. dumpf dröhnen, gewaltige Felsen, laut heulte der Sturm,
barmherziger Himmel usw. usw.) und schöne Vergleiche (z. B. das
Lied klingt wie Orgelton und Glockenklang; die Wolken fliegen wie die
vom Wolf gescheuchte Herde usw.).
Auch die Schilderung der Personen und Vorgänge beschäf-
tigt die Phantasie des Lesers mehr als die Darstellung der prosaischen Er-
zählung (z. B. die Schilderung der Not des Zöllners in den letzten Versen
der 4. bis 13. Strophe, die Beschreibung der festen Brücke Str. 4 usw.).
Ebenso wirksam sind die Personifikationen, welche darin bestehen,
daß leblose Gegenstände als lebend und handeln vorgeführt werden, wie
z. B. in Str. 2 der Tauwind, in Str. 9 das Lied usw. Eine nicht
geringe Schönheit der poetischen Sprache ist die wiederholte Anwendung
des Bindewortes „und" in der 12. Strophe: „Und immer höher schwoll
die Flut, und immer lauter schnob der Wind, und immer tiefer sank
der Mut." Durch die Häufung der Bindewörter werden die ein-
zelnen Vorstellungen noch besonders hervorgehoben und geben der Phan-
tasie des Hörers reiche Beschäftigung. Endlich dürsten auch noch die schönen
Gegensätze erwähnt werden, z. B. der in der höchsten Angst befindliche
Zöllner und der ruhig dahinschreitende Bauer, die gaffende Menge und
der rührige Gras, der reiche Graf und der arme Bauer usw.
e) Zu diesen Eigentümlichkeiten der Poesie in Sprache und Dar-
stellung kommt nun noch der R h y t h m u s, d. h. der wohlklingende Wechsel
von schweren und leichten Silben (Tonhebungen und Tonsenkun-
gen). Dichtungen, in denen der Rhythmus fehlt, nennt man poetische
Prosa oder ungebundene Rede (die Krummacherschen Parabeln, „Die
Neujahrsnacht eines Unglücklichen" von I. Paul). Ist aber der Rhythmus
vorhanden, so nennt man die Sprache gebundene Rede. Zürn Rhyth-
mus kommt im vorliegenden Gedichte auch noch der Reim; er ist jedoch
nicht bei jedem Gedichte notwendig. Herders und Klopstocks Dichtungen
sind meist reimlos.
.VI. Vergleiche: „Der brave Mann" und „Der Lotse"!
B. Der Lotse?)
H. L Giesebrecht, Gedichte (6. Buch des Meeres). Leipzig 1836. S. 112.
„Siehst du die Briggs dort auf den
Wellen?»)
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muß am Vorgebirg' zerschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.
Ich muß hinaus, daß ich sie leite!"
„Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor." 4)
„Allein ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt!
Ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohl ein altes Leben wert. 5)
Gib mir das Sprachrohr! Schiff-
lein eile!
Es ist die letzte, höchste Not!"
Vor fliegendem Sturme gleich dem
Pfeile
hin durch die Schären») eilt das Boot.
Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„Links müßt ihr steuern!" hallt ein
Schrei —
Kiel?) oben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei.»)
1. Schiffsführer, der den Meeresgrund genau kennt. 2. Kriegs- oder
Lastschiff mit zwei Masten. 3. Zwischen zwei Lotsen entspinnt sich ein
22*
340
II. Epische Dichtungen.
Zwiegespräch. 4. Die brandenden Wogen an jener Stelle würden das
leichte Boot umstürzen, 5. Er will sein Leben opfern, indem er mittels
des Sprachrohrs dem gefährdeten Schiffe eine Warnung und den richtigen
Kurs zuruft. 6. Klippeninfeln an der Küste. 7. Der lange Grundbalken
unten an den Schiffen. 8. Das Boot ist umgeschlagen, der edle Lotse
versunken, aber sein letzter Ruf hat das Schiff von der gefährlichen auf
die rechte Bahn gelenkt. Es ist samt den Menschenleben darin gerettet.
Beide Gedichte berichten von der Rettung vieler Menschenleben durch
tapfere Männertat. Im schwanken Kahne auf sturmbewegtem Wasser fetzen
sie ihr Leben aufs Spiel. In beiden Gedichten gelingt die Rettung, aber in
ö opfert sich der Retter. In A geht der Retter freiwillig in die Gefahr,
in B in seinem Berufe. Ersterer rettet eine Familie, letzterer ein ganzes
Schiff voll jungen Lebens. Beide Retter sind von uneigennütziger Nächsten-
liebe getrieben. W. D.
132 a. Stavoren.
Ad. Böttger, Poetische Werke. Leipzig 1864.
1. Vorbereitung. In die Niederlande dringt von N.-W. her ein Meer-
busen tief ein; er heißt holländisch Zuider-Zee (sp. Seudersee), d. h. die
oder auch der Südersee. Diesen Namen erhielt er im Gegensatz zur Nord-
see voit den Bewohnern Frieslands, von denen aus er südlich liegt. An
der nördlichen Küste der schmaleren Einfahrt in die Südersee erhebt sich
die Stadt Stavoren. Sie war.früher blühend und reich wie keine Stadt
ringsum. Heute ist sie ein Ort von noch nicht 1000 Einwohnern. Eine
Bolkssage, die von Ad. Böttger dichterisch bearbeitet ist, erzählt, wie
sie durch eigene Schuld ärmlich und klein geworden ist. Gottes Hand hat
sie für ihre Sünden so furchtbar gestraft.
II. 1. Vorlesen des Gedichtes.
Im Südersee gen Westen lag mitten auf dem Meer
ein Eiland, grün und blühend, wie keines rund uniher.
Drauf ragt die Stadt Stavoren, an Gvld und Silber reich;
die größten aller Städte, sie kamen ihr nicht gleich.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
2. Erläuterungen. Was schildert Str. 1? Was ist ein Eiland?
lMhd. oinlant, d. i. alleinliegendes Land, Insel.) Von wem berichten
Str. 2 und 3? Was nannte sie eigen? Jugend, Schönheit, Reichtum
an Land, Schlössern und Geld sowie Treue ihrer Leute. Was war die
Folge des Reichtums? Arger Übermut. Wie äußerte er sich? Str. 3.
In Str. 4 ergänze: Aus einem dieser Gänge am Strande erteilte sie ihrem
Schiffer oder Kapitän folgenden Auftrag. Wie zeigte sich auch hierin ihr
Übermut? Vom Edelsten wollte sie gleich eine ganze Schiffsladung haben.
Weshalb hielt der Kapitän Weizen (Korn, Mais) für das Edelste? Er
ist eine Gottesgabe und dem Menschen am unentbehrlichsten. Weshalb
fuhr er nach Danzig? Diese Stadt war und ist noch heute Ausfuhr-
hafen für die reichen Getreideschätze der Weichselniederung. Wo spielen
Str. 6 ff. ? Am Hafen. Auf einem Spaziergange daselbst trifft sie un-
Bvttgcr: Stavorcn.
341
erwartet ihren Kapitän, der eben mit seinem Schiffe eingelaufen ist. Sie
hat gar nicht gedacht, daß er schon wieder eintreffen könnte; weshalb?
Was ist nach ihrem Sinne das Edelste? Warum? Weil es nur die Reichsten
besitzen können. Weshalb erteilt sie den Befehl? Um ihm ihren Unwillen
und ihre völlige Verachtung dessen, tvas er für das Edelste gehalten hat,
zu zeigen. Str. 8—10: Steigerung! Dem ersten Gebote des Fräuleins
entspricht die Bitte des Kapitäns, dem zweiten das kniefällige Flehn der
Armen, dem dritten.und letzten die weissagende Ankündigung ihrer Strafe:
sie lädt auf sich den Fluch der Armen und die Sünde der Unbarmherzig-
keit und Gottlosigkeit; Folge der Sünde wird Verzweiflung und Ent-
behrung des jetzt frevelnd Vergeudeten sein. Str. 9: Allen Einwir-
knngen bleibt sie unzugänglich, ja sie erhebt sich jetzt zum Gipfel des fre-
velnden Übermutes: „Mein Reichtum ist so fest gegründet, daß ihn
nichts, also auch Gottes Macht nicht, erschüttern kann; das wäre ebenso
unmöglich, wie es unmöglich ist, daß ich den Ring wiedererhalte." Damit
lästert und versucht sie Gott. Str. 12: Am reichbesetzten Tische, wo sie
schwelgen (Str. 2) wollte, traf sie der erste Schlag. Was sagte ihr „das erste
Zeichen"? Str. 13: Was für „Schläge" denkst du dir? Wie kam es,
daß sie Hungers starb? Die Stavorener waren gegen Arme gesinnt N'ie
früher sie. Str.» 14: Der fruchtlose, taube Weizen — die Bolkssage meinte
damit den Strandhafer — mußte den Bewohnern als Wunder, als
Mahnung erscheinen; sie machten es aber wie die Bewohner der galiläi-
schen Städte, von denen Jesus Matth. 11, 21 sagt: Wehe dir, Chorazin,
>vehe dir, Bethsaida! Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen,
als bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten in Sack und in der
Asche Buße getan. — Wie Kapernanm untergegangen ist, also daß heute
nicht einmal seine Stätte mehr feststeht, so kam über Stavoren Gottes Ge-
richt. Str. 15: Der Meeresboden öffnet sich wie ein Schacht, in ihm
versinkt ein Teil der Stadt; aber —wieder, abermals. Str. 16: An den
Nachkommen erfüllte sich Gottes Wort iveiter: Ich, der Herr dein Gott,
bin eilt eifriger Gott. Str. 17: Ried, eig. Schilfrohr. Das Zeichen des
Fluchweizens ist geblieben, und noch heute heißt die Sandbank, aus der
er sprosset, Vrouws 8ancl. Das Meer ist dort nur 1—3 m tief.
III. Vertiefung. 1. Gliederung, a) Str. 1—3: Die reiche Stadt
Stavoren und das reiche Fräulein zu Stavorcn. b) Str. 4—13: Des
Fräuleins Frevel und Strafe (ihr Auftrag an den Kapitän und dessen
Ausführung Str. 4 —7; ihr gottloses Gebot, des Kapitäns Bitte, der
Armen Flehn, des Kapitäns Warnung Str. 8—10; des Fräuleins fre-
velndes Wort, die Erfüllung des Fluches Str. 11 13). c) Str. 14—16:
Das mahnende Wunderzeichen, der Stavorener Sünden und fortwirkende
Strafe. ' <
2. Charakterzeichnung: Das Fräulein a) im Glück: jung,
schön, reich, schwelgerisch, habsüchtig, lieblos, gottlos, gegen Gott fre-
velnd; b) im Unglück: arm, verlassen, elend, hungernd, fluchend, ver-
zweifelnd, Hungers sterbend. Gib a) die Stufen des steigenden Übermutes,
d) die Stufen des immer tiefer hinab führenden Elends an! — Der
342
II. Epische Dichtungen.
Kapitän: treu, eifrig sinnend, schnell ausführend, gottessürchtig, bittend,
warnend — der treue Eckart.
3. Grundgedanken. Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten.
Es sind ja Gott sehr leichte Sachen mch i,st dem Höchsten alles gleich,
deil Reichen arm und klein zu machen. Sei barmherzig! Du sollst Gott
deinen Herrn nicht versuchen.
IV. Verwertung.
Rede- und Stilübungen. Suche Beispiele von ähnlichen
Gottesgerichten! (Sodom und Gomorrha, Tyrus und Sidon, Kaper-
naum, Jerusalem, Vineta.) — Welche biblische Überschrift kann man dem
Gedichte geben? (Irret euch nicht usw.) Beweis! — Gib die Reise des
Kapitäns an! — Zeichne das Gegenstück des Fräuleins! (Vornehm, jung,
schön, reich, barmherzig, liebestätig, gottessürchtig — die heilige Elisa-
beth.) — Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede finden sich zwi-
schen dem Fräulein von Stavoren und dem verlorenen Sohn des Gleich-
nisses? Vergleiche das Ringwerfen und seine Bedeutung mit dem gleichen
Tun in Schillers Ring des Polykrates! — Vergleiche das Fräulein mit
Frau Hütt! — Vergleiche unser Gedicht mit Uhlands „Glück von Edenhall"!
(Frevelnder Übermut, Strafe, treuer Eckart.) ,
Vergleiche unser Gedicht mit seiner Quelle in: Gebrüder Grimm,
Deutsche Sagen I 283! Zum Teil hat der Dichter die Sage wörtlich
benutzt. Ich führe hier nur die Stellen an, die die wichtigsten Unterschiede
zeigen. Ort und Zeit: 1. Die Sage weiß von einem Eiland nichts; es
heißt nur: Westlich im Südersee wachsen mitten aus dem Meere Gräser
und Halme hervor an der Stelle, wo die Kirchtürme und stolzen Häuser
der vormaligen Stadt Stavoren in tiefer Flut begraben liegen. . . . Die
Sandbank liegt entlang der Stadt Stavoren. 2. Eines Tages rief diese
Jungfrau ihren Schisfmeister. ... Er kehrte wieder in seine Heimat zu-
rück. „Wie, Schifsmeister", rief ihm die Jungfrau entgegen, „du bist schon
hier?" . . . „Ich komme selbst hin und sehe, ob meine Befehle erfüllt
wurden." . . . Sie kam und fragte. 3. Einige Tage darauf ging die Magd
dieser Frauen zu Markte, kaufte einen Schellfisch und wollte ihn in der
Küche zurichten; als sie ihn aufschnitt, fand sie darin einen kostbaren
Ring und zeigte ihn ihrer Frauen. — Andere Verschiedenheiten: 1. Der
Seemann. . . berief in Eile alle armen und dürftigen Leute aus der
Stadt an die Stelle, wo das Schiff lag, durch deren Anblick er seine Herrin
zu bewegen hoffte. 2. Wie groß war ihr Schrecken, als in demselben
Augenblick die Botschaft eintraf, ihre ganze aus Morgenland kommende
Flotte wäre gestrandet! Wenige Tage darauf kam die neue Zeitung von
untergegangenen Schiffen, worauf sie noch reiche Ladungen hatte. Ein
anderes Schiff raubten ihr die Mohren und Türken; der Fall einiger
Kaufhäuser, worin sie verwickelt war, vollendete bald ihr Unglück. 3. Auf
eine Zeit schöpfte man Hering und Butt aus dein Ziehbrunnen. — Wes-
halb hat der Dichter an diesen Stellen Änderungen vorgenommen? Am
wenigsten glücklich war er darin, daß er den Ring von dem Fräulein
Fontane: John Maynard. 343
bei Tisch finden ließ; wo fand sie ihn? Höchstens doch int Manle des
Fisches!
Vergleiche das Gedicht mit folgenden Gedichten, die denselben Stofs
behandeln: Karl L. Leimbach, Die Jungfrau von Stavoren; Karl
S im rock, Stavoren! Dr. ?. Polack.
132 b. John Maynard.
Theod. Fontane. Gedichte. 9. Aufl. S. 205.
I. Einführung in den Schauplatz und die Handlung.
In Nordamerika erstreckt sich als einer der fünf großen Kanadi-
schen Seen der Erie-(spr. iri)See 395 km lang von SW. nach NO.
Im Westen ergießt sich in ihn der Detroit-(spr. ditrent)Fluß, au dem die
Handelsstadt Detroit liegt. In seiner Nordostecke hat sich als Hafen-
nnd Handelsstadt Buffalo entwickelt. Zwischen diesen beiden Städten
vermittelte den Menschen- und Güterverkehr der Dampfer „Schwalbe".
Einst war dieses Schiff wieder mit einer großen Schar von Passagieren von
Detroit nach Buffalo unterwegs. Kurz vor dem Ziele bei hereinbrechen-
der Nacht geriet es in die schwerste Gefahr. Aber unter den Schiffsleuten
war ein Held, der die Rettung der Passagiere vollbrachte. Wie hieß! der
Mann?
II. Vortrag des Gedichtes.
John Maynard! *)
„Wer ist John Maynard?"
„John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann,
5^er hat uns gerettet, er trägt die Krön',
er starb für uns, unsre Liebe sssin Lohn.
John Maynard."
Die „Schwalbe" fliegt über den Ericsec,
Gischt schäumt unr den Bug wie Flocken von Schnee,
10 von Detroit fliegt sie nach Buffalo —
die Herzen aber sind frei und froh,
und die Passagiere mit Kindern und Fraun
im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
und plaudernd an John Maynard heran
15 tritt alles: „Wie weit noch, Steuermann?"
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund':
„Noch dreißig Minuten.... halbe Stund'."
Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei —
da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
20 „Feuer!" war es, was da klang,
ein Qualm aus Kajüt' und Luke drang,
ein Qualm, dann Flamme lichterloh,
- und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
Und die Passagiere, buntgemengt,
25 am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
am Steuer aber lagert sich's dicht,
*) Es ist u. E. nicht erforderlich, den Namen Maynard englisch auszu-
sprechen.
344
II. Epische Dichtungen.
und ein Jammern wivd laut! „Wo sind wir? Wo?"
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.
30 Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
der Kapitän nach dem Steuer späht,
er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
aber durchs Sprachrohr fragt er an:
„Noch da, John Mayuard?" „Ja, Herr, ich bin."
35 „Auf den Strand! In die Brandung!" „Ich halte drauf hin."
Und das Schiffsvolk jubelt: „Halt aus! Hallo!"
Und noch zehn Minuten bis Buffalo.
„Noch da, John Maynard?" Und Antwort schallt's
mit ersterbender Stimme: „Ja, Herr, ich halt's!"
40 Und in die Brandung — was Klippe, tvas Stein! —
jagt er die „Schwalbe" mitten hinein;
soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!
Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
45 Gerettet alle. Nur einer fehlt!
Alle Glocken geh'n; ihre Töne schwell'n
himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
ein Dienst nur, den sie heute hat:
50 Zehntausend folgen oder mehr,
und kein Aug' im Zuge, das tränenleer.
Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
mit Blumen schließen sie das Grab,
und mit goldner Schrift in den Marmorstein
55 schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
„Hier ruht John Maynard. In Qualm und Brand
hielt er das Steuer fest in der Hand,
er hat uns gerettet, er trägt die Krön',
er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
60 John Maynard."
III. Gang der Ereignisse und der Stimmungen.
1. Schnelle, glückliche Fahrt, hereinsinkende Dämmerung, das Ziel
in dreißig Minuten erreicht — Passagiere in froher Stimmung.
2. Umschwung: Ausbruch eines Feuers im Schiffsraum, erst Qualm,
dann helle Flammen — Besorgnis, da Buffalo noch 20 Minuten ent-
fernt ist.
3. Die Passagiere am Bugspriet zusammengedrängt, das Heck des
Schiffes mit dem Steuerruder in dichten Qualm gehüllt — Todesangst und
Jammern unter den Insassen des Schiffes, da Buffalo noch immer 15
Minuten entfernt ist.
4. Einzige Möglichkeit der Rettung, wenn das Schiff so schnell wie
möglich auf den Strand aufläuft, Befehl des Kapitäns an den Steuer-
mann, der noch aus seinem Posten aushält — Wiedererwachen der Hoff-
nung, ermunternde Zurufe an den Steuermann, aber noch 10 Minuten
bis Buffalo!
5. Qualm und Glut wachsen; Spannung, ob der Steuermann aushal-
ten kann und will. Schon wird die Brandung hörbar, das Schiff läuft auf,
Rettung der Passagiere, nur der Steuermann tot — Freude und Trauer.
Fontane: John Maynard.
345
6. Glockenläuten von allen Kirchen und Kapellen Buffalos; alle
Arbeit in der fönst so arbeitfreudigen Stadt ruht, nur ein Dienst wird ver-
richtet, der Dienst der dankbaren Liebe — Leichenbegängnis des Steuer-
manns, Dank der Geretteten, ihrer Familien, der ganzen Stadt durch
Tränen, Blumen, Denkstein von Marmor mit goldener Inschrift.
IV. Das Heldentum John Maynards. Als das Feuer im Schiffs-
raum ausbrach, blieb John Maynard auf seinem Posten und verließ ihn
auch nicht, als Qualm und Glut wachsen und alles nach dem Bugspriet
flüchtete. Er erkannte, daß der einzige Weg, alle Passagiere und Mann-
schaften oder wenigstens einen Teil zu retten, der sei, das Schiff auf
den Strand auflaufen zu lassen, und führte den Befehl des Kapitäns aus.
Er hielt mit ersterbender Kraft das Steuerruder so lange fest, bis das
Schiff aufgelaufen war. So war er in seinem Berufe treu bis in den
Tod, ein Held und Retter, das Vorbild schlichter Pflichterfüllung. Seine
Heldentat bildet eine Illustration zu den Bibelworten: a) Joh. 15, 13:
Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für feine
Freunde, b) Off. Joh. 2, 10: Sei getreu bis an den Tod, so will ich
dir die Krone des Lebens geben.
V. Des Dichters Kunst. Die Dichtung beginnt mit einer einhebigen
Zeile, die den Namen eines unbekannten Mannes enthält. Unwillkürlich
wird die Frage laut, wer dieser John Maynard ist (zweihebige Zeile).
Die Antwort kommt aus dem Munde eines der geretteten Passagiere;
nachdrucksvoll wird am Ende der Naine des Helden wiederholt. Diese
Antwort wie die nachfolgende Erzählung gibt der Dichter in schlichten
Reimpaaren ohne strophische Gliederung, jeder Vers mit vier Hebungen.
Der Auftakt und die Senkungen sind frei behandelt, bald ein-, bald zwei-
silbig. An bedeutsamer Stelle füllt der Auftakt fort; die Kraft der ersten
Hebung wird dadurch verstärkt: so V. 20 (Feuer) und V. 43 (Rettung).
Die Handlung entwickelt sich vor unseren Augen und Ohren in dreißig
Minuten; sie schreitet vorwärts mit dem Zeiger der Uhr von zehn bzw.
fünf zu fünf Minuten. Der Gleichschritt tritt in dem ähnlichen Wortlaut
zutage, den die Schlußzeilen in den einzelnen Abschnitten haben; fast re-
frainartig heißt es: „Noch dreißig Minuten." „Und noch zwanzig (fünf-
zehn, zehn) Minuten bis Buffalo." Aber diese einander so ähnlich lauten-
den Zeilen bringen ganz verschiedene Gefühle zum Ausdruck (Vortrag!);
die Hörer müssen es empfinden, wie lang sich diese Minuten für die Be-
teiligten dehnen, über die furchtbaren Qualen, die der heldenmütige
Steuermann erdulden mußte, um die Insassen des Schiffes zu retten, deckt
der Dichter absichtlich einen Schleier; nur ahnen läßt er uns diese Qualen
(V. 27, 32, 39).
Schlicht wie die rhythmische Form ist auch der sprachliche Ausdruck,
in dem der Dichter die schlichte Heldentat des einfachen Mannes erzählt
>V. 21 u. 22, V. 25 u. 26 Anaphora). Charakteristisch ist die Knapp-
heit des Ausdrucks in den Fragen des Kapitäns und den Antworten des
Steuermanns (V. 34 u. 35, V. 38 n. 39). Aus den abgebrochenen Sätzen
in V. 44 u. 45 klingt es wie mühsam verhaltener Schmerz. Der Aus-
346
II. Epische Dichtungen.
gang der Dichtung kehrt zu dem Eingang zurück. Wir sehen nun, daß die
einleitende Antwort des Passagiers mit den entsprechenden Änderungen
des Wortlauts von der Grabinschrift hergenommen ist: diese bringt in
kürzester, schlichtester Form die Tat und den Dank der Liebe zum Aus-
druck, sie prägt sich auch leicht und fest ein.
VI. Verwendung. Vergleiche John Maynards Heldentat mit der des
alten Lotsen in L. Giesebrechts Gedicht „Der Lotse"! Dr. P. Polack.
132 c. Nis Nanders.*)
Otto Ernst. Stimmen des Mittags. 1903. S. 94.
1. Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd —
ein Schrei durch die Brandung!
2. Und brennt der Himmel, so sieht man's gut:
ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut;
gleich holt sich's der Abgrund.
3. Nis Randers lugt — und ohne Hast
spricht er: „Da hängt noch ein Mann im Mast;
wir müssen ihn holen!"
4. Da faßt ihn die Mutter: „Du steigst mir nicht ein!
Dich will ich behalten, du bliebst mir allein,
ich will's, deine Mutter!
5. Dein Vater ging unter und Momme, inein Sohn;
drei Jahre verschollen ist Uwe schon;
mein Uwe, mein Uwe!"
L. Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach.
Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:
„Und seine Mutter?"
. 7. Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs:
Hohes, hartes Friesengewächs;
schon sausen die Ruder.
8. Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz!
Nun niuß es zerschmettern! .... Nein, es blieb ganz! ....
Wie lange? Wie lange?
9. Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
die menschenfressenden Rosse daher;
sie schnauben und schäumen.
10. Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt!
Eins auf den Nacken des andern springt
mit stampfenden Hufen!
11. Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt!
Was da? — Ein Boot, das landwärts hält! —
Sie sind es! Sie kommen!--------
12. Und Auge und Ohr in's Dunkel gespannt....
Still! — ruft da nicht einer? — Er schreit's durch die Hand:
„Sagt Mutter, 's ist Uwe!"
*) Der Ballade liegt ein wirkliches Erlebnis zugrunde.
Ernst: Nis Randers.
347
I. Ziel. Eine Sturmnacht auf einer nord- (oder ost-)friesischen In-
sel und die Heldentat eines Friesen — Nis Randers war sein Name —,
davon wollen wir heute hören.
II. Vortrag des Gedichts.
III. Gang der Handlung.
1. Sturm- und Gewitteruacht, Strandung eines Schiffs (Str. 1 u. 2).
2. Nis Randers ringt mit seiner Mutter um die Rettung des Schiff-
brüchigen (Str. 3—6).
3. Nis Randers und seine Gefährten ringen mit Sturm und Meer
um die Rettung des Schiffbrüchigen (Str. 7—10).
4. Nis Randers bringt den Schiffbrüchigen gerettet ans Land, es
ist sein verschollener Bruder Uwe (Str. 11 und 12).
IV. Des Dichters Kunst.
1. Naturschilderung. Anschaulich und packend ist die Schilde-
rung der Sturm- und Gewitternacht (Str. 1). Nicht ganze Sätze, sondern
nur einzelne Worte! Es ist, als wenn der Dichter auf diese Weise das
stoßweise Wüten des Sturmes, die einzelnen Blitze und Donnerschlägc
malen wollte. In Str. 9 und IO kommt die atemlose Hast der Meeres-
wellen, die furchtbare Wucht der entfesselten Elemente anschaulich zur
Darstellung in den längeren Sätzen. Trefflich ist das Bild von den Meeres-
rossen durchgeführt.
2. Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn. Beide haben
von ihrem Standpunkte aus recht; die egoistische Mutterliebe muß aber
der opferfreudigen Nächstenliebe des Sohnes weichen. In ihrer Herzens-
angst um deu einzigen ihr noch verbliebenen Sohn wird die sonst wortkarge
Mutter beredt; aber ihr Widerspruch verstummt, muß verstummen vor
dem einen kurzen Worte ihres Sohnes: „Und seine Mutter?" Von
da an läßt der Dichter die Mutter nicht wieder auftreten. Wie sie mit den
anderen Dorfbewohnern am Strande steht, in die Dunkelheit, in die Blitze
und in das Wellengebrause starrt und mit angstvoller Spannung die
Fahrt des Bootes verfolgt, mit welcher Freude sie die Rückkehr des Bootes
vernimmt, wie die Freude wächst, als sie in dem Geretteten den verschol-
lenen lieben Sohn ans Herz drücken darf, und wie sie sich mit dem Ge-
danken abfindet, daß sie aus Mutterliebe fast zur Mörderin ihres eigenen
Kindes geworden wäre — das alles nachzuempfinden und nachzudenken
bleibt dem Hörer überlassen.
3. Charakteristik der Personen. Treffend und anschaulich ist
die Bezeichnung „hohes, hartes Friesengewächs"; man sieht die hohen,
wetterharten Gestalten und ahnt die eiserne Entschlossenheit, mit der sie
den Kampf gegen ihre furchtbarsten Feinde — Sturm und Meer — auf-
nehmen. Den Haupthelden charakterisiert der Dichter aufs glücklichste in
seiner Ruhe, Wortkargheit, Entschlossenheit, Energie und opferwilligen
Nächstenliebe durch die kurzen, inhaltschweren Sätze und Worte in Str. 3,
6 und 12. Ihm wird der schönste Lohn zuteil: einen Fremden aus Todes-
not zu retten begibt er sich selbst in Lebensgefahr und fährt hinaus aus
die mordgierige See, die ihm schon den Vater und zwei Brüder geraubt
348
II. Epische Dichtungen.
hat; mit dem geretteten Bruder kehrt er glücklich heim und bewahrt seine
Mutter vor dem furchtbaren Schicksal, sich selbst anklagen zu müssen,
wenn die See den Leichnam des Schiffbrüchigen an das Land gespült und
die Mutter in dem Toten ihren eigenen Sohn erkannt hättö, der an der
Schwelle der Heimat durch ihre Schuld umkommen mußte.
4. Die rhythmische Form. Die Ballade ist in dreizeiligen Stro-
phen gedichtet, die — dem Inhalt entsprechend — rhythmisch stark bewegt
sind. Die beiden ersten Verse haben vier Hebungen, gepaarten Reim und
stumpfen Versschluß. Die dritte Zeile dagegen ist zweihebig, steht reim-
los und schließt klingend; der Rhythmus bricht hier plötzlich ab, die Auf-
gabe der Zeile, den Schluß der Strophe zu bilden, wird dadurch aufs deut-
lichste charakterisiert. Dazu kommt noch, daß in dieser kurzen Zeile die
Strophe auch inhaltlich gipfelt: sie enthält den Hauptgedanken (vgl. Zn
Straßburg auf der Schanz). Sehr verschiedenartig ist die Behandlung
der vierhebigen Zeilen. In Str. 9 und 10 haben die Hebungen ziemlich
gleiche Stärke: hier soll gemalt werden, wie die Wellenrosse in ununter-
brochener Folge und in langen Linien gegen das Boot heranstürmen. Dem-
gegenüber zerlegen sich eine große Zahl Zeilen in zwei kurze Glieder mit
je zwei Hebungen, z. B. Str. 4: hier will der Dichter die stoßweise Leiden-
schaftlichkeit der Mutterliebe dem Gefühle nahebringen. Zwischen beiden
Extremen stehen andere Strophen wie z. B. Str. 1 und 12, in denen
deutlich drei Glieder (nicht vier gleichstarke Hebungen) hervortreten. Ähn-
liches gilt von der Behandlung der dritten Verszeilen: man vergleiche
z. B. Str. 2 und 3 mit Str. 4 und 5! — Die Verszeilen beginnen zu-
meist mit einem Auftakt. Die beiden ersten Zeilen der Dichtung aber
setzen charakteristischerweise sofort kräftig mit einer Hebung ein; vgl. Str. 7,
Z. 2. Auch hinsichtlich der Senkungen schmiegt sich der Rhythmus dem
Inhalt an: in Str. 1 haben wir jedesmal zwei Hebungen, in Str. 3,
Z. 1 (Auftreten des Helden charakterisierend) je eine Senkung, motiv-
artig wiederkehrend in Str. 6, Z. 2.
V. Verwendung. Vergleiche „Nis Randers" mit.„John Maynard"
nach Schauplatz, handelnden Personen, Handlung und Kunst des Dichters!
Dr. ?. Polack.
L33. Johanna Sebus.
I. W. v. Goethe, Werke. Stuttgart 1874. I. 93.
Der Damm zerreißt, das Feld er- „Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
braust, uoch reicht sie nicht hoch, ich wate
die Fluten spülen, die Fläche saust. gut. —"
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung und Vermittlung. Abschnitt I, V. 1—12. Furcht-
bar brausten am 13. Januar 1809 die Wogen des hochangeschwollenen
Rheinstroms bei dem Dorfe Brienen an der holländischen Grenze. Die
ganze, unabsehbar große Ebene, welche sich dort zwischen den Dämmen aus-
breitet, bildet ein einziges Meer; die ungeheuren Eisschollen drängen in
wildem Wogenschwall an die hohen Deiche und bringen schon hie und
Goethe: Johanna Sebus.
349
da kleine Risse und Löcher in die Erdmassen; da heißt es ans einmal:
„Der Damm zerreißt", und mit ungeheurer Krast stürzen die Wogen
aus das hinter dem Damme gelegene Feld („das Feld erbraust"). Hier
steht ein kleines Häuschen, an dem bereits „die Fluten spülen", welche
die weite Fläche umher bedecken und ein eigentümliches Sausen verur-
sachen. In dem Hause wohnt die alte Frau Sebus mit ihrer Tochter-
Johanna (welche der Dichter Suschen nennt) und noch eine andere
Frau mit drei Kindern („drei Kind" ist die mittelhochdeutsche und auch
später noch gebrauchte Form des Plurals). „Schön Suschen" erkennt
die große Gefahr, in welcher sie und die übrigen Bewohner des Hauses
schweben; sofort ergreift sie die alte, schwache Mutter, hebt sie auf ihre
Arme und trägt sie durch die Flut. Als das die Hausgenossin sieht,
ruft sie dem mutigen Mädchen nach: „Auch uns bedenke, bedrängt wie
wir sind!" Suschen antwortet, ihr Trost zusprechend: „Zum Bühle
(= Hügel in der Nähe des Hauses) da rettet euch! — harret derweil
(—wartet, bis ich zurückkehre), doch nehmt auch mir nieine Ziege mit!"
Abschn. II, V. 13—20. Die Gefahr wächst. Hatte vorher der Damm
nur einen Riß, so heißt es jetzt schon: Der Damm „zerschmilzt" (^das
Erdreich des Dammes wird vom Wasser so vollständig erweicht, daß es
anfängt zu fließen). Johanna hat die Mutter gerettet („Sie setzt die
Mutter aus sichres Land") und sieht sich nach den andern Hausgenossen
um. Da ruft die alte Mutter, welche die wachsende Gefahr erkennt, der
geliebten Tochter zu: „Wohin, wohin?" „Verwegen ins Tiefe willst du
hinein?" Aber Suschen, das kühne Mädchen, antwortet mit Opferfreudig-
keit: „Sie sollen, sie müssen gerettet fein!" Nicht aus Verwegenheit,
sondern aus reiner Menschenliebe begibt sie sich in Gefahr.
Abschn. III, V. 21—26. Immer mehr steigert sich die Gefahr, und
immer schwieriger und lebensgefährlicher wird das Rettungswerk; denn:
der Damm verschwindet, und die Wasserwellen brausen und werden
wie eine einzige große Meereswoge. Doch „Schön Suschen schreitet ge-
wohnten Steg" (^den Steg, welcher schon vom Wasser bedeckt, aber
Suschen genau bekannt ist) und „erreicht den Bühl und die Nachbarin.
Doch der und den Kindern kein Gewinn!" Hiermit deutet der Dichter
an, daß das Rettungswerk leider nicht gelingen wird.
Abschn. IV, V. 27—40. Das Unglück tritt ein: „Der Damm ver-
schwand." Nicht nur eine Woge bespült und umwühlt den kleinen
Hügel, sondern wie „ein Meer erbraust's" um denselben, bis die Flut
auch die Frau und ihre Kinder wegspült und in die Tiefe hinabzieht.
Eins der Kinder greift noch nach dem Horn der Ziege und findet mit
dieser zugleich sein Grab in den Wogen. Noch steht das kühne Mädchen
„strack (aufrecht und gerade) und gut" mitten in den brausenden Wogen.
Aber auch ihr ist der Weg zur Rettung abgeschnitten, drum rufen wir
mit dem Dichter ans: „Wer rettet das junge, das edelste Blut?"
Noch steht sie da wie ein leuchtender Stern in der Finsternis, aber
kein Retter naht. Alle, die ihr in Liebe zugetan waren, und die um die
Neigung und Gunst des edlen Mädchen sich bewarben, sind fern: keiner
350
II. Epische Dichtungen.
wagt mit schwankendem Schifflein auf der Wasserbahn zu ihr zu gelangen.
Johanna erwartet aber auch die menschliche Hilfe nicht mehr; denn mit
festem Vertrauen „noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf, da nehmen
die schmeichelnden Fluten sie auf".
Abschn. V, V. 41—48. Das furchtbare Unglück ist geschehen. Überall
fluten die Wogen: kein Damm, kein Feld ist mehr zu sehen; nur hier und
da ragt die Spitze eines Baumes oder Turmes aus dem Wcrsserschwall
hervor: „Doch Tuschens Bild schwebt überall." „Und überall wird Tus-
chen beweint." Die Tat hat das heldenmütige Mädchen unsterblich ge-
macht. Alle, die von dem frommen Tuschen hören, werden sie im Tode
noch preisen. Wer aber in diesen Preis nicht mit einstimmt, der hat kein
Verständnis und kein Herz für Großes und Schönes, und dem sei, wie
der Dichter spricht, „im Leben und Tod nicht nachgefragt".
II. . Vertiefung. 1. Gliederung, a) Johanna rettet die Mutter
aus der Todesgefahr und verspricht, auch die Hausgenossen zu retten.,
b) Johanna geht wieder ans Rettungswerk in die Flut trotz der Einrede
der Mutter, e) Johanna schreitet durch das immer höher steigende Wasser
und kommt glücklich bis zum Bühle, wo die Frau sich befindet, d) schildert
den Untergang der Frau mit den Kindern und das jähe Ende Tuschens,
s) Schluß. Der Tod Tuschens wird betrauert; ihr Name lebt ewig im
Liede fort.
2. Johannas Charakter. Johanna, die „siebzehnjährige
Schöne, Gute", besaß körperliche Kraft und Gewandtheit (V. 3), Über-
legung und klaren Verstand (V. 9—11), Liebe, nicht nur zu den Menschen,
sondern auch zu den Tieren (V. 12), Unermüdlichkeit in der.Aufopfe-
rung für andere (V. 16), Kühnheit und Heldenmut (V. 16—18), Furcht-
losigkeit und wahres Gottvertrauen in der Todesstunde (V. 38, 39
und 40).
3. Sprachliche und poetische Darstellung. „Jedem Ab-
schnitte", sagt H. Hescamp, „hat der Dichter zwei Verse vorangestellt, in
denen er mit wenigen Strichen ein so anschauliches Bild des Dammdurch-
bruches und der empörten Wasserflut zeichnet, daß wir mit der größten
Spannung unser geistiges Auge dem Damm zuwenden und nun bei der
stets wachsenden Gefahr auch mit stets wachsender Sorge dem Helden-
mädchen folgen. In unübertrefflicher Steigerung schildert er den Kampf
der wilden Wasserflut an dem Damme. Anfangs ein Riß im Damm, und
die Fluten „spülen"; darauf Zerschmelzen des Dammes, und die
Fluten „wühle n" in die Öffnung, dann das a l l m ä h l i ch e V e r sch w i n-
den des Dammes, und einzelne Wellen „brausen" darüber hin; jetzt
vollständiges Verschwinden des Dammes, und die Wasser er-
brausen wie ein Meer. Und zum Schlüsse weiter, wilder Wasserschall,
und Feld und Land von ihm bedeckt."
III. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben,
a) Sprüche: Matth. 22, 40: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst. 1. Joh. 3, 16: Daran haben wir erkannt die Liebe usw. b) Haupt-
Schwab: Der Reiter und der Bodensee.
351
gedanke: Wahre Liebe steht dem Nächsten bis zur Aufopferung des
eigenen Lebens bei.
2. Vergleiche „Johanna Sebus" u. „Der brave Mann"!
I. Ähnlichkeiten. (Die Überschwemmung, die Not der von der
Überschwemmung Betroffenen, die Retter, das Rettungswerk.) II. Ver-
schiedenheiten a) hinsichtlich des Inhalts: Ort der Überschwemmung
(Etsch — Rhein; Damm — Brücke). Aufenthalt der Bedrohten
(Haus auf der Brücke — Haus hinter dem Damm). Die Retter (Mann
— Jungfrau). Art der Rettung (Kahn — Schulter). Erfolg des Ret-
tungswerkes (alle Personen werden gerettet — nur die Rettung der Mut-
ter gelingt; der Retter lebt — die Retterin stirbt). b)Hinsichtlich der F o r m
und Sprache (strophische Einteilung — ohne Strophen; umständliche
Erzählung — einfache Darstellungen usw.). W. D.
134, Der Neiter und der Bodensee.
Gustav Schwab, Gedichte. Stuttgart und Tübingen 1851. S. 402.
I. Vorbereitung und Vortrag. Zwischen Deutschland und der Schweiz
liegt der große und schöne Bodensee. Den Namen erhielt er von der
Kaiserpfalz Bodman, die früher an seinem nordwestlichen Strande lag.
Er wurde auch schwäbisches oder deutsches Meer genannt. Von
dem Gebhardsberge bei Bregenz erscheint er in der Tat wie ein Meer; die
Sonne taucht bei ihrem Untergange nicht hinter die Berge, sondern in
die Fluten nieder. Der See hat einen Umfang von 196 km und bedeckt
eine Fläche von 540 gkm, und seine größte Länge zwischen Bregenz und
der Stockach-Mündung beträgt 62, seine größte Breite zwischen Friedrichs-
hasen und Arbon 14 km und seine größte Tiefe zwischen Lindau und
Rorschach 300 m. Seine Tiefe nimmt allmählich ab, weil der Rhein
und andere Flüsse ihr Geröll hier absetzen und dadurch ihr schlammiges
Wasser säubern. Der See erstreckt sich von 80. nach NW. und spaltet
sich bei Meersburg in zwei flachere Arme, den Obersee, an dem Über-
lingen und in dem die liebliche Insel Mainau liegt, und in den Unter-
oder Zellersee, an dem Radolfzell und in deni die schöne Insel
Reichenau liegt. An den See stoßen fünf Staaten: Baden (Konstanz),
Württemberg (Friedrichshafen), Bayern (Lindau), Österreich
(Bregenz) und die Schweiz (Rorschach und Romanshorn). Die Ufer
des Sees sind überaus liebliche Berg- und Hügellandschaften. Städte, Dör-
fer, Schlösser und Weinberge umwinden ihn wie ein schöner Kranz; Schiffe
und Kähne beleben seinen dunkelgrünen Spiegel. Das Wasser des Sees
plätschert und wiegt sich gewöhnlich in sanften Wellen. Wenn aber der
Föhn von Süden braust, dann schwellen plötzlich die Fluten und toben
die Wellen, so daß Schiffe und Menschen in die größte Gefahr kommen.
Der fischreiche See friert nur bei der strengsten Kälte zu. Dies geschah
z. B. 1277, 1695, 1870 und zum letztenmal 1880. Spaziergänger,
Schlittschuhläufer, Schlitten und Wagen tummelten sich auf der weiten
Eisfläche, ja Schützenfeste wurden darauf gefeiert. Der Dichter Gustav
352
II. Epische Dichtungen.
Schwab, der ein schönes Buch über den Bodensee und das Rheintal ge-
schrieben hat, weilte längere Zeit an den Ufern des Sees und erfuhr hier
von den Anwohnern eine Sage, nach der im Jahre 1695, als der See
am 5. Februar zufror, ein Reiter im Nebel und in der Abenddämmerung
über den See geritten sei, ohne es zu wissen. Schwab hat die Sage zu
einem ergreifenden Gedichte umgeschafsen.
1. Der Reiter reitet durchs helle Tal;
aufs Schneefeld schimmert der Sonne Strahl.
2. Er trabet im Schweiß durch den kalteil Schnee,
er will noch heut an den Bodensee.
(Das Gedicht steht in beit meisten Lesebüchern.)
II. Erläuterungssragen. Warum war das Tal hell? Warum trabt
der Reiter im Schweiß? (Die Sonne scheint; das eilende Roß teilt seine
Wärme dem Reiter mit; die Hast und Unruhe machen ihm warm.) Wie
braust er feldein? (Er reitet so rasch, daß es sauset wie der Wind;
dabei achtet er nicht auf die gebahnten Wege.) Worin gleichet das Schnee-
feld der Sandwüste? (Beide sind eben, dehnen sich weit und gleich-
förmig ohne Abwechslung aus; die zahllosen gefrorenen Schneeslöckchen
ähneln den gelbweißen zahllosen Sandkörnchen.) Warum war der Weg
schlimm, durch Dornhecken und Steinblöcke gehemmt? (Der Rei-
ter war von der Landstraße abgekommen.) Wann geht eine Sache aus
(hier Bäume und Felsen)? Was ist der Bühl? (Hügel.) Wo finden
sich Schneegans und Wasserhuhn? An welchen Zeichen hätte der
Reiter merken können, daß er nicht auf dem Lande war? Warum merkte er-
es nicht? (Auge und Ohr achteten nicht mehr auf die Umgebung, weil sein
Geist beschäftigt war und nur eilig vorwärts drängte.) Warum grüßt
er das Mädchen mit „Willkommen"? (Sie ist ihm nach dem langen, öden
Ritt eine willkommene Erscheinung, um endlich Auskunft zu erhalten.)
Wie zeigt sich das Staunen des Mädchens? Warum heißt die Tiefe
bodenlos, der Huf rasend, die Eisrinde dicht, der Fische Heer
stumme Brut? Wie zeigt sich das Entsetzen des Reiters? Wie die
F r e u d e der Dorfbewohner? Warum nennen sie den Reiter glückselig?
(Er kann sich glücklich, selig preisen.) Warum soll er sich segnen? (Glück
wünschen.) Womit wird die grauenhafte Gefahr verglichen, weil sie
grinst, d. h. zähnefletschend den Mund öffnet? (Der Tod wird als
zähnefletschendes, fleischloses Geripp abgebildet.) Was ist der gräßliche
Schlund? Warum versinkt sein Geist in den schwarzen Grund?
(Er kanv von dem Gedanken an die überstandene entsetzliche Gefahr nicht
hinwegkommen und malt sie sich mit allen Schrecken aus.) Welche Bilder
halten seinen Geist gefangen? (Str. 29 und 30.) Was wirkt so erschüt-
ternd bei dem Tode des Reiters? (Gerettet, um zu verderben, dem nassen
Grabe entgangen, um ein trockenes zu finden.)
III. Vertiefung. 1. Zeit und Ort. Die Sage weist auf den Fe-
bruar des Jahres 1695 zurück. Es ist gegen Abend, erst Heller Sonnen-
schein, dann plötzlich hereinbrechende Nacht. Der Schauplatz ist der Boden -
fee mit seinen Usern, ohne nähere Angabe des Ortes. Drei Bilder treten
353
Schwab: Der Reiter und der Bodensee.
vor unsere Seele, a) Auf dem südlichen Ufer: Berglandschaft; tiefe
Täler dazwischen; Städte und Dörfer; alles mit Schnee bedeckt; Heller
Sonnenglanz auf der Schneedecke; ein Reiter auf rüstigem Roß in dickem
Pelze braust auf unwegsamen Pfaden dahin, b) Auf dem See: Un-
absehbare Ebene ohne Hügel, Bäume und Häuser; kein Laut weit und
breit; ein Reiter fliegt über das Schneefeld; Schneegans in der Luft;
Wasserhuhn flattert umher und sucht offene Stellen im Eise. e)Am nörd-
lichen Ufer: Eingefrorener Kahn am Ufer; ein Dorf; Häuser und
Bäume; durch den Nebel schimmern Lichter; ein Mädchen an einem
Fenster reckt vor Verwunderung und Entsetzen die Hände in die Höhe;
froh erstaunte Menschen eilen herbei; der Reiter sinkt vom Pferde, Ent-
setzen im Blick.
2. CharakterdesReiters. Der Reiter erscheint in feinem Wesen
einseitig und innerlich gebunden. Er hat immer nur einen Ge-
danken und ein Gefühl und wird dadurch so völlig beherrscht, daß er sich
nicht darüber erheben kann. Ein Gedanke treibt ihn rasch vorwärts und
läßt ihn auf nichts achten: „An den See, an den See!" Er ist in Schweiß
gebadet, achtet nicht auf den Weg, bemerkt nicht die endlose, glatte, leere
Ebene, hört nicht den Schrei der Schneegans, sieht nicht das flatternde
Wasserhuhn. „Nur noch heute, vor der Nacht an den See!" weiter denkt,
hört und sieht er nichts.— Und am anderen Ufer ist's wieder ein Gedanke,
der ihn mit unwiderstehlicher Gewalt packt, nicht wieder los läßt und end-
lich seinen Geist nieder in den Abgrund zieht: „Wenn das Eis brach!
Wenn du in den Abgrund sankst!" Nichts fühlt er von dem festen Boden
unter den Füßen; nichts sieht er von der Freude der Dorfbewohner; nichts
hört er von ihren Glückwünschen und freundlichen Einladungen. Nur dem
einen Gedanken hängt er nach: „Wenn —!" Die Stärke seines einseitigen
Denkens und Empfindens ist sein Verderben. Sie trug ihn achtlos und
arglos über den See, und sie zieht ihn rettungslos in den Wirbel entsetzter
Vorstellungen und ins Grab.
3. Gedanken gang. I. Der Ritt n a ch dem See Str. 1—5. II. Der
Ritt über den See Str. 6—11. III. Die Ankunft am anderen Ufer Str.
12—16. IV. Die Aufklärung durch das Mägdlein Str. 17—23. V. Die
Freude der Dorfbewohner Str. 24—26. VI. Der Tod des Reiters Str.
26—31.
Grundgedanken: Der großen Gefahr entgeht der Reiter, der
kleinen erliegt er! — Die Erinnerung an eine überstandene Gefahr wirkt
zuweilen verderblicher als die Gefahr selbst! — Schwerer als das Roß
läßt sich der Gedanke und das Gefühl zügeln. Der Reiter, der mit festem
Zügel das Roß in rasendem Fluge über den Abgrund lenkte, der verliert
den Zügel über die eigenen Gedanken und Empfindungen. Das nachträg-
liche Entsetzen zieht seinen Geist wie ein unwiderstehlicher Strudel in den
Abgrund, dem der Leib entgangen ist. Die Wucht eines einseitigen Denkens
und Empfindens kann den Menschen erdrücken, seinen Geist in die Nacht
des Wahnsinns versenken oder sein Lebenslicht mit einem Schlage aus-
löschen.
AdL. II. 8. Aufl.
23
354
II. Epische Dichtungen.
4. Eigentümlichkeiten. Das Gedicht ist in volkstümlichen zwei-
zeiligen Strophen geschrieben. Der Reim ist glatt (zwei nebeneinander)
und männlich (einsilbig). Der Vers ist vierhebig mit Auftakt und
wechselnder Zahl der Senkungen.
Wunderschön sind die Gegensätze und Steigerungen: Heller Sonnen-
schein, allmählicher Abend, Lichter im Nebel, Nacht — des Todes! Die
Hast ohne Rast nach — einem trockenen Grabe! Die Arg- und Ahnungs-
losigkeit in der wirklichen Gefahr und das betäubende Entsetzen bei der
Erinnerung daran! Die geheimnisvolle Reise und das unerwartete
Reiseziel.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Bewahre dir die Klarheit
des Blickes, die Freiheit des Geistes und die Herrschaft über das Gefühl,
dainit dich das Unerwartete nicht allzusehr erschüttere, ja vernichte! —
2. Verwandtes. In der Parabel von Rückert „Das Kamel" haben
wir ein Gegenstück. Bewußt von allerlei schrecklichen Gefahren um-
geben, vergißt der leichtsinnige Mensch alles und nascht Beeren.
3. RedeundStilübungen. a) Erzähle den Inhalt des Gedichts!
— b) Suche aus der Geschichte und dem Leben Beispiele, wo jemand einer
großen Gefahr entgeht und einer geringen erliegt! — e) Vergleiche die in
vielen Lesebüchern befindliche Erzählung:DasbraveMütterchen von
K. V. Müllenhoff: „Es war im Winter, und das Eis stand. Da beschlossen
die Husumer" usw. S. 50. d) Vergleiche das Gedicht von Friedr. Rückert
„Schiffahrt"!
1. Wie ein Schifflein auf dem Meer
schwebt das Leben überm Tod,
oben, unten, rings umher
von Gefahren stets umdroht.
2. Eine schwache Bretterwand
trennet dich von deinem Grab:
eines Hauches Unbestand
wiegt dich schaukelnd auf und ab.
3. Seien Lüfte noch so klar,
sei die Tiefe noch so still:
in Gefahr ist immerdar,
wer durchs Leben schissen will.
(Allerlei Gefahren umdrohen uns, und wir wissen es meist nicht.
Wie der Reiter über den See reitet, so fährt unser Schifflein über das
Meer des Lebens. Wie unter dem Reiter der Tod droht, so sind wir rings
von Gefahren umgeben. Wie den Reiter eine Eisrinde von der Tiefe, so
trennt uns oft nur eine dünne Bretterwand vom Grabe. Wie ein unvor-
sichtiger Hufschlag das schwankende Eis zerbrechen kann, so wiegt der Hauch
eines unbeständigen Schicksals uns auf und ab. Wie die Ebene glatt, die
Seetiefe still, die Luft ruhig und klar, die Gefahr aber darunter verborgen
ist, so hört auch unsere Gefahr nicht auf, wenngleich Windstille zu herr-
schen scheint.) P.
133. Harras der kühne Springer.
Theodor Körner.
I. Vorbereitung. Die Zschopau, ein linker Nebenfluß der Frei-
berger Mulde, entspringt auf dem Erzgebirge am Nordfuße des Fichtel-
berges. Flach ist ihr Tal anfangs, immer tiefer aber schneidet der Fluß
sein Bett in das Felsgestein ein, bis die Talwände hoch und steil über
Körner: Harras der kühne Springer.
355
dem Wasser aufsteigen. Nicht fern von der Stadt Chemnitz liegt nun
ein durch die Sage berühmt gewordener Punkt des Flusses. Auf der
linken Talwand befindet sich das Rittergut Lichtenwalde mit Schloß und
Park, der bis zur Zschopau hinabzieht; hier erhob sich einst die Burg
Lichtenwalde, die einem Ritter Dietrich von Harrach gehörte. Am Fluß-
ufer selbst steht zwischen zwei Eichen ein eisernes Kreuz. Und über dein
brausenden Flusse erhebt sich die rechte Talwand als steil abfallender
Fels von 60 m Höhe, der Hauenstein. Fels und Fluß sind die Stätten
einer Heldentat, die im Jahre 1499 sich zugetragen haben soll; das Kreuz
drunten im Tale aber ist errichtet zur Erinnerung an diese Tat und zu
Ehren dessen, der sie im Liede gefeiert hat, zu Ehren des Dichters Theo-
dor Körner, der uns das Gedicht „Harras der kühne Springer"
geschenkt hat.
II. Darbietung. 1. Vorlesen des Gedichtes.
1. Noch harrte im heimlichen Däm- Und es dringt herauf wie Stimmen-
merlicht gewirr,
die Welt dem Morgen entgegen; wie flüchtiger Hnfschlag und Waffen-
noch erwachte die Erde vom Schlummer geklirr,
nicht, und tief aus dem Wald zum Gefechte
da begann sich's im Tale zu regen. sprengt ein Fähnlein gewappneter
Knechte.
(Das Gedicht steht in den meisten Lesebüchern.)
2. Erläuterungen. Str. 1: Heimlich wird das Dämmerlicht
genannt, weil es Geschehnisse geheimhält, verbirgt. — Es klingt herauf:
Ein Zuschauer wird auf der Höhe der Talwand stehend gedacht; ebenso
heißt es Str. 2 vorbei, nämlich am Zuschauer. — Gewappnete
Knechte: Wappen und Waffe ist dasselbe Wort, jenes nur die nieder-
deutsche Form; das mittelhochdeutsche Wort das wäfen oder das wäpen
ist so viel wie Waffe, Rüstung. Knecht bezeichnet in der Sprache des
mittelalterlichen Rittertums den reisigen Knecht; gewappnete Knechte find
also gerüstete Reiter. — Str. 2: Troß, eigentlich „Heergepäck", dann
aud) Leute, die beim Heergepäck sind, endlich eine Heeresabteilung. —
Mit steigender Deutlichkeit ist in wenigen Strichen die Reiterschar ge-
zeichnet. Endlich tritt auch der Held des Gedichtes aus, Ritter Harras.
Bezüglich des Namens sei daraus zurückgewiesen, daß der Besitzer der
Burg Lichtenwalde Dietrich von Harrach, nicht Harras hieß. — H e i m -
liche Wege sind verborgene, geheime Wege. — Str. 3: Der Reiterschar
erscheint das Morgenrot fröhlich, glückverheißend: sie ahnen nicht, daß
Tod und Verderben ihrer warten. (Vgl. „Morgenrot, Morgenrot, leuchtest
mir zum frühen Tod?") Auf irgendwelche Weise ist der Anschlag auf
die Burg verraten; die Feinde erwarten bereits mit Übermacht den Ritter
Harras. Das Zeichen zum Kampfe geben die Anführer mit dem Hift-
horn (ältere Form Hiefhorn, nicht aber Hüfthorn; Hief oder Hift ist „der
Laut, den die Jäger auf ihren Jagdhörnern blasen"). — Str. 4: Dumpf
dröhnen die Schläge auf Schild und Helm, hell klingen die Schwerter
aneinander. Der Helmbusch winkt, bewegt sich bei den heftigen Be-
rgungen der Männer mit Nicken. Die Rosse steigen oder bäumen sich
23*
356
II. Epische Dichtungen.
empor, von den Reitern angespornt. — Des Kampfes Glut ist ein
stärkerer Ausdruck für Kampfes Hitze. — Sie verlieren entweder Frei-
heit oder Leben, beides gleich schlimm. — Str. 6: Flüchtig, auf der
Flucht achtet er nicht auf die kundigen (in passivischem Sinne), auf die
ihm sonst wohlbekannten Wege. — Die lichtere Stelle sucht er ans, weil
er von da den rechten Weg zu finden hofft; welch furchtbare Enttäuschung!
— Str. 7: Der Rand ist schwindelnd oder schwindelerregend durch
den Steilabfall. Als Gegensatz zu diesem grausigen Bilde zeigt sich das
freundlich lockende Bild seiner sicheren Burg. „Wärest du drüben!" —
bei dem Gedanken pocht das Herz ihm lauter. — Str. 8: Das Tier
empfindet dasselbe Grausen wie der Mensch. — Er denkt es, er denkt
den Gedanken eines Sprunges in die Tiefe durch. — Was sieht und
hört der Ritter? a) Hinter sich hört er seine Todfeinde, ihres Sieges
bewußt, heranreiten; b) unter sich sieht er den Abgrund und hört die
Zschopau brausen; e) gegenüber sieht er die Bergeshöhe mit Wald-
schmuck, seine im Sonnenschein schimmernde Feste, ihr freundliches Winken.
— Hier freundlicher Anblick, Heimatgefühl, Leben — dort Schrecken,
Grausen, Tod! — Str. 9: Welche Möglichkeiten gibt es für den Ritter?
a) Gefangenschaft, d. h. Schande, die für den Ritter Harras schlimmer
als der Tod ist; b) Kampf mit dem übermächtigen Feinde, d. h. Tod
durch die Hand der Feinde, denen auch die Ehre bleibt; e) Sprung in die
Tiefe und in die Wogen, d. h. Tod. Eine Hoffnung gibt es für ihn nicht
mehr. Nach kurzem inneren Kampfe entscheidet er sich für den Sprung:
lieber den Tod in den Wellen finden als d'en Feinden die Ehre lassen,
Harras, den Unbezwinglichen, bezwungen zu haben! Da es in den Tod
geht, befiehlt er Gott feine Seele („Gott fei mir Sünder gnädig"; „Vater,
in deine Hände befehle ich meinen Geist"). Dann gilt es, den Wider-,
stand des Pferdes mit Spornstößen zu überwinden, und eben, als die
Feinde auf die Blöße herausreiten dem Ritter entgegen, dessen Tod oder
Gefangennahme ihnen ja sicher ist, — da verschwinden Roß und Reiter
vom Rande. — Str. 10: Die Seinen, vielleicht Leute, die in der Nähe
der Zschopau gearbeitet haben, oder einige wenige Knechte, die der Nieder-
lage entronnen sind, nehmen ihn, der sich und den sie verloren glaubten,
freudig in Empfang.
III. Vertiefung. 1. Gliederung: Str. 1 und 2 der Ausritt des
Ritters Harras und seiner Schar; Str. 3 und 4 der Kampf mit dem
feindlichen Hinterhalte; Str. 5 und 6 Niederlage der Schar und Flucht
des Ritters auf Irrwegen; Str. 7 und 8 furchtbare Lage des Ritters
zwischen den Feinden und dem Abgrunde; Str. 9 und 10 des Ritters
todesmutiger Entschluß, kühner Sprung und wunderbare Rettung.
2. Grundgedanke: Str. 10, Zeile 8 Gott verläßt den Mutigen
nimmer.
3. Charakter des Ritters Harras: der mutige Ritter auf feurigem
Roß; der unbezwingliche Streiter; der irrende Flüchtling; der todes-
mutige, gottergebene Springer; der wunderbar gerettete Schwimmer. —
Stimmungsfolge: Fröhliche Kampfeslust, Siegeshoffnung, Über-
Chamisso: Die Sonne bringt es an den Tag. 357
raschung, Grausen, Verzweiflung, Todesmut, Gottergebenheit, Dank-
gefühl.
4. Zur C h a r a k t e r i st i k d e s D i ch t e r s. In manchen Einzelheiten
ist die Sprache der Schillers ähnlich, den Theodor Körner als Vorbild
verehrte. Er setzt gern wie Schiller zu den Substantiven schmückende Bei-
wörter, verwendet ziemlich häufig Participia Praesentis und läßt Haupt-
sätze, mit „und" verbunden, aufeinander folgen. Manche Ausdrücke er-
innern an Schillers Balladen: Str. 2 auf heimlichen Wegen — „Kampf
mit dem Drachen", Str. 14: auf geheimen Wegen; Str. 8 es schäumt in
den Zügel — „Kampf mit dem Drachen", Str. 13: Ob auch das Roß sich
grauend bäumt und knirscht und in den Zügel schäumt; Str. 9 befiehlt
dem Herrn seine Seele — „Der Taucher", Str. 8: Der Jüngling sich
Gott befiehlt; Str. 10 er teilt die Wogen mit kräftiger Hand — „Die
Bürgschaft", Str. 9: Und teilt mit gewaltigen Armen den Strom —
u. a. mehr. Auch im Versmaß hat sich Körner eng an Schillers „Bürg-
schaft" angeschlossen; er stimmt mit diesem im Aufbau der einzelnen Verse
überein und weicht von ihm nur in der Zahl der Verse und der Anord-
nung der Reimpaare ab.
Dem Inhalte nach berührt sich unser Gedicht mit Schillers „Taucher":
es bildet ein freundliches Gegenstück zu dieser tragisch abschließenden
Ballade.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes: Portes kortuna adiuvat. PH
91, 11. 12: Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie. . . dich ans
den Händen tragen und du deinen Fuß nicht au einen Stein stößest. —
Bildliche Verwendung von „Burg" (Str. 5): Ajas wird in der Ilias
„Turm der Achäer" genannt. In Psalm und Lied heißt Gott eine feite
Burg. — Ludwigs des Springers Sprung vom Giebichenstein in die
Saale. Des schwedischen Trompeters Sprung in die Saale bei Rotenstein.
2. Stilübungen. Beschreibe den Schauplatz der Heldentat! Schil-
dere des Ritters verzweifelte Lage! Vergleiche die Tat des Ritters mit
der des Tauchers (Schiller)! Vergleiche den Grundgedanken „Gott verläßt
den Mutigen nimmer" mit dem lateinischen Spruche „Portes kortuna
udiuvat"! Pr. P. Polack.
136. Die Sonne bringt es an den Tag.
Adklbcrt von Chamisso, Werke. 4. Anst. Leipzig 1857.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß 2. Die Sonne blinkt von der Schale
beim Frühtrunk Meister Nikolas; Rand,
die junge Hausfrau schenkt' ihm ein, malt zitternde Kringeln an die Wand,
rs war im heitern Sonnenschein. — und wie den Schein er ins Auge saßt,
Die Sonne bringt es an den Tag. so spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nirbt an den Tag."
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Vermittlung. 1. Quelle. Dem balladeuartigen Gedichte hat der
Dichter wahrscheinlich die Sage: „Die klare Somre bringt's an den Tag"
zugrunde gelegt, welche Grimm (Kinder- und Hausmärchen. Berlin 1876.
S. 453) also erzählt:
358
II. Epische Dichtungen.
„Ein Schneidergesell reiste in der Welt auf sein Handwerk herum,
und konnte er einmal keine Arbeit finden, und war die Armut bei ihm
so groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. In der Zeit begegnete
ihm auf dem Wege ein Jude; und da dachte er, der hätte viel Geld bei
sich, und stieß Gott aus seinem Herzen, ging auf ihn los und sprach:
„Gib mir dein Geld, oder ich schlag' dich tot!" Da sagte der Jude:
„Schenk mir doch das Leben; Geld hab' ich keins und nicht mehr als acht
Heller." Der Schneider aber sprach: „Du hast doch Geld, und das soll
auch heraus!" brauchte Gewalt und schlug ihn so lange, bis er nahe am
Tode war. Und wie der Jude nun sterben wollte, sprach er das letzte
Wort: „Die klare Sonne wird es an den Tag bringen", und starb damit.
Der Schneidergesell griff ihm in die Tasche und suchte nach Geld; aber er
fand nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude gesagt hatte. Da packte
er ihn auf, trug ihn hinter einen Busch und zog weiter auf sein Hand-
werk. Wie er nun lange Zeit gereist war, kam er in eine Stadt bei einem
Meister in Arbeit, der hatte eine schöne Tochter, in die verliebte er sich
und heiratete sie und lebte in einer guten, vergnügten Ehe.
Überlang, als sie schon zwei Kinder hatten, starb Schwiegervater
und Schwiegermutter, und die jungen Leute hatten den Haushalt allein.
Eines Morgens, wie der Mann an dem Tische vor dem Fenster saß,
brachte ihm die Frau den Kaffee, und als er ihn in die Unterschale aus-
gegossen hatte und eben trinken wollte, da schien die Sonne darauf uud
blinkte oben an der Wand so hin und her und machte Kringel daran.
Da sah der Schneider hinauf und sprach: „Ja, die will's gern an den
Tag bringen und kann's nicht!" Die Frau sprach: „Ei, lieber Mann,
was ist denn das? Was meinst du damit?" Er antwortete: „Das darf
ich dir nicht sagen." Sie aber sprach: „Wenn du mich lieb hast, mußt
du mir's sagen," — und gab ihm die allerbesten Worte, es sollt's kein
Mensch wiedererfahren, und ließ ihm keine Ruhe. Da erzählte er: Vor
langen Jahren, wie er auf der Wanderschaft ganz ohne Geld gewesen,
habe er einen Juden erschlagen, und der Jude habe in der Todesangst
die Worte gesprochen: „Die klare Sonne wird's an den Tag bringen."
Nun hätt's die Sonne eben an den Tag bringen wollen und hätt' an
der Wand geblinket und Kringel gemacht, sie hätt's aber nicht gekonnt."
Danach bat er sie noch besonders, sie dürfte es niemand sagen, sonst
käme er um sein Leben. Das versprach sie auch. Als er sich aber zur
Arbeit gesetzt hatte, ging sie zur Gevatterin und vertraute ihr die Geschichte,
sie dürfte es aber keinem Menschen wieder sagen. Ehe aber drei Tage
vergingen, wußte es die ganze Stadt, und der Schneider kam vor das
Gericht und wurde gerichtet. Da brachte es doch die klare Sonne an
den Tag."
2. ErklärungderschwierigstenAusdrücke. Str. 1. Gemäch-
lich = bequem, in behaglicher Ruhe. Str. 2. Schale = ein halb-
kugeliges Gefäß, Tasse (Provinzialismus: eine Schale Kaffee). Kringel
--- Kreis. Mehrzahl: Kringel oder Kringeln. Ins Auge fassen ----- an-
sehen. Str. 4. Hadern — schelten, streiten, rechten, auch zürnen. Str. 11.
Chamisso: Die Sonne bringt cs an den Tag.
359
Heimlichkeit = Geheimnis. Str. 14. Hochgericht = Galgen, auch der
Ort, wo die Mörder die Todesstrafe erleiden.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. 1. Meister Nikolaus und seine
Frau beim Frühtrunk (Str. 1—12): a) Der Meister gedenkt seines Ver-
brechens (Str. 1—2). b) Die Frau sucht ihrem Manne das Geheimnis
zu entlocken (Str. 3—5). c) Der Meister erzählt sein Verbrechen (Str. 6
bis 12). 2. Die Mordtat wird in der Stadt bekannt und bestraft (Str. 13
und 14).
2. Hauptgedanke. Der Grundgedanke ist klar in dem Kehrreime
ausgesprochen: Die Sonne bringt es an den Tag. Hierzu werden
die Schüler leicht noch einige Bibelsprüche und Sprichwörter finden.
3. Charakteristik. Die beiden Personen des Gedichtes, der Mei-
ster und seine Frau, sind von dem Dichter scharf gezeichnet. Der Meister
steht im kräftigen Mannesalter und lebt äußerlich in guten Verhältnissen:
„Gemächlich in der Werkstatt saß beim Frühtrunk Meister Nikolas."
Aber bei allem Glücke schlägt ihm doch sein böses Gewissen über
das schon vor 20 Jahren vollführte Verbrechen. Auch damals schien wie
heute die Sonne so hell, und das Wort des unglücklichen Juden „Die
Sonne bringt es an den Tag!" klingt ihm noch fort und fort ins Ohr.
Die Erinnerung an seine Untat ist so lebhaft, daß er beim Anblick der
Sonne sichtlich erblaßt und an das letzte Wort des Gemordeten unwill-
kürlich denken muß. Dieser Gedanke ist so lebhaft, daß ihm sogar plötzlich
das Wort entfährt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag."
„Daß nicht Reue es ist, die sein Inneres bewegt, geht schon aus dieser
Äußerung hervor, nicht minder aus seiner Erzählung des Verbrechens.
In derselben gibt sich noch dieselbe Verwilderung des Gemütes wie vor
zwanzig Jahren kund. Schon die Ausdrücke:
„Ich macht' ihn schnell noch vollends „Du weißt nun meine Heimlichkeit,
stumm so halte den Mund und sei gescheit!"
und kehrt' ihm die Taschen um und um."
zeugen von einer Roheit, die weit von aufrichtiger Reue entfernt ist."
(Gudc.) Aber neben dieser Roheit zeigt der Verbrecher, >vie die meisteil
seiltesgleichen, doch stete Furcht, wie aus den Worten hervorgeht:
„Jch's doch nicht sagen kann noch „Die Sonne bringt's nicht an den
will," Tag."
Wie sehr sich diese Furcht zur schrecklichen Angst steigert, erkennen wir
besonders aus der 12. Strophe:
„Wann aber sie so flimniernd scheint, !vie sie sich inüht und sich erbost,
ich merk' es wohl, was sie da meint, Du, schau nicht hin, und sei getrost;
sie bringt es doch nicht an den Tag."
Ein ganz anderer Charakter ist das junge Weib. Neugier und
Schwatzhaftigkeit sind bei ihr die hervorstechendsten Eigenschaften.,
Um die erstere zu befriedigen, läßt sie kein Mittel unversucht.
360
II. Epische Dichtungen.
„Die Frau nur dringender forscht und fragt,
mit Schmeicheln ihn und Hadern Plagt,
mit süßem und mit bitterm Wort" usw.
Und kaum hat sie den Hergang der Mordtat vernommen, so trägt sie die
Kunde weiter:
„Gevatterin, um Jesus Christ, laßt euch nicht merken, was ihr nun wißt!"
Neben der Neugierde und Schwatzhaftigkeit bekundet sie aber auch
zugleich große Unklugheit und den Mangel an jedem echten weib-
lichen Gefühl und Sinn. Kein Wort des Grauens kommt über ihre
Lippen, kein Wunsch noch Trost und Rat aus ihrem Munde.
Die treue und wahre Charakteristik der beiden gemeinen Naturen ist
die Ursache, daß sich bei dem Leser fast gänzlich das Mitleid mit dem
Manne verliert, an dem das Verbrechen noch nach zwanzig Jahren ge-
rächt worden ist.
4. Sprachliche und p o e t i s ch e D a r st e l l u n g. Die Anwendung
des Kehrreims (Refrains) ist dem Inhalte in hohem Maße angepaßt.
Immer wieder tritt uns durch ihn der Hauptgedanke vor die Seele, und
stets ist er dem Inhalte der einzelnen Strophen entsprechend. Während
der Refrain in der ersten Strophe uns geheimnisvoll entgegentritt und
nur die grausige Tat ahnen läßt, schildert er in der 2. bis 12. Strophe
(mit Ausnahme der 4.) die Angst und Furcht des Verbrechers. In der 4.
aber ist durch den Kehrreim die Neugierde des Weibes trefflich dargestellt.
Die häufige Anwendung der Gesprächsform gibt der ganzen Hand-
lung eine ungemeine Lebendigkeit, und die Kürze in der Erzählung, welche
besonders im Verschweigen von Nebensachen (Str. 3, 13 und 14 usw.)
sich äußert, gibt der Phantasie des Lesers den größten Spielraum zur
Ergänzung. W. D.
137. Die Nache.
Ludwig Uhland. Gedichte und Dramen. 1876. II. 161.
1. Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn,
der Knecht wär' selber ein Ritter gern.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Erläuterung des Inhalts. Das kurze Gedicht führt eine grauen-
hafte Nachtszene vor, in welcher der Dichter mehr andeutet als anführt,
um durch das Geheimnisvolle des Lesers Phantasie um so mehr zu er-
regen. Wir wissen nichts vom Leben der beiden Personen, weder den
Namen noch die Zeit, in der sie lebten.
Str. 1 führt uns sogleich die Mordtat vor. Ein edler Herr
reitet mit seinem Knechte durch einen dunklen Hain am Rheinstrome.
Der Herr war gewiß schon manchmal mit seinem Mörder allein durch
den Wald geritten. Da er aber ein edler Herr war, so vertraute er auch
seinen! Diener. Aber sein Vertrauen sollte ihm gefährlich werden. „Für
den Knecht bedurfte es keines kennzeichnenden Beiwortes, den charakteri-
siert seine Tat und ihr Motiv!"
Uh land: Die Rache.
361
Zunächst ist es der Hochmut, welcher den Knecht zu seiner heim-
tückischen Tat verleitet: denn „er wäre selber ein Ritter gern". Aber
auch die Eitelkeit und die Habsucht haben ihren Anteil am Morde.
Die Eitelkeit erkennen wir daraus, daß er sofort nach dem Morde die
blanke Rüstung anlegt, und die Habsucht zeigt er darin, daß er sich
Roß und Rüstung aneignet. Der Knecht ist also ein gemeiner Raub-
mörder. Aber noch andere häßliche Charaktereigenschaften entdecken wir
in seiner Tat. Er ist feig, denn er ersticht ihn im dunklen Hain; er
ist heimtückisch, denn er hat nicht mit ihm gekämpft, sondern ihn
meuchlings umgebracht, indem er ihn hinterrücks anfiel und den Leichnam
in den Rheinstrom versenkte. — So endet der erste Teil der grauen-
vollen Erzählung.
Im zweiten Teile erzählt der Dichter nun in der Gegemvart.
Es geht der Racheakt gleichsam vor seinen Augen vor sich. Der Verbrecher
will über die Brücke sprengen, d. h. schnell fortkommen von dem Ort
des Frevels; denn noch sind in dem nahen Haine die blu,tagen Spuren
der Mordtat zu sehen. Auch könnte der Rhein den Leichnam in der Nähe
des Schauplatzes seiner Übeltat wieder herausgeben, und der Mörder
könnte entdeckt werden. Drum rasch fort, denkt er, weit ins Land hinein,
wo er und sein Herr unbekannt sind!
Aber der Rächer ist schon da! Das edle Roß will dem Mörder seines
Herrn nicht zur Flucht behilflich sein: „Es stutzet und bäumt sich zurück".
Da wendet er aus Angst vor der Entdeckung Geivalt an; er gibt dem
edlen Tiere die goldenen Sporen, die er kurz vorher dem Herrn geraubt
hat. Das ist sein Verderben. Das Roß war von seinem Herrn an eine
solche hartherzige Behandlung nicht gewöhnt: „Cs schleudert ihn wild in den
Strom hinab." Vielleicht hätte er sich noch durch Schwimmen retten können;
denn er ringt mit Arm und Fuß. Allein die blanke Rüstung (der schwere
Panzer) zwingt ihn nieder und vollendet den Akt der grausigen Rache. Die
Wogen des Rheins verschlingen den Mörder tvie sein unschuldiges Opfer.
II. Gliederung des Inhalts. 1. Str. 1—3. Das Verbrechen und
der Verbrecher. 2. Str. 4—6. Die Rache und die Rächer.
III. Grundgedanke: Jede Freveltat, auch die verborgenste, wird ge-
rächt, und worin der Mensch sündigt, darin wird er bestraft.
IV. Sprachliche und poetische Darstellung. Wie schon oben angedeutet
wurde, zeichnet sich die Ballade dadurch aus, daß sie den Stoss mehr an-
deutet als ausführt. Worte und Sätze sind kurz und knapp. Die nur zwei-
zeiligen Strophen bestehen meist aus selbständigen Sätzen, und die wenigen
Beifügungen, so schön gewählt sie sind, sollen doch mehr das Verständnis
vermitteln als die Darstellung schmücken. Die poetischen Mittel, Verse mit
vier Tonhebungen, wechselnden Tonsenkungen und männlichen Reimsilben,
sind der unruhigen Erregtheit, die das ganze Gedicht kennzeichnet, vor-
trefflich angepaßt.
V. Vergleichung des nachstehenden Gedichts von A. Schnezler. V.
Ähnlichkeiten, B. Verschiedenheiten in Rücksicht aus Personen, Tatsachen,
Ort, Zeit, Ursache, Rache usw.
362
II. Epische Dichtungen.
Mummelsees Rache.
A. Schnezler. Echtermeyer, Auswahl deutscher Gedichte. Halle 1877. S- 340.
1. Glatt ist der See, stumm liegt die rings auf der finstern Tiefe;
Flut, die Binsen im Kreise nur leise
so still, als ob sie schliefe. flüstern verstohlenerweise.
Der Abend ruht wie dunkles Blut
2. „Wer schleicht dort aus dem Tannenwald mit scheuem Tritte her?
Was schleppt er in dem Sacke nach, so mühsam und so schwer?"
— Das ist der rote Dieter, der Wilderer benannt,
dem Förster eine Kugel hat er durch's Herz gebrannt.
Jetzt kommt er, in die Wogen den Leichnam zu versenken,
doch unser alter Mummler läßt sich so was nicht schenken.
3. Der Alte hat gar leisen Schlaf, ihn stört sogar ein Stein,
den man vielleicht aus Unbedacht ins Wasser wirft hinein;
dann kocht es in der Tiefe, Gewitter steigen auf,
und flieht nicht gleich der Wandrer mit blitzgeschwindem Lauf,
so muß er in den Fluten als Opfer untergehn,
kein Auge wird ihn jemals aus Erden Wiedersehn.
4. Da steht der Frevler an dem See, wirft seine Bürde ab
und stößt hinab mit einem Fluch den Sack ins nasse Grab:
„Da jage du nun Fische da drunten in dem See!
Jetzt kann ich ruhig jagen im Forste Hirsch und Reh,
kann mich nun ruhig wärmen an deines Holzes Gluten,
du brauchst ja doch kein Feuer da drunten in den Fluten."
5. Er spricht's und will zurück, doch hält ein Dorngestrüpp ihn an,
und immer fester zerrt es mit tausendfachem Zahn.
Da kocht es in der Tiefe, Gewitter steigen auf,
dumpf rollt ob dem Gebirge der Donner seinen Lauf;
die See steigt über's Ufer, es glühn des Himmels Flammen,
und hoch schlägt über dem Mörder die schwarze Flut zusammen.
6. Stumm liegt der See, als ob die die unermess'ne Tiefe, —
Glut die Binsen im Kreise nur leise
der Rache wieder schliefe. flüstern verstvhlenerweise.
Glatt ist die Flut, im Monde ruht W. D.
138. Die drei Kreuze.
Gisbert Freiherr von Bincke, Sagen und Bilder aus Westfalen. Hamm 1856.
I. Vorbereitung. Menschliches Gericht straft zumeist in Gottes Auf-
trage Unrecht und Verbrechen, die begangen werden. Manchmal aber
erfüllt sich das Bibelwort „Der Herr ist ein eifriger Gott und ein Rächer"
(Nahum 1, 2) in furchtbar-geheimnisvoller und doch wiederum deutlicher
Weise; Gottes Hand greift selbst rächend und strafend ein und läßt den
Menschen nichts zu tun übrig. Höret ein Gedicht, in dem in ebenso wunder-
barer wie furchtbarer Weise eine Freveltat gerächt wird!
II. Darbietung. 1. Vorlesen des Gedichts;
1. Der Mond scheint helle, die Nacht ist kalt,
drei Räuber lagern tief im Wald.
2. Ringsum geschichtet ist Geld und Gut,
ein wüst Gewirr, besudelt mit Blut.
Freiherr von Vincke: Die drei Kreuze.
363
3. Sie teilen den Raub in Streit und Zank,
sie tragen Begehr nach Speis und Trank.
4. Den Jüngsten drum entsenden sie bald,
der holet Speis und Trank in den Wald.
5. linheimlich flüsterten lang die zwei,
da keuchet der dritte Mann herbei —
6. Für sie beladen mit Wein und Speis,
ihm rinnen vom Haupt die Tropfen heiß.
7. Und nieder setzt er die Last zur Erd',
als ihm ein Dolch in den Nacken fährt.
8. Im Dickicht liegt er erschlagen schon;
sein Raubteil teilen die zwei voll Hohn.
9. Sie tafeln, indes sie sorglich schaun;
wohl möchte keiner dem andern traun.
10. Zu spät! sie hielten ihr Totenmahl!
Mit Gift gewürzt ist der Weinpokal.
11. Der Mond scheint helle, die Nacht ist kalt,
drei Kreuze stehen im tiefen Wald.
2. Erläuterungen. Von welchem Geschehnis berichten Str. 1
u. 2? Wie haben wir uns den Hergang der Freveltat zu denken? (Ein
Kaufmann, der im Wagen allerlei Güter von Ort zu Ort führte, wurde
auf der Landstraße in einem tiefen Walde von drei Räubern überfallen,
ermordet und ausgeplündert.) — Str. 3: In welcher Lage finden wir
die Räuber? (Auf einem freien Platze abseits von der Landstraße sind
die drei Räuber, vor ihnen drei Haufen von Kaufmannsgütern, wirr
durcheinander geworfen, mit Blut bespritzt; von der Mordtat, dem Streite,
der sich bei der Teilung entspann, sind sie erregt, durstig, hungrig.) —
Str. 4: Woher holt er Speise und Trank? (Aus einem Waldwirtshause
oder aus dem nächsten Dorfe.) — Str. 5—8: Welche Gedanken hegen
die Zurückbleibenden, welchen der Forteilende? (Wie könntet ihr auch
noch den dritten Teil an euch bringen? — Wie könntest du Herr des
ganzen Raubes werden?) Weshalb flüstern sie? Inwiefern unheimlich?
— Trotz der kalten Nacht schwitzt er; wie kommt das? Was sollten sie
dabei empfinden? (Dank.) Womit aber danken sie? (Mit drei Zoll kalt
Eisen.) Weshalb teilten sie voll Hohn? (Wie schlau haben sie das an-
gefangen, wie leicht wurde es ihnen durch die Arglosigkeit des Dritten
gemacht!) — Str. 9. 10: Sie tafeln in vornehmer Weise, aber ohne
Genuß. Die Untreue, die sie an dem Dritten geübt, traut jeder dem
anderen zu. — Was ist zu spät? (Ihr sorgliches Schauen; die Gefahr
kommt von einer Seite, von der sie sie nicht erwarten — von dem
Toten ) — Für Totenmahl wäre wohl eher Todes mahl zu erwarten.
— Der Wein im Pokal enthält als würzende Zutat — Gift. —
Str. 11 kehrt zur ersten Strophe zurück und bringt die Lage, wie sie
ein oder mehrere Jahre später ist: die Natur ist dieselbe; stptt der drei
Räuber aber finden wir drei Kreuze, warnend und mahnend aufgerichtet
auf den drei Gräbern der Räuber.
364 II. Epische Dichtungen.
III. Vertiefung. 1. Gliederung. Str. 1. 2 Die Räuber und der
Raub; Str. 3. 4 Teilung des Raubes und Entsendung des Jüngsten nach
Speise und Trank; Str. 5. 6 Mordplan der Zurückbleibenden, Rückkehr
des Dritten; Str. 7. 8 Ermordung des Dritten, Teilung seines Rauban-
teiles; Str. 9. 10 Todesmahl der beiden; Str. 11 die drei Kreuze im Walde.
2. Die Räuber sind raublustig, mordgierig, streitsüchtig, hab-
gierig, untreu, betrogene Betrüger. — Die drei sind einig beim Raub-
morde, uneinig und mißtrauisch bei der Teilung des Raubes; die zwei
sind einig im Mordplan gegen den Dritten und in dessen Ausführung,
mißtrauisch und argwöhnisch gegeneinander beim Mahle; der eine ist mit
sich schnell einig im Mordplane gegen die zwei.
3. Grundgedanke: Die Mörder vollziehen an sich selbst die Strafe
für den Mord: „Der Herr ist ein eifriger Gott und ein Rächer! Irret
euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten! Du sollst nicht töten!" — Un-
treue schlägt den eigenen Herrn.
4. Bilder: a) Szene nach der Teilung des Raubes; b) Szene nach
dem Tode der drei Räuber.
5. Eigentümliches. Schaurig ist der Inhalt des Gedichtes, furcht-
bar die Tat, furchtbar die Rache. Die Sprache ist knapp und nötigt,
zwischen den Zeilen zu lesen: das, was vor dem Beginne der Handlung
liegt, die Ermordung des Kaufmanns und den Raub, muß man ergänzen;
die Gedanken, die der eine und die zwei hegen, muß man erraten; erraten
auch die Art, wie das Verbrechen entdeckt wurde. — Die drei haben Böses
gegeneinander geplant: so tötet denn der Jüngste, ohne es zu wissen,
seine Mörder, und indem die beiden anderen jenen ermorden, strafen sie
ihren Mörder. Ihr Tod ist die Sühne für den Raubmord; sie voll-
ziehen selbst ohne alles Zutun menschlichen Gerichtes die Strafe aneinander
— Mörder, Richter und Henker in einer Person.
IV. Verwertung. Stilübungen. Wie wurde die Freveltat und
ihre Sühne entdeckt? Führe die beiden Bilder unter III, 4 aus! Ver-
gleiche unser Gedicht mit Uhlands „Rache" (Mordtat, Mörder, Ermor-
deter, Schauplatz, Rache)! Beispiele von Untreue! vr. ?. Polack.
139. Die Feme.
Hermann Lingg, Gedichte. Stuttgart 1864. S. 49.
Zum drittenmal schnitt ich den Span
ans deinem Tor; es kräht der Hahn
bei meinem Werk zum drittenmal,
und dreimal blinkt ini Morgenstrahl
des Rächers Stahl.
Steh ans, steh auf von Becher, Spiel
und Tanz!
Wirf weg dein Schwert, nimm den
Rosenkranz;
wirf weg den Panzer! er schützt dich
' nicht;
dich fordert vor Gericht
die Feme, die Feme!
Und wärst dn auch des Kaisers Sohn,
nicht Fürstenhnt, nicht Grafenkron',
nicht Insul schützet dich, noch Stab,
ich sag' dich ächtig und sag' dich ab,
auf ist das Grab!
Mit gichtischem Mund, mit zuckendem
Blick
verfällt dein ächtig Haupt dem Strick;
dem Feinde vergeb' ich dein Kind, dein
Weib,
den Vögeln deinen Leib —
Gott gnade deiner Seele!
Lingg: Die Feme.
365
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Die Feme mar im Mittel-
alter ein Volksgericht, das besonders auf roter, d. h. westfälischer und
sächsischer Erde, „gehegt" wurde und in Zeiten der Rechtsunsicherheit eine
große Macht entfaltete und sehr gefürchtet war. Ihr Ursprung wird auf
Karl den Großen zurückgeführt. Das Wort Feme bedeutet Strafe, Straf-
gericht, verfemen — verurteilen. Die Ableitung des Wortes ist dunkel
und zweifelhaft. Die Femgerichte hießen auch Frei-, Stuhl- und
heimliche Gerichte: Freigerichte, weil sie viele Freiheiten besaßen
iittb nur von Freigeborenen gehalten werden konnten, heimliche Ge-
richte, weil Nichteingeweihten der Zutritt bei Todesstrafe verboten war,
Stuhlgerichte, weil die Stätten, wo das Gericht — meist bei Tage,
selten bei Nacht — gehalten wurde, Freistühle hießen. Der berühm-
teste war in Dortmund „uf dem Markt neben dem Rathuse". Der In-
haber oder Patron des Freistuhls hieß Stuhlherr; er wählte aus den
Schöffen die Freigrafen, welche die Sitzungen leiteten. Oberster
Stuhlherr war der Kaiser. Die Beisitzer des Gerichts hießen Frei-
schössen oder Wissende. Jeder freie, ehelich geborene und unbescholtene
Deutsche konnte Freischöfse werden. Sogar Fürsten, geistliche und welt-
liche Herren ließen sich in den Bund der Wissenden aufnehmen. Das gab
höheres Ansehen und gewährte sichereren Schutz als ein kaiserlicher Schutz-
brief. Der Bund war wie ein Netz über ganz Deutschland ausgebreitet.
Die Schöffen erkannten einander an geheimen Zeichen und den Worten
„Strick, Stein, Gras, Grein". Sie waren eidlich zur strengsten Ver-
schwiegenheit verpflichtet. Die härteste Strafe traf den Verräter. Die
Feme zog vor ihren Richtstuhl alle Verbrechen, auf welche die Todes-
strafe gesetzt war. Ohne Ansehen der Person verurteilte sie die über-
führten Verbrecher. Weder der Hut eines Fürsten, noch die Krone
eines Grasen, noch der Panzer eines Ritters, noch die Insul
(Bischofsmütze) und der Hirten st ab eines Bischofs schützte vor ihrer
Ladung und vor ihrem Spruche. So verurteilte sie 1434 einen Herzog
von Bayern.
War jemand eines todeswürdigen Verbrechens durch einen Schöffen
angeklagt, so erhielt er einen Ladebrief, den ein Schöffe bei Nacht
an seinem Hause — am Tor, an einem Baume oder Heiligenbilde —
anheftete. Daneben schnitt der Bote der Feme als Wahrzeichen der Feme
mit einem Dolche, „des Rächers Stahl", drei Späne aus. Wis-
sende wurden dreimal vorgeladen. Fand der Angeklagte den Ladebrief
und fühlte sich schuldig, dann packte ihn kaltes Entsetzen; denn vor der
Feme gab es kein Entrinnen. Er sah das offene Grab vor sich; hinfort
schmeckte ihm keine Freude mehr; meist griff er zum Rosenkranz,
d. h. betete fleißig, um seine Seele zu retten. Die Frist bis zum Verhör
betrug meist sechs Wochen und drei Tage. Am Tage des Gerichts war
am „Stuhlsitz" ein Tisch mit einem Schwert und einem aus Weiden ge-
flochtenen Stricke aufgestellt. Daneben stand die Bank, auf welcher die
Schöffen und der Freigraf ohne Hut, Mantel, Handschuh und Waffen
saßen. Der Gang des Gerichts erfolgte streng nach den althergebrachten
366
II. Epische Dichtungen.
Fragen, Satzungen und Formeln. Bekannte der Verklagte seine Schuld
mit „gichtischem Mund", so wurde er an dem nächsten Baume auf-
geknüpft. Erschien er nach beglaubigter Ladung nicht, so wurde er vier-
mal laut gerufen. Beschwor dann der Kläger knieend und mit der Hand
auf dem Schwerte die Anklage', so wurde der Angeklagte verfemt mit
den Worten: „Den Angeklagten nehme ich aus dem Frieden und setze
ihn aus allen Freiheiten, Frieden und Rechten in Königsbann (Acht-,
Fried- und Rechtlosigkeit) und Wette (Strafe) und in den höchsten Un-
frieden und Ungnade, und mache ihn unwürdig, achtlos, rechtlos, siegel-
los, ehrlos, friedlos und unteilhaftig alles Rechts, und verführe ihn und
verfeme ihn und setze ihn hin nach Satzung der heimlichen Acht, und
weihe seinen Hals dem Strick, seinen Leichnam den Tieren und Vögeln
in der Luft, ihn zu verzehren, und befehle seine Seele Gott im Himmel
in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen will, und setze sein Leben,
und Gut ledig (erledigt, herrenlos); sein Weib soll Witwe, seine Kinder
Waisen sein." Hierauf warf der Freigraf den Weidenstrick aus dem Gericht,
und alle Freischöffen spien aus. Der Spruch wurde von drei Schöffen
vollstreckt, und selten entrann ein Verfemter seinem Schicksal, weil sich
alle Schöffen Beistand leisteten. Mit dem Weidenstrick knüpften ihn die
Schöffen an einem Baume auf und stießen dann ihre Dolche mit den
Buchstaben S. S. G. G. in das Holz des Baumes.
Die unheimliche, unwiderstehliche Macht der Feme hat H. Lingg
in einenl kurzen Gedichte treffend gezeichnet.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Der Morgen graut; Hahnenruf
erschallt. Ein Schloß erhebt sich im Düstern. Seine Fenster find er-
leuchtet; der Jubel eines Gelags und das Klirren von Waffen und
Rüstungen erschallt. Vornehme Herren sitzen bei Becher und Spiel. Be-
waffnete halten im Vorhofe Wacht. Am Tore steht ein einsamer, ver-
mummter Mann und heftet einen Ladebrief an. In der Hand hält er
einen blitzenden Dolch und bricht damit aus Hem Holz des Hoftores eben
den dritten Span.
2. Charakteristik der Feme. Sie war ein heimliches Volks-
gericht, wurde gehegt von den Schöffen, zog alle todeswürdigen
Verbrechen ans Licht, rächte und strafte sie, verurteilte mutig und
unparteiisch hoch und niedrig, befolgte dabei althergebrachteFor-
malitäten, war in ihren Urteilen vorsichtig und in der Strafvoll-
streckung unwiderstehlich.
3. Gedankengang. a) Der Fembote heftet den Ladebrief an und
b) schreckt den vornehmen Missetäter aus seiner Sicherheit auf; e) die
Feme richtet ohne Ansehen der Person; d) die Wirkung ihres Spruches
ist vernichtend.
Grundgedanke. Die Feme ist wie ein Volksgewissen unbestechlich
und unwiderstehlich. Für jedes Verbrechen gibt's einen Warner und einen
Rächer.
4. Eigentümlichkeiten. Der Dichter hat Wesen und Wirkung
der Feme historisch tren und künstlerisch ergreifend in wenigen Zeilen
Graf von Schack: Das Bahrrecht.
367
dargestellt. Er legt alles dem Boten des heimlichen Gerichts in den
Mund und erhöht die Wirkung durch Gegensätze wie: schlichter Bote und
große Herren; Festjubel und warnender Hahnenschrei; anbrechender Tag
und offenes Grab; Schwert und Rosenkranz; schützender Panzer und
rächender Stahl. P-
14V. Das Bahrrecht.
Adolf Friedr. Graf v. Schack, Gedichte. Stuttgart 1874. S. 180.
1. „Nun geht, Graf Otto! zum
drittenmal
erduldetet Ihr die Folterqual
und habt sie wie keiner bestanden.
Wohlan denn! reinigt Euch ganz vom
Verdacht,
als hättet den Ohm Ihr umgebracht
aus Gier nach Schätzen und Landen!
Drei Stunden harret mit festem Mut
allein an der Bahre, darauf er ruht;
entquillt den Wunden alsdann kein
Blut,
so losen wir Euch aus den Bauden."
2. Drauf Otto: „Ich scheue die
Probe nicht;
kommt, daß ich allen wie Sonnenlicht
so klar meine Unschuld mache!"
Er spricht's, ihn führen die Schöffen
den Gang
zur Totenkammer schweigend entlang,
durch die Tür einläßt ihn die Wache.
Davor wird wieder gewälzt der Stein,
lind der Gras bei flinunerndem Lam-
penscheiu
bleibt mit des Herzogs Leiche allein
im schwarz behängten Gemache.
3. Da liegt der Greis, der einst ihn
erzog
und mild des verwaisten Knappen
. Pflog,
da liegt er vor ihm auf der Bahre,
sein Antlitz, drauf einst Lieb' wie Haß
so mächtig geflammt, nun welk und
blaß,
umflossen vom weißen Haare.
Gras Otto steht in Sinnen versenkt;
nicht mehr, wie schwer ihn der Tote
gekränkt,
als er ihm sein Kind versagt, nun
denkt
er nur an die glücklichen Jahre; —
4. Denkt, wie er zuerst mit Schwert
und Schild
zur Seite des Ohms aufs Schlacht-
gefild
gesprengt durch das Waffengeblitze;
und wie, als er selber im Kampfe ver-
zagt,
der Herzog sein eigenes Leben ge-
wagt,
damit er den Knappen beschütze.
Er denkt es; ihm deckt die Augen ein
Flor,
Blut, glaubt er, quill' aus den Wun-
den hervor,
das, Gottes Rache heischend, empor
zur Wölbung der Kammer spritze.
5. Noch steht in stummem Starren
der Graf,
da ist's ihm, als säh' er vom Todes-
schlaf
den Greis sich langsam erheben,
als schlag' er die Augenlider zurück
und schau' ihn an mit dem alten
Blick,
nur finstrer als im Leben.
Graf Otto taumelt zurück mit Grauu;
er wankt, doch kann er hinweg nicht
schaun,
kalt auf die Stirne fühlt er es taun
und den Boden unter sich beben.
6. An der Bahre liegt er dahin-
gestreckt,
als Stimmenruf aus dein Starren
ihn weckt;
schon sind verronnen die Stunden.
Die Richter treten in das Gemach
und forschen nach Sitte des Bahr-
rechts nach,
ob Blut entquollen den Wunden.
Sie rufen: „Glück auf! kein Tropfen
floß,
Glück auf, Graf Otto, besteigt Euer
Roß!
In Frieden kehrt heim nach Windeck-
schloß,
unschuldig seid Ihr befunden."
7. Wohl hört der Verklagte der
Richter Wort,
stumm aber liegt er fort und fort
zil des schweigenden Klägers Füßen;
368
II. Epische Dichtungen.
glückwünschend strömen die Diener Auf springt er und ruft, aus dem
Brüten erwacht:
. herbei:
„Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun
frei!"
Doch achtet er nicht ihr Grüßen.
„Ich habe den Oheim umgebracht
und heische das eine: noch diese Nacht
die Strafe des Mordes zu büßen."
1. Vorbereitung und dann Vortrag. Bei dem früheren Strafver-
fahren wandte man häufig die F o l t e r (T o r t u r oder p e i n l i ch e F r a g e)
an, d. h. man suchte die Angeschuldigten durch allerlei Peinigungen zum
Geständnis der Schuld zu bringen. Eine ganze Skala von Qualen stellte
nian nach und nach zusammen. So spannte man den Körper auf und
zerhieb ihn mit Peitschen, schrob die Daumen zusammen, bis das Blut
herausspritzte, preßte die Beine in spanische Stiefel, d. h. in Schraub-
stöcke mit stumpfen Spitzen, reckte den Körper auf einer Bank oder Leiter
aus, bis die Glieder aus ihren Fugen gingen, setzte ihm mit Brennen und
Stechen an den empfindlichsten Stellen zu usw. Der entsetzliche Körper-
schinerz erpreßte oft dem Munde ein Geständnis, wovon das Herz nichts
wußte. Nur selten überstand ein Angeklagter alle Grade der Folter und
wurde dann freigelassen, freilich oft als Krüppel. Andere Mittel, um eine
verborgene Schuld ans Licht zu bringen, waren die Gottesurteile
oder Ordalien, Handlungen, in denen der allwissende Gott selbst die
Unschuld schützen und die Schuld offenbaren sollte. Am längsten hat sich
davon das Bahrrecht zur Entdeckung und Überführung eines Mörders
erhalten. Der Angeklagte wurde an die Leiche des Ermordeten auf der
Bahre geführt, mußte die Wunden berühren und dabei Gott um Ent-
deckung des Schuldigen anrufen. Ja zuweilen wurde er stundenlang bei
der Leiche eingesperrt. Fingen die Wunden der Leiche an zu bluten, so
galt der Angeklagte für schuldig. So flössen (im Nibelungenliede) Sieg-
frieds Wunden, als der Mörder Hagen an die Bahre trat.
Der Graf OttovonWindeck war angeschuldigt, den Herzog, seinen
Oheim, der ihn als Knappen in allen ritterlichen und höfischen Künsten
erzogen, ihm dann aber seine Tochter als Gattin versagt hatte, ermordet
zu haben, um seine Länder und Güter zu erben. Folter und Bahr-
recht wurden an ihm angewandt, um ihn zum Geständnis der Schuld
zu bringen. Mit welchem Erfolge, das zeigt Graf von Schacks er-
greifendes Gedicht „Das Bahrrecht".
II. Vertiefung. 1. Schauplatz. Wir treten in die Totenkammer.
Die hohe Decke ist gewölbt; die Wände sind schwarz ausgeschlagen. Auf
deni Tische flimmert und flackert unheimlich eine Lauche. In der Mitte
des Leichengewölbes steht eine Bahre, und darauf ruht lang ausgestreckt
eine Leiche niit gebrochenen Augen, welken Zügen und das Antlitz von
weißen Haaren umflossen. Daneben liegt ein jüngerer Mann auf den
Knien, die Augen entsetzt niedergeschlagen, die Stirn mit kaltem Schweiß
bedeckt, die Hände gefaltet emporgehoben. Draußen wird der große Stein,
welcher die Türe verschloß, von der Wache hinweg gewälzt, und die Rich-
ter treten herein. Auf dem Gange harren angstvoll die Diener des Grafen.
2. Charakteristik des Grafen. Er ist ein Neffe des ermordeten
Herzogs und von diesem erzogen worden. An seinem Hofe hat er eine
Graf von Schack: Das Bahrrecht. 3(39
glückliche Jugend verlebt. Mit ihm ist er in der: Kampf gezogen, und
als er einst im Kampfgetümmel in Lebensgefahr geriet, da hieb ihn der
Oheinr heraus aus dem Knäuel der Feinde. Dann begehrte er des Her-
zogs Tochter zum Weibe, aber sie wurde ihm versagt. Da verwandelte
sich in dein leidenschaftlichen Manne die Liebe in Haß, die Dankbarkeit
in Rachsucht, und er wurde zum Mörder an dem ehrwürdigen Greise,
seinen! Wohltäter. Der Verdacht fiel auf ihn, weil des Herzogs Tod
ihn zum Erben von dessen Ländern machte. Aber keck und trotzig leugnete
er die Tat. Mutig ertrug er dreimal die Folterqual. Zu dem Gottes-
urteile des Bahrrechts erklärte er sich sofort bereit und ließ sich furcht-
los in die unheimliche Totenkammer führen. Hier aber schmolz das Eis
der Verstockung von seinem Herzen. Die Stille, die Einsamkeit, die
Majestät des Todes, der gebrochene Blick des Oheims, die Erinnerung
an seine Güte und seine Wohltaten stürmten wirksamer als Folterwerk-
zeuge auf ihn ein, brachen sein trotziges Herz, weckten bittere Reue und
das Verlangen nach Sühnung der Blutschuld in ihm. Als die Richter
ihn für unschuldig und frei erklären, da bekennt er sich selbst schuldig.
Als seine Diener ihn freudig begrüßen, da ruft er den Tod als Erlöser
von der inneren Pein herbei.
3. Gedankengang. Str. 1. Die Folter, a) Dreimal erträgt
der Graf mutig Folterqualen, ohne zu bekennen, b) Um sich von dein
Verdachte des Mordes völlig zu reinigen, soll er sich dem Bahrrecht
unterwerfen.
Str. 2 . Die Totenkammer: a) Er erklärt sich dazu bereit b) und
wird mit dem Toten eingeschlossen.
Str. 3. Die Bahre: a) Der ermordete Greis liegt auf der Bahre,
b) Der Graf schaut in sein mildes und ehrwürdiges Antlitz und gedenkt
der vergangenen glücklichen Zeiten.
Str 4. Die Erkenntnis: a) Er erinnert sich seiner Lebensrettnng
durch den Oheim, b) Er glaubt das Blut aus den Wunden quellen zu
sehen und es um Rache schreien zu hören.
Str. 5. Die Reue: a) Die Leiche scheint lebendig zu werden und
ihr vorwurfsvoller Blick ihn zu treffen; b) Grauen erfaßt und schüttest ihn.
Str. 6. Die Freisprechung durch die Richter: a) Die Richter
finden die Wunden ohne Blut, b) Sie sprechen den Grafen frei.
Str. 7. Das Geständnis, a) Er hört weder die Freisprechung
noch die Glückwünsche, b) Er bekennt sich des Mordes schuldig und for-
dert einen raschen Tod zur Sühne seiner Schuld.
4. Grundgedanken. Das Gewissen ist der einzige unfehlbare
Richter. Dieser innere Richter siegt über den äußeren, das göttliche über
das menschliche Recht. Was dem Sturm nicht gelingt, das schafft die
Stille; was kein äußerliches Mittel erzivingt, das wirkt die Macht des
Gervissens. Druck und Gewalt von außen erzeugen Trotz und Verstockt-
heit, aber die stille Bohrarbeit der Erinnerung, der Besinnung und des
Gewissens bricht die Eisrinde des Herzens.
AdL. II. 8. Ausl.
24
370
TI. Epische Dichtungen.
5. Schönheiten. Die Wahl des Stoffes ist packend, der Aufbau
des Gedichtes künstlerisch, die Durchführung des Grundgedankens meister-
haft. Wunderschön dargestellt ist die äußere und innere Gegen-
strömung in dem Gedichte. Äußerlicher Rechts gang: die Folter —
das Bahrrecht — die Freisprechung. Dagegen innerlicher Seelen-
prozeß: trotziger Mut — Zerknirschung — Selbstverurteilung!
III. Verwertung. 1. Verlvandtes. Irret euch nicht, Gott läßt
sich nicht spotten. — Unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden.. —
Abels Blut schrie von der Erde zum Himmel um Rache. — Ihr Wurm
stirbt nicht, und ihr Feuer verlöschet nicht. — Der Mensch siehet, was
vor Augen ist, aber der Herr siehet das Herz an. — Es ist nichts so
sein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen. — Johann (Par-
ricida) von Schwaben ermordet seinen Oheim, den Kaiser Albrecht I. —
Die Kraniche des Jbykus. — Die Sonne bringt es an den Tag. —
Themis, die Göttin der Gerechtigkeit, tvird mit einer Binde um die Angen,
Gottes Allwissenheit aber als flammendes Auge dargestellt.
2. Aufgaben, a) Worin bestand das äußere und worin das innere
Verhör des Grafen? d) Worin gleicht „Das Bahrrecht" von Schack
der „Feme" von Lingg? P.
141. Der Glockenguß zu Breslau.
Wilh. Müller, Gedichte. Leipzig 1868. I. S. 124.
1. War einst ein Glockengießer 2. Er hatte schon gegossen
zu Breslau in der Stadt, viel Glocken, gelb und weiß,
ein ehrenwerter Meister, für Kirchen und Kapellen,
gewandt in Rat und Tat. zu Gottes Lob und Preis.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Quelle des Gedichts. „Während andere Glocken Deutschlands,
z. B. die Susanne zu Erfurt usw., ihrer Größe oder ihres Gewichts halber
zu Wahrzeichen wurden, verdankt diese Glocke ihren Namen eigentlich
einer alten Sage. Die Glocke wiegt 113 Zentner und hat in gotischer
Schrift folgende Inschrift: Noria ist der Name mein. Selic musen alle
die seyn, die meinen lout hören, oder vernehmen spate oder fru. die
sprechen Gote dem hem czu. amen. 0 Rex Glorie veni cum pace
amen. Anno Domini MCCCLXXXYI fusa est haec campana in die
Alexii.
Nach chronologischen Nachrichten ward diese Glocke am 17. Juli
(einem Dienstag) des Jahres 1386 von Michael Wilden im Ohlauer
Zwinger gegossen. Der darauf angebrachten Zahl XII zufolge war sie
Wildens zwölfte Glocke. Im Jahre 1677 mag sie einen neuen Glocken-
stuhl oder doch wenigstens ein neues Gehänge erhalten haben. Sie führt
den Namen „Armesünderglocke", weil sie abwechselnd mit ihrer Schwester-
glocke auf dem Elisabethenturme bei Ausführung eines Delinquenten unter
städtischer Gerichtsbarkeit geläutet ward, und nach einer Notiz im Stadt-
archiv ist zuerst 1526 diese Einrichtung getroffen worden.
Allerdings ist dort nicht angegeben, welche große Glocke geläutet zu
Müller: Der Glockenguß zu Breslau. 371
werden pflegte, allein da eben diese beiden Glocken seit dieser Zeit bei
dieser Gelegenheit wechselweise geläutet zn werden Pflegen, so bezieht sich
wohl diese Notiz auf sie. Die Volkssage datiert jedoch die Anwendung
der Glocke zu diesem Zwecke weiter zurück, bis zu dem Jahre ihres Gusses
1386." (I. G. Th. Grässe.) Die Sage lautet nach Grimm:
„Als die Glocke zu St. Maria Magdalena in Breslau gegossen
werden sollte und alles dazu fast fertig war, ging der Gießer zuvor zum
Essen, verbot aber dem Lehrjungen bei Leib und Leben, den Hahn am
Schmelzkessel anzurühren. Der Lehrling aber war vorwitzig und neu-
gierig, wie das glühende Metall doch aussehen möge, und indem er so
den Hahn bewegte und anregte, fuhr er ihm wider Willen ganz heraus,
und das Metall rann und rann in die zubereitete Form. Höchst bestürzt
weiß sich der arme Junge gar nicht zu helfen; endlich wagt er's doch
und geht weinend in die Stube und bekennt es seinem Meister, den er
um Gotteswillen um Verzeihung bittet. Der Meister aber wird vom
Zorn ergriffen, zieht das Schwert und ersticht den Jungen auf der Stelle.
Dann eilt er hinaus, will sehen, was noch am Werke zu retten sei, und
räumt nach der Verkühlung ab. Als er abgeräumt hatte, siehe, so war
die ganze Glocke trefflich wohl ausgegossen und ohne Fehl; voll Freude
kehrt der Meister in die Stube zurück und sah nun erst, was für Übles
er getan hatte. Der Lehrling war verblichen, der Meister wurde ein-
gezogen und von den Richtern zum Schwerte verurteilt. Jnmittels war
auch die Glocke aufgezogen worden, da bat auch der Glockengießer flehent-
lich: ob sie nicht noch geläutet werden dürfte, er möchte ihre Resonanz
wohl auch noch hören, da er sie doch zugerichtet hatte, wenn er die Ehr'
vor seinem letzten End' noch haben könnte. Die Obrigkeit ließ ihm will-
fahren, und seit der Zeit wird mit dieser Glocke allen armen Sündern,
wenn sie vom Rathaus heruntergekommen, geläutet. Die Glocke ist so
schwer, daß, wenn man fünfzig Schläge getan hat, sie andere fünfzig
von sich selbst gehet."
II. Erläuterung. Str. 2. „Gelb und weiß" bezieht sich auf die beiden
Metalle, Zinn und Kupfer, welche die Glockenspeise bildeten. — Str. 4.
„Aller Glocken Krone", d. h. die schönste nach Form und Klang, die vor-
trefflichste aller Glocken. Wie die Krone der schönste Schmuck auf dem
Haupte der Könige ist, so ist diese Glocke die schönste und vollkommenste
aller Glocken. — Str. 7. Die „Speise" s. Str. 2 Glockenspeise. — Str. 15.
„Die kluge Rechte" wird die Hand genannt, weil sie so geschickt war int
Glockengießen. — Str. 16. „Sein selber nicht bewußt", d. h. er war
ohne alle Besinnung, wußte nicht, was er getan und was er noch tat. —
Str. 18. „Abzuräumen", d. h. die Lehmform, den Mantel, zu entfernen.
„Makel" ist ein entstellender, schändender Fleck. — Str. 21. „Todes-
urtel", alter Ausdruck für Urteil, den die Poeten noch gern gebrauchen. —
Str. 22. „Gnadenschmaus". Es war früher Gebrauch, daß die zum Tode
Verurteilten kurz vor ihrer Hinrichtung noch ein reiches, leckeres Mahl
(Schmaus), welches sie selbst bestimmen konnten, empfingen; dieses Mahl
nannte man Gnadenschmaus, auch Henkersmahl.
24*
372
II. Epische Dichtungen.
III. Gliederung. Der 1. Abschnitt (Str. 1—5) erzählt, wie der
Meister schon viele Glocken und zuletzt die schönste derselben, die „Sünder-
glocke zu Breslau", gegossen hat.
Der 2. Abschnitt (Str. 6—28) enthält die Hauptbegebenheit:
а) die Vorbereitung zum Gusse (Str. 6—10), b) das Verhalten
des bei der Glocke gebliebenen Lehrlings (Str. 11—14), e) den Mord
und die Reue des Meisters (Str. 15—19), d) des Meisters Selbst-
anklage, seine Verurteilu ng und seine letzte Bitte (Str. 20—25),
б) das letzte Stündlein des Meisters und seinen Tod (Str. 26—28).
Der 3, Abschnitt (Str. 29 und 30) enthält die Weihe der Glocke.
IV. Charakteristik des Meisters. Auf die Charakteristik des Meisters
hat der Dichter den meisten Fleiß verwandt, und es ist ihm gelungen,
anfangs dem Leser die volle Achtung für den Meister abzunötigen;
und als die blutige, furchtbare Tat geschehen ist, verwandelt sich diese
Achtung in das innigste Mitleid mit dem armen Sünder.
Gleich zu Anfang wird der Meister uns als „ehrenwert" vorgeführt,
und bei diesen Worten sowie bei den folgenden, „gewandt in Rat und
Tat", denken wir nicht bloß an seine Geschicklichkeit, sondern auch
daran, daß er von seinen Mitbürgern zu allerlei Ehrenämtern er-
wählt sein mochte, weil man ihn hochschätzte. Auch seine Richter kannten
ihn als guten Bürger; denn es tat ihnen wehe „um den wackern Mann".
Seine Berühmtheit als Glockengießer war aber weit über Breslau
hinausgegangen, da wir hören, daß er „viel Glocken gelb und weiß für
Kirchen und Kapellen" gegossen hat. Der Grund zu dieser Berühmtheit
lag besonders in der Kunst des Meisters, die Glocken so zu gießen, daß
sie „voll, hell und rein" klangen.
Auch betrieb er seine Beschäftigung nicht handwerksmäßig, son-
dern er hielt sie für etwas Hohes; denn er goß die Glocken nur „zu Gottes
Lob und Preis"; als Zeichen seiner warmen Begeisterung für seine
Kunst hören wir, „er goß auch Lieb' und Glauben mit in die Form
hinein". So kann man aber nur von jemand sprechen, der mit ganzem
Herzen an seiner Arbeit hängt. Wie aber bei solcher Hingabe an
seinen Berus eine Glocke immer schöner und vollkommener wurde als
die andere, das sagen uns die Worte: „Doch aller Glocken Krone" usw.
Es war, wie wir später hören, die letzte Glocke, die der Meister
goß, und sie war auch die vollendetste, denn der Dichter nennt sie' „der
Glocken Krone", also ein Meisterstück.
Wie aber bei einem ernsten Menschen auch Überlegung vor Beginn
der Arbeit und angestrengter Fleiß unumgänglich notwendig sind, das
beweist unser Meister in Str. 6, wo der Dichter sagt: „Wie hat der
gute Meister" usw.
Sorgfalt, Bedachtsamkeit und unermüdlicher Fleiß
waren ebenfalls nachahmungswürdige Tugenden des „guten" Meisters.
Aber gerade sein Eifer und sein Streben, nur Herrliches und Gelungenes
hervorzubringen, sollte für den „ehrenwerten" Meister verhängnisvoll
werden. Sein Esser für die gute Sache schlägt um in Leidenschaft.
Müller: Der Glockenguß zu Breslau.
373
Der Zorn übermannt ihn, daß er nicht mehr weiß, was er tnt („sein selber
unbewußt"), und in diesem Zorne begeht er die furchtbarste Tat, den
Mord an dem Jungen. Gern möchte er nun zunächst seine Tat ent-
schuldigen, denn er wünscht ja, wie wir in Str. 18 sehen, daß der Guß
mißlungen sein möchte („und sieht und will's nicht sehen"). Aber die
Glocke ist „ganz ohne Fehl und Makel".
Da beginnt sich in ihm die Selbstbesinnung wieder zu regen.
„Der Knabe liegt am Boden", und als ihn der Meister anschaut, da'
klingt's ihm in seinem Innern, als ob die Leiche ihm zuriefe: „Ach
Meister, wilder Meister, du stießest gar zu sehr." Nun ist der kluge,
verständige und in seiner Arbeit bedächtige Meister wieder zur Be-
sinnung gekommen. Wir hören darum nicht, daß er etwa lange im
Zweifel war, was nun seine Pflicht sei. Nein, sofort stellt er sich dem
Gericht. Das tut er nicht aus Furcht, sondern aus Reue über seine
Tat. Jetzt hat er keine Entschuldigung mehr, sondern gedenkt des Bibel-
wortes: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll wieder durch Men-
schen vergossen werden." Er ist bereit, die gerechte Strafe für den Mord
zu empfangen, und diese Überzeugung gibt ihm den Mut, das Todesurteil,
welches die Richter über ihn aussprechen müssen, ruhig anzuhören. Immer
höher steigt nun der Unglückliche wieder in unserer Achtung. Denn wir
erkennen immer mehr, daß seine Reue eine aufrichtige ist. Als man ihm
nun nach altem Herkommen den Gnadenschmaus anbietet, da verlangt er
uicht danach, sondern ihm liegt aus Erden nur noch eins am Herzen,
es ist sein letztes Meisterstück, die neue Glocke. Darum erbittet er sich
eine andere Gnade: er will den Klang der neuen Glocke vor seinem
Ende erst noch hören. Und warum das? Zunächst will er wissen, ob
sein letztes Werk gelang. Dann aber war es ja die Glocke, welche der
Anlaß zu all dem Unheil gewesen war. Er will aber auch ihren Klang
hören, um sich noch einmal seine große Schuld zu vergegenwärtigen.
Diese Bitte ist wohl das beste Zeichen von der aufrichtigen Reue des
Meisters. Und welche Gefühle sind es denn, die beim Klange der Glocke
sein Herz erfüllen? Zuerst das Gefühl der Freude, daß dies Werk
gelungen ist, denn sie klingt „so voll, so hell, so rein"; dann aber das
der Zuversicht, daß er nach seiner aufrichtigen Reue auf die Gnade des
Himmels bauen kann. Denn den aufrichtigen, bußfertigen Sündern will
der Herr in Gnaden ihre Missetat vergeben. So sagt denn auch der
Dichter: „Hat auch geneigt den Nacken" usw.
Kriebitzsch sagt über die dunkle Stelle in Str. 28: „Und was der
Tod versprochen, nämlich die Schuld zu sühnen durch das Opfer seines
Lebens, das bricht das Leben nicht, d. h. das jenseitige Leben wird
das Versprechen erfüllen, Vergebung ihm gewähren."
Pros. Schaefer saßt die Stelle so auf: „Der Tod und das Leben
sind ganz persönlich zu denken. Der Tod steht bei dem Glockengießermeister
auf dem Schafott, aber nicht in grausiger Gestalt, sondern mild tröstend
durch die Verheißung, daß nun, da der irdischen Gerechtigkeit Genüge
getan ist, für den Reuigen die Gnade Gottes im Jenseits leuchten werde;
II. Epische Dichtungen.
und ,iuie ein Demantzepter glänzet in seiner ausgestreckten Hand der
Schlüssel zu der Himmelspforte'. Und dies sein, d. h. des Todes Ver-
sprechen wird das Leben, hier sozusagen der Türhüter des Himmels,
nicht brechen; es wird dem armen Sünder Einlaß gewähren."
V. Rede- und Stilübuugen. 1. Wodurch erwirbt sich der Meister
unsere Achtung? (Str. 1—10 geben den Stoff dazu.) 2. Weshalb ver-
dient der Meister unser Mitleid? (Str. 15—28). 3. Vergleiche:
Das Gedicht und die Quelle! 4. Vergleiche mit dem Gedichte
(A) die Stellen aus Schillers „Glocke", welche die Vorgänge beim
Glockenguß berichten und die Meistersprüche enthalten (8)!
W. D.
III. lyrische Gedichte.
1. Naturklängr.
142. Die Jahreszeiten.
H. Kletke, Kinderlieber. Berlin 1846. S. 79.
1. O Frühlingszeit, o Frühlings-
zeit,
du kannst mir sehr gefallen!
Das klare Bächlein rinnet frei,
mit Blüten kommt der grüne Mai.
O Frühlingszeit, o Frühlingszeit,
dn kannst mir sehr gefallen!
2. O Sommerzeit, o Sommerzeit,
du kannst mir sehr gefallen!
Das goldne Korn so wogt und weht,
das Bäumlein voller Früchte steht.
O Sommerzeit, o Sommerzeit,
du kannst mir sehr gefallen!
3. O brauner Herbst, o brauner
Herbst,
du kannst mir sehr gefallen!
In buntem Laube glänzt der Walch
dieTraube winkt, dasJagdhorn schallt.
O brauner Herbst, o brauner Herbst,
du kannst mir sehr gefallen!
4. O Winterzeit, o Winterzeit,
du. kannst mir sehr gefallen!
Mit blankem Eis und weißem Schnee
Weihnachten kommt, juchhe, juchhe!
O Winterzeit, o Winterzeit,
du kannst mir sehr gefallen!
I. Jnhaltserläuterung. Str. 1. Warum gefällt uns die Früh-
lingszeit (Vers 3 und 4)? — Was heißt: Das. Bächlein rinnet frei
(Vers 3)?
Str. 2. Warum gefällt uns der Sommer (Vers 3 und 4)? — Warum
heißt das Korn golden?
Str. 3. Warum gefällt uns der Herbst (Vers 3 und 4)? — Was
heißt: „Die Traube winkt"? Woran denken wir bei den Worten: „Das
Jagdhorn schallt"? Warum wird der Herbst „braun" genannt?
Str. 4. Warum gefällt uns der Winter (Vers 3 und 4)?
II. Strophenbau. Alle vier Strophen beginnen in den beiden ersten
Zeilen mit dem Ausrufe, daß die daselbst genannte Jahreszeit
uns gefällt. Die 3. und 4. Zeile geben den Grund an, weshalb die
Jahreszeit uns gefällt, und die 5. und 6. Zeile sind eine Wieder-
holung der 1. und 2. Zeile.
III. Nutzanwendung. Alle Jahreszeiten bringen den Menschen Freu-
den und Gaben.
IV. Rede- und Stilübungen. 1. Wodurch unterscheiden sich die vier
Jahreszeiten voneinander? — 2. Vergleichungen, a) Str. 1 mit der
Strophe von Hey „Frühlingszeit, schönste Zeit" (Bd. I Nr. 99). Beide
Dichter rühmen den schönen Frühling, aber jeder hat andere Schönheiten
zu erwähnen. Kletke freut sich über die klaren Bächlein, über die
376
III. Lyrische Gedichte.
Blüten und den grünen Mai. Hey dagegen rühmt die Blümlein,
das Gras und die Kräuter und freut sich über die springenden Lämmer
und singenden Vögel. K l e t k e hat nur G e f a l l e n an der Frühlingszeit.
Hey dagegen ermahnt uns zum Dank gegen Gott. d) Strophe 2 mit
der Strophe von Hey „Sommerzeit, heiße Zeit". Kletke nennt vom
Sommer nur das Angenehme, Hey auch das Unangenehme (heiße
Zeit). Kletke ermähnt nur Korn und Baumfrüchte, Hey außer-
dem noch den erquickenden Regen; auch fordert er uns ans, dabei an
Gottes Güte zu denken, e) Str. 3 mit der Strophe von Hey: „Herb-
steszeit, reiche Zeit" usw. Kletke rühmt das bunte Laub, die Trau-
ben und das Jagdvergnügen als Annehmlichkeiten des Herbstes, Hey
die fruchtbeladenen Bäume, die Gott den Menschen geschenkt hat,
und schließt wiederum mit einer Aufforderung, Gott die Ehre zu geben,
ä) Str. 4 mit folgender Strophe von Kletke:
„Was ich euch bringe, das sollt ihr wissen,
fröhliche Weihnacht mit Äpfeln und Nüssen
und Schneebällen,
wie sie fallen,
und im Jänner
auch Schneemänner."
In beiden Strophen wird der Freude über das Weihnachtsfest
Ausdruck gegeben. Die letzte Strophe erwähnt noch der Weihnachts gaben
(Äpfel und Nüsse) und der Vergnügungen, welche Schnee und Eis bringen
(Schneebälle und Schneemänner). — 3. Beschreibe a) die Freuden des
Frühlings, b) die Freuden des Sommers, c) die Freuden des Herbstes,
ä) die Freuden des Winters! W. D.
143* Die Monate und was sie bringen.
Rudolf Löwenstein. Kindergarten. Berlin. 2. Nufl. O. I. S. 87.
A. Januar.
Im Januar
beginnt das Jahr
der Tage raschen Lauf,
und neue Hoffnung gehet klar
5 in jedem Herzen auf.
Das Kind läuft zu den Eltern hin
und gratuliert mit frohem Sinn;
die Nachbarsleut' nach altem
Brauch,
sie gehn und gratulieren auch.
l0 Es gehen und kommen heute
noch viele andre Leute;
Schornsteinfeger, Zettelträger,
Stiefelwichser, Lampenputzer,
Knecht und Magd und auch der
Kutscher,
15 alle gehn zu ihrem Herrn,
denken: Heut bezahlt er gern!
Auch der treue Straßenwächter
ist fürwahr kein Geldverächter.
So regt sich's, seit der Hahn ge-
kräht,
20 in einem fort bis abends spät.
Doch ist das Neujahr auch ein Tag,
an dem sich jeder freuen mag! —
Ein Jahr geht manchem schnell
vorbei,
er glaubt kaum, daß zu End' es
sei;
25 doch, wer erfahren Schmerz und
Leid,
dein ward das Jahr zur Ewigkeit.
Wer es nun fröhlich hat voll-
bracht,
dankt Gott, daß er's ihm leicht
gemacht;
und wer's durchlebte in Be-
schwerden,
Löwenstein: Die Monate nnd was sie bringen.
377
30 der hofft: Es wird nun besser
werden!
Drum eben ist's der Neujahrstag,
an dem sich jeder freuen mag,
da jeder betend sprechen soll:
„O Gott, du bist der Güter voll,
35 hast manche Freude mir beschert
und vieles Leid mir abgewehrt,
hab Dank dafür, du treuer Hort,
und hilf den Meinen fort und
fort,
bleib mir ein Vater immerdar
40 und schütz uns all' im neuen
Jahr!"
1. Erläuterung. In diesem und den elf folgenden Gedichten führt
nils der Dichter die einzelnen Monate des Jahres vor und weiß uns
von jedem derselben etwas Besonderes zu sagen. Den Anfang macht,
wie es sich von selbst versteht, der Januar. Mit ihm „beginnt das Jahr
der Tage raschen Lauf". In allen Herzen regen sich neue Hoffnungen
für die Zukunft. Aber nicht für sich allein soll man ein glückliches Jahr
erhoffen, sondern auch andern soll man Glück wünschen. Zuerst treten
die Kinder vor die Eltern und sagen ihnen ihr Gedichtchen herzlich und
mit frohem Sinne her. Den Kindern folgen die Verwandten, Freunde
und „Nachbarsleut'". Mancher derselben tut nur „nach altem Brauch",
d. h. weil er es so gewohnt ist, oft ohne Herzensteilnahme. Den Nach-
barn folgen noch andere Leute, die es oft nür tun, um ein Stück Geld
zu bekommen. Zur Ehre der meisten Glückwünschenden wollen lvir hoffen,
daß sie ihre Wünsche mit dem Herzen gesprochen haben.
Am Neujahrstage tut jeder ernste Mensch einen Rückblick auf das
vergangene Jahr. Manchem ist es in Glück nnd Freude zu schnell ver-
gangen; manchem ist es durch Schmerz und Leid „zur Ewigkeit" ge-
worden. Die Fröhlichen mögen Gott danken, die Unglücklichen neue
Hoffnung fassen. Neben dem Danke sollen die Glücklichen die Fürbitte
für die Ihrigen und für alle Menschen nicht vergessen.
II. Gliederung des Inhalts, a) Der Januar bringt das Neujahr
mit seinen Hoffnungen (Vers 1—5).b) Die Gratulanten kommen (Kinder,
Nachbarn, Schornsteinfeger, Zettelträger usw.) (Vers 6—20). c) Alle
wünschen, daß es im neuen Jahre jedem gut gehen möge (Vers 21—22).
d) Wie das Jahr dem Glücklichen und dem Unglücklichen vergeht (Vers
23—33). o) Gebet am Neujahrstage für ilns nnd andere (Vers 34—40).
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben,
a) Am Neujahrstage sollen die Glücklichen Gott danken für das Gute,
das er ihnen im verflossenen Jahre beschert hat. b) Die Menschen, welche
Leid und Schmerz erfahren haben, sollen mit Hoffnung auf Gottes Güte
nnd Liebe in die Zukunft sehen, e) Am Neujahr sollen wir allen unsern
Lieben von Herzen Glück wünschen, d) Wir sollen Gott nicht nur für uns
selbst, sondern auch für die Unseren bitten.
2. Rede- und Stilübnngen. a) Welches ist die hauptsächlichste
Gabe, die der Januar bringt? b) Was sollen die Glücklichen nnd was
die Unglücklichen am Neujahrstage tun? e) Welche Gründe sollen uns
beim Glückwünschen bewegen nnd welche nicht? (Vers 6—18). d) Ein
Brief an die Eltern zum neuen Jahre.
378
III. Lyrische Gedichte.
B. Februar.
Im Februar
gar weiß und klar
liegt Schnee noch auf den Feldern,
liegt Schnee auf allen Wäldern.
5 Die Sonn' ist trüb', der Himmel
grau,
wohin ich geh', wohin ich schau' —
nur Schnee und Eis,
nur Grau und Weiß.
Wie ist doch alles still umher!
10 Kein Lied tönt von den Bäumen
mehr,
kein Blümchen mehr sich zeigen
will, —
o Tag, wie bist du kalt und
still! -
Doch drin in der Stadt und draußen
am Tor
ist's noch lebendiger wie zuvor,
15 und Schellengeläut und Peitschen-
geknall,
sie tönen herüber mit lautem
Schall.
Und fröhlicher Lieder Weise
anstimmet die Schar auf dem Eise.
Sie tummelt sich dort mit Spiel
undGeschrei;
20 und kommt erst der neblige Abend
herbei,
dann ziehen die Knaben heiß und
matt
nach Haus zur Stadt.
Dort glänzen die Lichter durch alle
Scheiben,
dort währet noch lange der Men-
schen Treiben.
25 Am Tage gab es so viel zu tun
(und jeder will gern des Abends
ruhn),
und wenn uns die Nachbarsleute
besuchen,
bekommt auch das Kind wohl ein
Stückchen Kuchen;
da hört es denn auch gar schöne
Geschichten,
30 denn jeder muß was Neues be-
richten.
Ist dann auch der Vater die Ar-
beit los,
daun nimmt er sein Kind gern auf
den Schoß,
erzählt ihm von Gott und Wun-
dersagen
und gibt ihm Bescheid auf alle
Fragen
35 und lehret es auch vor allen Dingen
ein liebliches, lustiges Liedlein
singen. —
I. Erläuterung. Der Februar ist der echte Wintermonat. Wie sieht
es draußen aus? Eine weiße Schneedecke auf Feldern und Wäldern,
silbergraues Eis auf den Gewässern, die trübe Sonne zwischen nebel-
grauen Wolken, kein Vogellied von den kahlen Bäumen, kein Blümchen
auf der stillen, toten Flur! Ja, der Tag ist kalt und still.
Wie sieht es in der Stadt aus? Vor den Toren und ans den
Straßen hört man Schellengeläut und Peitschenknallen, denn flinke
Rosse ziehen blitzgeschwind die Schlitten auf glatter Schneebahn da-
hin, und geschickte Kutscher leiten sie. Vom Eise des nahen Teiches hört
man das fröhliche Singen der Schlittschuhläufer. Heiß von der
raschen Bewegung und matt von der Anstrengung, gehen die Knaben
endlich nach Hause, wenn der Abendnebel niedersinkt.
Wie zeigt sich das Winterleben im Hanse? Die Lichter
glänzen hinter den Scheiben. Nach der regen Tagesarbeit ruhen die
Eltern im traulichen Stübchen. Die Nachbarn kommen zum Besuche,
berichten allerlei Neues, erzählen Geschichten und schmausen den Kuchen,
den die gute Mutter für jung und alt gebacken hat. Ist der Vater mit
der Arbeit fertig, so nimmt er wohl das kleinste Kind auf den Schoß,
und die anderen stellen sich um ihn herum. Er erzählt ihnen Märchen
und Sagen, um sie zu ergötzen, aber auch schöne Geschichten von Gott
und seinen Wundertaten; er beantwortet ihre kindlichen Fragen, belehrt
Löwen stein: Die Monate und was sie bringen. Z79
sie über allerlei und läßt sie schöne Lieder singen. Das vollendet die
Freuden eines Februartages.
II. Gedankengang. Was bringt uns der Februar a) in Feld und
Wald (Schnee und Eis, trüben Himmel, Stille in der Natur und Kälte),
b) im Freien vor den Toren derStadt (Schellengeläut, Peitschen-
knall sSchlittenfahrtf, Tummeln auf dem Eise (Schlittschuhlauf^, Spiel,
Gesang und Lustgeschrei), 0) im Hause (Kuchen, Erzählungen, Beleh-
rungen, liebliche, lustige Lieder)?
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Auf Leid folgt Freud'.
Jede Zeit hat ihr Unangenehmes, aber auch ihr Angenehmes. Die besten
Freuden suche im Hause.
2. Rede- und Stilübungen, a) Warum gefällt uns der Fe-
bruar nicht (Vers 1—9)? b) Welche Freuden gewährt er uns (Vers 10
bis 36)?
0.
1. Im März, im März
sei froh, mein Herz!
Schon ist der Frühling nah;
es weht so warm der Mittagswind,
es schmilzt das Eis, der Schnee
zerrinnt! —
Bald sind die Blumen da! —
März.
2. Jnr März, im März
sei froh, mein Herz!
Die Schollen wälzt der Fluß;
der Kahn spannt seine Segel aus:
„Nun flieg' ich frei ins Meer hin-
aus,
bring' ihm den Frühlingsgruß!" —
3. Im März, im März
sei froh, mein Herz!
Ihr Sänger, stellt euch ein!
Von Fluß und Flur die Kette sprang,
und Frühlingslust und Freiheitsdrang,
die liebt ihr, Vögelein!
I. Erläuterung. Noch liegt Schnee auf den Feldern und Eis auf beit
Gewässern, und doch schlägt das Herz froh in H0ffnung. Der Frühling
kommt gewiß und bald, denn warm weht der Südwind; er fegt Schnee
und Eis fort und lockt die Blumen aus der Erde.
Ein zweites sicheres Zeichen des nahenden Frühlings nennt der
Dichter: „Die Schollen wälzt der Fluß", d. h. das Eis auf dem
Flusse ist geborsten und wird in Schollen (großen Eisstücken) vom Wasser
fortgetragen. Bald werden auf dem Flusse die Fahrzeuge mit ausge-
spannten Segeln erscheinen und, von Wellen und Wind getrieben, ins
Meer hinausfliegen, um ihm den Frühlingsgruß vom Lande zu bringen.
Nun können unsere Sänger, die lieben Vögel, aus der Fremde heim-
kehren und frei und froh ihre Frühlingslieder erschallen lassen. Die Eis-
kette, die den Fluß in seiner freien Bewegung hemmte, zersprang, da
das Eis schmolz, und die Verbannung der Vögel hörte auf, als der Win-
ter dem Frühling wich.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. Im März können wir uns auf
den nahen Frühling freuen, denn der warme Mittagswind befreit
a) die Flur (Str. 1) und b) den Fluß vom Eise (Str. 2); c) nun dürfen
sich die Sänger wieder einstellen (Str. 3).
380
III. Lyrische Gedichte.
2. Charakteristik. Der März verkündigt den nahenden Früh-
ling durch das Wehen des warmen Mittagswindes, das Schmelzen des
Eises, das Zerrinnen des Schnees, das Bersten der Eisdecke auf den
Flüssen und das Herbeikommen der Vögel.
III. Verwertung. Rede- und Stilübung. 1. Warum freuen
wir uns im März? 2. Woran erkennen wir den nahenden Frühling?
3. Wodurch unterscheidet sich der März vom Februar?
4. Vergleiche: März tag von Joh. Trojan!
1. O ein Tag im März, o im März ein Tag,
wenn erklingt vom Wipfel der Amsel Schlag!
2. Schon so freundlich lächelt die Sonne drein,
und die Luft, noch ist sie so herb und rein.
Z. Nur der Haselstrauch ist so früh schon wach,
und ein Veilchen schon blüht vielleicht am Bach.
4. O im März ein Tag, o ein Tag im März,
wenn es heimlich schon knospet allerwärts.
5. Manch Menschenleben wie ist's ihm gleich,
so arm noch, aber so ahnungsreich!
0. Manch Menschenleben, das schnell vorbei,
eh es aufgeblüht, eh ihm kam sein Mai!
7. Noch so herb und rein wie im März ein Tag,
wenn erklingt vom Wipfel der Amsel Schlag.
8. Wenn ein Veilchen schon sich erfreut des Lichts,
und noch nichts ist welk, noch zerfallen nichts.
(Kennzeichen eines März tag cs: Vom Baumwipfel Amsel-
und Drosselschlag. Freundliche Sonnenstrahlen. Herbe, reine Luft. Kätz-
cheu am Haselstrauch. Knospende Veilchen. Überall schwellende Knospen.
Wie gleicht das Menschenleben einem Märztage?)
v. April.
April! April!
Weiß nicht, was er will,
ist gar ein launischer Gesell,
bald düster, bald hell,
5 bald lacht er wie Maien-Sonnenschein
dir freundlich und hell ins Herz hinein
und grüßt dich mit Blicken, mit frühlingswarmcn,
bald weint er und heult schier zum Erbarmen.
Bald läßt er des Sommers Strahlen blitzen,
10 daß Perlen dir von der Stirne schwitzen,
bald rüttelt und schüttelt er deine Glieder
und hagelt und wettert wild hernieder.
Dem Frühling heut' zu dienen beginnt er,
und morgen dient er wieder dem Winter,
15 ist eben zweier Herren Knecht
und macht's drum keinem Herren recht,
will sich für keinen von den beiden
mit ehrlich festem Sinn entscheiden.
Löwenstein: Die Monate und was sie bringen.
381
Was er verspricht, das hält er nicht,
20 was er bringen soll, das bringt er nicht,
was er singen soll, das singt er nicht,
wenn er lachen kann, so lacht er nicht,
tut, was er schafft, nur mit Verdruß
und tut's nur darum, weil er muß.
25 Da lob ich mir — denn der kommt jetzt herbei —
vor allen doch den Monat — Mai!
1. Erläuterung. Der Dichter führt uns im Gegensatz zu den drei vor-
hergehenden Monaten den April als einen „Gesellen", also als eine
Person vor. Dieser Gesell ist „launisch", d. h. er wird von wechselnden,
sich widersprechenden, rätselhaften Stinrmungen oder Launen beherrscht.
Er ist bald düster, bald hell, bald lacht er, bald weint er, bald
läßt er die Sonne heiß scheinen, bald bringt er Kälte und Frost und
Hagel und Unwetter; bald bringt er Frühling, bald Winter;
alles im raschen Wechsel. Dieses launische Wesen gefällt aber weder dem
Frühlinge noch dem W i n t e.r: „Ist eben zweier Herren Knecht und
macht's drum keinem Herren recht", denn er hat keinen ehrlichen festen
Sinn, sondern ist aus lauter Gegensätzen zusammengesetzt. Kein Wunder,
daß wir uns da auf den Mai freuen!
II. Gedankengang. 1. Einleitung: Der April ist ein launischer
Gesell. (Vers 1—3.) 2. Hauptteil: Worin die Launen bestehen (Vers
4—25). 3. Schluß: Die Folgen seiner Launen (Vers 26—27).
III. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben. Nie-
mand soll zweien Herren dienen, sonst verdirbt er es mit beiden. Launische
Personen werden von niemand geachtet und geliebt. — Ein fester, ehr-
licher Sinn erwirbt uns die Achtung anderer.
2. R e d e- u n d S t i l ü b u n g e n. a) Welche Eigenschaften und Tätig-
keiten des Aprils gefallen dir und welche nicht? b) Inwiefern ist der
April ein launischer Gesell? c) Warum soll man nicht zweien Herren
dienen?
E. 1. Mai.
1. Der Mai, der Mai
kommt nun herbei.
Frühlingsregen, Frühlingssegen,
frische Keime, grüne Sprossen,
Dust und Blumen lachen wieder,
und der Bach kommt rasch ge-
schossen,
in Lüsten auf und nieder
klingen wieder süße Lieder.
2. Seid willkommen, liebe Gäste,
zu dem schönen Frühlingsseste!
Lehrt mich singen. Vögelein,
lehrt mich danken hell und rein
dem, der aus des Himmels Bläue
auf mich schaut mit Lieb' und
Treue!
I. Erläuterung. Nur wenige Worte sind es, die der Dichter dem
schönen Monat Mai Ividmet; aber diese wenigen Worte führen uns die
Fülle der Maienwonne vor. — Was bringt uns denn der Wonnemonat?
Zuerst den warmen Frühlingsregen, der Segen, d. i. Wachstum
und Gedeihen, in Fluren, Wälder und Gärten bringt, so daß frische
Keime und grüne Sprossen aufschießen und duftige Blumen uns fröhlich
entgegenlachen. Der Frühlingsregen gibt dem Bache reichlich Wasser, so
382
III. Lyrische Gedichte.
daß er rasch oder pfeilschnell daher geschossen kommt. In den Lüsten er-
klingen die Lieder der heimgekehrten Sänger. Besonders ist's die Lerche,
die ans- und absteigend ihre Lieder trillert. Die Vögel sind die willkom-
mensten Gäste im Frühling, der im Wonnemonat Mai zu einem Früh-
lingsfeste wird. Die Vögel sollen uns singen lehren und sollen uns
zur Dankbarkeit mahnen gegen den Vater über den Sternen, der in Liebe
und Treue auf uns schaut und uns immer Speise und Freude spendet.
II. Gedankengang und Gliederung. 1. Einleitung (Ankunft des Mais).
2. Die Freuden des Mais. 3. Begrüßung der Vögel und Bitte, daß sie
uns lehren, Gott zu loben und zu danken.
III. Verwertung. 1. NutzanwendungfürHerzundLeben.Die
Schönheiten und Freuden, welche der Mai mit sich bringt, sollen uns
zum Danke gegen Gott veranlassen.
2. Vergleichung des Gedichtes mit dem folgenden:
2. Lob des Frühlings.
Bon L. Uhland. Merke I. Stuttgart 1863. I, S. 61.)
1. Saatengrün, Veilchenduft, 2. Wenn ich solche Worte singe,
Lerchenwirbel, Amselschlag, braucht es dann noch großer Dinge,
Sonnenregen, linde Luft! dich zu preisen, Frühlingstag?
In beiden Gedichten wird der Frühling in wenigen treffenden Worten
gefeiert: I. Frühlingsregen, II. Sonnenregen; I. frische Keime, grüne
Sprossen, II. Saatengrün; I. „Duft und Blumen", II. Veilchenduft;
I. süße Lieder klingen, II. Lerchenwirbel, Amselschlag.
F. Juni
Zu Hause find' ich meine Ruh'
nie i),
solang du lächelst, holder
Juni! —2)
Auf die Wiesen, auf die Rasen 3),
wo die weißen Lämmer grasen
5 und die bunten Rinder schreiten,
wo die schnellen Böcklein springen
und die hellen Glöcklein klingen,
wo des Hirten Lied erschallt,
dorthin, dorthin muß ich basb!4)
10 In die Heide 5) muß ich gehen,
wo die grünen Eichen stehen,
wo auf dicht belaubten Zweigen
sich die Vöglein singend neigen,
wo der Specht zum Gipfel klettert
15 und der Hetzer Pfeift und schmettert,
wo des Kuckucks Rufen hallt,
dahin zieht mich's mit Gewalt, ch
Auf die Berge muß ich klimmen?),
wo die feuchten Wolken schwimmen,
20 sehen, wie im Felsenforste
jetzt der Aar und Uhu horste,
wo die Tropfen quellend fließen,
die als Bach hernieder schießen —
seid gegrüßet allzumal,
25 Wies' und Wald und Berg und
Tal!
I. Erläuterungen. 1) Weil es draußen so schön ist. 2) hold, d. h.
lieblich und freundlich in seinen reichen Gaben und seinem meist stetigen
guten Wetter. 3) Rasen = Weideplätze für Schaf- und Rinderherden.
4) muß ich bald, dorthin lockt mich das frohe Leben und Treiben un-
widerstehlich. 5) Heide bedeutet hier Wald, wie der Ausdruck besonders
in Norddeutschland heimisch ist. 6) Dahin zieht mich's mit Ge-
walt, d. h. unwiderstehlich, weil mir die Schönheit und das bunte Leben
im Walde womöglich noch besser gefällt als auf den Wiesen und Weiden.
Löwenstein: Die Monate und was sie bringen.
383
7) klimmen, d. h. höher und höher auf die Berge steigen, wo die großen
Raubvögel horsten oder nisten und die Wasser des Himmels sich zu
Quellen und Bächen sammeln.
II. Gliederung. A. Einleitung (Vers 1 und 2): Der holde Juni
ruft uns ins Freie. 8. Haupt teil: Welche Freuden und Genüsse uns
erwarten a) auf den Wiesen (Vers 3—9), b) im Walde (Vers 10—1.7),
c) auf den Bergen (Vers 18—23). 0. Schluß (Vers 24—25): Gruß
au Wiest und Wald und Berg und Tal.
III. Verwertung. Rede-und Stilübungen. 1. Welche Freuden
bringt der Juni a) auf den Wiesen, b) iin Walde, e) auf den Bergen? —
2. Schildere einen Spaziergang im Juni a) in die Wiesen, b) in den Wald,
c) auf die Berge!
6.
Im Julius
zum kühlen Fluß
ziehn hin die muntern Knaben,
um von Verdruß und Überfluß
5 der Hitze sich im Hochgenuß
des Bades schnell zu laben.
Im Julius
das Blümlein muß
fast vor Hitze sterben.
l0 Die Erde spricht: Mich dürstet sehr!
Das Blümlein spricht: Und mich
noch mehr!
Ach sende, Gott, mir Regen her,
sonst muß ich gar verderben!
Der Schäfer legt sich auf den
Bauch
15 und schnarcht in tiefem Schlafe;
die Köpfe stecken ermüdet auch
zusammen jetzt die Schafe.
Es legt sich trag' zur Erde
die ganze Rinderherde.
20 Doch was im Freien wandern muß,
das rufet matt: O Julius,
bring bald uns einen Regenguß!
Und seht! noch schneller, als ihr
dachtet,
I. Einführung in Stoff und StimNiung. Bringt der Juni die schön-
sten Sommer fr enden, so hat der Juli auch seine Leiden, besonders
die große Hitze mit ihren Folgen. Die muntern Knaben lindern die
Qual der Hitze und den Verdruß darüber im labenden Bade.
Schlimmer ergeht es den Blümelein, die vor Hitze ihre Köpfe
hängen lassen, als müßten sie fast sterben. Das sieht die gute Erde und
ruft verzweifelnd aus: „Mich dürstet sehr!" Hätte sie noch Feuchtigkeit,
so gäbe sie gern einen Teil derselben an die Blümlein ab, die in ihrer
Not Gott anrufen, daß er sie mit erfrischendem Regen erquicken möge. —
Etwas besser hat es der Schäfer, der sich unter einen schattigen Baum
auf den Bauch legt, damit ihn die Sonnenstrahlen nicht treffen und er
Juli.
ist rings der Himmel schon um-
nachtet;
rl5 die Wolken jagen sich rasch umher
mit Brausen wie Wogen im wilden
Meer.
Es zuckt der Blitz wie ein glän-
zender Speer,
es rollet der Donner dumpf und
schwer,
und die Tropfen fallen zur Erd'
hernieder,
30 und die Erde trinkt sie und labt
sich wieder,
und die Blum' und die Halme, sie
richten sich auf
und schauen zum Himmel erquickt
hinauf;
doch die Vöglein flattern bang
herum
und fliegen zu Nest und werden
dann stumm,
35 und der Hirt' springt hurtig empor
vom Schlafe
und treibt in die Ställe die Rinder
und Schafe.
384
III. Lyrische Gedichte.
in tiefem Schlafe schnarchen kann. Seine Schafe und Rinder haben es
nicht so gut wie er; die Schafe stecken ermüdet die Köpfe zusammen, damit
diese wenigstens etwas Schatten haben, und die Rinder liegen „träge"
(verdrossen und ohne Bewegung) auf der Erde. Sehr schlimm ergeht
es dem Wanderer, der aus staubiger Landstraße, ohne schattige Bäume,
seinen Weg dahin ziehen muß; der ruft matt (sogar die Stimme versagt
ihm ihren Dienst): „O Julius, bring uns bald einen Regenguß!"
Die Sehnsucht aller Kreaturen wird glücklicherweise bald gestillt. Der
Himmel wird „umnachtet" durch die dunkeln Regen- und Gewitterwolken,
die rasch heranjagen mit Sturmgebraus, wie die wilden Meereswogen.
Plötzlich zuckt ein Blitz, dann rollt der D o n n e r, und schwere Tropfen
fallen aus die Erde hernieder. Diese trinkt und labt sich an dem reich-
licheil Regen. Aber nicht sie allein, sondern auch die Blumen und Halme
werden erquickt. Die Vöglein, die in ihrem schattigen Blätterdache
die Hitze nicht so sehr gemerkt haben, flattern zu Neste, weil Sturm und
Regen ihren zarten Leibern nachteilig ist. Der Hirt, welcher erst vom
Donner geweckt worden ist, springt „hurtig" (schnell, rasch, flink) empor,
um das Vieh in die schützenden Ställe zu bringen.
II. Vertiefung. 1. Gedankengang und Gliederung. A. Der
Einfluß der Julihitze a) auf die Knaben (Vers 1—6), b) auf die
Erde und die Blumen (Vers 7—12), c) auf den Schäfer und das Vieh
(Vers 13—19), ä) auf den Wanderer (Vers 20 —22).
L. Das Gewitter, a) Wie es entsteht (Vers 23—26). b) Wie
es wirkt: auf die Erde, aus die Blumen, auf die Vöglein, auf den Hirten
und seine Herde (Vers 27—36).
2. Sprachlichen ndpoetischeFor m. Belebende Gegensätze:
Die Hitze im Juli, der kühle Fluß; die durstenden Blumen und
die erquickten Blumen; die durstende Erde und die trinkende
Erde; der träge Schäfer und der hurtige Schäfer usw. Auch einige
schöne Vergleiche schmücken die Dichtung: „Die Wolken jagen sich rasch
umher mit Brausen wie Wogen im wilden Meer." Wenn der Sturm
die Wolken jagt, so haben diese Ähnlichkeit mit den Wasserwogen im Meere,
die ewig wechseln. „Es zucket der Blitz wie ein glänzender Speer." Die
Erde, als Person gedacht, spricht, trinkt, labt sich wie ein Mensch. „Die
Blümlein sprechen, richten sich ans und schauen erquickt zum Himmel
hinauf."
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Die Blumen und Halme geben uns die Lehre: Wenn wir erquickt sind
und Gutes empfangen haben, sollen wir, wie diese, zum Himmel aufblicken
und Gott unsern Dank darbringen. In der Not bitten und bei Erhörung
danken!
2. Rede- und Stil Übungen. Schilderung eines Gewitters,
a) Was vorhergeht (Hitze und Einfluß derselben auf die Geschöpfe), b) Wie
es entsteht (Dunkelwerden, Jagen der Wolken, Sturm, Rollen des
Donners, Regen), c) Was nachfolgt (die Erde trinkt, die Blumen werden
erfrischt, die Vögel fliegen zu Neste, der Hirt bringt das Vieh in die Ställe).
Löwenstein: Die Monate und was sie bringen.
385
H. August.
August! August!
Ha, welche Lust!
Die Halme neigen sich schon sehr,
die Ähren werden voll und schwer
5 und dunkelgelb die Farben.*)
Die Schnitter mähen das Korn so-
gleich
und binden es in Garben.
Ach, das gibt Brot für arm und
reich, —
daß keiner möge darben!3)
10 Doch möcht' ich3) wissen, was du
denkst,
daß du die Blümlein all' ver-
sengst.
Das ist nicht schön von dir.
Da spricht der warme Herr August:
„Sei still und dank mir's in der
Brust!4)
15 Der Herbst, der steht schon vor der
Tür
und will mit aller Macht herein!
Nehm' ich dir auch die Blüme-
lein —
ich geb' dir Obst dafür!"3)
1. Erläuterung. 1) Das Feld ist reif zur Ernte. 2) darben — Mangel
und Not leiden. 3) Der Landmann geht durch das Feld, sieht die ver-
sengten und welken Blüten und tadelt den August, den Hitzespender.
4) Ohne Hitze gibt's weder guten Wein noch schönes Obst. 5) Für das
Schöne gebe ich dir das Nützliche und Gute.
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Die Hauptgabe des August
ist das Brot, das nützlichste Nahrungsmittel für die Menschen
(V. 1—9). Der August nimmt uns die Blumen (V. 10—12), gibt
aber dafür das Obst (B. 13—18).
2. Sprachliche und poetische Schönheiten. Der erste Satz:
„August, August! Ha, welche Lust!" ist ein abgekürzter. Solche Sätze
spannen die Aufmerksamkeit. Kürze der Darstellung hat der Dichter im
ganzen Gedicht walten lassen. So müssen wir uns zwischen Vers 7 und 8
noch das Einheimsen des Getreides, das Dreschen, das Reinigen des Korns,
das Mahlen, das Backen hinzudenken; das alles liegt zwischen dem Binden
der Garben und dem zum Essen bereiteten Brote. Daß die Anrede: „Doch
möcht' ich wissen" usw. an den August gerichtet ist, erkennen wir auch
erst aus der Antwort, die er dem Landmanne gibt. Der „warme Herr
August" kennzeichnet den heißen Monat mit einem einzigen Worte. „Dank
mir's in der Brust" ist ein schöner figürlicher Ansdruck (Vertauschung)
für „Dank mir's von Herzen"; ebenso „der Herbst steht vor der
T ü r" anstatt „der Herbst i st n a h e".
I. 1. September.
t. September, September, du schöne
Herbsteszeit!
Das Obst ist reif nun weit und
breit,
nur schad', daß inan bezahlen soll,
was unser Mund ani meisten liebt!
Denn, wenn man selbst 'nen Dreier
giebt,
man kriegt doch nie die Taschen
O weh! svoll.
AdL. II. 8. Aufl.
2. September, September, nun geht
die Kirmes*) los,
da freuen sich alle klein und groß,
man trägt herein den Erntekranz
und dreht sich drum im raschen
Tanz.
Ja selbst der Michel3) wird hent'
schnell
unb kräht3) und jauchzt vor Freude
Juchhe! shell:
25
386
III. Lyrische Gedichte.
3. September, September, du bringst sie führen uns den Sommer fort,
zwar Freudigkeit, und droben ziehn in langen Reihn
doch bringst du uns auch manches Leid: ans unserm Land die Vögclein. —
die Sommerfäden 4) hier und dort, Ade!
I. Erläuterung. 1. Kirmest, Kirmes^ Kirmse bedeutet ursprünglich
das (in katholischen Ländern) mit einer feierlichen Messe gefeierte Fest
der Einweihung der Ortskirche. In protestantischen Gegenden, besonders
in Sachsen, ist dieses Fest beibehalten, wohl auch unter dein Namen „Kirch-
weihe". In anderen Gegenden, z. B. Hannover, Westfalen, wird der
Jahrmarkt „Kirntest" genanilt, tvie ursprünglich attch ein Jahrmarkt mit
dem Feste verbunden ^oar. Im weitesten Sinne nennt man jedes nach
der Weise der eigentlichen Kirmest von einer zusammenkommenden Volks-
tnenge mit Schmaus und Tanz gefeierte Fest so. (Vgl. Sanders, Wörter-
buch der deutschen Sprache I, 910.) Die iit unserm Gedichte erwähnte
Kirmest ist das Erntefest, welches ja auch stets mit Schmaus und Tanz
gefeiert wird. 2. Michel ist ein tölpelhafter, dummer Mensch mit bäu-
rischen Manieren. 3. „Krähen" bedeutet hier so viel wie mit gellender,
kreischender Stimme schreien. 4. Die Sommerfäden, auch Herbstfäden,
sind die im Herbste fliegenden Gewebe kleiner, schwarzer Spinnen.
II. Gliederung. Str. 1 und 2. Die Annehmlichkeiten des Scp-
tembers (Obst und Kirmest). Str. 3. Leid des Septembers (die Sommer-
fäden als Anzeichen des nahenden rauhen Herbstes, Wegzug der Böglein).
III. Verwertung. Vergleichung der zweiten Strophe mit dem
unten stehenden „Erntefest" von Fr. Hoffmann v. Fallersleben.
A. Ähnlichkeiten: Der Erntekranz wird gebracht, es wird getanzt
uitb gejubelt.
B. Verschiedenheiten: I spricht nur von der Freude, welche das Ernte-
fest (Kirmest) bringt, II schildert weitläufiger die Zeit, in welcher das
Fest gefeiert wird (Spätsommer, Tage werden kürzer, Nächte länger, Korn
ist gemüht, Feld ist leer, Vögel im Walde schweigen), und beschreibt den
Erntekranz (bunte^Bänder und Flittern) näher.
2. Erntefest.
Fr. Hoffmann von Fallersleben. Die vier Jahreszeiten. Berlin 1864. S. 46.
Der Sommer bleibt nicht lange mehr,
der Tag wird kürzer, die Nacht
wird länger.
Das Korn ist gemäht, das Feld
wird leer,
es schweigen schon des Waldes
Sänger.
5 Doch eh' uns der Sommer ganz
verläßt,
so gibt er uns noch ein fröhliches Fest.
Seht da! sie bringen den Erntekranz
mit bunten Bändern und Flittern,
sie eilen alle zum fröhlichen Tanz,
10 die Mädchen mit den Schnittern,
und altes tanzt und springt,
und alles jubelt und singt:
Juchheißa, juchhei!
Die Ernt' ist vorbei.
K. Oktober.
Oktober schüttelt das Laub vom
Baum
und gibt es den Winden zu eigen,
die führen es fort im weiten Raum,
weit fort von den trauernden
' Zweigen.
5 Die stehen jetzt da mit kahlem
Haupt:
Löwenstein: Die Monate und was sie bringen. 3^7
„Wer hat uns beraubt, wer hat uns Doch die, vom wirbelnden Winde
entlaubt? getrieben,
Wo sind die Blatter, die lieben, 10 haben längst vergessen,
geblieben?" wo sie gesessen.
1. Gliederung, n) Oktober schüttelt das Laub vom Baume, b) Die
Winde führen es in alle Welt. 0) Die Zweige trauern darüber, d) Das
Laub ist verschwunden.
2. Nutzanwendung für Leben und Herz. Alles ist vergäng-
lich. Wie die Zweige über das Verschwinden der Blätter trauern, so die
Eltern über den Verlust der Kinder. Wie die Blätter der Zweige ver-
gessen haben, so vergessen Kinder oft ihre Eltern, denen sie doch ewig
Dank schulden.
L. November.
November sagt: Noch ist's nicht genug;
ich nehme dem Garten den letzten Schmuck.
Es blüht Georgine und Aster zu kühn —
die letzte Blüte, das letzte Grün
5 soll jetzt sich entfärben
und sterben!
Der Gärtner spricht mit fröhlichem Sinn:
Du harter November, nimm's immer hin!
Ich habe gesorgt schon treu und gut,
10 und was jetzt still in der Erde ruht,
das wird bei des Lenzes Wehen
erstehen! —
Der Abend beginnt schon lang zu dauern,
und Fröste wechseln mit Regenschauern.
15 Schon schüttelt der Winter die greisen Locken,
und Schnee fällt nieder in leichten Flocken.
Das ist die traurigste Zeit im Jahre;
denn ach, wenn die Blätter, die letzten scheiden,
dann scheidet gar mancher mit Schmerz und Leiden,
20 man trägt ihn hinaus dann auf der Bahre. —
Wohl jedem, der eine Lagerstatt
und der nun ein warmes Stübchen hat!
Wohl jedem, den eine kleidende Hülle
und Wohlsein labet in frischer Fülle!
25 Wohl jedem Kinde zu jeder Zeit,
das die Eltern schützen vor allem Leid,
und wohl den Eltern, die fern von Schmerzen'
die lieben Kinder küssen und herzen! —
Doch ach, wie viele weinen vor Harm!
30 Ihr Stübchen ist kalt und schwach ihr Arm,
und was sie verdienen mit Kummer und Not,
das reicht kaum aus fürs tägliche Brot.
Das Holz ist teuer und teuer das Licht —
sie möchten arbeiten, doch können sie's nicht.
35 Und wenn sie die Leiden der Kinder sehn,
dann möchten sie fast vor Schmer^eir vergehn
in ihrer einsam dumpfigen Zelle —
und betteln, 0 Gott, vor fremder Schwelle —
das ist's, was dein Guten das Herz zerbricht;
40 und wollten sie betteln, sie dürften's nicht! —
25*
388
III. Lyrische Gedichte.
Erläuterung. 1. Was der Oktober begonnen, das setzt der November
fort. Raubte jener nur das Laub von den Bäumen, so nimmt dieser den
Gärten und Fluren den letzten Schmuck (Vers 1 und 2). 2. Welches
ist der letzte Schmuck? (Vers 3—7). 3. Was tröstet uns in dieser trau-
rigeit Zeit? (Vers 8—12). 4. Welche Unannehmlichkeit bringt der No-
vember den Menschen? Lange Abende, Frost, Regenschauer, Wind, Schnee,
für viele Kranke sogar den Tod (Vers 13—20). Wer kann sich im No-
vember glücklich schätzen? (Vers 11—28). Wer ist im November am un-
glücklichsten? (Vers 29—40).
M. Dezember.
Dezember jetzt, 5 dann schickt er uns den heil'gen
der kommt zuletzt, Christ,
ist gar ein strenger Mann; da geht die Frende an.
doch wenn er just am strengsten ist,
Erläuterung. 1. Was heißt: Der Dezember ist ein strenger Mann?
2. Welche Freude geht an, wenn er ant strengsten ist? — 3. Vergleiche:
Unter deni Schnee von Joh. Trojan!
1. Wie viel schläft unter dem Schnee!
Das Korn im Felde, so weich bedeckt,
viel tausend Knospen, so tief versteckt,
bis all die schlafenden Augen weckt
der Lerche Lied aus der Höh'.
2. Wie viel schläft unter dem Schnee!
Was neu erblühn wird zart und hold,
wenn neu sein Banner der Lenz entrollt:
des Veilchens Blau und der Primel Gold
und Rosen in Fern' und Näh'.
3. Wie viel schläft unter dein Schnee,
was hingebettet ist matt und müd',
was nicht erwacht, wenn das Veilchen blüht,
und nicht wird hören der Lerche Lied,
geborgen vor Leid und Weh. —
Wie viel schläft unter deni Schnee!
(Was schläft nur unter dem Schnee und erwacht im Lenz? —
Korn, Knospen, Keime, Veilchen, Primeln, Rosen usw. Was schläft den
Todesschlaf?) W. D.
IM. Der Winter.
Joh. Peter Hebel, Alemannische Gedichte. Ins Hochdeutsche übertragen von Rob. Reinick.
Leipzig 1853. S. 105.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der Dichter Joh. Peter-
Hebel besuchte an einem Wintertage einen befreundeten Pfarrer aus einem
Dorfe. Er stand am Fenster des warmen Zimmers und schaute durch
die Scheiben hinaus in das lustige Schneetreiben. Sein scharfes Auge,
sein sinniges Gemüt und seine lebhafte Phantasie sahen mehr als wir-
belnde Schneeflocken in der Luft und eine weiße Schneedecke auf der Erde.
Für ihn hatte alles Leben und Bedeutung. Auch die toten Dinge tvaren
ihm Abbilder der Menschenwelt, ihres Tuns und Treibens. Die Schnee-
Hebel: Der Winter,
389
wolkeu waren ihm Wagen oder Säcke voll Baumwolle, die Schneeflocken
herabgeschüttelte Baumwollenflöckchen, die eiligen Wanderer Diebe mit
bösem Gewissen, der Schneeüberzug auf Hut und Achsel „gekaufte Baum-
wolle", die Pfähle im Staket mit den Schneetürmchen daraus große Herren
nlit Käppchen. Die Erde erschien wie ein großes Grab, auf das ein
weißes Tuch gebreitet war. Hebel gedachte der Körnlein und Schmetter-
lingspuppen, die darunter begraben lagen. Er dachte daran, wie sie aus
ihren Oster- oder Auserstehungstag im Frühling warten, wie sie bann
ihr Totenhemdchen abstreifen und zu neuem Leben erwachen. Da flog
plötzlich ein hungriger Spatz auf das Fensterbrett und bettelte mit stum-
men Blicken um eine kleine Gabe. Hebel sättigte ihn mit Brosamen und
gedachte des Spruches Matth. 6, 26: „Sehet die Vögel unter dem Himmel
an! Sie säen nicht —Was Hebel nun in seiner sinnigen Weise ge-
sehen und gedacht, das hat er auf unübertreffliche Art in ein Gedicht
verwandelt, zunächst in der alemannischen Mundart, wie sie am Ober-
rhein gesprochen wird. Der Kiuderfreund Robert Reinick hat das ale-
mannische Gedicht ins Hochdeutsche übertragen. In dieser Form wollen
wir es hören!
II. Vortrag.
1. Wer hat die Bauinwoll' oben feil?
Sie schütten schon ein redlich Teil
ins Feld herunter und aufs Haus;
es schneit doch auch, es ist ein
Graus;
noch hängen ganze Säcke voll
am Himmel da, ich merk es wohl!
2. Und wo ein Mann von weitem
lauft,
hat von der Baumwoll' er gekauft,
er trägt sie auf den Achseln schon
und aus dem Hut und läuft davon.
Was läufst du so, du närr'scher
Wicht?
Gestohlen hast du sie doch nicht!
3. Und Gärten ab und Gärten auf
hat jeder Pfahl sein Käppel auf;
sie stehn wie Herren rings umher,
denkt jeder wunder, was er wär'.
Der Nußbaum auch macht's ihnen
nach
und auch das Schloß- und Kirchen-
dach.
4. Ja, Schnee und Schnee! und rings-
umher
man sieht nicht Straß' noch Fuß-
weg mehr.
Manch Samenkörnchen, klein und
zart,
liegt unterm Boden wohl verwahrt,
und schneit's, solang es schneien
mag,
es harrt auf seinen Ostertag.
5. Manch Schmetterling von schöner
Art
liegt unterm Boden wohl verwahrt,
hat keinen Kummer, keine Klag'
und harrt auf seinen Ostertag;
währt es auch lang, er kommt ja
doch;
bis dahin schläft's in Frieden noch.
6. Doch wenn die Schwalb' im Früh-
ling singt,
die Sonne warm das Land durch-
dringt,
hei! da erwacht's in jedem Grab
und streift sein Totenhemdchen ab,
unb wo sich nur einLöchlein zeigt,
schlüpft Leben 'raus, so jung und
leicht.
7. Da fliegt ein hungrig Spätzchen
her,
ein bissel Brot wär' sein Begehr;
er sieht dich an so jämmerlich
und bittet um ein Bröckchen Md).
Gelt, Bürschen, das ist andre Zeit,
wenn's Korn in alle Furchen streut!
8. Da hast! Gib andern auch was
her!
Bist hungrig, komm hübsch wieder
her!
Ja, wahr ist, was das Sprüchlein
spricht:
„Sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie haben keinen Pflug, kein Joch,
und Gott im Himmelnährt sie doch."
I
390 III. Lyrische Gedichte.
III. Vertiefung. 1. Ort undZei t. Es ist ein Wintertag auf einem
Dorfe. Dicke Schneewolken verdecken das Angesicht des Himmels und
das strahlende Auge der Sonne. In der Luft wirbeln die Schneeflocken
bunt durcheinander. Über die Häuser des Dorfes ragen die weißen Dächer
der Kirche und des Herren-(Guts-)Hauses. Die Pfähle am Gartenzaun
tragen hohe, spitze Hüte von Schnee. Der blätterlose Walnußbaum hat
ans allen Ästen dicke Schnee-Ränder oder Schnee-Wälle. Die Fahrstraßen
und Fußwege sind zugeschneit, die Menschen in die warmen Stuben ge-
flüchtet. Nur einer huscht dort schneebestreut eilig >vie ein Dieb mit bösem
Gewissen über die Straße. In einer Stube hinter den Scheiben steht
ein freundlicher Herr und schaut in den wilden Schneetanz hinaus. Ein
hungriger Spatz hat sich auf den Fensterrand gesetzt und blickt verlangend
zu dem Manne auf. Dieser öffnet das Fenster und streut dem Vogel
Krümchen hin.
2. Charakter des Winters. Der Himmel ist trübe. Schnee-
flocken wirbeln durch die Luft. Die Bäume stehen kahl und beschneit; die
Pfähle tragen Schneehütchen. Wege linb Straßen sind verschneit. Die
Samenkörner auf den Feldern sind in ein weißes Leichentuch gehüllt, die
Insekten verpuppt in ihren Schlupfwinkeln entschlummert. Einzelne
Standvögel irren hungrig umher. Die Menschen halten sich am liebsten
in der warmen Stube ans; nur einzelne Personen gehen eilig und in
warmen Kleidern hinaus.
3. Gedankengang. Str. 1. Der lustige Schneefall. Str. 2. Der
eilige Wanderer. Str. 3. Das verschneite Dorf. Str. 4. Die eingeschneiten
Samenkörner. Str. 5. Die schlafenden Insekten. Str. 6. Das Erwachen
im Lenz. Str. 7. Der hungrige Spatz. Str. 8. Der mitleidige Mensch.
Grundgedanke: Freue dich der Schönheit des Winters! Hoffe
auf die Frühlingsherrlichkeit! Vergiß der Notleidenden nicht!
4. Eigentümlichkeiten. Tiere und tote Dinge sind personifiziert
oder treffend verglichen. Eine behagliche Stimmung und ein Hauch von ^
Liebe und Frömmigkeit wehen wie warme Frühlingsluft durch das Winter-
gedicht. Dasselbe ist ein unübertreffliches Wintergemälde, in dem kein
Zug zu viel oder zu wenig, keiner unwahr oder übertrieben ist. So
kennen wir alle den Winter; wer aber hätte ihn so zu malen vermocht?
Das kann nur ein gottbegnadeter Dichter oder Maler! Auch der Hebelsche
Humor schießt seine Silberfäden ins Gedicht: Es regnet Baumwolle, und
sie ist billig zu kaufen! Der Himmel hat noch ganze Säcke (eine Menge
Wagen) voll von dieser Ware! Der beschneite Wanderer hat von der
Baumwolle gekauft und läuft nun luie ein Dieb davon, der närrische
Wicht! Die Pfähle sind große Herren mit Käppchen! Die Sommervöglein
ziehen das Totenhemdchen aus! Der Spatz wird angeredet: Gelt, Bürsch-
chen, das ist jetzt eine andere Zeit als die, da das Korn in allen Furchen
lag und du, Feinschmecker, nicht wußtest, wovon du zuerst nehmen solltest!
Von den Vögeln wird gesagt: Sie haben weder einen Pflug, um einen
Acker zu pflügen und zu bestellen, noch eilt Joch, d. h. Ochsen, um sie
Hebel: Der Winter.
391
an den Pflug zu spannen. Noch viel mehr tritt der Reiz der Dichtung
in der aleiuanuischeu Mundart zutage. Str. 1 lautet:
Jsch echt (etwa) dv vbe Bauwele feil?
Sie schütten eint e redli Teil
in d'Gärteu aben und ufs Hus;
es schneit doch au, es isch e Grüns,
uud's hangt no menge Wage voll
ain Himmel abe, merki wohl.
IV. Verwertung. 1. N u tz a n lv e n d u ir g u n d V e r wandte s. Jede
Jahreszeit hat ihre Schönheiten und Freuden, auch der Winter. Ver-
gleiche Band I, Nr. 41, 42 und 249: Der Winter ist ein rechter Mann —.
Aus bem Tode blüht das Leben, aus dem Grabe ein neues Sein auf.
Wie das Körnlein aus der Erde nnb das Sommervüglein aus dem Puppen-
kleide erivacht, so werden auch wir aus dem Grabe zu einem neuen Leben
erwachen. 1. Korinther 15, 42: Es wird gesäet verweslich usw.
„Dem dunkeln Schoß der heil'gen Erde Noch köstlicheren Samen bergen
vertrauen wir der Hände Tat, wir trauernd in der Erde Schoß
vertraut der Sämann seine Saat und hoffen, daß er aus ben Särgen
und hofft, daß sie entkeimen werde erblühen soll zu schönerm Los.
zum Segen nach des Himmels Rat.
Erbarme dich der Armen und Notleidenden! Jes. 58, 7: Brich dem
Hungrigen dein Brot —. Hebr. 13, 10: Wohlzutun iutb mitzuteilen —.
Wer sich des Armen erbarmet, der leihet dem Herrn.
Vergleiche das Gedicht von Hebel: Mitleid im Winter.
(Sämtl. Werke. Karlsruhe 1843. Bd. I, S. 188.)
l. In meinem Stübchen ist's bequem, taut doch in Tränen auf den
ist's lieblich, hübsch und angenehm: Schmerz,
doch manche Mutter, Gott erbarm! Der Winter ist ein rauher Mann;
wer nimmt sich doch der Armen au?
nimmt's Kindlein nackend auf den
Arm;
sie hat kein Hemd, hört's kläglich
schrein
und wickelt's in die Schürze ein.
3. Geh hin und bring der armen Seel'
ein lveißes Hemd, ein Säcklein
Mehl,
ein Bündchen Holz und sag ihr
dann,
daß sie auch zu uns kommen kann,
uni Brot zu holen immer frisch;
und dann deck auch für uns den
Tisch!
2. Sie hat kein Holz, sie hat kein
Brot
und klagt dem lieben Gott die Not.
Friert's noch so stark, das Mutter-
herz
2. Rede- und Stilübungen. a) Gib den Inhalt von „Mitleid
im Winter" an! (Wie behaglich ist's in meiitem warmen Stübchen und wie
traurig in den Hütten der Armut! Das nackte Kindlein hat nicht einmal
ein Hemdchen und wird in die Schürze der Mutter gewickelt. Der Mutter
fehlt Holz zum Heizen und Brot zur Nahrung. Doch stärker als der Frost
Mt die Liebe des Mutterherzens; sie taut das Eis des Schmerzes zu Tränen
auf und klagt im Gebete Gott ihre Not. Da rührt der Engel des Mit-
leids inein Herz an. Ich schicke der armen Witive ein Hemdlein für das
Kind, ein Säcklein Mehl, ein Bündel Holz und lasse ihr sagen, sie solle
392
III. Lyrische Gedichte.
Brot holen, so oft es ihr fehle. Wenn ich den Nächsten nicht mehr leiden
sehe, erst dann wird das eigene Mahl auf dem gedeckten Tische trefflich
munden.) b) Welche verwandten Züge finden sich in den beiden Hebelschen
Gedichten? (Beide führen uns in den Winter. Beide zeigen einen Men-
schen in der warmen Stube und in einem behaglichen Leben. Draußen
Schnee und Frost. Ein hungriger Spatz — eine frierende und hungrige
Witwe mit ihrem Kinde. Der Spatz kommt bittend ans Fenster — die
Witwe klopft weinend mit ihrem Gebete an die Hiinmelspforte. In beiden
Gedichten erbarmt sich der Wohlhabende des Armen und Notleidenden.
Beide zeigen, daß Gott den Armen nicht unmittelbar hilft, sondern durch
mitleidige Menschen helfen läßt.) ?.
133. Der Gislauf.
F. Hoffmann v. Fallersleben. Fünfzig neue Kinderlieber. 1866. S. 83.
1. Der See ist zugefroren
und hält schon seinen Mann.
Die Bahn ist wie ein Spiegel
und glänzt uns freundlich an.
Das Wetter ist so heiter,
die Sonne scheint so hell.
Wer will mit mir ins Freie?
Wer ist mein Mitgesell?
2. Da ist nicht viel zu fragen;
wer mit will, macht sich auf:
wir gehn hinaus ins Freie,
hinaus zum Schlittschuhlauf.
Was kümmert uns die Kälte?
Was kümmert uns der Schnee?
Wir wollen Schlittschuh laufen
wohl auf dem blanken See.
3. Da sind wir ausgezogen
zur Eisbahn alsobald
und haben uns am Ufer
die Schlittschuh angeschnallt.
Das war ein lustig Leben
im hellen Sonnenglanz!
Wir drehten uns und schwebten,
als wär's ein Reigentanz.
4. Nun ist vorbei der Winter,
vorbei ist Schnee und Eis;
es sind die Bäum' im Garten
jetzt nur von Blüten weiß.
Doch auch in meinen Träumen
ruf ich noch oft: „Juchhe!
Kommt, laßt uns Schlittschuh laufen
wohl auf dem blanken See!"
I. Vorbereitung und Vortrag. Der Lehrer läßt sich von den Kin-
dern Spiele und Vergnügungen nennen, die in den verschiedenen Jahres-
zeiten im Freien vorgenommen werden: im Frühjahr das Spielen mit
den Marmorkügelchen, das Ballfangen und Ballspielen, im Sommer das
Wandern in Feld und Wald, im Herbst das Steigenlassen der Papier-^
brachen, im Winter das Schneebällen, das Aufbauen des Schneemanns
und endlich das Schlittenfahren und das Schlittschuhlaufen. Davon han-
delt das folgende Gedicht.
II. Inhaltsangabe und Gliederung. Str. 1. Aufforderung, mit
ins Freie zu gehen. Es lockt a) der fest zugefrorene See, b) die
spiegelglatte, freundlich-glänzende Eisbahn, c) das heitere Wetter und
6) der helle Sonnenschein. Str. 2. Der Ausgang ins Freie. a)Er
ist jedem freigestellt („Wer mit will, macht sich auf"), b) Es geht zum
Schlittschuhlauf, c) Es hält weder Kälte noch Schnee auf. Str. 3. Auf
der Eisbahn, a) Die Ankunft, b) Das Anschnallen der Schlittschuhe,
o) Das fröhliche Treiben auf dem Eise. (Drehen und Schweben im Reigen-
tanz oder Reihentanz.) Str. 4. Das Ende des Eislaufs, a) Der
Krummacher: Winterlieb.
393
Winter, Eis und Schnee sind vorbei, b) Der Frühling ist da. c). Rück-
erinnerung an das Vergnügen des Schlittschuhlaufes sogar im Traume.
III. Ost un- Zeit der Handlung. Es ist Winter; der See ist
außerhalb des Wohnortes im Freien und bildet eine spiegelglatte Eis-
bahn, die im hellen Sonnenschein glänzt.
IV. Rede- und Stilübungeu. Der Eislauf, eine Erzählung in Brief-
fornt. a) Einladung, b) der Ausgang, c) die Ankunft auf der Eisbahn,
d) das Ende. W. D.
146. A. Winterlied.
Frü'd. Adolf Krummacher. Festbüchlein II, 13. Das Christfest. Duisburg u. Essen. 1810. <3.2.
1. Wie ruhest du so stille
in deiner weißen Hülle, *)
du mütterliches Land! «)
Wo sind des Frühlings Lieder,
des Sommers bunt GefiederI. * 3)
und dein beblümtes Festgewand? ^)
2. Du schlummerst nun entkleidet^);
kein Lamm noch Schäflein weidet
auf deinen Au'n und Höh'u.
Der Vöglein Lied verstummet,
und keine Biene summet, —
doch bist du auch im Winter schön.
3. Die Zweig' und Ästlein schimmern,
und tausend Lichter flimmern,
wohin das Auge blickt.
I. Vorbemerkung. Das Lied ist den Kindern an einem schönen
Wintertage, an welchem die Erde über Nacht mit einem Male mit Schnee
bedeckt worden ist, zunächst von dem Lehrer vorzulesen und womöglich
darauf von den Kindern zu singen, um das Verständnis des Inhalts
ihnen zu erleichtern. -Überhaupt sind aus diesem Grunde Zeitgedichte,
das sind solche, welche besondere Vorkommnisse in der Natur oder im
menschlichen Leben besingen, stets nur in der Zeit den Schülern zu geben,
zu erläutern, von ihnen auswendig zu lernen und zu singen, für welche
sie vom Dichter bestimmt sind. Dadurch erschließt sich den Kindern das
Verständnis dieser Dichtungen oft schon ganz von selbst, abgesehen davon,
daß cs nichts Verkehrteres gibt, als Winterlieder von den Kindern zu
Pfingsten oder Weihnachtslieder im Sommer — wie es nicht allzuselten
in der Tat geschieht — singen zu lassen. Hier gilt im vollsten Sinne
die Mahnung des Sprichwortes: „Alles zu seiner Zeit!"
II. Erläuterungen. 1) Weiße Hülle — Schneekleid. 2) Du
mütterliches Land = die Erde ist die Ernährerin der Pflanzen und
Tiere. 3) Des Sommers bunt Gefieder — die Farbenpracht im
Federkleide der Vögel. 4) Beblümtes Festgewand — der Blumen-
schmuck im Pflanzenkleide der Erde; das Festgewand ist das schönste Kleid,
das Brautkleid. 5) Entkleidet = keine Blumen, keine Herden, keine
Vogellieder, kein Jnsektensummen! 6) Die Decke gespreitet — auf
Wer hat dein Bett bereitet,
die Decke dir gespreitet
und dich so schön mit Reif ge-
schmückt?«)
4. Der gute Vater droben
hat dir dein Kleid gewoben,
Er schläft und schlummert nicht.
So schlummre denn in Frieden!
Der Vater weckt die Müden
zu neuer Kraft und neuem Licht.
5. Bald in des Lenzes Wehen
wirst du verjüngt erstehen
zum Leben wunderbar.
Sein Odem schwebt hernieder Z;
dann, Erde, stehst du wieder
mit einem Blumenkranz im Haar«).
394
III. Lyrische Gedichte.
die Erde gebreitet; sie besteht aus Schneesteruchen, Eiskristalten und
Reifschmuck. 7) Gottes Odem, im milden Hauch des Frühlings, belebt
die Kinder der Erde aufs neue. 8) Blumenkranz im Haar = die
ganze Maienschönheit der Erde.
III. Vergleichung mit folgendem Gedicht aus Köppels Liederkrauz
S. 12:
B. Nach dem ersten Froste.
(Kind und Blumen.)
1. „In meines Vaters Garten,
da war's noch gestern grün,
da sah ich noch so mancherlei,
so schöne Blumen blühn.
2. Und heut' ist alles anders,
und heut' ist alles tot:
wo seid ihr denn, ihr Blümelein,
ihr Blümlein, gelb und rot?"
3. „O liebes Kind, wir schlafen
nach Gottes Willen hier,
bis er uns seinen Frühling schickt,
und dann erwachen wir.
4. Ja, deine Blümlein schlafen,
so wirst auch schlafen du,
bis dich erweckt ein Frühlingstag
aus deiner Grabesruh'.
5. Und wenn du dann erwachest,
v mögest du dann sein
so heiter und so frühlingsfroh
wie deine Blümelein!"
A. Ähnlichkeiten: 1. Beides sind Lieder, im Winter zu fingen.
2. Beide sind Gespräche in Frage und Antwort. 3. In beiden wird der
Winter in der Natur mit Grab und Tod der Menschen verglichen. 4. In
beiden >vird der Frühling mit der Auferstehung in Vergleichung gestellt.
5. Beide enthalten eine Prophezeiung.
B. Unterschiede: 1. In A spricht der Dichter mit der heimatlichen
Erde im Winter, in B hingegen nur ein Kind mit seinen durch den Frost
vernichteten Blumen. 2. In A findet sich eine vollständige Schilderung
der Natur im Winter, während in B nur von erfrorenen Blumen die
Rede ist. 3. In A ist der Vergleich des Winters und des Frühlings
mit Grab und Tod und der Auferstehung der Menschen nur leise äuge-,
deutet, Ivährend in B der Vergleich vollständig ausgesprochen wird. 4. In
A fragt der Dichter und gibt die Antwort für die heimatliche Erde selbst;
in B fragt ein Kind, und die Blümlein antworten ihm. R. D.
147. A. Hoffnung.
E. Geibel, Juniuslieder. Stuttgart 1875. S. 140.
1. Und dräut der Winter noch so und streut er Eis und Schnee umher:
mit trotzigen Gebärden, ssehr es must doch Frühling werden usw.
(Das Gedicht steht in alten Lesebüchern.)
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der Winter ivird oft als
harter Mann, ja als Tyrann, der Frühling als blühende Jung-
frau dargestellt. Der harte Manu dräut oder drohet der Erde Ver-
nichtung. er schneidet grimmige Gebärden, hüllt die Sonne in dichte
Nebel, schnaubt wie ein wildes Tier im Sturm und läßt unter seinem
Hauche das Wasser zu Eis und unter seinem Fußtritte die Erde zu
harten Schollen erstarren. Dagegen die liebliche Jungfrau lLenz-
hoffnung): leise und unhörbar naht sie, weckt die schlafende Erde auf,
Geibel: Hoffnung.
395
bringt ihr Freude und. Wonne, füllt alles mit Licht und Leben. Wie
ein erwachtes Kind streckt und dehnt sich die Erde und lacht aus tausend
Augen den sonnigen Himmel an. Erst Blumen und dann Ähren flicht
sie sich ins Haar und weint gleichsam in den rieselnden Quellen helle
Freudentränen. Den Kampf zwischen dem harten Winter und dem
milden Frühling schildert meisterhaft das Geibelsche Gedicht „Hoff-
nung", die felsenfeste Hoffnung aus den Sieg des Lenzes: „Es muß doch
Frühling werden!" Hört es!
II. Zur Erläuterung. Nachdem der Frühling der Erde das höchste
Glück gebracht hat, schließt der Dichter die Schilderung in Str. 6 und 7
mit einer Anwendung auf das Menschenleben. Der Frost verursacht ein
unangenehmes Gefühl, ja bei langer Dauer wirkliche Schmerzen. Auch
Unglück und Sorgen und all der Kummer, welcher uns im Leben trifft,
wehen unser Herz so kalt an wie der Winterfrost den Körper. „Drum
still!" sagt der Dichter, d. h. habe Geduld in deinen Leiden und gib
dich zufrieden in dem Gedanken, daß ein großer „Maientag", d. h. ein
Freu den tag, der ganzen Welt, also auch jedem einzelnen, beschieden
ist. Aber der Frendentag kommt nicht bedingungslos, wie uns die
letzte Strophe berichtet. (Daß der Dichter nicht „O Mensch", sondern
„O Herz" sagt, ist sehr bezeichnend; denn das Herz ist ja der Sitz der
menschlichen Gefühle. Vgl. Sommerlied von P. Gerhard.) Wann kommt
nun der große Maien tag?
Wer ohne Zagen und Wanken ans Gott vertraut, den mag das
größte Unglück und das schwerste Leiden treffen, er findet sichern Trost
und feste Hoffnung darin, daß er doch den Frühling sehen, d. h. daß er
von seiner Last befreit, Freude und Wonne in diesem oder jenem Leben
finden wird.
Wie oft wird es doch in unserm Leben Nacht und Winter! Wie
oft werden wir von Unglück und Leiden heimgesucht, so daß uns vor
der Zukunft bangt und graut! Schauen wir nur hinein in die Häuser
der Menschen: hier liegt ein lieber Vater auf dem Totenbette, der Er-
nährer seiner Familie, daneben weint die Mutter, untröstlich über den
unersetzlichen Verlust. Dort in jenem Hause liegt die treue Mutter schwer
danieder, und die unversorgten, noch so sehr der Pflege bedürftigen Kin-
der wimmern an ihrem Bette. An einem anderen Orte trauern die Eltern
über den Verlust einer hoffnungsvollen Tochter, die in der Blüte ihrer
Jahre hinweggenommen wurde, oder über einen Sohn, der trotz seiner
schönen Anlagen im Strudel der Welt seinen Untergang gefunden hat.
Das sind Verluste und Leiden, in denen uns oft „bangt und graut, als
fei die Höll' auf Erden". Dagegen gibt es nur ein Mittel, welches der
Dichter auch sofort bereit hat in den Worten:
„Nur unverzagt auf Gott vertraut."
Ein festes Gottvertrauen ist es, das uns auch in schweren Heiin-
suchungen tröstet. Gottes Wille ist es, wenn uns Not und Elend trifft,
aber Gottes Verheißung ist es auch, daß wir nicht über unser Vermögen
396
III. Lyrische Gedichte.
versucht werden sollen. Mit demselben Troste und mit derselben Hoff-
nung, die uns der Dichter in der ersten Strophe entgegenhielt, schließt
er auch sein Gedicht und gibt dem Kunstwerke dadurch eine schöne Ab-
rundung. Möge jeder in den ihn treffenden Leiden und Trübsalen mit
Geduld, Hoffnung und Gottvertraueu sprechen können:
„Es muß doch Frühling werden."
III. Gliederung. 1. Kennzeichen des Winters und gewisse Hoffnung
auf beit Frühling (Str. 1—3). 2. Schilderung des Frühlings (Str. 4 u. 5).
3. Anwendung auf das menschliche Leben mit seinen Leiden und Freuden
(Str. 6 u. 7).
IV. Grundgedanke: Wie nach dem strengsten Winter endlich der schöne
Frühling folgt, so wird auch nach allem Elend im irdischen Leben des
Menschen einst eine Wonnezeit folgen.
B. Künftiger Frühling.
L. Uhland, Werke. Stuttgart 1863. S. 62.
1. Wohl blühet jedem Jahre 2. Er ist dir noch beschieden
sein Frühling mild und licht; am Ziele deiner Bahn,
auch jener große, klare, du ahnest ihn hienieden,
getrost! er fehlt dir nicht. und droben bricht er an.
Beide Gedichte sprechen die Hoffnung auf den Frühling aus, Geibel
in ausführlicher Schilderung, Uhland durch die einzige Behauptung:
„Wohl blühet jedem Jahre
sein Frühling mild und licht."
Der Hauptgedanke beider Gedichte ist: Wie der Frühling auf Erden
immer wiederkehrt, so wird auch einst ein großer Auferstehungstag für
jeden Menschen anbrechen. Die Hoffnung auf den großen Maientag der
Menschheit gibt uns Trost in den Leiden und Sorgen des Erdenlebens.
Geibel ermahnt zum Gottvertraueu in den Nöten des Lebens, Uhland
läßt uns den großen, klaren Frühlingstag droben ahnen. Geibels
Sprache ist schwungvoll und bilderreich, Uhlands dagegen einfach, schmuck-
los, aber treffend. W. D.
148. A. März.
Franz Evers.
1. Der letzte Schnee fließt in die Erde,
es taut und tropft von Dach und
Baum,
und eine goldne Wolkenherde
zieht sonnig durch den Himmels--
raum.
2. Rotbraun Geknospe an den Zwei-
gen,
ein herber Duft vom Schollengrund,
und hell ins letzte Winterschweigen
zittern der Winde selige Geigen,
donnert des Frühlings Sturmes-
mund.
B. Gütige Tage.
Franz Evers.
1. Die Wasser quellen am Grunde,
der Tauwind weht so weich
und singt mit leisem Munde
vom brausenden Frühlingsreich.
Und die alten Bäume regen
sich in der feuchten Luft,
sie träumen von Sonnenregen
und jungem Blütenduft.
Uhland: Frühlingsglaube.
397
2. Helle Kinderstimmen steigen Und du kannst im Abendgrauen,
aus den Gärten sangesfroh; wenn die Tage still vergehen,
die Stare in den Zweigen an den Wegen und auf den Auen
pfeifen jubilo. — leise Engel wandeln sehn.
1. Einführung in Stoff und Stimmung. Wir leben im Monat März.
Der Winter geht zu Ende. Die Erde wirft ihr Leichentuch ab. Der Schnee
taut und wird zu Wasser. Es tropft von Dächern und Bäumen und
sickert in die Erde. Die düstern Nebel weichen und lassen den blauen
Himmel sehen; goldene Wolkenschäfchen ziehen über ihn. Das lange
Schweigen des Winters wird abgelöst von den lauen Frühlingstvinden,
die wie Helle Geigentöne die Luft durchzittern oder wie Posaunentöne
des Sturmes donnern. Da leidet's den Dichter nicht länger in der Stube.
Er muß hinaus ins Freie und ins Weite. Lang und tief muß er die
laue Luft atmen, muß das Auge an dem neuerwachenden Leben, das
Ohr an den frischen Klängen und das Herz cur dein Jubel der heimgekehrten
Vögel und der spielenden Kinder laben. Ihm ist, als ob Engel auf allen
Wegen wandelten und die Botschaft eines neuen Lebens verkündigten.
Was er da auf einem Abeudspaziergange im März an einem „gütigen",
d. h. freudebringenden, Tage gesehen, gehört und empfunden, das hat
er in zwei Liedern gesungen. Hört sie!
II. Vertiefung. 1. Lagebild. Tauwetter im März. Wolkenschäf-
chen am blauen Himmel. Tröpfelnde Dächer und Bäume. Rotbraune
Knospen an Ästen und Zweigen, in denen der Frühlingswind geigt. Auf
den Äckern Schollen, die der Pflug aufgerissen. An tiefen Stellen silberne^
Quellen, die munter hervorspringen. In den Gärten jubelnde Stare,
singende und spielende Kinder.
2. Gedankengang. Der Schnee schmilzt. Der Himmel blaut. Die
Knospen der Bäume und der herbe Duft der Ackerschollen künden das
neue Leben der Erde an. Dem schweigenden Winter folgt der laute, frohe
Leuz. An den „gütigen Tagen" erfreuen die springenden Quellen, der
weiche Tauwind, der brausende Lenzsturm, die hoffnungsfrohen Bäume,
die schwatzenden Stare und die spielenden Kinder. Auf einem Abend-
spaziergange glaubt der Dichter die Füße der Engel zu sehen und ihre
Stimmen zu hören.
III. Verwertung in Aufgaben. Was wird im Frühling anders, als
es im Winter war? Was bedeuten die Bilder: Goldene Wolkenherde,
selige Geigen der Winde, Sturmesmund des Frühlings, Schweigen des
Winters, Singen des Tauwindes, brausendes Frühlingsreich, Träumen
der Bäume von Sonnenregen und Blütenduft, das Abendgrauen, das leise
Wandeln der Engel? Worin besteht die „Güte der Tage"? P.
149. A. Frühlingsglaube.
Ludwig Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. I. S. 42.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Das Leben des Herzens ist mit
dem Leben in der Natur innig verknüpft. Trübes Wetter draußen stimmt
auch die Seele trübe. Sounenschein draußen fällt auch sonnig ins Gemüt.
398
III. Lyrische Gedichte.
Im Herzen spiegelt sich die Natur und in der Natur das Herz. Im Grauen
des Winters bangt und zagt, im aufquellenden Leben des Frühlings
hofft die Seele.
Und dräut der Winter noch so sehr, wir glauben an den kommen-
den Frühling: Es muß doch Frühling werden! Und dieser Glaube hilft
den Winter ertragen. Und will das Herz in Angst und Not verzagen,
glaube nur an eine Erlösung von der Bürde! Dieser Glaube hilft die
Bürde ertragen.
Das Frühlingswehen draußen, das den Winter vertreibt, ist ein Bild
und Bürge dafür, daß sich anch der Kummer deines Herzens wenden
ivird. Bei dem wonnigen Blühen überall wird auch dein Herz der Qual
vergessen und zu neuem Leben, neuer Freude aufblühen.
Diese Gedanken hat Uhland in unvergleichlich schöner Weise in dem
kleinen Gedichte: „Frühlingsglanbe" ausgesprochen.
1. Die linden Lüfte sind erwacht H,
sie säuseln und weben Tag und
Nachtch,
sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang Ich
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden, ch
2. Die Welt wird schöner mit jedem
Tagch,
man weiß nicht, was noch werden
- mag ch,
das Blühen will nicht enden?)
Es blüht das fernste, tiefste Talch:
nun, armes Herz, vergiß der Qual!9)
Nun muß sich alles, alles wenden.
II. Erläuterungen. 1. Die lauen Frühlingswinde werden mit schlafen-
den Kindern, die jetzt aufgewacht sind, verglichen. 2. Sie säuseln oder
lochen warnt um die Wangen und weben oder wirken im stillen
an allen Orten das neue Kleid der Erde. 3. Die Frühlingsblumen
sprosseit aus der erneuten Erde und atmen lieblichen Geruch ans; die
heimgekehrten Sänger lassen aufs neue ihre Lieder erschallen. 4. Wie
Eis und Schnee hinwegschmelzen, so wird das Herz sein Unglück, das
es trägt oder fürchtet, vergessen. 5. Jeder Tag bringt neue Schönheiten.
6. Man weiß nicht, bis zu tvelcher Höhe sich die Schönheit der Erde
steigern wird, ob nicht der Himmel herniedersinkt ans die Erde. 7. Eine
Blüte nach der andern erschließt sich tvie eine endlose Kette. 8. Überall
hin dringt der Hauch des Frühlings, in die Tiefe und in die Weite, und
überall hin bringt er Leben und Freude. 9. Solltest du, armes Herz,
allein vergessen sein? Solltest du allein keinen Anteil an dem Glück des
Frühlings haben? O glaube nur, auch du, Herz, wirst deinen Früh-
ling haben.
III. Aufbau des Gedichts. Das Gedicht hat zwei Strophen aus je
sechs jambischen Versen. Die ersten vier Verszeilen handeln von dem
Erwachen und der Herrlichkeit des Frühlings, die beiden letzten von dem
Bangen und der Qual des Herzens, ein ergreifender Gegensatz, diese Herr-
lichkeit um uns und diese Qual in uns! Aber der Dichter versöhnt ihn
in schönster Weise. In Str. 1 knüpft er an die Schilderung von dem
Erwachen des Frühlings die Ermu nterung an das Herz, nicht
bange zu sein. In Str. 2 knüpft er an die Schilderung der ent-
falteten Frühlings Herrlichkeit die Aufforderung an das
Heine: Frühlingsbotschaft.
399
Herz, seine Qual zu vergessen. Aus dem Kehrreim, der zuletzt die Spitze
des Gedichts ist: Nun muß sich alles, alles wenden! spricht die feste,
frohe Zuversicht, der Frühlingsglaube, daß der Erdenfrühliug
auch einen Herzeusfrühling bringen wird.
IV. Vergleichung mit Heinrich Heines
B. Frühlingsbotschaft.
Heinrich Heine, Neue Gedichte. Hamburg 1859. S. 10.
1. Leise zieht durch mein Gemiit 2. Kling hinaus bis an das Haus,
liebliches Geläute. wo die Blumen sprießen!
Klinge, kleines Frühlingslied, Wenn du eine Rose schaust,
kling hinaus ins Weite! sag, ich lass' sie grüßen!
1. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte sind Frühlingslieder von sel-
tener Innigkeit und unübertrefflichem Wohllaute. Beide enthalten nur
zwei Strophen, beginnen mit dem leisen Erwachen und Wirken des Früh-
lings, schildern seine Frühlingspracht und zeigen feine unwiderstehliche
Macht auf das menschliche Herz.
2. Verschiedenheiten. A singt von dem Frühlings glauben,
der im Herzen lebet, B enthält eine Frühlingsbotschaft, die im Liede
ausklingt. A schildert das geheime Weben und Wirken der Frühlings-
lüfte in der Natur, B die Wirkung des Frühlings im Gemüte, wo er
sich wie fernes Glockengeläute ankündigt. A redet von Duft und Klang
draußen, der tröstlich ins Herz dringt, B von der Frühlingsfreude
innen, die als Lied nach außen in die weite Welt strebt. A spricht
dem Herzen Trost zu, B trägt dem Liede eine Botschaft an andere auf.
A schildert die Blütenpracht an a/len Orten im allgemeinen, B macht
Veilchen und Rose an einem bestimmten Hause, die Bilder der stillen
Bescheidenheit und der strahlenden Schönheit, zu Vertretern des Blüten-
heeres. A tröstet und ermutigt das bange Herz, B grüßt die Genossen
seines Glückes im fernen, lieben Hanse.
V. Verwandte Frühlingslieder von L. Uhland:
1. Frühlingsahnung.
O sanfter, süßer Hauch,
schon weckest du wieder
2. Lob des
Saatengrüu, Veilchenduft,
Lerchenwirbel, Amselschlag,
Sonnenregen, linde Luft!
3. Frühlingsfeier.
Süßer, goldner Frühlingstag!
Inniges Entzücken!
Wenn mir je ein Lied gelang,
sollt' es heut nicht glücken?
Doch warum in dieser Zeit
an die Arbeit treten?
Frühling ist ein hohes Fest:
laßt mich ruhn und beten!
mir Frühlingslieder.
Bald blühen die Veilchen auch.
Frühlings.
Wenn ich solche Worte singe,
braucht es dann noch großer Dinge,
dich zu preisen, Frühlingstag?
4. Frühlingsruhe.
O legt mich nicht ins dunkle Grab,
nicht unter die grüne Erde hinab!
Soll ich begraben sein,
lieg' ich ins tiefe Grab hinein.
In Gras und Blumen lieg' ich gern,
wenn eine Flöte tönt von fern,
und wenn hoch oben hin
die hellen Frühlingswolken ziehn.
400
III. Lyrische Gedichte.
5. Frühlingstrost.
Was zagst du, Herz, in solchen Tagen,
wo selbst die Dornen Rosen tragen?
6. Er ift's.
Bon Eduard Mörike.
Frühling läßt sein blaues Band Veilchen träumen schon,
wieder flattern durch die Lüfte; wollen balde kommen,
süße, wohlbekannte Düfte Horch von fern ein leiser Harfenton!
streifen ahnungsvoll das Land. Frühling, ja du bist's!
Dich hab' ich vernommen!
(Was ist das flatternde blaue Band des Frühlings? Welche Düfte
streifen ahnungsvoll das Land? Worin besteht das Träumen der Veil-
chen? Welch ferner, leiser Harfenton verkündet die Nähe des Frühlings?)
VI. Aufgaben. 1. Was haben alle diese Frühlingslieder Gemein-
sames? — 2. Welchen besonderen Gedanken hat jedes? 3. Warum
sind die Überschriften bedeutsam? ?.
130. A. Das Frühlingsmahl.
28. Müller. Gedichte. Leipzig 1868. I. S. 87.
1. Wer hat die weißen Tücher
gebreitet über das Land?
Die weißen, duftenden Tücher
mit ihrem grünen Rand?
2. Und hat darüber gezogen
das hohe blaue Zelt?
Darunter den bunten Teppich
gelagert über das Feld?
3. Er selbst ist es gewesen,
der gute, reiche Wirt
des Himmels und der Erden,
der nimmer ärmer wird.
4. Er hat gedeckt die Tische
in seinem weiten Saal
und ruft, was lebet und webet,
zum großen Frühlingsmahl.
5. Wie strömt's aus allen Blüten
herab von Strauch und Baum!
Und jede Blüt' ein Becher-
voll süßer Düfte Schaum.
6. Hört ihr des Wirtes Stimme?
„Heran, was kriecht und fliegt,
was geht und steht auf Erden,
was unter den Wogen sich wiegt!
7. Und du, mein Himmelspilger,
hier trinke trunken dich
und sinke selig nieder
aufs Knie und denk an mich!"
ZI. Blütenluft.
G. Ch. Dieffenbach, Kinderleben. 2. Ausl. Mainz. S. 87.
1. Wer har doch alle Bäume nur
geschmückt so schön und reich
und bunte Sträuße hingesteckt
auf jeden Ast und Zweig?
2. Wer hat uns freundlich doch geschickt
all diese Blütenpracht?
Das hat der liebe Gott getan
in einer Maiennacht!
3. Da schickt er seiner Engel Schar
herab zu dieser Welt,
die fliegen durch den dürren Wald,
durch Gärten und durchs Feld;
4. und hauchen nur die Knospen an
so heimlich und so leis, —
da springen alle Blüten auf,
da grünet jedes Reis.
5. Und kommt am frühen Morgen
dann
der erste Sonnenstrahl,
so stehn in lichter Blütenpracht
die Bäume allzumal.
I. Vorbereitung und Vermittlung. Was sind in A die weißen, duf-
tenden Tücher mit grünem Rande? Was ist das blaue Zelt? Was ist
Müller: Frühlingseinzug.
401
der bunte Teppich? Warum ist Gott der Herr ein reicher Wirt? Warum
wird er nicht ärmer? Welches ist sein weiter Saal? Welches sind die
Tische? Womit sind diese gedeckt? Worin besteht das Frühlingsmahl?
Wer sind die Gäste? (Str. 4 und 6.) Wer ist der Himmelspilger? Warurn
so genannt? Was sind in B die bunten Sträuße? Was -ist in den Engeln
Personifiziert? (Die warmen Mailüfte.)
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts.
A. Str. 1—2. Wer hat die Blütenpracht geschaffen? Str. 3. Gott,
der reiche Wirt, ist es gewesen. Str. 4—6. Wie Gott noch weiter sich
als Wirt erweist, und wer die Gäste sind. Str. 7. Was Gott von dem
vornehmsten Gaste, dem Menschen, verlangt.
B. Str* 1—2, Vers 2. Der 1. Abschnitt enthält ebenfalls die Frage:
Wer hat die Blütenpracht geschaffen? Auch der 2. Abschnitt Str. 2,
Vers 3 und 4 enthält dieselbe Antwort, daß es Gott getan hat. Der 3.
Abschnitt (Str. 3 und 4) gibt an, durch wen es Gott getan hat. Der 4.
Abschnitt (Str. 5) erzählt, daß die Blütenpracht wirklich in einer
Nacht entstanden ist.
2. Nutzanwendung für Herz u n d Geist. Beide Gedichte geben
dem Gedanken Ausdruck: Gott, der Herr, schmückt die Natur
zur Freude der lebendigen Geschöpfe und besonders des
Menschen. — A fordert uns noch besonders auf, nach dem Genusse
Gott anbetend zu danken.
3. Poetische und sprachliche Darstellung. A ist reich an
schönen Bildern und Ausdrücken (vergl. die Frage in Str. 1); fast alle
Hauptwörter sind mit wohlklingenden Attributen geschmückt (w e i ß e, duf-
te n d e Tücher, grüner Rand, das hohe, blaue Zelt, der bunte Tep-
pich, der gute, reiche Wirt, der weite Saal, das große Frühlings-
mahl, süßer Düfte Schaum, des Wirtes Stimme usw.). B ist sprach-
lich einfacher, ohne Vergleichungen und schmückende Beiwörter. Hinsicht-
lich des Versmaßes haben beide Gedichte manch Gleichartiges. Das Vers-
maß ist in A jambisch-anapästisch, in B rein jambisch, B wechselt mit vier-
und dreifüßigen Versen, während A durchgängig dreifüßige Verse hat. In
A ist der Versschluß wechselnd klingend und stumpf, in B nur stumpf.
In beiden Gedichten reimen sich nur die 2. und 4. Zeile.
III. Verwertung. Rede- und Stilübungen, a) Löse die tut
Müllerschen Gedichte gebrauchten Vergleiche und Bilder auf (z. B. Die
weißen über das Land gebreiteten Tücher sind die vielen Blüten, welche
die Bäume usw. schmücken. Das hohe, blatte Zelt ist der klare Himmel,
welcher usw.)! b) Wie ist Gott, der Herr, ein guter, reicher Wirt?
W. D.
151, A. Frühlingseinzug.
Will,klm Müller. Vermischte Schriften. Leipzig 1830. I, S. 229.
1. Die Fenster auf! Die Herzen ans! er toindet bang sich in der Brust»)
Geschwinde, geschwinde! und kramt zusammen seinen Wust4);
Der alte WinterZ will heraus, geschwinde, geschwinde!»)
er trippelt2) ängstlich durch das Haus;
AdL. II. 8. Aufl. 26
402
III. Lyrische Gedichte.
2. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Er spürt den Frühling vor dem
Tor,
der will ihn zupfen bei dem Ohr,
ihn zausen an dem weißen Bart
nach solcher wilden Buben 2irt6);
geschwinde, geschwinde!
3. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Der Frühling pocht und klopft ja
schon.
Horcht, horcht! es ist sein lieber
Ton;
er pocht und klopfet, was er kann,
mit kleinen Blütenknospen an7);
geschwinde, geschwinde!
4. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Und wenn ihr noch nicht öffnen
wollt,
er hat viel Dienerschaft im Sold 8),
die ruft er sich zur Hilfe her
lind pocht und klopfet immer mehr;
geschwinde, geschwinde!
5. Die Fenster auf! Die Herzell auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Junker Morgen-
wind d),
ein pausebackig, rotes Kind,
und bläst, daß alles klingt und klirrt,
bis seinem Herrn geöffnet wird;
geschwinde, geschwinde!
6. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Ritter Sonnen-
schein 10),
der bricht mit goldnen Lanzen ein!
Der sanfte Schmeichler Blüten-
hauch n)
schleicht durch die engsten Ritzen auch;
geschtvinde, geschwinde!
7. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Zum Angriff schlägt die Nachti-
gall^),
und horch und horch, ein Wider-
hall^),
ein Widerhall aus meiner Brust!
Herein, herein, du Frühlingslust;
geschwinde, geschwinde!
I. Einführung. Der Dichter Wilh. Müller ist durch die Vorboten
des nahenden Frühlings froh bewegt und fordert uns alle aus, in seinen
Jubelton mit einzustimmen. Er stellt den Winter dar als einen Greis
in einem großen Hause mit Fenstern, Türen und Toren. Das Haus
ist unsre Heimat, find unsre Wintermonate; denn der Winter zieht, luic
die übrigen Jahreszeiten, rings um den Erdball herum. Stellen lvir
uns darum im Geiste vor das große Eishaus des Winters und hören
die Mahnung des vom Frühlinge begeisterten Dichters mit an! Sieben-
mal ruft er uns zu: „Die Fenster auf! die Herzen aus!" Hört seinen
Ruf! (Vortrag.)
II. Erläuterungen. 1. Alt wird der Winter genannt, weil er so
lange gewährt hat und nun von uns scheiden will. 2. Er trippelt,
d. i. er bewegt sich mit kleinen, unruhigen Schritten ängstlich durch das
Haus, hier auf unsrer heimatlichen Erde. 3. Er windet sich bang,
er ächzt, er stöhnt, er klagt; denn er fühlt an den Vorboten des Lenzes,
daß sein Ende nahe ist. 4. Er kramt, er packt zusammen seinen Wust
— seine traurigen Überreste: unreinen, schmutzigen Schnee, graues, mür-
bes Eis usw. 5. Und da wir seiner längst überdrüssig sind, rufen wir ihm
zu: „Geschwinde, geschwinde!" 6. Der Winter ist ein lebensmüder Greis,
der Frühling ein wilder Bube = eilt ausgelassener Junge. Beide
kämpfen um die Herrschaft. Der Winter spürt den Frühling vor dem
Tor ^ in großer Nähe. Er spürt ihn an seiner dahinschwindenden
Macht und an der zunehmenden Kraft des Frühlings, an dessen Vor-
boten, dem Frühlingswehen und Frühlingsbrausen. Darum ist's ihm
Müller: Frühlingseinzug.
403
sterbensweh zumute. Der kecke Bursche, der Frühling, möchte ihn gern
bei den Ohren fassen und an seinem weißen Barte zausen; aber noch ist
er in seinem Hanse drin. 7. Drum klopft und pocht er nun an seine Tür
mit Tönen, Rufen, Läuten, Rauschen und Pochen. Der Tauwind. pocht
an Fenster und Tür; der Specht klopft an den hohlen Baum, um sein
Nest zu bauen; die Störche klappern, die Bienen summen, die Schnee-
glöckchen läuten, die Bäume und Sträucher schlagen aus, die Blüten-
knospen öffnen sich. Das ist alles sein lieber Ton, mit welchem der
Finger des Frühlings ans Tor des Winters klopft. 8. Offnen sich darauf
die kalten Herzen nicht, dann ruft er seine Diener zur Hilfe und er-
zwingt durch sie den Einlaß. Wer sind sie? 9. Der Junker = junge
Herr Morgenwind mit roten Pausbacken, die er auch gesunden Kin-
dern anbläst. Er bläst, daß alles klingt und klirrt, d. h. daß es nun end-
lich Frühling wird. 10. Der zweite Diener ist der Ritter Sonnen-
schein mit seinen goldenen Lanzen = mit seinen immer wärmer
und heißer werdenden Strahlen, vor denen auch die letzten Reste von Eis
und Schnee nicht mehr bestehen können. 11. Zu dem Sonnenschein gesellt
sich der sanfte Schmeichler Blüten hauch, der mit Milde und
Lächeln sich auch durch die kleinsten Ritzen in die kältesten Herzen ein-
drängt. 12. Endlich erscheint zur Erstürmung des noch immer bangen
und verschlossenen Menschenherzens die Besiegerin des Winters, die Nach-
tigall. Sie schlägt (Wortspiel) zum letzten Angriff, und ihr erstes
Lied ist das Sieges- und Triumphlied des Frühlings. Nun hat er die
Herrschaft angetreten. 13. Ihr Lied weckt auch in den letzten Menschen-
herzen, die noch immer nicht in Frühlingshoffnung schwelgten, einen
Widerhall, der sich vermischt mit dem Widerhall in des Dichters Brust,
und mit ihm vereint rufen mir nun alle: „Hereins herein, du Früh-
lingslust !"
III. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts, a) Der lange
Winter fühlt das Ende seiner Herrschaft und will fort. b) Er spürt,
daß er im Kampfe mit dem Lenze unterliegen muß. o) Der Frühling
begehrt Einlaß. 6) Er klopft auch an die Herzen der Menschen an, und
seine Diener: warme Winde, Sonnenstrahlen, Blütenhauch und Nachtigall
erkämpfen ihm sicher Einlaß, e) Einzug des Frühlings in die Menschen-
herzen.
2. Schönheiten des Gedichtes. a) Der volkstümliche
Ton:. Der Winter trippelt ängstlich; er windet sich wie einer, der Schmer-
zen hat; er kramt zusammen seinen Wust; er wird gezupft und gezaust
an Ohr und Bart; er klopft und pocht an, was er nur kann, statt:
mit aller Kraft und Macht, b) D er ei g ent ü m lich e Keh r r ei m, dessen
letzte Hälfte wie ein Echo erscheint, c) Der gesunde Humor, der
durch das ganze Lied hindurch klingt: Fenster auf und Herzen auf, als
ob ein Herz wie ein Fenster geöffnet werden könnte; das Zupfen und
Rupfen an Ohr und Bart; das Anpochen mit dem Finger an der Tür;
die Nachtigall schlägt zum Angriff gleich einem Trommler, ä) Die Asso-
nanz: er klopft und pocht mit Knospen an. Das ist sein lieber Ton.
26 *
404
III. Lyrische Gedichte.
Vergleiche: B. Der Winter auf dem Schub.
Julius Sturm. Das Buch für meine Kinder. Leipzig 1877. S. 41.
1. Dem Winter wird beklommen,
sein Stündlein ist gekommen;
er ward als Schelm 0 erfunden
und schämt sich vor dem Schub2),
Schub — Schub!
2. Nun jubeln laut die Kinder,
die Vöglein auch nicht minder.
O fröhlichste der Kunden2),
dem Winter droht der Schub,
Schub — Schub!
3. Sein Pelzrock ist zerschlissen4),
die Filzschuh sind zerrissen.2)
So schickt ihn fest gebunden6;
der Frühling auf den Schub, -
Schub — Schub!
4. Er ruft: „Ihr lauen Winde,
auf! bringet mir geschwinde
den alten Vagabunden7),
den Winter auf den Schub, —
Schub — Schub!
I. Erläuterung. 1. Schelm = hier so viel als armer Schlucker, arm-
seliger Tropf. 2. Schub, abgeleitet von schieben, schob usw. = gezwungener
Abschied. 3. Kunden = die fröhlichste Nachricht- 4. Seine Eisflächen sind
zertaut. 5. Seine Schneemassen liegen nur noch in Gräben und Halden.
6. Gebunden mit den Banden der Wärme, denen der Winter sich fügen
muß. 7. Vagabunden — Herumtreiber, Landstreicher, weil er alljähr-
lich die Reise um die ganze Erde macht.
II. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte handeln vom scheidenden Winter
und nahenden Frühling, sind in einem volkstümlichen, heitern und humo-
ristischen Tone abgefaßt und enden mit einem Refrain. Der Winter wird
Schelm und Vagabund genannt und auf den Schub gebracht. Sein Pelz-
rock ist zerschlissen; seine Filzschuhe sind zerrissen. Der alte Winter will
hinaus; sein Stündlein ist gekommen. Er trippelt ängstlich umher und
windet sich bang in der Brust. Ihm ist beklommen, so angst und bange;
er kramt zusammen seinen Wust, den schmutzigen Rest von Schnee und
Eis in Winkeln, Löchern, Gräben und Halden. In A wird Gehen und
Kommen von Winter und Frühling als harter, ritterlicher Kampf, in B
als polizeiliches Aufdenschubbringen dargestellt. A schildert mehr die Ar
beit von des Frühlings Dienerschaft: Klopfer Blütenknospen,
Junker Morgenwind, Ritter Sonnenschein, Schmeichler Blütenhauch, Sän-
gerin Nachtigall, B den Winter als verlumpten Vagabunden auf dem
Schub, ein Spott der Kinder. R. D.
152. Drei Frühlingslieder.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Solange der Himmel die Erde
mit neuen Lenzen schmückt; solange die kahle und starre Wintererde, wenn
ihre Zeit kommt, immer wieder erwacht und sich Blumen ins Haar flicht;
solange das Sehnen und Hoffen des Winters die schönste Erfüllung im
Frühling findet: so lange werden sich die Menschen dieser schönen Erde
freuen; so lange werden die Dichter von Lenz und Liebe, von seliger,,
goldner Zeit singen; so lange wird die Seele an einen ewigen Lenz im
Lichte des Himmels glauben. Von der Schönheit und treibenden Kraft
des Frühlings handeln die folgenden drei Lieder:
Drei Frühlingslieder.
405
A. Frühzeitiger Frühling?)
Johann Wolfgang t>. Goethe, Werke. Stuttgart 1874. I, S. 45. (Gekürzt.)
Tage der Wonne,
kommt ihr so bald'?)
Schenkt mir die Sonne
Hügel und Wald?')
Reichlicher fließen
Bächlein zumal?)
Sind es die Wiesen,
ist es das Tal?°)
Bläuliche Frischei
Himmel und Höh'!°)
Goldene Fische
wimmeln im See?)
Buntes Gefieder
rauschet im Hain;
himmlische Lieder
schallen darein?)
Unter des Grünen
blühender Kraft
naschen die Bienen
summend am Saft?)
Leise Bewegung
bebt in der Lust,
reizende Regung,
schläfernder Duft?°)
B. Frühlingslied.
3ultn3 Sturm. (Zuerst in: Deutsche Jugend. Herausgegeben von Lohmeher. XI. Band
Leipzig 1874. S. 58.)
1. Goldner Frühlingssonnenschein
weckt die Lust der Lieder,
und es klingt durch Feld und Hain
fröhlich auf und nieder.
2. Jubelnd tönt der Vöglein Lied,
Bienen summen leise,
lustig pfeift der Wind durchs Ried")
seine frische Weise.
3. Selbst das kleinste Sängerlein,
dort das winz'ge Mücklein,
tanzend summt's im Sonnenschein
sich ein lustig Stücklein.
4. Doch kein Lied hat glr'ickbewußt >?)
sich so hoch geschwungen
als ein Lied ans Menschenbrust,
Gott zu Lob gesungen.
Joseph Viktor von Scheffel.
1. Berggipfel erglühen,
Waldwipfel erblühen,
vom Lenzhauch beschwellt! *3)
Zugvogel mit Singen
erhebt seine Schwingen:
Ich fahr' in die Welt!
2. Mir ist zum Geleite
in lichtgoldnem Kleide
Frau Sonne bestellt;
Stuttgart 1875. S. 115.
sie wirft meinen Schatten
auf blumige Matten:
Ich fahr' in die Welt!")
3. Mein Hutschmuck die Rose,
mein Lager im Moose,
der Himmel mein Zelt.")
Mag lauern und trauern,
wer ivill, hinter Mauern:II. * * * * 16)
Ich fahr' in die Welt!
C. Ausfahrt
Gaudeamus.
II. Vermittlung des Verständnisses. 1. Er war nicht erwartet. Daher
die verwunderten Fragen und die Ausrufe des Entzückens. 2. Noch vor
kurzer Zeit steckten wir tief im Winter, und nun sind die wonnigen Tage
des Frühlings schon da. 3. Die Sonne ist die Spenderin, die uns Hügel
und Wald gleichsam neu schenkt, indem sie von den Hügeln den Schnee
und von den Bäumen die Eiskruste schmilzt, die Hügel mit grünen Rasen-
teppichen und die Wälder mit Laubschmuck bekleidet. 4. Die Bäche sind
reichlich mit Wasser genährt, weil die Quellen lebhaft und stark zutage
springen; murmelnd fließen sie rasch dahin. 5. Sind das dieselben
Wiesen, die vor wenigen Tagen noch unter der Schneedecke lagen? Ist
dies dasselbe Tal, in dem sich vor kurzem noch keine Spur des Lebens
regte? 6. Das frische Grün der Wälder auf den Höhen und die
klareBläuedesHimmels fließen ineinander zu „bläulicher Frische".
7. Die Fische beleben in großer Zahl den See, schnellen lustig in die Höhe
und glänzen dabei goldig im Sonnenlichte. 8. In den Hain (Wald) sind
406
III. Lyrische Gedichte.
die bullt befiederten Säilger aus dem Süden heimgekehrt, rauschen in
freudigem Fluge durch den Wald und lassen ihre herrlichen Lieder in
das Rauschen des Laubes und ihres Gefieders erklingen. 9. Die Kraft
des Grünen, der Lebens- und Entwickelungsdrang der Gelvächse, zeigt
sich am schönsten in den Blüten (sie sind des Grünen blühende Kraft);
aus ihnen naschen die Bienen summend den Honigsaft. 10. In leisen
Wellen wogt und schwingt die bläuliche, durchsonnte Luft und trägt iins
den Blütendnft zu. Sie reizt mild und angenehm alle Sinne und erfüllt
llns mit süßem Behagen. — Die weggelassenen Strophen lauten:
Mächtiger rühret Aber zum Busen Saget, seit gestern
bald sich ein Hauch, kehrt er zurück. wie mir geschah?
doch er verlieret Helset, ihr Musen, Liebliche Schwestern,
gleich sich im Strauch. tragen das Glück! Liebchen ist da!
II. Ried ist ein mit Schilfrohr bewachsenes Gelände. 12. Vögel,
Bienen, Wind und Mücken singen, indem sie einem dunklen Glücksdrange
folgen. Nur des Menschen Lied ist glückbewußt, d. h. er hat ein klares
Bewußtsein von seinem Glück, fühlt und erkennt es, weiß seine Quelle,
kennt seinen Urheber und schwingt sich mit seinein Dänke und seinen Ge-
danken hinauf zu ihm. 13. Die milde Lenzluft schwellt die Knospen, daß
sie aufbrechen, Blätter und Blüten entfalten. 14. Die Sonne im goldnen
Strahlenkleide, der Wanderer im schlichten Reisekleide, die Matten im
blumengestickten Brautkleide, der Schatten des Wanderers darüber hin-
gleitend: welch schönes Reisegeleit! 45. Wie Jakob ans dem Felde ruhte,
einen Stein als Kopfkissen und den Himmel als Decke. 16. Er flieht aus
„der Straßen quetschender Enge", ans dein „Qualm der Städte", wo
die Selbstsucht auf Gewinn und die Feindschaft auf anderer Schaden
lauert, und wo die Freiheit und der frische Lebensdrang in allerlei Fes-
seln trauert.
III. Vergleichung. 1. Ähnlichkeiten. Alle drei sind Frühlings-
lieder, welche die Schönheit des Frühlings und seine unwiderstehliche Macht
über die Menschenherzen preisen. Alle drei singen und sagen von dem
goldenen Sonnenschein, von dem blauen Himmelszelt, von der milden
Frühlingsluft, von der Schönheit der Wälder (Haine), von den grünen
und blumigen Wiesen (Matten), von dem Gesänge und dem fröhlichen
Fluge der Vögel und von dem Glück der Menschen.
2. Verschiedenheiten. A führt uns in den Anfang (Tage der
Wonne, kommt ihr so bald?), 8 in die Mitte, und C an das Ende
des Frühlings (die Rosen blühen). — In A ist der Sänger entzückt über
die unerwartet frühzeitige Ankunft des Lenzes, in 8 über das laute und
vielstimmige Frühlingskonzert, in C über die allgemeine Bewegung in
der Natur, die zum Wandern reizt. — In A berauscht die Frühlingswonue
und schläfert zu behaglichem Träumen ein; in 8 regt sie an zu frischem
Sang und Klang; in 0 treibt sie hinaus zu froher Fahrt ins Weite. —
Eigentümlich sind in A: die rinnenden Bächlein, die wiinmelnden Fische
im See und die einschläfernden Düfte; in 6: der pfeifende Wind im
Ried, die winzige Mücke als kleinste Sängerin, das himmelan dringende,
Müller: Morgenlied im Frühling.
407
glückbewußte Lied aus Menschenbrust; in 0: das Glühen der Berggipfel,
das Blühen der Baumwipfel, Sonne und Schatten als Reisebegleiter, eine
Rose als Schmuck am Hute, das Moos im Walde als Lagerstätte, der
Himmel als Zelt, die Städte als Orte des Lauerns und Trauerns.
?.
133». Morgenlied im Frühling.
Wilhelm Müller, Vermischte Schriften. Leipzig 1837.
1. „Wer schlägt so rasch an die Fenster
mir
mit schwanken, grünen Zweigen?"
Der junge Morgenwind ist hier
und will sich lustig zeigen.
2. „Heraus, heraus, du Menschen-
sohn!"
so ruft der kecke Geselle;
„es schwärmt von Frühlingslvon-
nen schon
vor deiner Kammerschwelle.
3. Hörst du die Käfer summen nicht?
Hörst du das Glas nicht klirren,
wenn sie, betäubt von Duft und Licht,
hart an die Scheiben schwirren?
4. Die Sonnenstrahlen stehlen sich
behende durch Blätter und Ranken
und necken aus deinem Lager dich
mit blendendem Schweben und
Schwanken.
5. Die Nachtigall ist heiser fast,
so. lang hat sie gesungen,
und weil du sie gehört nicht hast,
ist sie vom Baum gesprungen.
6. Da schlug ich mit dem leeren Zweig
an deine Fensterscheiben;
heraus, heraus in des Frühlings
Reich!
Es wird nicht lange mehr bleiben!"
I. Vorbereitung. Der Dichter Wilhelm Müller mahnt uns in
eineni kurzen, lieblichen Gedichte, di^ Schönheiten des Frühlings zu ge-
nießen. Die Aufforderung legt er dem Morgenwinde in den Mund; ihn
denkt er sich als Person, als jungen, lustigen Gesellen (Personifikation).
In einem Zwiegespräch wendet sich der Morgenwind mit seiner Mahnung
an einen Langschläfer. (Vorlesen des Gedichts.)
II. Erläuterungen. Str. 1: Wer redet hier? Was ist schwank? (Was
man leicht schwingen kann, also biegsam.) Wie zeigt der Morgen-
wind sich lustig? — Str. 2: Weshalb nennt er den Menschen „Menschen-
sohn"? (Im Gegensatz zu sich, dem Sohn des Elements.) — Str. 3: Wes-
halb schwirren die Käfer gegen das Glas der Fensterscheiben? — Str. 4:
Inwiefern stehlen die Sonnenstrahlen sich? (Wie Diebe schlüpfen sie ge-
wandt und leise durch jede Lücke.) Was bedeutet behende? (Bei der Hand,
d. h. passend, geschickt, schnell.) Welche Ranken sind gemeint? Wie ent-
steht das Schweben und Schwanken? Wie blendet es? — Str. 5: Scherz-
haft heißt es, daß die Nachtigall wie ein Mensch sich fast heiser ge-
sungen hat. — Str. 6: Weshalb heißt der Zweig leer? Was für ein
Baum ist also gemeint? Welche Frühlingswonnen nennt der Dichter?
(Sonnenschein, Windesrauschen, Blumenduft, Käferschwirren, Vogelfang.)
Welchen Zweck hat das Schwirren der Käfer, das Spiel der Sonnen-
strahlen, der Gesang der Nachtigall, das Anpochen des Windes? (Es
sind ebensoviel Lockungen und Mahnungen an den Schläfer, die Frühlings-
wonnen zu genießen.) Wird er der Mahnung folgen? (Die Antwort
des Menschensohnes fehlt; wer möchte aber so viel Freuden widerstehn!)
Wo liegt das Reich des Frühlings?, Wer sind seine Bewohner?
408
III. Lyrische Gedichte.
III. Vertiefung. 1. Gliederung. 3) Ärgerlich-neugierige Frage
des Menschen nach dem Störer seines Schlafes Str. 1, Z. 1 u. 2;
b) Antwort des Morgenwindes: die Weckversuche und die Mah-
nung, die Frühlingswonnen zu genießen.
2. Grundgedanke: Str. 6. „Heraus, heraus in des Frühlings
Reich! Es wird nicht lange mehr bleiben!"
3. Schauplatz: Haus mit Garten; Schlafzimmer nach dem Garten
hinaus. Vor dem Zimmer ein Obstbaum; am Haus emporkletternd und
zum Teil auch über die Fensterscheiben langend Weinranken. Im Garten
Blumenbeete, von Käfern umschwirrt, Bäume und dichtes Gebüsch, in dem
eine Nachtigall nistet. Am blauen Himmel die leuchtende Sonne, der
Morgenwind in den Blättern und Zweigen spielend.
4. Schönheiten: Das frische Tempo des Liedes (abwechselnd vier
und drei Hebungen, jene mit stumpfem, diese mit klingendem Versansgange)
paßt zu dem Inhalte. Um das neckische Spiel der Sonnenstrahlen zu
malen, sind die Senkungen gehäuft.
IV. Verwertung. Stilübungen: Schildere den Schauplatz nach
III, 3! Das Reich des Frühlings. Vergleiche unser Gedicht mit „Ver-
suchung" von R. Rein ick (Bd. I Nr. 87)! vr. ?. Polack.
153 b. Ein kleines Nest.
Julius Lohmeher.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der Dichter geht durch
seinen Garten. Es singt und klingt in den Bäumen und Büschen. In
der Astgabel eines Pflaumenbaumes entdeckt er, kaum sichtbar, ein Finken-
nest. Es ist kunstvoll aus Hälmchen geflochten, außen mit Borkenstückchen
bedeckt und innen weich mit Wollflöckchen, Hanffäden und Moos aus-
gefüttert. Vier junge Vöglein liegen drin, sperren die hungrigen Schnäbel
auf und piepen nach Futter. Unermüdlich tragen ihnen die Bogeleltern
allerlei Insekten zu und stillen so den Hunger ihrer Kinder. Sind sie
satt, deckt sie die Vogelmutter warm und weich mit ihren Flügeln zu.
Gerührt schaut der Dichter nach dem schlichten, kleinen Neste, das eine
Welt voll Glück einer Vogelfamilie einschließt. Was der Dichter gesehen
und empfunden, das hat er einfach und innig in einem kleinen Gedichte
ausgesprochen. Hört es!
Ein kleines Nest! O sagt mir an,
was uns so herzig rührt daran!
Ein Kranz von Halmen ist's doch bloß,
drei weiche Flöcklein, Hanf und Moos,
ein Ährenhalm, ein Borkenstück
und — eine ganze Welt voll Glück!
II. Für Herz und Leben. Wunderbar, 0 Gott, sind deine Werke,
die großen und die kleinen. — Liebe und Leben sind der Atem der Schöp-
fung. — Wie rührend ist diese Glückswelt im kleinen! — Rühre nicht daran!
— Störe dies Glück nicht! — Hege und pflege die Vöglein, ihr Heim
und ihr Glück!
Reinick: Frühlingsglock'en. 409
III. Berg leicht „Ein kleines Lied" von M. von E b n c r -E s ch c n -
kstsfy- Ein kleines Lied! Wie geht's nur an,
daß man so lieb es haben kann!
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele!
(Dort ein kleines Nest als Glückswelt einer Vogelfamilie, wie cs
gebaut ist, und was uns daran rührt. H.ier ein kleines Lied als Aus-
druck der ganzen Seele, was darin liegt, und was uns rührt.) ?.
134. Frühlingsglocken.
Robert Reinick, Lieder. Berlin 1863. S. 52.
I. Vorbereitung und dann Vorlesen. Der Frühling ist keine Person,
sondern nur eine Zeit, nämlich die Zeit vom 21. März bis zum 21. Juni,
er wird aber oft von den Dichtern als Person gedacht und behandelt, so
auch in dem Gedicht „F r ü h l i n g s g l o ck e n". Mit den Frühlingsglocken
sind Blumen gemeint, die Glockenform haben. Zuerst läutet das Schnee-
glöckchen und verkündigt, daß der Frühling wie ein kleines Kind ge-
boren ist, noch im weißen Schneebettchen liegt, aber schon zu spielen an-
fängt. Die Vögel sollen aus dem warmen Süden wiederkommen und
Wiegenlieder fingen, die Quellen aber im Tale hervorspringen und mit
dem Kinde plaudern und lachen. Aber Vögel und Quellen zaudern lzögern)
und wagen sich nicht recht heraus, denn es ist noch kalt. — Dann läuten die
Maiglöckchen und verkündigen, daß der Frühling ein großer, schöner
Jüngling geworden ist unb als Bräutigam mit der Erde im grünen Kleide
uub Blumenkränze Hochzeit macht. Nelken und Tulpen schwenken die
bunten Hochzeitsfahnen; Rosen und Lilien sind als Brautjungfern ge-
schmückt; die Schmetterlinge tanzen den Hochzeitsreigen, und die Vögel
machen Musik. — Zuletzt läuten die blauen Glockenblumen zum Ab-
schiede des Frühlings. Dem lieben Gaste werden die letzten Ehren er-
wiesen. Die Glüh- oder Johanniswürmchen (Leuchtkäfer) begleiten ihn
in die Nacht wie mit blauen Fackeln; der Wald, die Quellen und die
Nachtigallen beklagen sein Scheiden.
1. Schneeglöckchen tut läuten
kling-ling-ling!
Was hat das zu bedeuten?
Ei, gar ein lustig Ding!
Der Frühling heut geboren ward,
ein Kind der allerschönsten Art;
zwar liegt es noch im weißen Bett;
doch spielt es schon so wundernett.
Drum kommt, ihr Vögel aus dem Süd,
und bringet neue Lieder mit!
Ihr Quellen all,
erwacht im Tal!
Was soll das lange Zaudern?
Sollt mit dem Kinde plaudern!
2. Maiglöckchen tut läuten
bim-bam-bam!
Was hat das zu bedeuten? —
Frühling ist Bräutigam,
macht Hochzeit mit der Erde heut'
mit großer Pracht und Festlichkeit.
Wohlauf denn, Nelk' und Tulipan,
und schwenkt die bunte Hochzeitfahn'!
Du Ros' und Lilie, schmücket euch,
Brautjungfern sollt ihr werden gleich!
Ihr Schmetterling'
sollt bunt und flink
den Hochzeitsreigen führen,
die Vögel musizieren!
410
III. Lyrische Gedichte.
3. Blau-Glöckchen tut läuten es rauscht der Wald, es klagt der
bim-bim-bim! Quell,
Was hat das zu bedeuten? — dazwischen singt mit süßem Schall
Ach, das ist gar zu schlimm! aus jedem Busch die Nachtigall
Heut Nacht der Frühling scheiden muß, und wird ihr Lied
drum bringt man ihm den Abschieds- so bald nicht müd'.
grüß; Ist auch der Frühling schon ferne,
Glühwürmchen ziehn mit Lichtern hell, sie hatten ihn alle so gerne!
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es wird uns der Frühling
beim Anfange, in der Mitte und am Ende gezeigt. Am Anfange
findet sich noch hier und da Schnee. Einzelne Schneeglöckchen sprossen
hervor. Die Quellen fließen stärker, und viele Zugvögel kehren aus dem
Süden zurück. Im Mai glänzt die Erde in voller Frühlingspracht. Die
Maiblumen stehen zahlreich im Walde. Tulpen und Nelken leuchten farben-
prächtig auf den Gartenbeeten. Schmetterlinge gaukeln über den Blumen.
In den Büschen musizieren (singen) die Vögel. Im Juni macht der Früh-
ling dem Sommer Platz. Abends fliegen Glühwürmchen in der Luft.
Die laubreichen Wälder rauschen, und die Quellen fließen schwächer. Das
Lied der Nachtigall im Gebüsch verhallt mehr und mehr.
2. Gedankengang. Str. 1. Schneeglöckchen läutet bei der Geburt
dein Kinde in der Wiege, Str. 2 Maiglöckchen dem Jüngling bei der
Hochzeit, Str. 3 Blauglöckchen dem Wandersmann beim Abschiede des
Frühlings.
Grundgedanke: Auch der Frühling hat sein Festgeläut, seine Fest-
gäste und seine Festfeiern!
3. Schönheiten in der Form. Der Frühling wird als Kind,
als Bräutigam und als scheidender Gast gar lieblich personifiziert. Der
Glockenform gewisser Blumen wird eine schöne Bedeutung gegeben.
Fragen, Antworten, Aufforderungen, kurze und lange Verszeilen geben
dem Gedichte eine besondere Lebendigkeit. Der Glockenklang wird bares)
verschiedene Naturlaute nachgeahmt: kling-ling-ling (scharf und dünn),
ein lustig Ding; bim-bam-bam (voll und schön), ein Bräutigam; bim-
bim-bim (dünn und traurig), Scheiden schlimm!
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Die Natur ist ein Spiegel
des Menschenlebens. In ihr finden wir unsere Freuden und Leiden wieder,
wenn wir Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben.
2. Verwandtes. Maiglöckchen läutet in dem Tal —. Maien-
lilie, kannst du sagen — (Bd. I Nr. 241 I). Der Mai ist gekommen
Zum Frühling sprach der liebe Gott —. Der Frühling ist ein Feld-
marschall — (Bd. I, Nr. 210). Handwerksleute — (Bd. I, Nr. 145).
„Ins grüne Feld" von Hoffmann von Fallersleben. Kinderlieber. 2. Aus-
lage. Berlin 1878. S. 32.
Ins grüne Feld.
1. Der Frühling hat sich eingestellt; wohlan, wer will ihn sehen?
Der muß mit mir ins freie Feld, ins grüne Feld nun gehen.
2. Er hielt im Walde sich versteckt, daß niemand ihn mehr sah;
ein Vöglein hat ihn aufgeweckt: jetzt ist er wieder da,
Hölty: Aufmunterung zur Freude.
411
3. Jetzt ist der Frühling wieder da; ihm folgt, wohin er zieht,
nur lauter Freude fern und nah und lauter Spiel und Lied.
4. Und allen hat er, groß und klein, was Schönes mitgebracht,
und sollt's auch nur ein Sträußchen sein; er hat an uns gedacht.
5. Drum frisch hinaus ins freie Feld, ins grüne Feld hinaus!
Der Frühling hat sich eingestellt, wer bliebe da zu Haus?
?.
ISS. A. Aufmunterung zur Freude.
Ludlv. Heinr. Christ. Hölth. Gedichte von K. Halm. Leipzig 1869. S. 203.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der liebenswürdige Dichter
Hölty siechte langsam einem frühen Tode entgegen. Er wußte, daß seine
kurze Pilgerfahrt auf Erden schon in beit Blütentagen der Ju-
gend enden und er bald an dem Scheidewege zwischen Erde und Him-
mel, Zeir. und Ewigkeit stehen würde. Aber der Blick auf den Tod ver-
bitterte ihm die Freude am Leben und an der schönen Natur nicht. Seine
Todesahnung klang zioar oft als ergreifende Wehmut, aber nie als schriller
Mißton in seine innigen und sinnigen Naturlieder. Er hatte sich gewöhnt,
den Tod nicht als Störer der Erdenfreude, sondern als Erlöser vom
Erdcnleide zu betrachten, ja als einen Freund, der ihn mit seinen Heim-
gegangenen Lieben wieder vereinigen und die irdischen Freuden in himm-
lische verklären würde. Und wollte sich manchmal bei Schwäche und Krank-
heit seine Stirn in düstere Falten des Unmuts legen, und fuhren
ärgerliche Grillen (wunderliche, mißmutige Gedanken und Einfälle) wie
die zirpenden und hüpfenden Feldinsekten durch seine Seele, so verjagte
er diese Störenfriede und Plagegeister durch den Blick auf die Schönheit
der Natur, diese unerschöpfliche Freudenquelle für jung und alt, für Ge-
sunde und Kranke, und ermunterte sich selbst durch heitere Lieder der
Freude. Höret eine solche Aufmunterung zur Freude!
II. Unmittelbare Darbietung. 1. Vorlesen, Nachlesen, Ein-
lesen des Gedichts.
1. Wer wollte sich mit Grillen plagen,
solang uns Lenz und Jugend
blühn?
Wer wollt' in diesen Blütentagen
die Stirn in düstre Falten ziehn?
2. Die Freude winkt auf allen Wegen,
die durch dies Pilgerleben gehn;
sie bringt uns selbst den Kranz ent-
gegen,
wenn wir am Scheidewege stehn.
3. Noch rinnt und rauscht die Wiesen-
qnelle,
noch ist die Laube kühl und grün;
noch scheint der liebe Mond so helle,
>vie er durch Adams Bäume schien.
4. Noch tönt der Busch voll Nachti-
gallen
dem Jüngling hohe Wonne zu;
noch strömt, wenn ihre Lieder
schallen,
selbst in zerriss'ne Seelen Ruh'.
5. O, wunderschön ist Gottes Erde
und wert, darauf vergnügt zu sein;
drum will ich, bis ich Asche werde,
mich dieser schönen Erde freun.
2. Erläutern ngsfragen. Warum sind die wunderlichen Ein-
fälle Grillen genannt? Wie blüht der Lenz nnd wie die Jugend?
(Allerlei Blüten und Lieder, allerlei Freuden und Hoffnungen.) Welches
sind die Blütentage eines Menschen? Warum zieht man die Stirn
412
III. Lyrische Gedichte.
in düstere Falten? Warum verstellte Kain seine Gebärden? Warum
ist das Leben eine Pilgerfahrt? Welches sind die Wege des Lebens?
(Die verschiedenen Weisen zu leben, zu arbeiten, sich zu freuen.) Wann
stehen wir am Scheidewege? (Wenn wir zweierlei wählen können und
uns für eins entscheiden müssen. Herkules am Scheidewege der Tugend
und des Lasters.) Warum bringt uns die Freude den Kranz und setzt
ihn uns auf das Haupt? (Damit wir ihr Fest mitfeiern.) Wie schildert
der Dichter die Schönheit des Frühlingsabends? (Die murmelnde Quelle
in der Wiese, die schattige Laube im Garten, der milde Mondschein im
Gezweig der Bäume.) Warum erinnert Hölty an Adams Bäume? (Vou
endloser Dauer und paradiesischer Schönheit ist die Natur.) Wodurch
wird die Freude an dieser Schönheit zur Wonne gesteigert? (Aus dem
Gebüsch tönt der Schlag der Nachtigallen.) Welche Macht üben diese
süßen Lieder selbst über zerrissene, d. h. kranke, von Unzufriedenheit
oder Gewissensbissen gepeinigte Seelen, aus? Wie finden sie Heilung?
(Wenn es ruhig und friedlich still in ihnen wird.) Woran erinnert der
Ausdruck „bis ich Asche werde"? Warum hat Gott die Erde so herr-
lich geschmückt? Wie beweisen wir uns für seine Gaben dankbar?
III. Vertiefung. 1. Ort undZeit. Ein herrlicher Frühlingsabend.
Am Himmel der helle Mond, der seine Lichtperlen durch die Zweige der
Bäume säet. Im Wiesengrunde rinnt und rauscht ein Bächlein. Aus
dem Gebüsch ertönen die Lieder der Nachtigallen. In der grünen, schönen
Laube des Gartens sitzen fröhliche Menschen, singend und plaudernd, ein-
zelne mit Kränzen im Haar.
2. Gedankengang. Str. 1. Im Lenz und in der Jugend sind
Grillen und Falten eine Torheit. Str. 2. Die Freude bekränzt uns das
Haupt zu ihrem Feste. Str. 3. Der Schauplatz des Freudenfestes ist
wunderschön. Str. 4. Die Fcstklänge erhöhen die Wonne und heilen
kranke Seelen. Str. 5. Ich will mich lebenslang der schönen Erde freuen.
— Kurze Gliederung: I. Torheit des Mißmuts. II. Berechtigung der
Freude. III. Schauplatz ihres Festes. IV. Macht der Festmusik. V. Vor-
satz zu lebenslänglicher Freude über die schöne Erde. Den Grundge-
danken spricht Str. 5 aus. — Gott hat die Erde uns zur Freude ge-
schmückt ; wir sollen uns nicht mutwillig die Freude verbittern und das
Paradies zum Jammertal machen.
IV. Verwertung. Vergleiche das folgende
» Lied des Lebens.
Joh. Gottfr. b. Herder. Werke von Heinr.
l. Flüchtiger als Wind und Welle
flieht die Zeit; was hält sie auf?
Sie genießen auf der Stelle,
sie ergreifen schnell im Lauf,
das, ihr Brüder, hält ihr Schweben,
hält die Flucht der Tage ein.Z
Schneller Gang ist unser Leben,
laßt uns Rosen auf ihn streun!^)
Kurz. Leipzig, Bibl. Institut. I, S. 57.
2. Rosen, denn die Tage sinken
in des Winters Nebelmeer3);
Rosen, denn sie blühn und blinken
links und rechts noch um uns her;
Rosen stehn auf jedem Zweige
jeder schönen Jugendtat. ^)
Wohl ihm, der bis auf die Neige
rein gelebt sein Leben fielt!5)
Herder: Lied des Lebens.
413
3. Tage, werdet uns zum Kranze,
der des Greises Schläf' umzieht
und um sie in frischem Glanze
tnip Ptrt ‘■3'rmttrr Spr Ccitnprth fisitfit 16
Wie ein Traum der Jugend blüht !6)
Auch die dunkeln Blumen kühlen 7)
uns mit Ruhe doppelt süß;
und die lauten Lüfte spielen
freundlich uns ins Paradies.»)
1. Erläuterungen. 1. Die Zeit recht gebrauchen, auch durch
reine Freuden, das gibt ihr Wert und Inhalt und hält sie gleichsam in
ihrenl raschen Fluge (ihrem eiligen Schweben, ihrer schnellen Flucht) aus.
2. Das Leben gleicht einem schnellen Gange: man soll dabei die Rosen,
d. h. die Freuden, die am Wege blühen, pflücken und den sauern Arbeits-
pfad damit verschönern. 3. Rasch verblühen die Rosen, wenn der Winter
mit Nebel, Schnee und Frost kommt, und schnell verwelken die Freuden
der Jugend, wenn das Alter behende naht. 4. Auf jeder schönen Jugend-
tat wachsen die Rosen der Freude. 5. Der ist glücklich zu preisen, der
sein Leben bis zum letzten Reste, bis zur Neige des Kelches, rein, d. h.
ohne Sünde und Reue, genossen hat. „Die Waschfrau": „Ich wollt',
ich hätte so gewußt, am Kelch des Lebens mich zu laben —." 6. Die
Erinnerung an schöne, reine Jugendtage legt sich wie ein Ehren- und
Freudenkranz um die Schläfe des Greises und verjüngt ihn wie ein
schöner Traum. 7. Die dunklen Blumen sind der Ernst des Lebens,
die schmerzlichen Erfahrungen. Sie kühlen das heiße, stürmische Blut und
lassen die erkämpfte Ruhe des Gemüts doppelt süß erscheinen. 8. Nicht
die lauen, milden, sondern die lauten, scharfen und schneidenden Lüfte
tragen und führen uns unvermerkt in den Frieden und zu den Freuden
des Paradieses. Frieden nach Kampf und Freuden nach Leid!
2. Ähnlichkeiten: Beide Gedichte sind Mahnungen zur Freude
und zum rechten Genuß des Lebens. Sie erinnern an die Flüch-
tigkeit der Zeit, an die Schönheit der Erde, an das Recht zur Freude
und an die beruhigende Wirkung der Harmonie draußen auf das un-
ruhige Herz.
3. Verschiedenheiten. A verweilt bei der Freude in der Jugend
und im Frühling, B schaut weiter auf die Tage des Winters und Alters,
die uns nicht gefallen. Die Jugend soll die Zeit der Aussaat sein, damit
das Alter Früchte ernte. A hält Grillen und Falten des Unmuts für
eine Torheit, B erinnert an die Vergänglichkeit der Freuden, an den
Winter und das Greisenalter. In A bringt uns die Freude den Kranz
entgegen, in B sollen wir selbst die Zeit ergreifen, recht nutzen und die
Rosen pflücken. A redet nur vom Genuß der Freude in der schönen Natur,
B auch vom Tun und reinen Leben und Wirken. In A flöten die Nachti-
gallen Ruhe ins zerrissene Herz, in B wachsen die Rosen aus den Zweigen
der Jugendtaten und kühlen dunkle Blumen das unruhige Blut. In A
soll die Freude an der Erde bis zum Tode währen, in B soll uns die Er-
innerung das Alter verklären und uns ins Paradies hinüber spielen.
A umfaßt nur Frühling und Jugend, B aber das ganze Leben. A er-
muntert zur Freude, B läßt auch den Ernst des Lebens erscheinen.
?..
414
LEI. Lyrische Gedichte.
156. Frau Rebekka mit den Kindern an einem Maimorgen.
Matthias Claudius. Bibliothek der deutschen Klassiker. Hildburghausen 1861. Bd. VIII.
S. 198. (Gekürzt.)
1. Kommt, Kinder, wischt die Augen
aus,
es gibt hier was zu sehen,
und ruft den Vater auch heraus:
die Sonne will aufgehen!
2. Wie ist sie doch in ihrem Lauf
so unverzagt und munter!
Geht alle Morgen richtig auf
und alle Abend unter.
3. Geht iminer und scheint weit und
breit
in Schweden und in Schwaben,
dann kalt, dann warm zu seiner Zeit,
wie wir es nötig haben.
4. Von ungefähr kann das nicht sein,
das könnt ihr wohl gedenken;
der Wagen da geht nicht allein,
ihr müßt ihn ziehn und lenken.
5. So hat die Sonne nicht Verstand,
weiß nicht, was sich gebühret;
drum muß wer sein, der an der
Hand
als wie ein Lamm sie führet.
6. Und der hat Gutes nur im Sinn,
das kann man bald verstehen;
er schüttet seine Wohltat hin
und lässet sich nicht sehen;
1. und hilft und segnet für und für,
gibt jedem seine Freude,
gibt uns den Garten vor der Tür
und unsrer Kuh die Weide;
8. und hält euch Morgenbrot bereit
und läßt euch Blumen pflücken
und stehet, wenn und wo ihr seid,
euch heimlich hinterm Rücken;
9. sieht alles, was ihr tut und denkt,
hält euch in seiner Pflege,
weiß, was euch freut, und was euch kränkt,
und liebt euch allewege.
I. Fragen zur Vermittlung des Verständnisses. Wie heißt die Mutter
der Kinder? (Die treffliche Gattin des Dichters Matthias Claudius heißt
Rebekka, er nennt sich selbst „Asmus, den Wandsbecker Boten".) Von
welcher Rebekka erzählt die biblische Geschichte? Was sollen sich die Kinder
aus den Augen wischen? Warum hat die Mutter ihre Kinder geweckt
und ruft sie hinaus? Wen nennt man unverzagt (ohne Zagen und Furcht)?
Was ist der Aufgang, was der Lauf, was der Untergang der Sonne?
Wann ist sie munter, und wann schläft sie gleichsam? Wo scheint die
Sonne? Wann scheint sie gleichsam kalt, wann warm? Was für ein
Land ist Schweden (kalt, im Norden) und was für eins Schwaben
(warm, im Süden)? Was kann nicht von ungefähr (zufällig) sein?
Wann bewegt sich der Wagen? Wer nur kann wissen, was sich gebühret
(geziemt und nötig ist)? Wer ist der verborgene Führer der Sonne?
Woraus kann man verstehen, daß er's gut meint? Womit werden die
Wohltaten verglichen, da er sie „hinschüttet"? Nenne solche Wohl-
taten! Warum läßt er sich nicht sehen? Was segnet er, wobei und
wann hilft er? Was gibt er den „kleinen Bauersleuten"? Was den
Kindern? Wie heißt das Morgenb rot noch? Was heißt: Gott steht
heimlich hinter unserm Rücken? Wozu soll uns das bewegen?
Ja, wohin schaut Gott sogar? Wie h ä l t er uns in P f l e g e? Was freut
und was kränkt (schmerzt) die Kinder? Wie zeigt er seine Liebe?
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. An einem Maienmorgen steht
Mutter Rebekka mit ihren Kindern in dem Garten vor ihrem etwas hoch-
Geibel: Der Mai ist gekommen.
415
gelegenen Hause und zeigt ihnen mit ausgestreckter Hand den Aufgang
der Sonne. Auch der Vater kommt zu der Gruppe. Wie ein Feuerball
steigt die Sonne im Osten über den Horizont. Ihre Strahlen schießen
über den östlichen Himmel. Die Erde ist in Grün gekleidet, und an
allen Grasspitzen funkeln Tautröpfchen. Im Gebüsch singen allerlei Vögel,
und im Felde steigen die Lerchen trillernd in die Lust. Die Bauersleute
ziehen, mit Wagen und Pflügen ins Feld.
2. Gedanken gang. Str. 1. Die Mutter ruft den Vater und die
Kinder zum Anblick des Sonnenaufganges. Str. 2. Die Sonne läuft
mutig und pünktlich ihre Bahn. Str. 3. Sie scheint überall zur rechten
Zeit. Str. 4. Sie kann sich so wenig wie ein Wagen von selbst be-
wegen. Str. 5. Sie wird unbewußt wie eiu Lamm von Gott geführt.
Str. 6. Dieser Führer ist gütig, Str. 7 ein Freuden- und Gabenspender,
Str. 8 allgegenwärtig, Str. 9 und liebt die Menschen.
Grundgedanke: Die Sonne läuft ihre Bahn wie ein Held; sie
ist ein Bote Gottes, der durch sie uns Segen spendet.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Offnet eure Augen für
die Schönheit und Weisheit in der Natur! Erkennet in dem Weltgebäude
eineu Spiegel und Verkünder der göttlichen Herrlichkeit, den Saum von
dem Kleide des allmächtigen, weisen und gütigen Baumeisters!
Die Endstrophe des Gedichts lautet:
Er selbst wohnt unerkannt darin
und ist schwer zu ergründen.
Seid fromm und sucht von Herzen ihn,
ob ihr ihn möchtet finden!
2. Verwandtes. Am vierten Schöpfungstage schuf Gott Sonne,
Mond und Sterne. — Ps. 19, 6: Die Sonne gehet heraus wie ein Bräuti-
gam aus seiner Kammer und freuet sich, wie ein Held zu laufen den Weg.
— Ps. 104, 24. Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! — Apostel-
gesch. 17, 27. 28: Daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen
und finden möchten. — Die Sternseherin. Bd. I, Nr. 246. Abendlied
eines Bauern : Das schöne, große Tagesgestirne — (Bd. I, Nr. 279).
3. Rede- und Stilübungen, a) In welchen biblischen Geschichten
wird von der Sonne erzählt? b) Welche Sprüche, Sprichwörter und
Gedichte handeln davon? c) Wie wirkt die Sonne bei uns verschiedenartig
in den vier Jahreszeiten? P-
157* Der Mai ist gekommen.
E. Geibel, Gedichte. 80. Auflage. Stuttgart 1876. I. S. 82.
l. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus;
da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus!
Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
so steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt. Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
Vorbemerkung. In den meisten Lesebüchern und Gesanghesten für
Kinder sind gewöhnlich nur die 1., 3. und 6. Strophe dieses Liedes ab-
416
III. Lyrische Gedichte.
gedruckt, es ist aber kein pädagogischer Grund zu finden, weshalb- das
schöne Lied so verstümmelt wiedergegeben wird; denn daß in Str. 2 vom
Wein und in Str. 4 vom Schatz und in Str. 5 etwa vom Küssen die
Rede ist, kann doch wohl nicht die Ursache zur Kürzung sein. Oder sollte
wirklich ein Schulmann meinen, daß solche Dinge nicht vor die Ohren
der Kinder gehören? Dann dürfte man es auch nicht zugeben, daß ein
Vater in Gegenwart seiner Kinder Wein trinkt und sich daran erfreut,
und noch weniger, daß ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester
sieht, wie die älteren Geschwister die Braut oder den Bräutigain küssen.
Wer mit dem rechten Ernste des Erziehers an die Sache herantritt, hat
hierbei nicht nur nichts zu fürchten, sondern er wird durch sachgemäße
Darlegung veredelnd und bessernd auf das Gemüt der Schüler und Schüle-
rinnen einwirken.
I. Vorbereitung. Ein wonniges Gefühl durchströmt die menschliche
Brust, wenn der Frühling mit seiner Blumen- und Blätterpracht, mit
seinem süßen Dufte und seinem blauen Himmel erscheint. Wer kann es
da einem jungen, wanderlustigen Burschen verdenken, wenn er ausruft:
„Der Mai ist gekommen, ich kann nicht mehr zu Hause bleiben, ich muß
fort in die weite, weite Welt," und dann rasch von Vater und Mutter
Abschied nimmt, den Wanderstab ergreift und frisch und fröhlich, singend
und jauchzend über Berg und Tal dahinschreitet? Kommt er am Abend
in ein Städtchen, so erquickt er sich im Wirtshaus; findet er aber keine
Herberge, so nimmt er auch gern einmal in schöner Maiennacht unter
freiem Himmel fürlieb. Solche Wanderung macht ihm vor allem die schöne
Gotteswelt lieb und wert, daß er singend ausruft:
„Wie bist du doch so schön, o du weite, weite Welt!"
II. Vorlesen des Gedichts.
III. Vermittlung. Str. 1. „Die Bäume schlagen aus" ist das un-
trüglichste Zeichen von der Ankunft des Monats Mai. Der Vers: „Wie
die Wolken wandern" enthält eine Ermutigung zum Wandern. „So
steht usw. der Sinn" — das sehnliche Verlangen. Str. 2. „Wer weiß,
wo in der Ferne" usw. Andeutung, daß der Wanderer längere Zeit in
der Ferne bleiben und viel Gutes und Angenehmes kennen lernen will.
Str. 3. „Die Quellen erklingen" bezieht sich auf das Murmeln und
Tröpfeln des Wassers. — „Wie 'ne Lerche" so fröhlich und sangeslustig.
Str. 4. „Liedel" — Liedchen, Liedlein, nicht nur ein kleines, sondern
auch ein hübsches, gefälliges Lied. Str. 5. „Es küsset usw. das Morgen-
rot" —; wie eine Mutter das Kind mit einem Kusse weckt, so das Morgen-
rot den Schläfer. Str. 6. „Du freie Burschenlust!" deutet an, welch
großes Vergnügen das Wandern gerade jungen Leuten verursacht. —
„Da wehet Gottes Odem" usw. Der Wanderer fühlt nicht nur den Hauch
der frischen Frühlingsluft, sondern dieser Hauch kommt ihm vor wie der
Odem dessen, der die schöne Welt geschaffen hat.
IV. Vertiefung. 1. Gliederung und gedrängte Angabe des
Inhalts.
Kletke: Vlumenball.
417
f 1. Woran wir erkennen, daß der Mai gekommen ist.
\ 2. Welchen Entschluß das im Wanderer hei vorruft,
l 3. Der Abschied von der Heimat.
{ 4. Was der Wanderer erwartet,
i 5. Der Antritt der Wanderung.
I 6. Die Schönheiten der Natur.
7. Die Einkehr un Städtlein und das Vergnügen am
Abend.
8. Die Nacht im Freien und Schönheiten derselben.
9. Der Segen der Wanderung.
V. Verwertung. Rede-und Stilübungen, a) Eine Wanderung
im Mai. I. Was veranlaßt uns dazu? II. Der Abschied. III. Was sehen
wir aus der Wanderung? IV. Wo kehren wir ein? V. Welchen Segen hat
die Wanderung? b) Vergleichung mit „Wanderlied" von H. Hoff-
manu von Fallersleben. (S. Bd. I, Nr. 332 II.)
Beide Gedichte schildern eine Wanderung im Mai, preisen seine Schön-
heit, reizen dadurch zum Wandern und stimmen das Herz fröhlich.
Geibel erkennt den Mai am Ausschlagen der Bäume, wird da-
durch zum Wandern veranlaßt und preist die Schönheit und den Segen
der Wanderung. H o f f m a n n erkennt den Mai an den blühenden Blumen,
ani Grün des Waldes und Feldes und zählt die Freuden des Wanderns auf.
W. D.
Str. 1.
Str. 2.
Str. 3.
Str. 4.
Str. 5.
Str. 6.
138. A. Blumenball.
Hermann Kletke. Deutscher Kinderschatz. Berlin 1859. S. 41.
1. Die Blumen im Wiesengrund
sprachen:
„Wir wollen tanzen einmal!
Die Freude woll n wir uns machen
in unserm Wiesensaal."
2. Das Bächlein sagt: „Ja Schritt
für Schritt!
Da tanz' und hüpf' ich noch mit;
ich will die Blümlein haschen,
die sich die Füßchen waschen."
3. Die Vöglein riefen: „Wir singen,
wie tanzen ihr eben wollt,
d«ß hoch im Takte ihr springen
die ganze Nacht durch sollt."
4. Der Mond drauf sprach: „Das
möcht' ich sehn;
am Himmel hoch, da will ich stehn,
will meine Lichter anzünden,
daß ihr zurecht könnt finden."
5. Da liefen sie ganz behende,
die Blumen alle herbei,
einander reichend die Hände,
stellten sie sich in Reih'.
■ AdL. n. 8. Ausl.
6. Jed' Vöglein sang und das nicht
schlecht, f
jed' Blümlein sprang im Takt
schon recht!
Das Bächlein hüpfte so munter,
der Mond sah auch herunter.
7. Da tanzten sie schön manierlich,
die Blumen die ganze Nacht.
Die faßten, schwangen sich zierlich
im Mondschein recht in Pracht.
8. Die Blümlein alle, groß und klein,
hinauf, herab, entlang am Rain,
sie konnten's müde nicht werden,
bis jedes sank zur Erden.
9. Am andern Morgen, da hingen
sie ganz verschlafen und schwer;
sie sagten: „Vor allen Dingen
wir tanzen nun nicht mehr."
10. Die eine klagt: „Ich bin so müd'!"
Die andere: „Und ich rühr' kein
Glied;
wir hätten es sollen lassen;
ein jedes Ding mit Maßen!"
27
418
III. Lyrische Gedichte.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Die Menschen halten Bälle,
d. h. Tanzfeste. Wie aber wird ein Blumen ball gefeiert? In einer
schönen Sommernacht kommen die Blumen auf einer Wiese, ihrem
Ballsaal, zusammen. Das Bächlein schmückt sie, indem es ihnen
die Füße, die schmutzigen Würzelchen, wäscht. Dafür darf es mittanzen.
Die Musik machen die Vögel, diese kunstreichsten Musiker. Der dunkle
Ballsaal wird vom lieben Mond erleuchtet. Zur rechten Stunde kommen
Tänzer, Musiker und Mond und beginnen den R e i h e n t a n z. Alle hüpfen
vergnügt umher, und der Mond schaut vergnügt zu, wie sie zierlich und
manierlich tanzen. Aber eins vergaßen sie in ihrer Freude: daß jedes
Ding seine Zeit hat und mit Maßen genossen sein will. Sie tanzten
die ganze Nacht, bis sie gegen Morgen halb tot zur Erde sanken. Dies
Übermaß mußten sie büßen, denn am nächsten Tage waren sie todmüde
und gliederlahm. Zu spät sagten sie: „Wir hätten Maß halten und
das Tanzen zur rechten Zeit sein lassen sollen."
Hört, wie der Dichter Hermann Kletke diesen „Blumenball" ge-
schildert hat! (Vortrag).
II. Gliederung. A. Str. 1—4. Die Vorbereitung zum Blumen-
ball. B. Str. 5—8. Der Blumenball. C. Str. 9 und 10. Die Folgen
des Balls für die Blumen.
III. 1. Mahnungen. Jedes Übermaß rächt sich. — Halte Maß
in allen Dingen! — Höre auf zu essen, wenn es am besten schmeckt. —
Freue dich in deiner Jugend, aber gedenke an die Rechenschaft! —
2. Mündliche und schriftliche Aufgaben, a) Der Käfer-
ball. Eine Nachbildung. (Ballsaal ist eine Waldwiese. Der helle Son-
nenschein erleuchtet den Saal. Die Musik machen die größten Käfer selbst
usw.) —n b) Vergleichung des „Blumenballs" mit dem „Früh-
lingsball" von Hofsmann v. Fallersleben.
I*. Der Frühlingsball.
Hoffmann von Fallersleben. Die Kinderwelt. Mainz 1853. S. 182.
1. Frühling sprach zu der Nachtigall:
Ich will euch geben einen Ball.
Lade, Nachtigall, alle ein,
alle Vögel groß und klein,
alle Vögel, alle!
2. Und da kamen die Vögel all'
zum Frühlingsball mit Sang und
Schall:
Kuckuck, Wiedehopf, Elster, Star,
Reiher, Rabe, Strauß und Aar,
Drossel, Fink und Zeisig.
3. Und sie tanzten im Blumenduft
bei Sonnenschein und linder Luft,
tranken würzigen Blütenmost,
schmausten lauter feine Kost,
teure, seltne Sachen.
4. Als der Abend begann zu nahn,
da sprach zur Nachtigall der Hahn:
Jetzo wird wohl das beste sein,
wenn wir Vögel groß und klein
gehen heim zu Neste.
5. Aber billig vor allem ist,
daß man des Wirtes nicht vergißt.
Laßt uns, Vöglein, groß und
klein,
kikriki! recht dankbar sein:
Vivat hoch, Herr Frühling!
-
Dieffenbach: Waldkonzert.
419
(In beiden Gedichten sind nur die Verschiedenheiten zu berücksichtigen
in bezug 1. auf die Einladung Zum Balle, 2. auf den Ballgeber, 3. ans
die Zeit und den Ort des Balls, 4. auf das Ende des Balls. Schluß:
Wer hat es am besten gemacht?) W. D.
159, A. Waldkoiizert.
G. Chr. Dieffenbach, Kinderlieber. Mainz 1854. S. 42.
1. Konzert ist heute angesagt Das jubiliert und musiziert,
im frischen, grünen Wald; das schmettert, und das schallt;
die Musikanten stimmen schon; — das geigt und singt und pfeift und
hör, wie es lustig schallt! klingt
im frischen, grünen Wald!
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Erläuterung des Inhalts der einzelnen Strophen. Str. 1. Der
Dichter führt uns zur schönen Sommerzeit in den Wald, der „frisch und
grün" ist. Dort sollen wir einem Konzerte beiwohnen, zu welchem die
Musikanten bereits ihre Instrumente stimmen. Noch wissen wir nicht,
wer diese Musiker sind. Aber lustige Leute und tüchtige Künstler müssen
es sein, denn:
„Das jubiliert und musiziert" usw.
Das Konzert ist gar heiter und fröhlich; das erkennen wir schon
aus den einzelnen Worten: jubilieren, schmettern, schallen usw.
Alle Klänge, die im Walde ertönen, sind in den einzelnen Worten
gleichsam gemalt. Ein Konzert vereinigt mehrere Musiker, deren In-
strumente aber alle zusammenstimmen müssen. Auch in unserm Wald-
konzert stimmt alles aufs beste, das beweist schon der Reichtum der
Reime (jubiliert und musiziert — geigt und pfeift — singt
und klingt), der den Kindern sofort in die Ohren fällt. Da alle Stimmen
in diesen Klängen zusammentreffen, so hat der Dichter diese Verse bei
jeder Strophe als Kehrreim wiederholt.
Str. 2. Die beiden ersten Sänger sind der Distelfink und sein
Vetter, der Buchfink. Der erstere, auch Stieglitz (Fringilla carduelis)
genannt, hat eine zartere, weichere Stimme als der Buch- oder Edel-
fink (Fring. coelebs); darum läßt der Dichter mit Recht jenen die
erste und diesen die zweite Violine spielen. Das „keck vom Blatt
spielen" ist ein passender Scherz und will sagen, daß der Distelfink nicht
vorher zu üben braucht. —
Str. 3. Wenn Frau Nachtigall, die allbekannte, berühmte Sänge-
rin, ihre „Helle" und zugleich „zarte" Stimme erhebt, so gehört auch eine
passende Begleitung dazu. Die Flöte, welcher so sanfte und zarte Töne
entlockt werden können, ist für diese Sängerin das zur Begleitung ge-
eignetste Instrument. Auch ein passender Künstler ist schon da, welcher
die Flötentöne mit großer Virtuosität hervorbringt: es ist der Meister
Hänfling (Fringilla eannabina).
Str. 4. Nun kommt aber ein Sänger mit kräftiger Stimme, die
Schwarzdrossel oder Amsel (luräus insrula), die gewöhnlich ihren
q» 27*
420
III. Lyrische Gedichte.
Gesang von den höchsten Spitzen der Bäume erschallen läßt und dadurch
weit vernehmlich ist. Diese Stimme vergleicht der Dichter mit der kräftig
tönenden Klarinette. Wer soll diesen Sänger begleiten? Niemand anders
als der Rabe, dessen „Brummelbaß" zwar „verstimmt" ist, der ihn aber
doch so gut streicht, als er kann. —
Str. 5. Kuckuck und Lerche lassen sich auch hören; die letztere
schmettert gleichsam auf einer wohlklingenden Trompete ihre Lieder aus
der Luft in die weite Welt. Um eine gute Begleitung ist ihr auch nicht
bange; tief aus dem Walde trommelt der Kuckuck den Takt dazu.
Str. 6. Ein Konzert muß aber auch einen Dirigenten, einen
Musikdirektor haben, der dafür sorgt, daß die einzelnen Sänger und
Musiker hübsch im Takte bleiben. Diesen Musikdirektor stellt uns der
Dichter in dem Spechte vor. Als Dirigentenstab benutzt er den harten,
starken, keilförmig zugespitzten Schnabel, mit welchem er gar „sein" und
vernehmlich den Takt zur Musik schlägt.
Str. 7. Unsere Spielleute im Walde musizieren zwar zunächst nur
für sich, aber wer könnte, wenn er das Waldkonzert hört, vorübergehen,
ohne den Tönen zu lauschen? Verwundert hören die vierfüßigen Tiere
des Waldes, die Hasen und Rehe, der Musik zu. Aber auch Bienen,
Mücken und Käfer kommen als Zuhörer herangeflogen, und weil ihnen
die musikalische Aufführung so sehr gefällt, so können sie es nicht unter-
lassen, leise surrend (d. h. schwirrend summen) mit einzustimmen.
II. Gliederung. A. Str. 1. Ankündigung des Waldkonzertes.
B. Str. 2—6. Die Musikanten und ihr Musikdirektor. 6. Str. 7. Die
Zuhörer.
III. Vergleiche A „Waldkonzert" mit B der folgenden Schilderung
von Tschudi. (Tierleben der Alpenwelt. Leipzig 1854. S. 117. Ge-
kürzt und etwas verändert.)
I*. Wie der Wald erwacht.
Wenn noch die Sterne fröhlich am blauen Nachthimmel schimmern, be-
ginnt es im Walde sich zu regen. Die Amsel erwacht. Sie schüttelt den Tau
von ihrem schwarzglänzenden Gefieder, wetzt den Schnabel am Zweige und
hüpft höher hinauf zum Ahornbaume. Sie wundert sich fast, daß der Wald
noch fortwährend schläft. Zweimal, dreimal ruft sie über die Berge hin.
Dann flötet sie mit Macht ihre Weisen, bald lustig, bald klagend.
Rasch erwacht nun das Leben im Walde. Der Kuckuck läßt seinen Lockruf
hören. — Aus den Schornsteinen im Dorfe erheben sich bläuliche Rauchsäulen;
in den Gehöften bellen hin und wieder die Hunde; eine Kuhglocke ertönt. Nun
erheben sich alle Vögel aus ihren dunklen Büschen. Wie manches kleine, arme
Vöglein lebt freudig auf! Hat es doch eine bange, angstvolle Nacht hinter sich.
Es saß auf seinem Zweige, den Kopf ins Gefieder gedrückt. Da flog im Sternen-
schein eine Eule durch die Bäume und wählte sich ihre Beute; aus seinem Eich-
hornnest kam der Marder herunter; durch die Büsche war der Fuchs gegangen.
Das Vöglein hatte alle gesehen. In der Luft, auf dem Baume, auf dem
Boden hatte das Verderben gelauert viel traurige Stunden lang. Angstvoll
hatte es gesessen und sich nicht zu regen gewagt. Ein paar junge Buchenblätter
hatten es verdeckt und geschützt. Wie fröhlich hüpft es jetzt hervor, da es Tag
wird! In klaren Schlägen ruft der Buchfink; hell singt das Rotkehlchen vom
Wipfel des Lärchenbaums, der Weidenzeisig im Erlenbusch. Dazwischen trillert
*
Reinick: Sommerlied.
421
der Hänfling, kollert die Baummeise, jubelt der Distelfink, quiekt der Zaun-
könig, piept das Goldhähnchen. Welches Morgenkonzert in den grünen Hallen
des Waldes!
Beide Lesestücke führen uns in der Sommerzeit zu einem Wald-
konzerte, in dem Amsel, Kuckuck, Buchfink, Hänfling, Distelfink und
andere Vögel des Waldes ihre Stimme erschallen lassen.
A ist ein Gedicht, B in Prosa geschrieben. A zeigt uns nur die
heitere Seite im Leben der Vögel, B spricht auch von Gefahren, denen
die Vögel ausgesetzt sind. (Welche?) In A sind außer den genannten
Vögeln noch die Nachtigall, der Rabe, die Lerche und der Specht genannt;
in B hören wir auch noch von der Eule, dem Rotkehlchen, dem Weiden-
zeisig, der Baummeise, dem Zaunkönig und dem Goldhähnchen. Wäh-
rend in A alle Vögel zugleich singen, beginnt in B zuerst die Amsel, und
nach und nach stimmen alle anderen Sänger ein. Während A jede Vogel-
stimme mit einem Instrumente vergleicht, bezeichnet B jede Stimme durch
ein besonderes Kennzeichen. A nennt uns am Schlüsse die Zuhörer; B
schließt mit dem Ausrufe: Welches Morgenkonzert in den grünen Hallen
des Waldes! —
Vergleiche: „Waldkonzert" (I) und „Maienglöckchen" (II),
Bd. I, Nr. 241 II!
Beide Gedichte schildern das fröhliche Leben in der Natur und laden
zum Vergnügen ein.
In I werden uns Vögel, in II Blumen vorgeführt. Während
die Vögel ein Konzert veranstalten, kommen die Blumen zu einem Balle
zusammen. In I werden die Vögel sämtlich kurz gekennzeichnet, in II
nur die wichtigste der Blumen, das Maiglöckchen. Während uns in I
der Dichter zum Feste einladet, tut es in II das Maiglöckchen. In I geht
das Konzert ungestört fort, in II dagegen unterbricht der „Junker Reif"
den Tanz. Während in I nur Tiere au dem Feste teilnehmen, wird in
II auch der Mensch zur Teilnahme verlockt.
Vergleiche „Waldkonzert" und „Blumenball" von Kletke
(Bd. II, Nr. 158 A)!
Beide Gedichte schildern eine Festlichkeit in der Natur und die Musik
aus Vogelkehlen.
„Waldkonzert" handelt nur vou Vögelu; im „Blumenball" dagegen
treten Blumen, Vögel, das Bächlein und der Mond auf. Während in
W. die Vögel nur singen, werden in Bl. die sämtlichen Mitwirkenden
redend eingeführt. Während in W. die Rehe und Hasen die Zuhörer sind,
ist in Bl. der Mond der Zuschauer. Haben Hasen und Rehe das Zuschauen
umsonst, so will der Mond dafür die Beleuchtung schaffen. Das „Wald-
konzert" hat keine Übeln Folgen; der „Blumenball" dagegen macht die
Blümlein so müde, daß sie nicht wieder tanzen wollen. W. D.
160. Eommerlied.
R. Reiinck. Märchen--, Lieder- und Geschichtenbuch. Bielefeld 1876. S. 136.
l. Wann der Frühling vorbei, War der Frühling ein Kind,
kommt der Soinmer heran. — ist der Sommer ein Mann.
422
III. Lyrische Gedichte.
und brummt der Herr Sommer,
da gibt's einen Segen.
5. Der fährt gleich mit Donner
und Wetter darein,
und 's kann auch nicht alle Tag'
Sonnenschein sein.
6. Doch wenn er auch brummet,
daß ringsum es kracht,
nachher um so lust'ger
er schmunzelt und lacht.
2. War dem Frühling sein Wämschen
schon lustig genug,
ist dem Sommer sein Rock
mehr von gelblichem Tuch.
3. Hat der Frühling sich Blumen
ums Hütlein getan,
steckt der Sommer sich Kirschen
und Erdbeeren dran.
4. Und weinte der Frühling,
da gab's einen Regen;
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Gern sehen wir in der
Natur Spiegelbilder des Menschenlebens. Pflanzen und Tiere werden als
Personen gedacht, so auch die Jahreszeiten, die sich auf der Wanderung
durch das Jahr ablösen. Den Frühling denken wir uns als glückliches
Kind, den Sommer als tätigen Mann. Oft wird der Frühling von
den Dichtern als Kind dargestellt. So singt z. B. Lenau in einem Früh-
lingsgedichte:
„Da kommt der Lenz, der schöne Junge,
den alles lieben muß."
Der Vergleich ist berechtigt, denn Frühling und Jugend gehören zu-
sammen. Frühling und Jugend sind die Zeit der Hoffnung. Inwie-
fern? — Die Jugend ist rasch zur Tat, und auch der Frühling kommt oft,
ehe wir's uns versehen: „Auf leisen Sohlen über Nacht kommt oft der
Lenz gegangen," singt E. Geibel. Die Jugend ist wie der Frühling
die Zeit der Lust und Freude; darum singen wir mit Uh land das
„Lob des Frühling" (s. Nr. 149, IV).
Wie die Jugend stets zu scherzen bereit ist, so auch der Frühling.
Sendet er doch, wie zum Scherz, mitten in den schönsten Sonnenschein
oft genug ein kleines Schnee- und Hagelwetter. Auch Lenau schildert
ihn uns als scherzenden Knaben, wenn er singt: Er kommt
„herein mit einem Freudensprunge
und lächelt seinen Gruß
und schickt sich gleich mit frohem Necken
zu all den Streichen an" usw.
Gegen den Frühling ist der Sommer ein Mann; denn er macht
schon ein ernsteres Gesicht. Anstatt „Saatengrün und Veilchenduft" sehen
wir die Pflanzen der Reise entgegengehen, und manche bringen schon
Früchte. Gibt der Frühling das Angenehme, so bringt der Sommer, wie's
einem Manne zusteht, das Nützliche. Der Dichter (Reinick) singt daher
in einem andern Liede vom Sommer:
„Gibt Guten und Bösen
ihr tägliches Brot
und trocknet viel Tränen
und stillt manche Not."
Die „linden Lüfte" verwandeln sich im Sommer in Gluthitze, der
milde Frühlingsregen wird zum Gewittersturm usw.
Hebel: Sommerlied.
423
Auch in der Kleidung unterscheiden sich Kind und Mann. Der
Knabe Frühling trägt das lustige*) Wämschen, natürlich von grüner
Farbe, der Sommer dagegen kleidet sich in ein gelbes Wams, zum
Zeichen, daß die grünen Halme der Reife entgegengehen.
Der Frühling windet sich „Blumen ums Hütlein", der Sommer
dagegen zeitigt die Kirschen und Erdbeeren und steckt diese Früchte an
den Hut.
Einem Knaben nimmt man das Weinen nicht übel, dem Frühling
also den stillen Regen nicht. Dem Herrn Sommer aber geziemt das
Weinen nicht; er macht ein ernstes Gesicht, brummt und blitzt im Gewitter
und schüttet Segen im Regen nieder. „Es kann nicht alle Tage Sonnen-
schein sein." Nach dem Grollen lacht sein Gesicht wieder freundlich.
Von diesem Schmunzeln und Lachen spricht auch der Dichter Gerok,
wenn er sagt: „Die Böglern singen wieder,
frisch duftet Flur und Land,
am Himmel, noch umzogen
vom grauen Wolkenflor,
tut schon der Regenbogen
nrild-leuchtend sich hervor."
II. Schriftliche Arbeiten. 1. War der Frühling ein Kind, ist der
Sommer ein Mann. (Eine Vergleichung.) 2. Das Gewitter. Eine Be-
schreibung nach den Strophen 4—6 unseres Liedes und folgenden
Strophen:
Und seht! noch schneller, als ihr dachtet,
ist rings der Himmel schon umnachtet; '
die Wolken jagen sich rasch umher
mit Brausen wie Wogen im wilden Meer.
5 Es zucket der Blitz wie ein glänzender Speer,
es rollet der Donner dumpf und schwer,
und die Tropfen fallen zur Erd' hernieder,
und die Erde trinkt sie und labt sich wieder,
und die Blum' und die Halme, sie richten sich auf
10 und schauen zum Himmel erquickt hinauf;
doch die Vöglein flattern bang herum
und fliegen zu Nest und werden dann stumm,
und der Hirt' springt hurtig empor vom Schlafe
und treibt in die Ställe die Rinder und Schafe.
R. Löwenstein. (Aus: Kindergarten, Berlin. 2. Aufl. S. 89.)
Gliederung: a) Was dem Gewitter vorangeht! (Dunkelheit,
Stille, Windesbrausen, Wasserwogen usw.) b) Was wir während des
Gewitters beobachten! (Donner, Blitz, starken Regen usw.) o) Was
dem Gewitter nachfolgt! (Vogelgesang, Erquickung der Natur,
Blumenduft, Regenbogen usw.) W. D.
161. Sommerlied.
Joh. Peter Hebel, Werke. Bd. I, S. 128. Berlin bei Grote 1869.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der treffliche alemannische
Dichter und „rheinländische Hausfreund", wie er nach seinem unvergleich-
*) Nicht „luftig", wie in einigen Lesebüchern steht!
424
III. Lyrische Gedichte.
lichen Volkskalender heißt, Joh. Pet. Hebel, wandert an einem schönen
Sommertage hinaus ins Freie. Wie ein aufgeschlagenes Buch der gött-
lichen Allmacht, Weisheit und Liebe liegt die Erde vor ihm. Sein Auge
glänzt frisch und hell- seine Brust hebt sich, und sein Herz schlägt freudig.
Von einem Schönen zum andern wandert der entzückte Blick. Dort
liegen die blauen Schwarzwaldberge. Hier glänzt der Tau aus den Matten
oder Wiesen. Da stehen die Obstbäume in ihrem Blätterschmucke, und
in den Zweigen oder Reifern spielen und singen die Vögel. Um ihn breiten
sich fruchtbare Felder mit schossenden Saaten aus. Über ihm wölbt sich
der Himmel, und darüber wandert die Sonne wie eine Braut im Schmuck
und ziehen die leichten Wolken wie Gottes Schäflein. Der Friede und
die Schönheit in der Natur stimmen auch das Herz zum Frieden und
zum Glück. — Doch jetzt ballen sich die Wolken am Himmel zu einem
Gewitter zusammen. Wilder Aufruhr tobt durch die eben noch so fried-
liche Natur. Nur der Wanderer zagt nicht, schaut mutig in die Blitze
und hört ohne Beben das Krachen des Donners; denn Gott und ein gut
Gewissen wohnen in seiner Brust. Damit kann man mutig und getrost
selbst dem Gericht am Ende der Welt entgegen sehen.
In dem „Sommerliede" spricht Hebel seine Gedanken poetisch aus.
1. Blaue Berge!
Von den Bergen strömt das Leben.
Reine Luft für Mensch und Vieh,
Wasserbrünnlein spat und früh
müssen uns die Berge geben.
2. Frische Matten!
Grüner Klee und Dolden schießen;
an der Schwele, schlank und fein,
glänzt der Tau wie Edelstein,
und die klaren Bächlein fließen.
3. Schlanke Bäume!
Muntrer Vögel Melodeien
tönen in: belaubten Reis,
singen laut des Schöpfers Preis.
Kirsche, Birn' und Pflaum' ge-
deihen.
4. Grüne Saaten!
Aus dem zarten Blatt enthüllt sich
Halm und Ähre, schwanket schön,
wenn die milden Lüfte wehn,
und das Körnlein wächst und füllt
sich.
5. An dem Himmel
strahlt die Sonn' im Brautge-
schmeide;
weiße Wölklein steigen auf,
ziehn dahin im stillen Lauf;
Gottes Schäflein gehn zur Weide.
6. Herzensfrieden,
woll' ihn Gott uns allen geben!
O, dann ist die Erde schön!
In den Gründen, auf den Höhn
wacht und singt ein frohes Leben.
7. Schwarze Wetter
überziehn den Himmelsbogen,
und der Vogel singt nicht mehr.
Winde brausen hin und her,
und die wilden Wasser wogen.
8. Rote Blitze
zucken hin und zucken wieder,
leuchten über Wald und Flur,
bange harrt die Kreatur,
Donnerschläge stürzen nieder.
9. Gut Gewissen,
wer es hat, und wer's bewachet,
in den Blitz vom Weltgericht
schaut er und erbebet nicht,
wenn der Grund der Erde krachet.
II. Erläuterungsfragen. Wie strömt von den Bergen das Leben?
(Gesunde Lust und frisches Wasser.) Woher koinmen reine Luft und
unerschöpfliche Wasserquellen in den Gebirgen? Wann sehen die
Berge blau, schwarz, grün oder weiß aus? Welche Doldenpflanzen
wachsen aus der Wiese? Wie unterscheidet sich die Schmele oder Schmiele
Hebel: Sommerlied.
425
von den übrigen Grasarten? (Schmal, lang, schwank, weich, dünnkörnig.)
Was bedeutet das Schießen der Wiesenpflanzen? Warum wird der Tau
mit Edelsteinen verglichen? Warum singen die Vögel muntere Lieder,
Melodien oder Melodeien? Was hört der Dichter daraus? Was für
Bäume waren es? Was erzählt Str. 4 von der Entwicklung des Ge-
treides ? Was am Himmel wird mit B r a u t, G e s ch m e i d e oder Metall-
schmuck, Schäflein, Weide verglichen? Wann und warum erscheint
die Erde schön wie ein Paradies? Wie wird das Gewitter geschildert?
Wie kommt es, daß die wilden Wasser wogen, die Vögel verstummen und
die Kreatur, d. h. jedes lebende Geschöpf, bange harrt? An welchen Tag
denkt der Dichter bei den Schrecken des Gewitters? Warum gibt ein
gut Gewissen Mut und Ruhe im Gewitter, auch im letzten? Wie bewacht
man ein gutes Gewissen?
III. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1 Schönheit der Berge,
Str. 2 der Matten, Str. 3 der Bäume, Str. 4 der Saatfelder, Str. 5
des Himmels, Str. 6 des Herzenfriedens, Str. 7 und 8 die Schrecken
eines Gewitters, Str. 9 der Segen eines guten Gewissens. Drücke den In-
halt der einzelnen Strophen in kurzen Sätzen aus!
2. Grundgedanke. Wie schön erscheint die Erde im Sommer
einem Herzen, in dem der Friede Gottes wohnt! Ein gutes Gewissen
gibt Ruhe und Zuversicht im Gewitter und beim Weltgerichte.
3. Eigentümlichkeit. Jede Strophe fängt mit einem reimlosen
Ausruf an, der gleichsam das Thema ist, das in der Strophe aus-
geführt wird.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Viele Züge in dem „Sommer-
liede" erinnern an die herrliche Naturschilderung in Ps. 104. Str. 1:
Auf den Bergen wohnet die Freiheit! Ich bin vom Berg der Hirten-
knab' —. Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle. Str. 2, 3 und 4:
Ps. 104, 13. 14. Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu
Nutz den Menschen. Du feuchtest die Berge von oben her, du machest
das Land voll Früchte, die du schaffest. — Ühlands Apfelbaum als guter
Wirt. Str. 5: Ps. 19, 6: Die Sonne gehet wie ein Bräutigam aus
ihrer Kammer. Str. 6: Die Welt ist vollkommeu überall, wo der Mensch
nicht hinkommt mit seiner Qual. (Schiller.) Str. 7 und 8: Elias sah auf
dem Karmel das Feuer des Herrn vom Himmel fallen, vom Horeb
einen Wind die Berge zerreißen, ein Erdbeben die Felsen zerbrechen und
ein Feuer hindurch fressen. Str. 9: Das jüngste Gericht und das Ende
der Welt. Matth. 25, 31—46. Luk. 21, 25—36. „Wenn der jüngste
Tag will werden —."
2. Aufgaben, a) Welchen Nutzen gewähren die bewaldeten Berge?
b) Wie entstehen der Tau, die Wolken, die Gewitter, der Regen und biß
Bäche? c) Schildere das Leben auf einem Baume! ck) Was erzählt die
Bibel vom jüngsten Tage und dem Weltgericht? P-
426
III. Lyrische Gedichte.
162. Der blühende Flachs.
Friedr. Adolf Krummacher, Der Sonntag. Essen 1828. S. 68.
I. Einführung. Der Parabeldichter Fr. Ad. Krummacher hebt in
seiner Gedichtsammlung „Der Sonntag" unter den Freuden des Sonn-
tags die Gänge in die schöne Gottesnatnr und die sinnige Betrachtung der
Natur hervor. Er ladet alt und jung ein, in die Felder des Wasser- und
gewächsreichen Geländes (der Auen) zu kommen und recht acht auf den
Flachs oder Lein, das Lieblingspflänzchen der Mädchen, zu haben und
dessen Lebensgeschichte zu verfolgen. Derselbe gleicht selbst einer beschei-
denen Jungfrau, wird hauptsächlich von den Mädchen bearbeitet und von
ihnen besonders geliebt. Während die Getreidefelder sich goldgelb färben,
grünt und wächst der Lein noch, trägt eine blaue Blütenkrone und helle
Tautropfen wie Edelsteine. Im Herbst wird der Flachs mühevoll und
sorgsam zubereitet und im Winter vom Rocken der Spinnräder zu seiden-
weichen, silberweißen Fäden gesponnen. In den Spinnstuben des Winters
vereinigen sich die Mädchen zu einem schönen Kranze, lassen die Räder
schnurren und ihre Lieder ertönen. Hören wir die poetische Lebens-
geschichte des Flachses!
1. Auf, kommt in die Felder und blühenden Au'n, das liebliche Pflänzchen
der Mädchen zn schaun! Es wächset und grünet so freundlich und zart, jung-
fräulich-bescheiden in eigener Art.
2. Laut rauschet vom Golde der Ähren das Land; still grünet das Pflänz-
chen in schlichtem Gewand; doch trägt es ein Krönlein von himmlischem Blau,
des Krönleins Gestein ist der funkelnde Tau.
3. Erst barg es die Erde im kühligen Schoß, dann zogen die freundlichen
Lüftchen es groß. Nun woget und wallet es lieblich und schlank. Du Erde,
ihr Lüftchen, habt freundlichen Dank!
4. Bald tragen wir sorglich das Pflänzchen hinein; dann schmückt es den
Rocken mit silbernem Schein. Wir fingen zum tönenden Rädchen und drehn
die Fädchen, wie Seide so glatt und so schön.
5. Wenn draußen die Felder erstarren von Eis, dann ruft uns das
Pflänzchen zum traulichen Kreis. Jetzt blühend und grünend ergötzt uns sein
Glanz; dann schlingt es uns selber zum blühenden Kranz.
6. Drum kommt in die Felder und blühenden Au'n, das liebliche Pflänz-
chen der Mädchen zu schaun! Es grünet und blühet so freundlich und zart,
jungfräulich-bescheiden in eigener Art.
II. Erläuterungsfragen. Was findet sich alles in den blühenden
sommerlichen Auen oder Gefilden? Warum heißt der Flachs oder Lein
„Pflänzchen der Mädchen"? Wann heißt er gewöhnlich erst Fl achs?
Worin besteht seine eigene oder eigentümliche Art? Was ist das Gold
d-er Ähren? Wann rauschen die Ähren? Was hat der Lein mit einer
Königin gemein? Was vom Flachs barg die Erde im kühligen (d. h.
mildkühlen) Schoße? Wie haben die Lüfte bei der Erziehung geholfen?
(Sie haben das Pflänzchen gewiegt und ihm Tau und Regen zugeführt.)
Was liegt zwischen dem Hineintragen des Flachses und dem S p i n n e n
voni Rocken? (Raufen, Ressen oder Abkämmen der Leinknoten, Rösten
im Wasser oder auf der Erde, Trocknen, Klopfen, Brechen, Schwingen
und Hecheln.) Warum heißt die Flachsfarbe silberner Schein? Wann
Krummacher: Der blühende Flachs.
427
kommen die Mädchen in den Spinnstuben zusammen? Wann schlingt sie
der Flachs gleichsam zu einem Kranze zusammen? Was tun die Mädchen
in den Spinnstuben?
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist an einem Sonntag-
nachmittage im Sommer, etwa im Juli. Ein fruchtbares Gefilde, von
Bächen durchrieselt, dehnt sich weit aus. Wiesen, Frucht- und Gemüse-
felder wechseln miteinander ab. Dazwischen liegen auch einzelne Lein-
oder Flachsfelder, die in voller Blüte stehen. Der blaue Himmel scheint
auf die Erde herabgesunken. Die Roggen- und Weizenfelder nähern sich
der Reife, sind weiß oder goldgelb und rauschen im Luftzuge.
2. Beschreibung des Flachses. Et hat einen schlanken Stengel,
der bei gehöriger Wärme und Feuchtigkeit bis 1/2 m hoch wird. Er ist
wechselständig mit schmalen Blättchen besetzt. Die blaue Blütenkrone be-
steht aus fünf Blättchen. Die Frucht ist eine Kapsel mit zehn Fächern,
in denen die braunen, platten, herzförmigen Leinsamen liegen. Man
unterscheidet D r e s ch - und K l a n g l e i n. Die Knoten des ersteren werden
mit Dreschflegeln zerschlagen, die des letzteren springen in der Sonne mit
einem Knistern oder Klingen auf und lassen die Samen herausfallen.
Aus dem zarten und festen Bast der holzigen Stengel wird der Flachs
bereitet, das Garn gesponnen und die Leinwand gewebt.
3. Gedankengang. Str. 1. Wir werden aufgefordert, in das Feld
zu gehen und den Flachs zu beschauen. Str. 2. Zwischen den Ähren-
feldern steht er im schlichten Kleide, aber im schönen Krönlein. Str. 3.
Erde und Lüfte haben ihn großgezogen. Str. 4. Nach seiner Zubereitung
wird er vom Rocken des Spinnrades zu feinen Fäden gesponnen. Str. 5.
Im Winter vereinigt er die Mädchen in den Spinnstuben zu einem schönen
Kranze von Menschenblüten. Str. 6. Nun wir seine Bedeutung kennen,
werden wir nochmals zu einem Gange in die Fluren aufgefordert.
4. Grundgedanke: Der Flachs ist die Pflanze der Mädchen; denn
er gleicht einer bescheidenen Jungfrau, wird von den Mädchen bearbeitet,
vereinigt sie zu schöner Gemeinschaft und macht ein gutes Stück ihres
Reichtums im Hause aus.
5. Eigentümlichkeiten. Das Gedicht ist reich, ja fast zu reich
an schmückenden Beiwörtern. Suche sie auf! Das Wiegen der Blüten-
kronen, das Schnurren des Rades und das Sausen des Fadens wird
durch den lebhaften dreiteiligen Rhythmus (Daktylus) nachgeahmt.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. In Schillers „Lied von der
Glocke" heißt es von der Hausfrau:
Sie füllet mit Schätzen die duftenden Laden
und dreht um die schnurrende Spindel den Faden
und sammelt in reinlich geglättetem Schrein
die schimmernde Wolle, den schneeichten Lein
und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer
und ruhet nimmer.
2. Rede- und Stilübungen, a) Die Lebensgeschichte des Flach-
ses! b) Wie unterscheiden sich wollene und leinene Kleidungsstücke? e)
Was wird aus Leinwand verfertigt? P.
428
III. Lyrische Gedichte.
163. Das Ahrenfeld.
£>. Hoffmann v. Fallersleben. Die vier Jahreszeiten. 1864. S. 45.
1. Ein Leben war's im Ährenfeld
wie sonst wohl nirgend auf der
Welt;
Musik und Kirmeß weit und breit
und lauter Lust und Fröhlichkeit.
2. Die Grillen zirpten früh am Tag
und luden ein zum Zechgelag:
Hier ist es gut; herein! herein!
Hier schenkt man Tau und Blüten-
wein.
3. Der Käfer kam mit seiner Frau,
trank hier ein Mäßlein kühlen
Tau,
und wo nur winkt ein Blüinelein,
da kehrte gleich das Bienchen ein.
4. Den Fliegen ward die Zeit nicht
lang,
sie summten manchen frohen Sang.
Die Mücken tanzten ihren Reihn
wohl auf und ab im Sonnenschein.
5. Das war ein Leben rings umher,
als ob es ewig Kirmeß wär'.
Die Gäste zogen aus und ein
und ließen sich's gar wohl dort
sein.
6. Wie aber geht es in der Welt?
Heut' ist gemäht das Ährenfeld,
zerstöret ist das schöne Haus,
und hin ist Kirmeß, Tanz und
Schmaus.
I. Vermittlung und Vertiefung. Inhaltsangabe und Glie-
derung. Str. 1. Im Hochsommer, wenn das Getreide reift, geht es auf
dem Ährenfeld ebenso lebhaft und lustig zu wie auf der Kirmeß. Inhalt:
Lust und Freude im Ahrenfeld. — Str. 2. Die lustige Gesell-
schaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Tieren. Den Anfang machen
die Grillen, die schon früh am Tage munter sind und durch ihr Zirpen
alle andern Gäste zum Zechgelage einladen. (Zechen heißt gemeinschaft-
lich vergnügt sein beim Essen und Trinken. Z e ch g e l a g e ist die Gasterei,
das Mahl, wobei die Gäste ungebunden schmausen.) Der Schmaus be-
steht in Tau und Blütenwein, für die kleinen Gäste aus der Jnsektenwelt
eine vortrefflich süße Kost. Jnhalt:DieGrillenladenzum Zech-
gelage ein. — Str. 3. Die ersten Gäste sind die Käfer. Sie trinken
ein Mäßlein Tau. Ihnen folgen die Bienen, die den Blütenhonig
saugen. Jnhalt:Zuerst kommenKäfer und Bienen. — Str. 4.
Die Fliegen erscheinen als fröhliche Musikanten und Sänger und die
Mücken als lustige Tänzer. Inhalt: Fliegen und Mücken kom-
men zum Gelag. — Str. 5 wiederholt nochmals mit andern Worten
den Inhalt der ersten Strophe. — Str. 6. Mit der Frage: „Wie aber
geht es in der Welt?" erinnert der Dichter an die Vergänglichkeit aller
irdischen Freuden. Das Feld wird gemähet, und „zerstöret ist das schöne
Haus" (der angenehme Aufenthaltsort), und vorüber sind alle Fest-
freuden: „Kirmeß" (das Fest überhaupt), „Tanz" (der eine Teil) und
„Schmaus" (der andere Teil des Festes).
II. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Alles Ding hat seine Zeit.
Es kann nicht alle Tage Festtag sein. — 2. Rede- und Stilübung:
Vergleichung des Gedichts mit „Käferhochzeit" von R. Löwenstein
(Band I, Nr. 146).
In beiden Gedichten wird ein Fest gefeiert, dazu eingeladen, besucht
von Bienen, Fliegen und Mücken zum Tanze.
Hebel: Das Liedlein vom Kirschbaum.
429
Die Grille ladet zum Zechgelage im Ährenfelde, der Käfer zu seiner
Hochzeit auf blumiger Wiese. Die Gäste beim Zechgelage sind Käfer,
Bienen, Fliegen und Mücken, bei der Hochzeit außerdem Schmetterling,
Spinnlein, Wespe, Goldkäfer, Glühwurm und Bremse. Die Zechgäste
bringen nichts mit, die Hochzeitsgäste aber Geschenke. Das Zechgelag
endet die Ernte, die Hochzeit ein Tanz. W. D.
164. Das Liedlein vom Kirscbbaum.
Joh. Peter Hebels alemannische Gedichte, von Rob. Reinick ins Hochdeutsche übertragen.
Leipzig 1869. S. 23.
I. Vorbereitung. Was unser Gott erschaffen hat, das will er auch
erhalten. Allen seinen Geschöpfen gibt er zur rechten Zeit Speise und
Freude. Darum beten wir vor Tische: „Aller Augen warten auf dich,
Herr, und du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit; du tust deine milde
Hand auf und sättigst alles, was da lebet, mit Wohlgefallen."
Wenn die Menschen essen wollen, so wird der Tisch gedeckt und das
Gemüse aufgetragen. Nachher wird der Kaffee aus Porzellankannen in
Tassen geschüttet und durch Zucker versüßt. Wie aber Gott seinen Ge-
schöpfen den Tisch deckt, das hat uns der gemütvolle Dichter Hebel, der
für alles in der Natur ein klares Auge, ein warmes Herz und einen
treffenden Ausdruck hat, in dem „Liedlein vom Kirschbaum" gezeigt.
Gott zeigt er uns als gütigen Gastgeber, die Jahreszeiten als pünkt-
liche und geschäftige Speisemeister, Wurm, Biene und Spatz als des
lieben Gottes Kostgänger. Hören wir sein Gedicht, in dem er die
Dinge der Natur gar lieblich personifiziert oder mit menschlichen
Wesen vergleicht!
1. Zum Frühling sprach der liebe Gott: „Geh, deck dem Wurm auch
seinen Tisch!" Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub, viel tausend
Blätter grün und frisch.
2. Das Würmchen ist im Ei erwacht, — es schlief in seinem Winter-
haus, — es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf und reibt die blöden
Augen aus.
3. Und darauf hat's mit stillem Zahn an seinen Blätterchen genagt; es
sagt: „Man kann nicht weg davon; was solch' Gemüs' mir doch behagt!"
4. Und wieder sagt der liebe Gott: „Deck jetzt dem Bienchen seinen
Tisch!" Da treibt der Kirschbaum Blüt' an Blüt', viel tausend Blüten weiß
und frisch.
5. Und 's Bienchen sieht es in der Früh im Morgenschein und fliegt
heran und denkt: „Das wird mein Kaffee sein; was ist das kostbar Porzellan!
6. Wie sind die Täßchen rein gespült!" Es streckt sein Züngelchen hinein,
es trinkt und sagt: „Wie schmeckt das süß! Da muß der Zucker wohlseil sein!"
7. Zum Sommer sagt der liebe Gott: „Geh, deck dem Spatz auch seinen
Tisch!" Da treibt der Kirschbaum Frucht an Frucht, viel tausend Kirschen
rot und frisch.
8. Und 's Spätzchen sagt: „Jst's so gemeint? Ich setz' mich hin, ich hab
App'tit; das gibt mir Kraft in Mark und Bein, stärkt mir die Stimm' zu
neuem Lied."
9. Da sagt zum Herbst der liebe. Gott: „Räum fort! Sie haben abge-
speist." Drauf hat die Bergluft kühl geweht, und 's hat ein bissel Reif geeist.
430
III. Lyrische Gedichte.
10. Die Blätter werden gelb und rot, eins nach dem andern fällt schon
ab, und was vom Boden stieg hinauf, zum Boden muß es auch herab.
11. Zum Winter sagt der liebe Gott: „Jetzt deck, was übrig ist, niir zu!"
Da streut der Winter Flocken drauf. (Nun danket Gott und geht zur Ruh'!)
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Das Gedicht zeigt uns den
Kirschbaum im Garten in den verschiedenen Jahreszeiten. Im Frühling
bedeckt er sich mit frischen, grünen Blättern. An einem derselben nagt
ein Würmlein still und behaglich. Vor Entfaltung der Blätter ist der
Baum mit weißen Blüten wie mit Schneeflocken überschüttet. Summende
Bienen saugen Honig aus den Blüten. Im Sommer hängt der Baum
voll roter Kirschen. Der kecke Spatz läßt sie sich schmecken. Im Herbst
legt sich nachts zarter Reif auf die Blätter; sie werden gelb und rot
und vom Winde zur Erde geweht. Der Winter begräbt alles unter
dem Schnee.
2. Charakteristik. Gott, der Schöpfer, ist auch der Erhalter und
Versorger seiner Geschöpfe. Er zeigt seine Allmacht, Güte und Weisheit,
indem er allen Geschöpfen zur rechten Zeit die passende Nahrung gibt.
— Der Kirschbaum erscheint als unerschöpfliche Vorratskammer, als
ein „Tischlein deck dich!" für die Geschöpfe. — Die Jahreszeiten sind
willige, pünktliche und verständnisvolle Boten Gottes. — Der Wurm
(für die häßliche und gefräßige Raupe) wird mit einem Büblein ver-
glichen, das eben in seiner Wiege aufgewacht ist, sich dehnt und streckt,
mit den Fäustchen die verschlafenen (blöden) Augen ausreibt und nun
mit stillem Behagen sein Süpplein sich schmecken läßt. — Die Biene
zeigt sich geschäftig, fleißig, genäschig und sauber. — Der Spatz, dieser
gemeine Gassenbube, ist hungrig, dreist und der guten Meinung, daß er
sich Kraft und eine geschmeidige Kehle an den Kirschen essen könne.
3. Gedankengang: Str. 1. Der Kirschbaum belaubt sich. Str. 2.
Die Raupe erwacht aus dem Ei. Str. 3. Sie labt sich an den Blättern.
Str. 4. Der Baum blüht. Str. 5. Die Biene fliegt heran. Str. 6.
Sie läßt sich die süße Kost schmecken. Str. 7. Der Baum trägt Kirschen.
Str. 8. Der Spatz greift ohne Umstände zu. Str. 9. Der Herbst kommt
mit kühler Luft und Reif. Str. 10. Die Blätter fallen ab. Str. 11.
Der Winter deckt alles mit Schnee zu.
Grundgedankens. 145,15. 16: Aller Augen warten auf dich —.
4. Eigentümlichkeiten. Der unbeschreibliche Reiz des Gedichtes
liegt in der Personifikation und volkstümlichen Redeweise der Geschöpfe,
in den treffenden Vergleichen und in der frohen Laune, die durch das
Gedicht weht. Gott befiehlt den Jahreszeiten als gehorsamen und
geschickten Dienern, den Tisch zu decken, aufzutragen, abzuräumen und
zuzudecken. Der Wurm wird mit einem Kindlein verglichen, das eben
ausgeschlafen hat, die Biene mit einem Mägdlein, das zum Kaffee ein-
geladen ist, der Spatz mit einem Buben, der ungeheißen tapfer zulangt.
Jedes spricht treu nach seiner Rolle. Noch viel reizvoller ist das Gedicht
in der ursprünglichen alemannischen Mundart. Das ist seine kleidsame
Bauerntracht. Das Hochdeutsch hat das Bauernkind in vornehme Kleider
Hebel: Das Spinnlein. 431
gesteckt und ihm dadurch seine eigenartige Schönheit verhüllt. Str. 1 und
10 lauten:
1. Der lieb Gott het zum Frühling 10. Und d'Blättli werde gel und rot
gseit: und fallen eis im andre no,
„Gang, deck im Würmli au si Tisch!" und was vom Bode obsi chunnt,
Druf het der Chriesbaum Blätter muß au zum Bode nidsi goh.
treit,
viel tausig Blätter grün und frisch.
Um das Schönheitsgefühl nicht zu verletzen, und um nicht durch den
Gedanken an die häßlichen Raupen und ihren verderblichen Raupenfraß
zu stören, wird nur von „einem Würmlein" geredet. Ebenso tritt der
diebische Spatz nicht in einem räuberischen Heere, sondern als einzelner
Besucher auf. Spaßhaft wirkt es auch, daß sich der zwitschernde und
kreischende Gassenbube durch die Kirschen die Stimme zu neuem Liede
stärken will. — Die letzte Strophe bricht mit der 3. Zeile plötzlich ab, um
den plötzlich hereinbrechenden Winter, der Leben und Bewegung hemmt,
zu kennzeichnen.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes.
Matth. 6, 26. Sehet die Vögel unter dem Himmel an —. Matth. 10,
29—31. Kauft man nicht zween Sperlinge —. Es ist kein Mäuschen so
jung und klein — (Bd. I, Nr. 45). Das Kirschlied von Krummacher
(Bd- I, Nr. 327), 1. Mos. 1, 29. Gott sprach: Sehet da, ich habe euch
gegeben allerlei Kraut —. Morgengespräch des Hausfreunds mit dem Ad-
junkten, der vom Kirschbaum kam, über den Spruch: Du machst fröhlich
alles, was da webet, beide des Morgens und des Abends. (Hebels ge-
sammelte Werke. Berlin 1869. G. Grote. Bd. II, S. 142.) Lausch,
Des Kirschbaums Gäste (Bd. I, 364).
2. Rede- und Stilübungen, a) Erzähle schlicht den Gang der
Handlung im Gedichte! (Im Frühling bekommt der Kirschbaum frische,
grüne Blätter. Daran nagt still eine Raupe, die aus einem Ei geschlüpft
ist usw.) b) Gib die Vergleiche im Gedichte an! (Gott ist ein gütiger
Wirt. Die Jahreszeiten sind seine gehorsamen Diener. Der Kirschbaum
ist ein gedeckter Tisch, die Raupe ein eben erwachtes Kind, das Blatt
zartes Gemüse, der Honigtau Kaffee, die weiße Blüte Porzellan usw.)
e) Beweise die Wahrheit des Wortes: „Und was vom Boden stieg hinauf,
zum Boden muß es auch herab!" (Der Saft steigt aus der Erde und
bildet oben die Blätter. Sie verwelken, fallen ab und werden wieder
zu fruchtbarer Erde. Das Wasser steigt als Dunst in die Höhe —. Der
Vogel steigt in die Lüfte —. Der Ballon fliegt in die Höhe —. Des
Menschen Leib ist von Erde genommen usw.) P.
165, Das Spinnlein.
Joh. Peter Hebel. Alemannische Gedichte. Ins Hochdeutsche übertragen von Rob. Reinick.
Leipzig 1852. S. 159.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Eine griechische Sage er-
zählt: Arachne, die Tochter eines Purpurfärbers, erlernte von der Göttin
Athene die Webekunst. Stolz auf ihre Geschicklichkeit, forderte sie ihre
432
III. Lyrische Gedichte.
Lehrmeisterin zu einem Wettstreit heraus. Vergebens warnte die Göttin.
Arachne fertigte ein kunstvolles Gewebe mit allerlei spöttischen Darstellun-
gen aus der Götterwelt an. Die erzürnte Göttin zerriß es. Arachne aber
erhängte sich in ihrer Verzweiflung. Die Göttin gab ihr zwar das Leben
wieder, aber in Gestalt einer Spinne, damit sie spinnen, weben und
nach Belieben — hängen könne.
Die Spinne ist eine Meisterin im Spinnen und Weben. Aus sieb-
artig durchlöcherten Warzen des Hinterleibes zieht sie schnell von Spinn-
saft den feinen Faden, der vielfach zusammengesetzt ist und an der Luft
rasch erhärtet. Ihre acht Füße braucht sie bei der Arbeit als Hände und
als Haspel. Zwischen zwei Pfosten oder Häusern zieht sie den Faden
wie eine Brücke durch die Luft, oder sie baut daraus ein kunstreiches
Häuschen für ihre Kinder oder ein Netz, in dem sie ihre Beute sängt.
Der Dichter Joh. Peter Hebel hat sie in ihrem Tun und Treiben auf-
merksam belauscht. Er ist ein Freund und Kenner der Natur, der mit
scharfen Augen und sinnigem Gemüte mehr und besser sieht als andere
Leute. Alles lebt ihm, alles zeigt die Weisheit und Güte des Schöpfers.
Nicht die Häßlichkeit der Spinne, sondern ihr Geschick und ihre mensch-
liche Geschäftigkeit sieht und bewundert er. Was er geschaut und einem
Gevatter gezeigt, das hat er mit guter Laune, frommem Ernste und kind-
licher Sprache in einem Gedichte dargestellt. Hört es!
1. Nun seht mir doch das Spinnlein
an,
wie zart's die Fäden zwirnen kann!
Du glaubst, du könnt'st es auch
so fein?
Gevatter, nein! das läßt du sein! —
Es macht es so subtil und nett,
schlimm wär's, wenn ich die Ar-
beit hätt'!
2. Wo mag solch' Flachs zu haben
sein?
Wer hechelt ihn so zart und fein?
Müßt' manche Frau, wo sie ihn
kriegt,
sie holt' ihn sich und wär' ver-
gnügt.
Nun schau, wie es sein Füg lein setzt,
die Ärmel streift, die Finger netzt!
3. Jetzt zieht es lange Fäden aus,
spinnt eine Brück' zum Nachbar-
haus,
baut eine Landstraß' in der Luft,
die hängt dann früh voll Morgen-
duft;
baut auch 'nen Fußweg nebendran,
damit es flink hinüber kann.
4. Es spinnt und wandelt aus und ab,
potztausend! in Galopp und Trab,
jetzt in die Quer, jetzt wieder
krumm;
sieh! einen Ring spannt es herum,
jetzt schießt es zarte Fäden ein;
das soll wohl ein Gewebe sein?
5. Da stutzt es, schau! jetzt hält es
still;
es weiß nicht recht, wohin es
will, —
es läuft zurück, es scheint mir doch,
es hätt' da was vergessen noch.
Nun hält es wieder ein im Lauf
und denkt: „Ei was! das hält
. mich auf!"
6. Es spinnt und webt, ohn' Ruh
und Rast,
so zierlich, man verguckt sich fast.
Des Pfarrers Paul hat gar ge-
sagt,
solch' Faden sei aus zwei'n ge-
macht.
Der hat kuriose Augen wohl,
der's zählen und erkennen soll.
7. Jetzt putzt es seine Händchen ab,
es steht und reißt den Faden ab.
Jetzt sitzt es da im Scminerhaus
und schaut die lange Straß' hin-
aus;
es sagt: „Man quält sich früh und
spät
und freut sich doch, wenn's Häus-
chen steht."
Hebel: Das Spinnlein.
433
8. In freien Lüften wogt und
schwankt's,
und in der lieben Sonne hangt's;
sie scheint ihm grad durchs Bein-
chen her,
das tut ihm wohl! Im Feld um-
her
sieht's Mücken tanzen jung und
fett;
da denkt es: „Ja, wenn ich die
hätt'!"
9. Du Tierchen, hast mich ganz ver-
zückt,
wie bist so klein und so geschickt!
Wer hat dich nur das Ding ge-
lehrt?
Ich denk', er, der uns alle nährt,
der jedem gibt, was ihm gebricht:
vertrau ihm, er vergißt dich nicht!
10. Da kommt 'ne Fliege; nein, wie
dumm!
Sie rennt ihm fast sein Häusel um.
Die winselt jetzt und macht Ge-
schrei,
du armer Schelm, es ist vorbei!
Hast denn kein Aug' am Kopfe
dran?
Was gehn dich unsre Sachen an?
11. Sieh, 's Spinnchen hat schon auf-
gepaßt,
es zuckt, — da hat es sie gefaßt;
es denkt: „Wer sich so plagt den
Tag,
verdient auch Braten dann her-
nach."
Ich sag's ja! wenn dir was ge-
bricht,
der alle nährt, vergißt dich nicht.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist Sommer. Eine Spinne
hat ihre Fäden von einem Haus zum andern gezogen, eilt darauf hin
und her und läßt sich im Luftzuge auf und nieder wiegen. An einer
Stelle spannt sie ein Fangnetz von ringförmigen und querlaufenden Fäden
aus, um die herumtanzenden Mücken zu fangen. Früh ist das Netz von
Tau beträuft, den dann die Sonne ableckt. Die Spinne lauert in einem
Versteck auf Fliegen und Mücken, die sich ins Netz verirren. Wenn eine
täppisch hineingerät und sich strampelnd und summend zu befreien sucht,
dann schießt die Spinne hastig herbei, tötet den Gefangenen durch einen
Biß, wickelt ihn in Fäden und trägt ihn als erwünschten Schmaus beiseite.
2. Charakter der Spinne. Weise nach, daß die Spinne ge-
schickt, fleißig, flink, ordnungsliebend, hungrig und dann
gesättigt ist. Welche Tätigkeiten verrichtet sie? Sie zwirnt zarte
Fäden, setzt die Füßchen, streift die Ärmel (das vorderste der vier
Fußpaare), netzt die Finger, zieht Fäden aus usw.
3. Gedankengaug. Str. 1. Wir wundern uns über die feine
(subtile) Arbeit der Spinne. Str. 2. Manche Frau wünscht sich solchen
Spinnstoff und solches Spinngeschick. Str. 3. Sie baut eine Landstraße
oder Brücke in die Luft und einen Fußweg daneben. Str. 4. Sodann
mit äußerster Geschäftigkeit das radförmige Fangnetz. Str. 5. Sie scheint
in Verlegenheit. Str. 6. Das Gewebe ist überaus fein. Str. 7. Sie
beendet ihre Arbeit und freut sich darüber. Str. 8. Sie ist hungrig und
wartet aus Beute. Str. 9. Der Zuschauer ist von dem Tierlein entzückt
und verheißt ihm Speise. Str. 10. Eine unvorsichtige Fliege sängt sich.
Str. 11. Die Spinne verspeist sie.
Grundgedanke: Gott, der alle nährt, vergißt keines seiner Ge-
schöpfe; vertrau ihm nur! Wer aber nicht arbeitet, der soll auch
nicht essen.
4. Eigentümlichkeit. Die Spinne ist als Person gedacht und
dargestellt, denkt, spricht und arbeitet wie ein Mensch. Der Dichter hat
AdL. II. 8. Ausl. 28
434
III. Lyrische Gedichte.
dem stummen Tierlein seine Gedanken und Worte geliehen und ist sein
Dolmetscher. Bilder und Vergleiche sind besonders treffend und schön.
Wie ein fleißiges Mädchen „zwirnt" die Spinne die Fäden (am Spinn-
rad), setzt die Füßchen (aufs Trittbrett), streift die Ärmel auf, netzt die
Finger (damit der Faden glatt und fest wird), zieht die Fäden zu einer
Brücke durch die Luft, macht in einem zweiten Faden einen Steg daneben,
webt ein radförmiges Netz aus Ringen und Querstrahlen, rennt hin und
her, als ob sie etwas vergessen hätte, putzt die Hände, reißt den Faden
ab, wenn's genug ist, freut sich über den vollendeten Bau, läßt sich auf
der schwanken Brücke im blanken Sonnenschein schaukeln, wünscht sich einen
Abendschmaus, paßt auf die blind anrennende Fliege, zuckt auf, faßt die
Beute und verspeist sie als Lohn für fleißige Arbeit.
III.Verwertung. I.NutzanwendungundVerwandtes.Str.9:
Ich denk', er, der uns alle nährt —. Str. 11: Es denkt: Wer so sich
plagt den Tag —. Wer nicht arbeitet, der —. Aller Augen warten
aus dich —. Du machst fröhlich, was da webet, beide des Morgens und
des Abends. — Hebels „Der Kirschbaum" und die „Spinnen" (Hebels
Werke II, 142. I, 222. Berlin, Grote 1869). König Salomo zeigt seinen
Hofleuten die Spinne als Muster des Fleißes, der Klugheit und Enthalt-
samkeit. Die Spinne und der Gefangene.
2. Rede- und Stilübungen, a) Vergleichung der Spinne mit
einem fleißigen Mädchen! (Vgl. II, 4!) b) Gedankengang der Dichtung in
einer kurzen Erzählung! (II, 3!) c) Die Spinne als Spinnerin, Weberin,
Brückenbauerin und Jägerin! d) Nachbildung: Der Ameisenlöwe! (Der
Ameisenlöwe ist die Larve der Ameisenjungser. Er gräbt sich sehr geschickt
eine trichterförmige Grube in den Sand und wartet am Grunde mit auf-
gesperrten Kiefern auf Beute. Sieht er ein Insekt am Rande seiner Fang-
grube, so wirft er danach mit Sandkörnern, bis es in die Grube stürzt
und seine Beute wird.) e) Eingeschobene Gedanken des Dichters in Form
eines Selbstgespräches! (Kein Mensch kann so feine Fäden spinnen. Es
wäre schlimm, wenn ich's müßte. Wenn manche Frau so feinen Flachs
kriegen könnte, liefe sie weit danach. Manchmal scheint mir das Tierchen
in einer Unruhe und Verlegenheit, als ob es etwas vergessen hätte! Man
verguckt sich (versieht sich, sieht falsch) fast an dem feinen Gewebe. Es
gehören gute Augen dazu, will man zählen und erkennen, daß jeder
Faden noch mehrmals zusammengesetzt ist. Ich bin ganz entzückt über
das kluge und geschickte Tierlein. Woher es nur das alles gelernt? Du
hast Hunger? Vertrau nur dem, der jedem gibt, was ihm gebricht!)
f) Züge des Humors in dem Gedichte! (Das Spinnlein zwirnt zarte
Fäden. Gevatter, das läßt du wohl sein! Der Flachs ist zart und fein
gehechelt. Müßt' manche Frau, wo sie ihn kriegt, sie holt' ihn sich und
wär' vergnügt! Wie nett setzt sich die Spinnerin in Positur! Der stärkere
Faden ist eine Brücke und Landstraße durch die Luft, der schwächere ein
Fußsteig daneben. Potztausend! Es geht im Galopp und Trab! Man
verguckt sich fast an dem Gewebe! Es gehören kuriose (sonderbare) Augen
dazu, um die Zusammensetzung der Fäden zu erkennen usw. P.
Eichendorff: Reiselied.
435
166. Neiselied.
Joseph Freiherr von Eichendorff, Gedichte. 8. Aufl. Leipzig 1874. S. 10.
I. Vorbereitung und Vortrag. Zu den anmutigsten Liedern des
liebenswürdigen Dichters Eichendorff gehören die „Wanderlieder". Sie
sind sanft und keck, natursinnig und gefühlsinnig, gedankenreich und
sprachgewandt, fröhlich und fromm. In der „Widmung" sagt der Dichter,
was sie sollen:
Viele Boten gehn und gingen Solchen Gruß kann keiner bringen,
zwischen Erd- und Himmelslust. als ein Lied aus frischer Brust.
Ein geflügelter Bote, der die Erdenlust zum Himmel trägt und die
Erdenfreude in Himmelslust verklärt, ein Gruß, der auf Erden klingt
und zum Himmel dringt, ist das folgende „Reiselied":
1. Durch Feld und Buchenhallen1),
bald singend, bald fröhlich still,
recht lustig sei vor allen,
wer's Reisen wählen will!2)
2. Wenn's kaum im Osten glühte,
die Welt noch still und weit^),
da weht recht durchs Gemüte
die schöne Blütenzeit!4)
3. Die Lerch' als Morgenbote
sich in die Lüfte schwingt,
eine frische Reisenote 5)
durch Wald und Herz erklingt.
4. O Lust, vom Berg zu schauen
weit über Wald und Strom,
hoch über sich den blauen,
tiefklaren Himmelsdom!6)
5. Vom Berge Vöglein fliegen
und Wolken so geschwind;
Gedanken überfliegen7)
die Vögel und den Wind.
6. Die Wolken ziehn hernieder,
das Vöglein senkt sich gleich;
Gedanken gehn und Lieder
fort bis ins Himmelreichs)
II. Erläuterungen. 1. Die Buchen in den Wäldern neigen sich
mit ihren Wipfeln zu schattigen Hallen oder Laubgängen zusammen.
2. Die beste Reiseausrüstung ist ein lustiger Sinn. 3. Das leere, stille
Feld erscheint weiter ausgedehnt als das von Arbeitern belebte. 4. Die
milde, balsamische Lust in der Blütenzeit weht gleichsam mild und duftig
durch das Gemüt. 5. Die Lerche verkündigt den Morgen und singt neue
Reiselieder gleichsam frischweg von Noten. Der Klang schallt durch Wald
und Feld, klingt aber im Herzen wieder. 6. Der Wanderer ist am
schönsten Aussichtspunkte der Reise angelangt. Der blaue, klare Himmel
erscheint wie die Wölbung eines Domes. 7. Die Gedanken fliegen im
Wettfluge schneller und höher als Wolken und Vögel. 8. Wolken und Vögel
sind der Erde entstiegen und kehren dahin zurück. Fromme Gedanken und
Lieder entstammen Gott und dem Himmel und führen dahin zurück.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist ein herrlicher Früh-
lingsmorgen. Weithin dehnen sich fruchtbare Saatfelder aus. Sie sind
noch menschenleer und still. An den Straßen stehen die Bäume in
Blütenpracht. Das Feld wird an der westlichen Seite von einer be-
waldeten Hügelkette begrenzt. Ein Fluß eilt aus dem Walde durch die
weiten Gefilde. Die aufgehende Sonne säumt den Himmel im Osten
goldig. Eine Lerche erhebt sich aus dem Saatfelde und trillert ihr
Morgenlied. Über der stillen, weiten Welt wölbt sich der klare, blaue
Dom des Himmels. Einzelne Wölkchen, die über den Himmel eilen,
436
III. Lyrische Gedichte.
werden rasch von der Sonne niedergedrückt. Auf einem Berge mit freier
Aussicht steht ein Wanderer und freut sich dieser Herrlichkeit. Er ist
fröhlich im Gemüt, sangeslustig und sangeskundig, emp-
fänglich für die Schönheit der Natur, aufmerksam auf jeden ein-
zelnen Zug, nachdenklich und fromm.
2. Gedankengang. Str. 1. Weg und Reisestimmung. Str. 2.
Wanderzeit. Str. 3. Reisebegleiter. Str. 4. Reisejubel. Str. 5. Reise-
gedanken. Str. 6. Reiseziele. Grundgedanke: Willst du wandern,
so nimm rüstige Füße, frohen Sinn, offene Augen, empfängliches Gemüt
und fromme Gedanken mit; dann erscheint dir die Welt als Spiegel der
göttlichen Liebe und führt deine Gedanken himmelwärts.
3. Eigentümlichkeiten. Schöne Bilder sind: Buchenhallen
statt schattiger Laubgänge, die Blütenzeit weht durchs Gemüt, die
Lerche als Morgen böte, ihr Lied als Reisenote, der Himmel als
Dom, Gedanken im Wettfluge mit Vögeln und Wolken; Wolken und
Vögel senken sich erdenwärts, fromme Lieder und Gedanken steigen him-
melwärts.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Wem Gott will rechte Gunst
erweisen, den schickt er in die weite Welt. — Wer hat dich, du schöner
Wald. —. O Täler weit, o Höhen —. Das Wandern ist des Müllers
Lust —. Lieder der wandernden Musikanten und Studenten von Eichen-
dorff. — Die Müllerlieder von Will). Müller.
2. Rede- und Stilübungen, a.) Schildere nach dem Gedicht
einen Frühlingsmorgen! b) Was für Hallen kennst du, und wie sind
sie beschaffen? e) Was in der Natur ist immer in Bewegung? (Die Luft
fließt sanft oder heftig als Wind oder Sturm dahim Die Wolken werden
vom Winde getrieben und eilen langsam oder flüchtig über den Himmel.
Das Wasser bewegt sich in einem beständigen Kreisläufe usw.) d) Was
erzählt die biblische Geschichte von „Wanderern"? ?.
167. Turnwanderlicd.
Ferdinand Maßmann. Freie Stimmen sriicher Jugend. Durch Adolf Ludwig Folien.
Jena 18t». Nr. 10. S. 11.
1. Turner ziehn froh dahin, wann die Bäume schwellen grün.
Wanderfahrt, streng und hart — das ist Turnerart.
Turnersinn ist wohlbestellt, Turnern Wandern wohlgefällt.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
2. Graut der Tag ins Gemach, dann ist auch der Turner wach.
Wird's dann hell, rasch und schnell ist er aus der Stell',
ist zur Stund' am Sammelort, und dann ziehn die Turner fort.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
3. Arm in Arm, sonder Harm wandert fort der Turnerschwarm.
Weit und breit ziehn wir heut bis zur Abendzeit.
Und der Turner klaget nie, scheuet nimmer Wandermüh'.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
4. Sturmessaus, Wettergraus hält den Turner nicht zu Haus.
Frischer Mut rollt im Blut, dünkt ihm alles gut,
singt den lust'gen Turnersang, hält sich frisch sein Leben lang.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
Maßmann: Turnwanderlied.
437
5. Stubentvacht, Ofenpacht hat die Herzen weich gemacht.
Wanderfahrt, Turnerart macht fie frank und hart,
und dem Turner wohlbekannt wird das deutsche Vaterland.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
6. Lebensdrang, Todesgang findet einst uns nimmer bang.
Frisches Blut, Männermut ist dann Wehr und Hut.
Braust der Sturm uns auch zu Grund, fall'n wir doch zu guter Stund'.
Darum frei Turnerei stets gepriesen sei!
I. Vorbereitung. Es ist in der ersten Frühe eines herrlichen Mai-
morgens. Das stille Tal ist noch geheimnisvoll in leichten Nebel gehüllt.
- Die meisten Städter Pflegen noch der Ruhe auf weichem.Lager. Da hört
man auf den Straßen eilige, feste Schritte und sieht junge Männer mit
flatternden Fahnen und mit Eichenlaub an den Hüten einer großen Halle
zuwandern. Es sind die Turner, die sich in der mit Eichenkränzen
geschmückten Turnhalle zahlreich versammeln, sich mit Jubelrufen und
dem Turnergruß begrüßen und dann zu einer Turnsahrt über Berg und
Tal, in die weite, schöne Welt hinaus, ordnen. Aus aller Augen strahlt
frischer Mut und Herzensfreudigkeit. Bald hat sich auf das laut er-
schallende Kommando des erwählten Führers die große Menge nach
Riegen geordnet, und unter Trommelschlag und Hörnerklang, in gleichem
Schritt und Tritt, Arm in Arni geht's durch die Straßen der Stadt
hinaus, den Bergen zu, die den fernen Horizont umsäumen. Aus den
sangeslustigen Kehlen aber erschallt im Marschtempo das allbeliebte
Turnerlied:
„Turner ziehn froh dahin!"
II. Vortrag. Mit erhobener Stimme nach des Turners Wahlspruch:
Frisch, frei, fröhlich, fromm! — Str. 6 mit besonderem Ernst.
III. Vertiefung. 1. Der Schauplatz. — Ursprung und Zweck
des Turnens. (Jahn, Guts-Muths, Maßmann.) — Beschreibe kurz eure
Turnhalle und die letzte Turnfahrt in ihren Hauptzügen! — Ein
Turnfest.
2. Charakter eines edlen Turners. Ein echter Turner sucht
nicht das Leichte, Bequeme, Gemächliche; scheut keine Mühe und Arbeit;
kämpft mutig gegen alle Beschwerden, Hindernisse und Widerwärtigkeiten;
ist gewöhnt an Ordnung und Pünktlichkeit; übt Treu und Redlichkeit;
zeichnet sich aus durch einen frischen, freien, fröhlichen, frommen Sinn;
liebt sein deutsches Vaterland und sieht selbst dem Tode unerschütterlich,
ernst und furchtlos ins Auge.
3. Gedankengang. a) Preis der Turuerei und Wanderschaft;
b) früher Aufbruch; e) Ausdauer auf der Wanderung bis zum späten
Abend; d) Turnersang erhöht den frischen Mut selbst in Sturm und
Wetter; e) Abhärtung der Glieder und Stärkung der Vaterlandsliebe
sind der edle Zweck; k) Anwendung auf den Ernst des Lebens.
4. Grundgedanke. Der Wahlspruch des Turners: Die vier F!
Preisgesang auf das Turnen. — Kehrreim!
438
III. Lyrische Gedichte.
5. Eigentümlichkeiten. Volltönende, zusammengesetzte, aber
auch recht kurze Schlagwörter: streng und hart, — rasch und schnell, —
weit und breit, — Arm in Arm, — Sturmessaus, Wettergraus, Stuben-
wach t, Ofenpacht, Lebensdrang, Todesgang: — sind so recht geeignet,
beini Marsch den Mut zu stählen und den Frohsinn zu erhöhen.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes: Lieder der Gesang-, Schützen-,
Feuerwehr-Vereine; Soldatenlieder.
2. Aufgaben, a) Vergleichung mit dem Marschliede von Albert
Methfessel: „Hinaus in die Ferne mit lautem Hörnerklang" usw. b) Be-
schreibung des Turnplatzes oder der Turnhalle. Rodert Wernecke.
168* Abseits.
Theodor ©tonn, Sämtl. Schriften. Brannschweig 1868. Bd. I, S. 5.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. In der Provinz Hannover
liegt die Lüneburger Heide. Sie ist nur in einigen Einsenkungen ertrag-
fähig, im größten Teile liegt der Sand auf steinigem Untergründe. Hie
und da erheben sich Grabhügel aus rohen Steinmassen, die sogenannten
Hünengräber, in denen vor alten Zeiten die Toten begraben wurden.
Auf dem Boden der Heide bildet das edle Heidekraut mit seinen roten
Glöckchen eine endlose Decke. Dazwischen lebt's und webt's von kleinen
Tieren, besonders von slinken, goldschimmernden Laufkäfern. Aus dem
Kraut erheben sich Lerchen und schweben singend in der blauen, flimmern-
den Luft. Millionen von Bienen summen und suchen die edle Honig-
speise. Der ernste Heideschäfer mit dem Strickstrumpf in der Hand treibt
seine Herde kleiner, flinker, schwarzbrauner Schafe (Heidschnucken) auf die
magere Weide. Der Kätner (Kleinbauer, Kötner, Kossat) wohnt einsam
in seiner Kate (Kote oder Kotte), einem ärmlichen Wohnhause, baut auf
seinem kleinen Landbesitz Buchweizen u. a., treibt etwas Vieh- und viel
Bienenzucht. Von dem Leben und Treiben der Welt draußen erfährt er
wenig oder nichts, denn er wohnt abseits von der Straße des Weltverkehrs
und hat mit sich zu tun. Ganz ähnlich ist und lebt der Holsteins che
und schleswigsche Heidebauer. So konnte es wohl geschehen, daß in
dem erregten Sommer 1848, als die Schleswig-Holsteiner das Dänen-
joch abschütteln wollten, ein Heidebauer in seiner Weltferne nichts von
den begeisterten Kämpfen seiner Landsleute erfuhr. Eine solche friedliche,
weltferne Heideszene im Gegensatz zu der erregten Zeit hat der holsteinische
Dichter Theodor Storm in dem Gedichte „Abseits" gezeichnet.
1. Es ist so still: die Heide liegt
im warmen Mittaassonnenstrahle,
ein rosenroter Schimmer fliegt
um ihre alten Gräbermale:Z
die Kräuter blühn: der Heideduft
steigt in die blaue Sommerluft.
2. Laufkäfer hasten?) durchs Gesträuch
in ihren goldnen Panzerröckchen?),
die Bienen hängen Zweig um Zweig
sich an der Edelheide Glöckchen,
die Vögel schwirren aus dem
Kraut —
die Luft ist voller Lerchenlaut.
3. Ein halbverfallen, niedrig Haus
steht einsam hier, und sonnbeschienen;
der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
bebaglich blinzelnd nach den Bienen;
sein Junge auf dem Stein davor
schnitzt Pfeifen sich aus Kälber-
rohr>)
Storm: Abseits.
439
4. Kaum zittert durch die Mittagsruh' er träumt von seinen Honig-
ein Schlag der Dorfuhr, der ent- ernten. —
fernten; Kein Klang der aufgeregten Zeit
dem Alten fällt die Wimper zu, drang noch in diese Einsamkeit.
1. Durchsonnte Luft flimmert und zittert um die Hünengräber, die
Grabdenkmäler aus uralter Zeit. 2. Die Laufkäfer laufen eilig oder in
Hast. 3. Die Käfer haben kein inneres Knochengerüst, aber einen äußeren
Hornpanzer, der ans ringförmigen Abschnitten besteht. 4. Kälberkorn
oder Kälberkopf (dkaoropdzcklum), eine meterhohe Doldenpflanze mit
hohlem Stengel.
II. Vertiefung. 1. Charakter des Heidebauern. Er lebt ein-
sam in der Heide, ziemlich entfernt vom Dorfe und weit abseits
vonr Weltverkehr. Er bewohnt ein ärmliches Haus, ist selbst arm,
aber genügsam, lehnt behaglich in der Tür, blinzelt erfreut
nach den fleißigen Bienen und dem spielenden Knaben, läßt müde die
Augenwimper zufallen, träumt und denkt nur an den eigenen kleinen
Vorteil, weiß und kümmert sich nicht um das Leben und Streben
draußen. Seine Heidehütte ist seine Welt, eine gute Honigernte sein
höchster Wunsch. Er zeigt das bescheidene, friedliche Glück in der Be-
schränkung und Isolierung.
2. Gedanken gang. Str. 1. Die stille Heide im Sonnenscheine.
Str. 2. Das Tierleben in der Heide. Str. 3. Der Kätner und sein
Leben. Str. 4. Seine Unwissenheit und Genügsamkeit im Gegensatze
zur Unruhe der Welt draußen.
3. Grundgedanke. Auch die stille, arme Heide hat ihre eigentüm-
liche Schönheit und die Weltferne ihr bescheidenes Glück, aber der Blick
ist beschränkt, das Leben isoliert und ohne Anteil an den Bestrebungen
der Gesamtheit.
4. Eigentümliches. Mit wenigen meisterhaften Strichen zeichnet
der Dichter die Heide in ihrer eigenartigen Schönheit, das beschränkte,
selbstsüchtige Interesse des einsamen Heidebauern in seinem Gegensatz zu
der aufgeregten Zeit. Hier der Mensch allein, einsam, unwissend, ruhig,
eingesponnen in das nächste, selbstsüchtige Interesse, dort die Menschheit
zusammenlebend, arbeitend und hohen Zielen zustrebend. Sehr wirkungs-
voll ist auch die Steigerung von Strophe zu Strophe: der Boden und
die Pflanzendecke der Heide; das rührige Tierleben; der einzelne Mensch
und seine Arbeit; der Blick auf das Streben der Menschheit.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Wie wenig braucht der
Zufriedene, um glücklich zu sein! Lebe still beglückt für dich, vergiß aber
auch die anderen nicht! Auch allein sei doch mit deinem Volke vereinigt!
Vergiß über deinem Behagen dein Volk und Land, das große Ganze,
nicht! —
2. Verwandtes, a) „Im engen Kreis verengert sich der Sinn;
es wächst der Mensch mit seinen größren Zwecken." b) „Genieße, was
dir Gott beschieden, entbehre gern, was du nicht hast! Ein jeder Stand
440 III- Lyrische Gedichte.
hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat seine Last." c) „Das Heidedorf"
von Adalb. Stifter.
3. Aufgaben, a) Entwirf ein Heidebild! — b) Die Freuden eines
Kätners in der Heide! ?.
169. A. Das Gewitter.
Jol). Peter Hebel, Werke. Karlsruhe 1853. I, S. 210. Ins Hochdeutsche übertr. v. Fr. P.
1. Der Vogel schwankt so tief und
still,
tveiß nicht, wohin er fliegen will.
Es kommt so schwarz und kommt so
schwer,
und in den Lüften hängt ein Meer-
voll Dunst und Wetter. Horch, wie's
schallt
am Blauen, und wie's widerhallt!
2. In großen Wirbeln fliegt der
Staub
zum Himmel auf mit Halm und
Laub.
Und schau mir dort das Wölklein an!
Ich hab' kein groß Gefallen dran.
Sieh, wie man's auseinander rupft,
wie unsereins, wenn's Wolle zupft!
3. So helf uns Gott und b'hüt uns
Gott!
Wie zuckt's durch Wolken feurigrot!
Und kracht und tost, es ist ein Graus!
Die Fenster zittern und das Haus.
Schau 's Kind dort in der Wiege an!
Es schläft und kehrt sich nicht daran.
4. Zu Schliengen läut't man
drein und drauf —
das Wetter hört davon nicht auf.
Da braucht man auch, wenn's don-
nern soll,
zu läuten noch die Ohren voll!
O helf uns Gott! Das ist ein Schlag!
Dort, siehst's im Baum am Gartenhag?
5. Schau, 's Büblein schläft noch
immer still,
macht aus dem Donner sich nicht viel!
Es denkt: „Das ficht mich wenig an,
er wird sein Aug' doch bei sich ha'n!"
Es atmet, dreht sich — was hat's
Not? —
aufs andre Ohrlein. Gönn' dir's
Gott!
6. Siehst du den hellen Streifen
dort?
O hör, wie's rasselt immerfort!
Es kommt! Gott woll' uns gnädig
sein!
Geht hurtig, hängt die Läden ein!
's ist gerade wie das vor'ge Mal —
gut' Nacht, du schöner Weizen all!
7. Wie schettert's aus dem Kirchen-
dach!
Und vor dem Haus wie platscht's im
Bach!
Es läßt nicht nach — daß Gott er-
barm !
Jetzt sind wir alle wieder arm! —
Zwar meinten wir's auch vor'ges
Jahr, —
wo's doch dann zu ertragen war!
8. Sieh', 's Büblein schläft noch
immerzu!
Kein Hagel stört ihm seine Ruh'.
Es denkt: „Was hilft mein Weinen
doch!
Mein Teil bleibt mir schon übrig
noch."
Ei ja, solang ich's habe: satt
bekam's noch immer früh und spat.
9. O geb uns Gott 'nen Kindersinn!
Es ist ein großer Segen drin!
Sie trauen Gott in ihrem Bett,
wenn's Spieß und Nägel regnen tät.
Und er macht auch sein Sprüchlein
wahr
mit seinen Engeln in Gefahr. —
10. Wohin kam's Wetter denn so
schnell?
Die Sonne steht am Himmel hell.
Zwar schier zu spät, doch grüß dich
Gott!
„Nein", sagt sie, „noch hat's keine
Not!
Es steht noch mancher Halm im
Bann —
Und mancher Baum und Äpfel dran.' —
11. Potz tausend! 's Kind ist auch
erwacht,
sieh, was es für ein Mäulchen macht!
Es lacht und weiß von nichts, ei ja!
Schaust, Friedel, wie es aussieht da?
Der Schelm hat gar Gefallen dran!
Geh, richt' ihm eins seinSüpPlein an!
Hebel: Das Gewitter.
441
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Hebels Gedicht versetzt uns
in ein Dorf des südlichen Schwarzwaldes im Kreise Lörrach. Unweit
davon liegt der Marktflecken Schliengen. Unter den Bergwipfeln erhebt
sich in der Ferne stattlich und schön der Blauen bei Badenweiler. Aus
der Mitte der Bauernhäuser ragt mit breitem Dache die Kirche empor.
Eins der Bauernhäuser ist mit einem schönen Obstgarten umgeben, dieser
aber von einer lebendigen Hecke (Hag oder Gehege) eingefriedigt. An
dem Hause rinnt ein Bach vorüber. Das Dorf ist mit einer schönen
Feldflur umgeben, auf der das Getreide der Ernte entgegenreift. (Die
Gemarkung heißt dort auch Bann, der Feldhüter Bann wart.) In
der Wohnstube des erwähnten Bauernhauses ist der Bauer mit seiner
Familie und schaut besorgt nach den Bergen und nach dem Himmel. In
den Berg.en donnert's, und am Himmel stehen dicke, schwarze Wolken.
Die Luft ist schwül und dunstig wie ein unheimliches Meer. Die Schwalben
streifen tief und ängstlich nahe an der Erde hin. Einzelne heftige Wind-
stöße wirbeln Staub, Halme und Blätter in die Höhe. In der Wiege
liegt des Bauern jüngstes Söhnlein Friedel und schläft ruhig und fest.
Das Gewitter bricht los. In Schliengen werden die Glocken geläutet,
weil nach einem alten Aberglauben das Glockengeläut die Gewitterwolken
zerteilt und die Blitze bricht. Wie schmettert der Donner, und wie zuckt
der Blitz! Jetzt fährt er gleich einer feurigen Schlange krachend in einen
Baum am Gartenzaune.
Ein gelber Schein fliegt durch Pie Wolken, und nun prasselt ein
entsetzlicher Hagel nieder auf die Dächer und gegen die geschlossenen Läden;
der angeschwollene Bach braust; in der Luft saust's; der Bauer jammert
um die vernichtete Ernte; das Kind aber schläft und schläft und legt sich
nur einmal auf die andere Seite. Endlich zieht das Wetter vorüber;
die Sonne bricht siegreich durch die Wolken und schaut auf die Ver-
heerung, aber auch auf das Verschonte herab. Das Kind erwacht und
lächelt heiter — wie eine himmlische Hoffnung.
II. Vertiefung. 1. DerHausvater. Zeige aus dem Gedichte, wie
der Bauer Besorgt ist, in treffenden Bildern redet, Gott anruft, auf
den Aberglauben der Schliengener schilt, an dem Beispiel des Kindes
lernt, beim Hagel Vorsicht übt, über das Unglück jammert, mutlos
in die Zukunft schaut, sich bald wieder faßt und hofft, von dem Kinde
Zuversicht und Gottvertrauen lernt, die neue Sonne mit neuer
Freude und Hoffnung begrüßt und für das erwachte Kind sorgt!
2. Gedankengang. I. Die Entstehung des Gewitters
(Str. 1—2). Str. 1. Das Gewitter droht. Str. 2. Seine Vorboten er-
scheinen.
II. Der Ausbruch (Str. 3—5). Str. 3. Blitze zucken, Donner
krachen, aber das Kind schläft. Str. 4. In Schliengen wird törichter-
weise geläutet; der Blitz schlägt in einen Gartenbaum. Str. 5. Das
Kind schläft unbekümmert und dreht sich nur auf die andere Seite.
III. Der Hagelschlag (Str. 6—9). Str. 6. Es braust und rauscht
in der Luft, und ein Hagelwetter zieht heran wie im vergangenen Jahre.
442
III. Lyrische Gedichte.
Str. 7. Der Hagel schmettert nieder auf die Dächer und vernichtet wahr-
scheinlich die schöne Ernte. Str. 8. Das Büblein schläft sorglos weiter
und gibt dem Vater die verlorene Zuversicht etwas zurück. Str. 9. Hätten
wir doch solch festes Vertrauen wie so ein Kind!
IV. Nach dem Gewitter (Str. 10—11). Str. 10. Die Sonne
erscheint wieder und neue Hoffnung mit ihr. Str. 11. Das Kind erwacht,
freut sich über die Verheerung und empfängt sein Süpplein.
3. Grundgedanke. Der Herr erscheint im Wetter; Zittern faßt
unser Herz und Zittern unsere Seele, aber gnädig geht er vorüber; nach
dem Wetter erscheint der Bogen des Friedens und leuchtet die Sonne der
Gnade. Von den Kindern sollen wir lernen stille sein und dem Herrn
vertrauen. Er wird uns nicht verlassen noch versäumen und uns zur
rechten Zeit Speise und Freude geben.
4. Eigentümliches. Das Gedicht zeigt alle Schönheiten und
Vorzüge der Hebelschen Poesien. Wie anschaulich schildert er! (Hängt
die Läden ein! Wie scheitert der Hagel aufs Kirchendach! Wie zieht das
erwachende Kind ein krummes Mäulchen!) Wie denkt er sich in die An-
schauungs- und Empsindungsweise der Landleute! (Die zerfetzte
Wolke sieht aus, als ob unsereins Wolle zupfte. Die Verzweiflung über-
treibt: „Nun sind wir alle arm!" Die Überlegung sagt: „Das meinten
wir auch voriges Jahr, und doch ist's besser geworden, als wir dachten.")
Wie folgerichtig greift eins ins andere! (Das abergläubische Gewitter-
läuten und das Einschlagen; die wiedererscheinende Sonne und die auf-
keimende Hoffnung.) Wie schlicht, volkstümlich und fesselnd ist die
Sprache! (Ich hab' kein groß Gefallen dran. — Das ficht mich wenig
an. — Gut' Nacht, du schöne Weizenernte! Daß Gott erbarm! usw.)
Wie treffend die Bilder! (Ein Meer von Dunst und Wetter. Die Wolke
gleicht der zerrupften Wolle. Es regnet Spieß' und Nägel.) Wie schön
sind die Personifikationen! (Frau Sonne, Gott grüß' dich!) Wie
beleben die Ausrufe, Fragen, Selbst - und Zwiegespräche den
Gang der Handlung! (Potztausend! — Dort, siehst's im Baum am Garten-
hag? — Es denkt: Was hilft mein Weinen doch! — Du kommst zu spät!
Nein, noch hat's keine Not!) Wie zieht auch der Humor seine hellen
Linien in das ernste Bild! (Da braucht man auch, wenn's donnern soll,
zu läuten noch die Ohren voll! — Es atmet, dreht sich — was hat's
Not? — aufs andre Öhrlein. Gönn dir's Gott! — Potztausend! 's Kind
ist auch erwacht! Sieh, was es für ein Mäulchen macht! Es bat sich
hungrig geschlafen und den Appetit nicht durch Blitz, Donner und Hagel
verderben lassen.) — Wunderbar schön ist der Gegensatz zwischen dem
Aufruhr draußen und dem friedlichen Schlafe des Kindes, zwischen Angst
und Jammer des Vaters und der Sorglosigkeit des Söhnleins, zwischen
der Niedergeschlagenheit der Erwachsenen und dem fröhlichen Lachen und
gesunden Appetit des Kleinen. Sein kindliches Lachen und sein Appetit
sind die Bürgen, daß es trotz Hagelschlags der Familie nicht an Speise
und Freude fehlen wird.
III. Verwertung. 1. Suche aus dem Gedichte allerlei Winke für
Gerok: Gewitter.
443
dein Herz und Leben! 2. Suche verwandte Stoffe aus dem
Lesebuch und der Bibel! 3. Vergleiche das folgende Gedicht mit dem
Hebelschen!
8. Gewitter.
Karl». Gerok. Palmblätter. Taschen-Ausgabe. 5. Aufl. Stuttgart u. Leipzig 1871. S. 127.
1. Ihr Kinder, kommt herein vom Spiel,
die Lüfte wehn so dumpf und schwül,
die Wolken stehn so schwarz zuhauf, —
ein schwer Gewitter zieht herauf, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
2. Schauet, schon kommen die Winde geflogen,
himmelan wirbelt erstickender Staub,
Pappeln erbrausen, vom Sturme gebogen,
silbern erzittert das rauschende Laub;
dampfend noch in die geöffnete Scheuer
ziehen die Rosse das duftende Heu,
und in dem Neste am Giebelgemäuer
duckt sich das Vöglein schweigend und scheu.
,3. Ihr Kinder, duckt euch nicht so scheu,
seid unverzagt, kommt all' herbei,
ein treues Vaterauge wacht
auch über schwarzer Wolkennacht, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
4. Sehet, wie schaurig die Lüfte sich schwärzen,
Mittag verkehrt sich in dämmernde Nacht.
Stille wird's draußen, es klopfen die Herzen,
mächtige Tropfen schon melden sich sacht.
Plötzlich ein Blitz, der mit feuriger Lohe
blendet das Aug' und erhellt das Gemach,
und durch das Himmelsgewölbe, das hohe,
rollet der Donner mit dumpfem Gekrach!
5. Ihr Kinder, fleht zum starken Gott:
Erbarme dich, Herr Zebaoth,
in Donnerhall und Blitzesschein
vertrauen dir die Kindlein dein, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
6. Habt ihr die feurige Schlange gesehen?
Hört ihr den plötzlichen, schmetternden Streich?
Ist in der Stadt wo ein Unglück geschehen?
Wimmert vom Turme das Glöcklein sogleich? —
Nein, es ist stille; auf feurigem Wagen
fuhr uns im Wetter Jehovah vorbei;
aber nicht wollt' er mit Jammer uns schlagen,
denn er ist gnädig, barmherzig und treu.
7. Ihr, Kinder, fleht im Blitzeslicht:
Herr, geh mit uns nicht ins Gericht,
mit Wetterschlag und Feuersnot
verschon, verschon uns, lieber Gott, —
behüt uns, Gott, in Gnaden!
8. Wo jetzt im Feld sich ein Wandrer noch eilet,
fern auf der Heide noch hütet ein Hirt,
unter dem Baum sich ein Mähder*) verweilet.
444
III. Lyrische Gedichte.
weinend im Wald sich ein Kind hat verirrt,
laßt uns der Fernen, Verlassenen, Armen
betend gedenken im sichern Gemach:
Schütze der Herr sie mit mildem Erbarmen
unterm unendlichen, himmlischen Dach!
9. Ihr Kinder, rüst zur Himmelshöh':
Du Herrscher über Land und See,
den Pilger schütz in Sturmesnot,
auf wildem Meer das schwanke Boot! —
Behüt uns, Gott, in Gnaden!
10. Siehe, nun stürzen die himmlischen Quellen,
strömend ergießen die Wolken den Schoß!
Dächer, sie traufen, und Bäche, sie schwellen,
alle die Schleusen des Himmels sind los;
dämmernd verschwindet im düsteren Regen
Himmel und Erde, die weite Natur,
aber den süßen, befruchtenden Segen
durstig verschluckt ihn die lechzende Flur.
11. Ihr Kinder, lobt den Herrn der Welt!
Er tränkt die Flur, er labt das Feld,
er schmückt das Blümlein, speist den Wurm
und segnet auch im Wettersturm; —
behüt uns,, Gott, in Gnaden!
12. Milder schon fallen die silbernen Tropfen,
munter schon zwitschert ein Sperling vom Dach;
frisch in der Werkstatt vernimmt man das Klopfen,
all das verschüchterte Leben wird wach.
Fern am Gebirge, dahin er gezogen,
murrt noch der Donner, ein fliehender Leu;
aber am Himmel der leuchtende Bogen
kündet's der Erde: Der Herr ist getreu!
13. Ihr Kinder, auf, hinaus ins Feld,
wie weht's und dustet's durch die Welt;
wie glänzt die Luft, wie perlt die Flur;
hab Dank, o Herr der Kreatur! —
Behüt uns, Gott, in Gnaden!
I. Ähnlichkeiten. Der Gang bei der Schilderung des Gewitters
ist in beiden Gedichten im allgemeinen gleich. Von der Stube aus wird
das Gewitter mit steigender Angst verfolgt. Die ganze Familie ist ver-
sammelt. Die Lust ist schwül, der Himmel mit schwarzen Wolken bedeckt.
Einzelne Windstöße wirbeln Staub und Laub in die Höhe. Die Vögel
verraten Unruhe, die Menschen Angst und Bangen. Grelle Blitze zucken
gleich feurigen Schlangen hernieder, und krachender Donner folgt ihnen.
Es schlägt ein. Regen stürzt in Strömen herab und schwellt die Bäche
zu rauschenden Strömen. Endlich zieht das Gewitter vorüber. Die
Sonne strahlt vom Himmel; erquickende Luft weht, und neues Leben
regt sich. In beiden Gedichten beschäftigen sich die Väter mit den
Kindern, und das ganze Gedicht ist ihnen in den Mund gelegt. Jede
neue Phase draußen hat eine neue Wendung des Gesprächs drinnen zur
Folge, so daß ein völliger Parallelismus zwischen Natur und Menschen-
leben, draußen und drinnen, entsteht und das Menschenleben im Spiegel
der Natur erscheint.
Schiller: Die Feuersbrunst.
445
II. V e r s ch i e d e n h e i t e n. A schildert ein Gewitter mit verheerendem
Hagelschlag und der Vernichtung vieler, doch nicht aller Hoffnungen,
6 ein solches, das zwar erschreckt, aber die lechzende Natur erquickt. —
A führt uns auf ein Dorf, B in die Stadt. — A ereignet sich vor der
Weizenernte, B in der Heuernte. — In A ist der Vater und das schlafende
Söhnlein, in B der Vater und seine Kinder genannt. In A ist das
Söhnlein klein und verschläft das ganze Gewitter, in B sind die Kinder
größer, werden vom Spiel gerufen, vom Vater während des Gewitters
auf alles aufmerksam gemacht und zum Beten ermahnt. — In A ist der
Gang: a) Heranziehen des Gewitters und Ausbruch, — das Kind schläft,
d) Gewitterläuten und Einschlagen, — das Kind legt sich auf die andere
Seite und schläft weiter, o) Das Hagelwetter, — das Kind schläft sorg-
los weiter, und der Vater wünscht sich solch hosfnungsfrohen Kinderfinn.
ä) Die Sonne steht wieder am Himmel, — das Kind erwacht, freut sich
über die Verwüstung — und will essen. In B: a) Heranziehen des
Gewitters, — Mahnung zu mutigem Gottvertrauen, b) Ausbruch, —
Bitte um Schutz, e) Einschlagen, — Bitte um Erbarmen, ä) Blick auf
die Menschen im Freien, — Fürbitte für sie. e) Der Regen, — Dank
für die Erquickung. I) Der Wiederbeginn des verschüchterten Lebens, —
Aufforderung, sich in der neubelebten Natur umherzutummeln. — Grund-
gedanke in A: Der Herr stößt uns zu Boden, hebt uns aber auch wieder
auf, er schlägt und heilt uns. Wer ihm vertraut, wird nicht zu schänden.
In B: Der Herr ging gnädig im Wetter vorüber; auch wenn er zu
zürnen scheint, segnet er. — A ist in sechszeiligen Strophen mit vier-
füßigen Jamben und glatten Reimen geschrieben. In B sind die Mah-
nungen des Vaters gleichfalls in vierfüßigen Jamben mit männlichen
Reimen, aber einem Kehrreim, gleichsam einem wiederholten Stoßseufzer,
die Schilderungen des Gewitters aber in Daktylen geschrieben. —
Suche die eigentümlichen Züge in jedem der beiden Gedichte auf!
P.
170. Die Feuersbrunft.*)
Fr. v. Schiller, Aus dem Liede von der Glocke, Gedichte. Stuttgart 1867. S. 255.
1. Wohltätig ist des Feuers Macht, Er zählt die Häupter seiner Lieben
wenn sie der Mensch bezähmt, be- und sieh! ihm fehlt kein teures
wacht usw. bis: Haupt.
I. Einführung in das Verständnis im allgemeinen. Dieses Gedicht
ist ein Bruchstück des „Liedes von der Glocke". Im genannten Gedichte
knüpft der Dichter an zehn Arbeitssprüche des Glockengicßermeisters
zehn Betrachtungen über die verschiedensten Lagen des menschlichen
Lebens. Unser Gedicht ist die fünfte Betrachtung, welche auf den fünften
Meisterspruch folgt. Die Arbeit der Glockengießer ist nämlich so weit
*) Eine Erläuterung des ganzen „Liedes von der Glocke" bringt der
Hl. Band des Werkes „Aus deutschen Lesebüchern".
446
III. Lyrische Gedichte.
gefördert, daß das Metall in dem Schmelzofen flüssig geworden ist; da
ruft der Meister seinen Gesellen den folgenden Spruch zu:
Wohl, nun kann der Guß beginnen, Stoßt den Zapfen aus!
schön gezacket ist der Bruch; Gott bewahr' das Haus!
doch bevor wir's lassen rinnen. Rauchend in des Henkels Bogen
betet einen frommen Spruch! schießt's mit feuerbraunen Wogen.
An diesen Spruch, der den eigentlichen Guß der Glocke schildert und
die Gefahr andeutet, welcher dabei das Haus ausgesetzt ist, schließt der
Dichter eine Betrachtung über das Feuer und darüber, wie die Glocke
bei der Feuersbrunst gebraucht wird. („Hört ihr's wimmern hoch vom
Turm?")
Die Schönheit des Gedichts beruht teils auf der kunstvollen Ver-
bindung der Reime, teils auf der schönen, gewählten Sprache, teils
auf der klaren, durchsichtigen Anordnung der Gedanken.
II. Anordnung und Gliederung der Gedanken. 1. Einleitung
(V. 1—14): Die Macht des Feuers. 2. Hauptteil (V. 15—56):
Die Beschreibung der Feuersbrunst. 3. Schluß (V. 57—72):
Folgen der Feuersbrunst.
Die Einleitung stellt zwei Behauptungen auf: a) Wohltätig
ist des Feuers Macht. Dieser Behauptung ist zunächst die Be-
dingung hinzugefügt: „wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht" (inwie-
fern?); sodann aber stellt der Dichter auch die Gründe für die Richtigkeit
der Behauptung auf: „denn was er bildet, was er schafft, das dankt er
dieser Himmelskraft". (Beweise dafür!) b) Doch furchtbar wirddie
Himmelskraft. .Auch diese Behauptung ist bedingt: 1. Wenn sie der
Fessel sich entrafft, 2. wenn sie auf der eigenen Spur einhertritt, 3. wenn
sie durch die Straßen sich fortwälzt. Der Grund zu dieser Behauptung
ist ausgedrückt durch die Worte:
„Denn die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand."
Unter den Elementen versteht der Dichter Feuer, Wasser, Luft
und Erde. Inwiefern zerstören sie die Werke, die von Menschenhand
gemacht sind?
Der Hauptteil schildert zunächst die Entstehung der Feuers-
brunst.
Es zieht, wie wir aus dem Verse: „Das ist nicht des Tages Glut"
erkennen, in der Nacht, wo alles ruht, eine Gewitterwolke heran; er-
quickender Regen strömt daraus hervor, aber bald zuckt aus derselben ein
zündender Blitzstrahl. — Sodann nennt der Dichter die Merkmale, an
denen man die Feuersbrunst wahrnimmt. Schon hört man die fürchter-
lichen Schläge der Sturmglocke schauerlich dröhnen. Dann sieht man
die Feuerwolke („Rot wie Blut ist der Himmel"). Ferner erkennt man
die Not an dem Lärm auf der Straße. Endlich sieht man auch den
Rauch aufsteigen, welchem unmittelbar die Flamme folgt. —
Im zweiten Abschnitte des Hauptteils schildert nun der Dichter die
rasche Verbreitung des Feuers und die Zerstörung, welche die
Schiller: Die Feuersbrunst.
447
Feuersbrunst hervorbringt („Kochend — Trümmern"). Dieses Unglück
und dieser Jammer veranlaßt die Menschen, zu Hilfe zu eilen. Aber
trotz aller Kraftanstrengung der Löschmannschaften ist dem Unglücke noch
nicht zu steuern; denn zu der gewaltigen Glut gesellt sich noch der
Sturm, das andere, die Gebilde der Menschenhand hassende Element.
Nun steigert sich immer mehr die Glut, und immer mehr Nahrung findet
sie: „Prasselnd — riesengroß." Da helfen keine Rettungsversuche mehr:
alle Arbeit wird eingestellt, denn gegen die Götterstärke (die Naturkraft)
kann der Mensch nicht ankämpfen: „Hoffnungslos — untergehn."
Damit schließt die ergreifende Schilderung der Feuersbrunst, und wir
kommen nun zum dritten Teile des Gedichts, zum Schlüsse, welcher die
Folgen der Feuersbrunst uns vorführt.
„Leergebrannt
ist die Stätte,
wilder Stürme rauhes Bette."
Das ist die einfache und doch so schöne Schilderung der Brandstätte,
die nun keinen Stoss zum Weiterbrennen bietet. Nur die wilden Stürme
wehen noch drüberher. Das, was das Feuer verschont hat, sieht aber
auch schreckenerregend aus: „In den öden — Grauen." Nur die ge-
schwärzten Mauern stehen noch, während die Fenster zersprungen sind und
das Dach eingestürzt ist: „Und des Himmels — hinein." Die Schreckens-
nacht ist vorüber. Der unglückliche Mensch hat nichts gerettet, sondern
er wirft nur noch
„einen Blick
nach dem Grabe
seiner Habe."
Alles liegt in Schutt und Asche. So furchtbar ihn aber auch das Un-
glück getroffen, er hat doch noch einen süßen Trost; denn seine Kinder
waren beim plötzlichen Ausbruche des Feuers in Gefahr, mit zu ver-
brennen, und siehe! sie wurden gerettet. Wie groß war da die Freude
der Eltern! Drum darf auch der Dichter sagen:
„Greift fröhlich dann zum Wanderstabe"
und
„Ein süßer Trost ist ihm geblieben;
er zählt die Häupter seiner Lieben,
und sieh! ihm fehlt kein teures Haupt."
III. Die dichterische Sprache. Dieses Gedicht gehört hinsichtlich der
Benutzung der äußeren Mittel der Sprache zu denjenigen, in welchen
man sehen kann, wie der Dichter über diese Mittel zu gebieten versteht.
Da dieselben hier so hervorstechend sind, so können wir auch die Schüler
der Volksschule mit den wichtigsten wenigstens bekannt machen.
In bezug auf das Versmaß fällt es schon den Kindern beim auf-
merksamen Lesen auf, daß es beim Wechsel der Empfindungen ebenfalls
ein anderes wird. Während in den ersten Zeilen, wo von der wohl-
tätigen Macht des Feuers die Rede ist, der vorstrebende Jambus ge-
448
III. Lyrische Gedichte.
braucht wird, ändert der Dichter das Versmaß in der Mitte des zweiten
Teils der Einleitung, wo er von der Furchtbarkeit des Feuers spricht
(Vers 9) und benutzt den etwas schwereren Trochäus. Ganz besonders
auffällig ist die Veränderung des Rhythmus am Schlüsse zwischen dem
67. und 68. Verse; dort die schweren Silben am Anfange und hier die
leichten.
Ferner fällt es den Schülern bald auf, wie der Dichter das Wehen
und Wachsen der Feuersbrunst durch den Mitlaut „W" so wunderschön
zeichnet: Wehe, wenn sie losgelassen, wachsend ohne Widerstand.,.,
wälzt den ungeheuren Brand. Ebenso wirken bei der schauerlichen
Schilderung der Zerstörung die harten Mitlaute t und r und die dunkeln,
schauerlich klingenden Vokale u und ü oder die grellen, kurzen i und e,
„in deren Geräusch man das Brechen und Stürzen, das Donnern und
Krachen zu vernehmen glaubt".
Nicht minder mannigfaltig ist das Gedicht an sprachlichen Satzformen
und Redefiguren. So macht sich z. B. der Gegensatz in den Versen
„Aus der Wolke Aus der Wolke ohne Wahl
quillt der Segen, Zuckt der Strahl!"
strömt der Regen.
ganz wunderschön, ebenso in den Versen „Wohltätig ist des Feuers
Macht" und „Doch furchtbar wird die Himmelskraft" und am Ende
„Einen Blick usw.
sendet noch der Mensch zurück —,
greift fröhlich dann zum Wanderstabe" usw.
Wahrhaft erschütternd wirken auch die kurzen, zweifüßigen Verse, wie
„Riesengroß! Hoffnungslos! Leergebrannt usw."
Eine ebenfalls treffende Wirkung bringt in der Zerstörungsszene die
Aneinanderreihung derkurzenSätzeohneBindewörter hervor; es
ist, als hörte man alle die Vorfälle mit einem Male geschehen: „Balken
krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren,
Tiere wimmern unter Trümmern. Alles rennet, rettet, flüchtet." Endlich
ist auch auf den häufigen Gebrauch der Mittelwörter aufmerksam zu
machen, welche die Anschaulichkeit und Lebendigkeit des Ganzen nicht wenig
erhöhen, z. B. wachsend, volkbelebt, kochend, heulend, bewundernd usw.
IV. Schriftliche Arbeiten. 1. Schilderung einer Feuersbrunst.
2. Schilderung einer Brandstätte. 3. Vergleichung:DieFeuersbrunst
und „DasLiedvombravenMann" von Bürger (Bd. II, Nr. 131).
_ W. D.
171* A. Der Eichwald.
Nikolaus Lenau. Sämtl. Werke. Leipzig, Bibl. Institut. I. S. 93.
1. Ich trat in einen heilig düstern 2. und mich ergriff ein süßes Grauen,
Eichwald, da hört' ich leis' und lind es rauscht' der Wald geheimnisvoll,
ein Bächlein unter Blumen flüstern, als möcht' er mir was anvertrauen,
wie das Gebet von einem Kind; das noch mein Herz nicht wissen soll;
3. Als möcht' er heimlich mir entdecken,
was Gottes Liebe sinnt und will:
doch schien er plötzlich zu erschrecken
vor Gottes Näh' — und wurde still.
Lenau: Schilflied.
449
B. Schilflied.
Nikolaus Lenau. Bd. I. S. 38.
1. Auf dem Teich, dem regungslosen,
weilt des Mondes Heller Glanz,
flechtend seine bleichen Rosen
in des Schilfes grünen Kranz.
2. Hirsche wandeln dort am Hügel,
blicken in die Nacht empor;
manchmal regt sich das Geflügel
träumerisch im tiefen Rohr.
3. Weinend muß mein Blick sich senken;
durch die tiefste Seele geht
mir ein süßes Deingedenken
wie ein stilles Nachtgebet.
Vergleichung der beiden Lenauschen Lieder.
1. Ort. A führt uns in einen Eichwald, in dem heilige Stille,
herrscht. Hoch und stolz ragen die breiten Wipfel auf und verflechten sich
ineinander zu einem dichten Laubdach. Dämmerung herrscht aus dem
Waldboden. Ein Bächlein, dessen Ufer mit Blumen bekränzt sind, rinnt
murmelnd durch den Wald. B führt uns auf einen Teich in einem schönen
Waldtale. Wie ein klarer Spiegel liegt die regungslose Wasserfläche vor
uns. Ein grüner Kranz von Schilfrohr faßt ihn ein, Am klaren Himmel
steht der Mond und gießt sein bleiches Licht herab. Seine Lichtperlen
zwischen dem Schilfe sehen wie weiße Rosen aus, die in den grünen Kranz
geflochten sind. Die Talwände des Teiches sind mit Wald bestanden.
Auf einer Lichtung wandelt langsam ein Rudel Hirsche. Bei jedem Ge-
räusch heben sie die Köpfe mit dem stolzen Geweih empor. Im Röhricht
des Ufers nisten wilde Enten und anderes Wassergeflügel. Sie schlafen
schon, regen sich aber zuweilen wie im Traume.
2. Zeit. Es ist Sommer, denn die Natur trägt ihr Festkleid. A
läßt uns als Zeit die Abenddämmerung vermuten, während B uns in
die Nacht weist.
3. Personen. In beiden Gedichten sehen wir den Dichter einsam
in der feierlichen Stille der Natur. Aber ihm ist sie nicht stumm, sondern
redet durch geheimnisvolle Stimmen zu ihm. Das murmelnde Bächlein
flüstert mit ihm, und die rauschenden Eichenwipfel wollen ihm ein Ge-
heimnis enthüllen. Der Bund des Mondlichts mit dem Schilfe, die ge-
sellige Wanderung der Hirsche und die brütenden Vögel im Neste rufen
ihm die Erinnerung an seine fernen Lieben in die Seele zurück.
4. Gedankengang. In A: I. Das linde Murmeln des Baches
klingt wie das Gebet eines unschuldigen Kindes; II. das geheimnisvolle
Rauschen des Waldes wie die Offenbarung eines göttlichen Geheimnisses.
III. Plötzlich schweigt das Rauschen, wie erschrocken vor der Nähe Gottes,
und das Geheimnis seines zukünftigen Geschickes bleibt ihm verborgen. In
B: I. Den stillen Wasserspiegel umkränzt das grüne Schilf mit den ein-
geflochtenen blassen Rosen des Mondlichtes. II. Die Hirsche schauen in
die Nacht empor, und das Geflügel regt sich im Traume. III. Die Er-
innerung an die ferne Geliebte zieht wie ein Gebet durch seine Seele
und entlockt ihm Tränen.
5. Grundgedanke. A: Die heilige Dämmerung und das Rauschen
des Eichwaldes weckt süße Hoffnungen, B: die feierliche Stille des
AdL. H. 8. Stuft. • 29
450
III. Lyrische Gedichte.
Teiches ergreifende Erinnerungen in der Seele. Wie gut, daß wir
unser künftiges Geschick nicht wissen und unser Herz durch Tränen und
Gebet erleichtern können!
6. Schönheiten. Die Schilderung der Natur ist in beiden
Gedichten gleich zart, maßvoll und treffend. Die Natur erscheint als die
Vertraute unserer Freuden und Leiden, als der Spiegel unserer Stim-
mmrgen. — Das Flüstern des Bächleins als Abendgebet eines Kindes,
das Waldrauschen als Offenbarung eines Geheimnisses, das plötzliche
Verstummen des Rauschens als ehrfurchtsvolles Schweigen vor der Nähe
und Majestät Gottes, das Schilf als Kranz, die Mondperlen als ein-
geflochtene weiße Rosen, das leise Rauschen im Rohre als Traum des
Geflügels, das Gedenken an die ferne Geliebte als stilles Nachtgebet: das
sind ebenso schöne wie eigenartige und fesselnde Bilder. In A ijat wohl
dem Dichter folgendes Bild vorgeschwebt: Jemand will dem Kinde heim-
lich sagen, was die Mutterliebe für das Kind zu Weihnachten ausgefonnen
hat. Die Mutter verschweigt es, um die Freude nicht zu zerstören, aber
das Kind ist neugierig und drängt. Schon hat es sein Ohr an den
Mund des anderen gelegt, um das Geheimnis zu entdecken, da naht die
Mutter. Beide erschrecken und schweigen still. Wie gut für das Kind,
daß das Geheimnis verschwiegen bleibt! — Schön in den Gedichten ist
auch die Steigerung: In A das Geflüster des Baches am Boden, das
Rauschen der Wipfel oben und die Offenbarung der göttlichen Liebe vom
Himmel herab. In B der regungslose Teich, die geselligen Hirsche und
Wasservögel und das einsame Menschenherz mit seinen Erinnerungen.
P.
172. A. Jägerlied.
Volkslied. Nach Wilhelm Bornemann.
1. Im Wald und auf der Heide,
Den Wald und Forst zu hegen,
da such' ich meine Freude,
ich bin ein Jägersmann.
erleg' ich auf der Birsche,
der Fuchs läßt mir sein Kleid.
Halli, hallo, halli, hallo!
Der Fuchs läßt mir sein Kleid.
das Wild dort zu erlegen,
mein' Lust hab' ich daran.
Halli, hallo, halli, hallo!
4. So streich' ich durch die Wälder,
so streif' ich durch die Felder
wohl hin den ganzen Tag;
dann schwinden mir die Stunden
gleich flüchtigen Sekunden,
tracht' ich dem Wilde nach.
Halli, hallo, halli, hallo!
Tracht' ich dem Wilde nach.
Mein' Lust hab' ich daran usw.
2. Kein' Heller in der Tasche,
ein Schlückchen in der Flasche,
ein Stückchen trocken Brot,
den treuen Hund zur Seite,
wenn ich den Wald durchschreite:
dann hat es keine Not.
Halli, hallo, halli, hallo!
Dann hat es keine Not.
5. Wenn sich die Sonne neiget,
der feuchte dèebel steiget,
inein Tagwerk ist getan:
3. Das Huhn im schnellen Zuge,
die 'Schnepf' im Zickzackfluge
treff' ich mit Sicherheit.
kehr' heim ich von der Heide
zur häuslich stillen Freude,
Die Hasen, Reh' und Hirsche
ein froher Jägersmann.
Halli, hallo, halli, hallo!
Ein froher Jägersmann.
Bornemann: Jägerlied.
451
I. Vorbemerkung. Dieses Lied findet sich in mannigfach veränderten
Lesarten in den Liederbüchern für Jäger, Soldaten usw., sowie auch in
Lesebüchern und Liederheften für die Jugend. Das Lied ist zu einem
volkstümlichen Liede, fast zum Volksliede geworden. Wir geben es hier
in der Lesart, welche dem Originale möglichst treu bleibt, doch aber volks-
tümliche Ausdrücke da angenommen hat, wo es dem Volksmunde ersprieß-
lich schien. Höchst lehrreich für die Jugend ist es, durch Vergleichung
dieses Liedes mit dem Original (s. Hartigs Forst- und Jagd-Archiv,
1. Jahrgang, Heft 2. Berlin 1816. S. 134) zu sehen, wie nach und
nach ein Lied von selbst zum Volksliede sich umgestaltet, indem es alle
abstrakten Ausdrücke, alle umschreibenden Attribute und alle zu gelehrten
Redewendungen beseitigt und echt volkstümliche Redeweise an deren
Stelle setzt.
Str. 1. Z. 1. In grünbelaubter Heide
„ „ „ 4. Die Forsten treu zu Pflegen
„ „ „ 7. Hallt, hallo! Trari, trara!
Str. 2 ist zusammengezogen aus Str. 2 und 3 der ursprünglichen
Dichtung von W. Bornemann:
2. Trag' ich in meiner Tasche
ein Trünklein in der Flasche,
zwei Bissen liebes Brot;
brennt luftig meine Pfeife,
wenn ich den Forst durchstreife:
da hat es keine Not usw.
3. Im Walde hingestrecket,
den Tisch mit Moos mir decket
die freundliche Natur,
den treuen Hund zur Seite,
ich mir das Mahl bereite
auf Gottes freier Flur.
Str. 3 unverändert bis auf das Wort Hasen statt Sauen.
Str. 4. Und streich' ich durch die Wälder,
und zieh' ich durch die Felder
einsam den vollen Tag,
doch schwinden usw.
Str. 5 fast unverändert, nur
Z. 4. Dann kehr' ich von der Heide.
II. Vermittlung. Welcher Unterschied ist zwischen Wald und
Heide? Wald = Laub- und Tannenwald; Heide — Sandboden, be-
standen mit Kiefern und Föhren, Bodenfläche bedeckt mit Heidekraut.
Welcher zwischen Wald und Forst? Wald, wie ihn die Natur erzeugt,
ohne Beihilfe der Menschen; Forst, von Menschenhand gehegter Wald
mit Schneisen und Jagen, mit Anpflanzungen und Schonungen. Welcher
Unterschied zwischen Wild und Wildbret? Wild — das lebende,
Wildbret (von braten) das zu bratende oder gebratene Wild. Wie
heißt in Str. 2 das fehlende Subjekt und Prädikat? Hab' ich usw. Was
ist der Heller? Welches Huhn ist hier gemeint? Warum Zickzackfluge?
Weil die Schnepfen, wenn sie sich in die Luft erheben, erst einigemal
hin und her fliegen, ehe sie eine bestimmte Richtung des Fluges annehmen.
Was läßt der Fuchs dem Jäger? Vertausche Kleid mit einem andern
Ausdrucke! Desgleichen nach trachten (nachstellen, jagen)! Was
heißt: ein froher Jägersmann? Ein zufriedener, glücklicher.
29*
452
III. Lyrische Gedichte.
III. Vertiefung. 1. Veranlassung zur Dichtung des Liedes.
Schon die Jugend weiß, daß den Menschen nichts mehr zum Gesänge
reizt als das Wandern durch den grünbelaubten Wald. Höher und freu-
diger hebt sich die Brust, freier und seliger fühlt sich die Seele und schwingt
sich auf den Flügeln des Gesanges auf zum Herrn, der den Wald und
alles umher so herrlich und schön geschaffen hat. Das vorstehende Lied
ist nun solch echtes Wanderlied, das dem ursprünglichen Dichter so ganz
von selbst bei einem frohen Gange durch den Wald aus der Seele hervor-
gequollen ist. Die leisen Änderungen rühren von den Jägern und Sängern
her, die das Lied wieder und immer wieder gesungen haben.
2. Inhaltsangabe. Das Lied enthält die Bekenntnisse eines glück-
lichen und zufriedenen Jägersmannes. Derselbe bekennt in Str. 1, daß
er als echter Weidmann seine Freude nur im Wald und auf der Heide
und seine Lust nur in der Pflege des Waldes und in der Ausübung der
Jagd findet; in Str. 2 seine Bedürfnislosigkeit, zufolge deren er beim
Genusse des Allernotwendigsten keinen Mangel an anderen Genüssen,
keine Not verspürt; in Str. 3, daß ec ein eifriger und geschickter Jäger
ist; in Str. 4, daß ihm bei treuer und freudiger Ausübung seines Be-
rufes die Zeit überaus schnell verfliegt, und in Str. 5, daß er am
Abend mit Lust und Liebe zurückkehrt an den heimischen Herd zu Weib
und Kind, zu allen stillen, seligen Freuden des Familienlebens, und daß
er infolge alles dessen ein froher, zufriedener und glücklicher Jägers-
mann ist.
3. Schönheiten der Dichtung, a) Das Lied ist in echt volks-
tümlichem Tone abgefaßt und enthält keinerlei Abstraktionen und Rede-
figuren. b) Der von wahrer Seelenvergnügtheit zeugende und zu Lust
und Freude stimmende Refrain will jedes einzelne Bekenntnis des frohen
Jägersmann verdoppeln und verstärken und zur verständnisvollen Ge-
wißheit der Hörer steigern und erheben.
IV. Verwertung. 1. Lehre. Ein jeder trachte danach, in seinem
Beruf und Stande das Glück und die Zufriedenheit zu finden, welche
der Jägersmann in dem seinen gefunden hat! Jeder begnüge sich mit
dem Schicksalslose, das ihm aus Gottes Vaterhand zuteil geworden! Ein
jeder Stand hat seine Freuden, ein jeder Stand hat seine Last.
2. Rede- und Stilübungen, a) Wie der Wald den Wan-
dererzumSangeauffordert. (Hierbei ist das Lied: „Der Morgen
im Walde" von Karl Egon Ebert zu verwerten. S. Th. Echter-
meyer, Ausw. deutscher Gedichte. 5. Ausl. Halle 1847. S. 229.)
B. Der Morgen im Walde.
1. Ein sanfter Morgenwind durch-
zieht
des Forstes grüne Hallen Z,
hell wirbelt2) der Vögel munteres
Lied,
die jungen Birken wallen.3)
2. Das Eichhorn schwingt sich von
Baum zu Baum,
das Reh durchschlüpft die Büsche,
viel hundert Käser im schattigen
Raum
erfreun sich der Morgenfrische>)
Reiselied im Walde. 453
3. Und wie ich so schreit' im lustigen 4. Ich singe mit starkem, freudigem
Wald Laut
uud alle Bäume erklingen ^), dem, der die Wälder gesäet,
rings um mich her alles singet und der droben die luftige Kuppel gebaut
schallt: und Wärm' und Kühlung wehet 6).
wie sollt' iä) allein nicht singen?
Erläuterungen. 1. Der Dichter vergleicht den Wald mit einem
Tempel, einem Dome, darum nennt er die Reihen der Bäume Hallen,
Säulenhallen, und das Laubdach der Bäume eine luftige Kuppel.
2. Wirbeln = durcheinander klingen. 3. Die hängenden Zweige der
Birken wallen wie die Wellen des leise erregten Sees. 4. Freude
findet sich oben im Gezweig der Bäume bei Eichhörnchen und Vögeln,
weiter unten in den Büschen bei dem Reh und anderem Wild, und
endlich unten am Boden, im Grase und Moose bei Käfern, Insekten und
Würmern aller Art. 5. Die Bäume erklingen, nämlich der Gesang
der Vögel in denselben. 6. Ich singe gerne mit, mit freudigem, starkem
Klange und zwar zu Lob, Preis und Ehr' dem Herrn des Waldes und
der Welt.
b) Vergleichung mit
C. Neiselied im Walde.
Volkslied 1599. Unsere Lieder, 3. Aufl. Hamburg 1861. S. 47.
1. Ich wollt' zu Land ausreisen,
ich zog durch einen Wald.
Ich hört' auf allen Seiten
die Vöglein, jung und alt,
ihren Schöpfer lieblich loben,
ich freute mich gar sehr;
ich ward von ihn'n bewogen,
mein'n Gott zu loben viel mehr.
2. Groß' Freud' in meinem Herzen
durch dieses ich empfand,
gar bald verging mein Schmerzen,
und alles Leid verschwand.
Ich ging hindurch spazieren
mit frischem, freiem Mut,
mit Singen und Jubilieren
zu Ehren dem treuen Gott.
1. Übereinstimmendes, a) In beiden Dichtungen geht ein
Wanderer mit einem Dichtergemüte durch den jungbelaubten Wald zur
schönen Maienzeit. b) Beiden Wanderern erscheint der Gesang der Vögel
als ein Dank- und Loblied, das sie ihrem Schöpfer täglich und stündlich
darbringen, c) Beide finden in dem Gesänge der Vögel eine Aufforderung,
mit einzustimmen in das Jubilieren zu Lob, Preis und Ehre Gottes.
<3) Beide fühlen sich erhoben und erfreut durch den Aufblick nach oben
und durch das Loben und Danken ihres Schöpfers, dort Str. 4, hier
Str. 2.
2. Verschiedenes, a) Der Dichter in C sagt es ausdrücklich, daß
er auf einer Reise durch einen Wald gewandert sei; der Dichter in 6
erwähnt dies nur nebenbei in Str. 3. b) Der Dichter in 0 fühlt sich
zum Loben und Danken nur durch den Gesang der Vögel bewogen, der
Dichter in 3 hingegen außerdem durch das Wehen des Morgenwindes,
das Wallen der Birken, das Rauschen der Bäume und die Munterkeit
und Freude der Tiere, des Eichhorns, des Rehes und der Käfer, c) Der
Dichter in 0 führt als Folge des Löbens und Dankens außer der Freude
454
III Lyrische Gedichte.
im Herzen noch ferner an: das Verschwinden der Schmerzen und Sorgen
und allen Leides aus seiner schwerbelasteten Brust und die Verleihung
eines frischen und freien Mutes auf seiner weiteren Reise, während der
Dichter in B mit dem Lobgesange seines Schöpfers schließt.
c) Vergleiche: V Der liebende Schöpfer.
Joh. Gottfried v. Herder, Werte. Herausgegeben von H. Kurz. Leipzig. S. 100.
1. Was singt ihr Vögel so mit Macht?
Wem singet ihr so früh?
„Ihm, der sie froh und frei gemacht,
dem Schöpfer singen sie."
2. Wem blüht ihr Blumen auf der
Au?
Wem duftet ihr so früh?
„Der ihnen Farben gab und Tau,
dem Schöpfer duften sie."
3. Wach aus, o Herz, erwache, Geist!
Sieh, was er dir getan!
Der aller Schöpfung Schöpfer heißt,
blickt dich als Vater an.
4. Blick auf, schwing auf dich über
Luft
und Sonn' und Himmelsblau,
du, mehr als aller Blumen Duft,
als Sang und Morgentau!
5. Du, als die Schöpfung lieblicher,
unendlicher als sie,
wer ist wie du? Du bist wie er,
der dir sein Bild verlieh.
6. Fall an sein Herz, an seine Brust,
als Kind in seinen Schoß!
Du bist in Vaters Lieb und Lust
mehr als die Schöpfung groß.
7. Und gehe fort an seiner Hand,
an Lieb' und Güte fest!
Wird ihm sein eignes Herz ent-
wandt,
alsdann er dich verläßt.
Inhaltsangabe. Str. 1. Die Vögel singen schon früh dem
Schöpfer ein Loblied. Str. 2. Die Blumen duften ein Lobopfer dem,
der ihnen Duft und Farbe gab. Str. 3. Wache auf, o Menschenherz
und Menschengeist, und siehe in dem allmächtigen Schöpfer deinen Vater
und Wohltäter! Str. 4. Schwing dich über Duft und Sang, über Sonne
und Sterne auf zu Ihm! Str. 5. Du bist nach Seinem Bilde ge-
schaffen und darum mehr als alle Geschöpfe, lieblich und ewig. Str. 6.
Als Gottes Kind lege dich an Sein Vaterherz. Str. 7. An Seiner
Hand gehe sicher durchs Leben. So wenig Er Sein eigen Herz verleugnen
kann, so wenig kann Er dich verlassen. R. D.
173. A. Der Kerbst.
Ph. Engelhardt Nathnsius. Gesangbuch für Schulen. Köln 1850. S. 31.
Der Herbst ist ein Geselle,
der trägt ein buntes Kleid
und springt und jubilieret
vor ansgelass'ner Freud'.
Er singt im Brausebasse,
fährt einem um den Kopf,
wirft alles drüber, drunter
und zaust die Bäum' am Schopf.
Er stürmt wie wilde Buben
hin über Berg und Feld,
fegt durch die falben Blätter,
rauscht, heisa! in die Welt;
wirft, wie er zieht, uns Gaben
mit vollen Händen zu,
füllt Scheuer, Haus und Keller
und Schüssel und Glas dazu.
Der Herbst ist ein Geselle,
so wild voll Übermut,
doch auch ein braver Bursche;
drum bin ich ihm so gut.
I. Vermittlung. 1. K. H. Holtsch sagt in seiner Schrift „Volks
tümliche Literatur" usw. von diesem Liede: Das ist ein frisch und Volks-
Nathusius: Der Herbst.
455
tümlich schilderndes, die Jahreszeit mit köstlichem Humor personifizieren-
des Herbstlied eines neueren Dichters, welcher seinen vollsten Herbstjubel
in den Schlußversen noch besonders zum lyrischen Ausdruck bringt. Der
frische, einfache, innige Ton der Lyrik dieses Dichters zeigt, daß er aus
natürlichem Drange oder „wie der Vogel singt".
2. Was ist: der Gesell, das bunte Kleid, das Springen und Jubi-
lieren, das Singen im Brausebasfe, das Umdenkopffahren, das Werfen,
das Zausen am Schopfe, das Stürmen über Berg und Tal, das Fegen?
Was sind die falben Blätter, das Rauschen durch die Welt, das Zuwerfen
von Gaben mit vollen Händen, das Füllen von Haus, Keller, Scheuer usw.?
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts, a) Was und wie
der Herbst ist, und was er tut; b) welche Gaben er uns verleiht.
2. Kernfragen: a) Nenne die drei Nebengesellen des Herbstes!
b) Wer ist der Meister der vier Gesellen? c) Warum ist der Herbst
ein lust'ger, wilder Geselle? ck) Warum ist er ein braver Bursche?
III. 1. Vergleichung mit einem ähnlichen Gedichte von Chr. Dieffen-
bach. Kinderlieder. Mainz o. I. S. 61.
Der Herbst, der Herbst, das ist mein
Mann,
den ich vor allen leiden kann;
er kommt doch nicht mit leerem Sack,
bringt einen großen Hucke-Pack.
Was wird darein
wohl alles sein?
Kartoffeln und Rüben, Äpfel und
Pflaumen,
Birnen und Nüsse für Magen und
Gaumen.
Er geht zum grünen Feld hinaus
und schüttelt seinen Sack dort aus;
die Rüben fallen auf den Sand,
Kartoffeln regnet's auf das Land-
Ei, wie schad'!
Daß doch gerad'
Äpfel und Pflaumen hüben und
drüben
in den Bäumen sind hängen ge-
blieben!
O guter Herbst, sei lieb und fein
und denk doch an uns Kinderlein!
Die Äpfel schütte in den Sand
und Birnen, Pflaumen auf das Land!
Denn wir sind klein,
wir Kinderlein.
Wären doch lieber Kartoffeln und
Rüben
in den Bäumen dort hängen geblieben!
Da lacht der Herbst, der gute Mann,
und saßt die Bäume kräftig an
und schüttelt sie mit starker Faust,
daß es durch alle Zweige saust:
Hei, was ist das? —
Was fällt ins Gras?
Äpfel und Pflaumen, welch ein Segen!
Birnen und Nüsse, o köstlicher Regen!
a) Übereinstimmende Gedanken in beiden Gedichten, b) Nachweis der
gegenteiligen, z. B. A. Der Herbst ist ein Geselle. 6. Der Herbst ist ein
Mann. c) Eigentümliches in jedem Gedichte.
2. Eine humoristische Schilderung des Herb ft Windes.
'Mit Benutzung des Dieffenbachschen Gedichtes S. 59 a. a. O.)
C. Das junge Stürmchen.
Herr Sturm hat gar ein lustig Kind, Jung Stürmchen ist ein starker Knab',
das kann schon wacker laufen; pausbackig sondergleichen,
das junge Stürmchen tät man Wind springt lustig immer auf und ab,
vor langer Zeit schon taufen. mag gern auf Berge steigen.
456
III. Lyrische Gedichte.
Da geht ihm daun der Atem aus;
drum muß er schnaufen, blasen;
ihr hört's ja selbst aus eurem Haus,
tvie's schnauft in allen Straßen.
Der Wind ist gar ein wilder Fant,
kann nichts in Frieden lassen,
und kommt er auf und ab gerannt,
so muß er immer spaßen.
Dem springt er auf den Buckel dort,
reißt ihm den Hut herunter
und dreht ihn flink und rollt ihn fort
und Pfeift dazu ganz munter.
Und wenn der Manu mit großer Hast
dem Hute nach will laufen,
gar schnell er ihn am Nocke faßt,
als wollt' er ihn zerraufen.
Dem fährt er lustig in den Schopf,
frisiert mit bloßen Händen;
bald rupft er hier, bald da den Tropf,
da hilft kein Drehn und Wenden.
Dann packt er gar, der schlimme
Wicht,
voll Sand die beiden Hände,
wirft ihn den Leuten ins Gesicht
und läuft davon behende.
Bald springt er hin, der wilde Knab',
und reißt mit lust'gem Blasen
die Wäsche flugs vom Seil herab
und wirft sie auf den Rasen.
Jung Stürmchen treibt es gar nicht
fein,
möcht' immer lustig spaßen.
Darum, wer nicht geneckt will sein,
der bleibe von den Gassen.
Dem Inhalte des Liedes dürfte noch hinzuzufügen sein, wie der
Wind auf dem Hofe mit den Strohhalmen spielt, die Sperlinge in ihrem
Neste besucht, sein Wesen in der leeren Scheune treibt, wie er den Drachen
steigen macht und die Flügel der Windmühle treibt, wie er Pflaumen,
Äpfel und Birnen von den Bäumen schüttelt u. a. m. R. D.
174. Hcrbstlied.
Jvh. Gaudenz v. Salis-Seewis. Gedichte gesammelt von seinem Freunde Matthison.
Zürich 1848. S. 1.
1. Bunt sind schon die Wälder, Rote Blätter fallen,
gelb die Stoppelfelder, graue Nebel wallen,
und der Herbst beginnt. kühler weht der Wind usw.
(Das Herbstlied findet sich in den meisten Lese- und Liederbüchern.)
I. Erläuterungsfragen. Warum heißt das Gedicht Herbstlied?
(Es handelt vom Herbst und wird im Herbst gesungen.) Wovon sind
die Wälder bunt? (Grüne, gelbe, braune und rote Blätter untereinander
an den Bäumen.) Was sind Stoppelfelder? (Abgeerntete Felder, auf
denen nur noch die Stümpfe der gelben Halme stehen.) Woran erkennt
man den Beginn oder Anfang des Herbstes? Warum fallen die roten
Blätter? (Der Saftzufluß hat aufgehört, und die Verbindung mit dem
Zweige ist gelockert.) Was sind die grauen Nebel? (Tief liegende
Wolken.) Wovon wallen oder bewegen sie sich wellenartig? Warum
ist der Herbstwind kühler als der Sommerwind? Von welcher Ernte
handelt das Gedicht? (Obst- und Weinernte.) Wie heißt die Wein-
ernte? (Weinlese.) Wie heißen die Weingärtner und Weingärtne-
rinnen? (Winzer und Winzerinnen.) Wie die Stämme und wie die
Früchte des Weinstocks? (Reben — Trauben.) Wann sind die Trauben
voll? Welche strahlen oder leuchten am schönsten aus dem grünen
Laube? (Die roten, purpurfarbigen.) Welche Farben haben die Trauben
sonst noch? Was sind Pfirsiche? (Flaumhaarige, rot und weiß ge-
streifte Steinfrüchte.) Quitten? (Goldgelbe Apfelfrüchte.) Wo sind die
Geländer oder Spaliere? (An den Wänden oder neben den Garten-
Salis-Seewis: Herbstlied.
457
wegen.) Was zieht man daran? Was sind Dirnen im biblischen Sinne?
(Junge Mädchen. Beweis?) Welchen Tieren gleicht der im Fleiße, der
emsig arbeitet? (Den Immen oder Imsen, Bienen und Ameisen.) Was
trägt diese, was jene Dirne? Was ist der Land hos? (Ein einzelnes
Landgut.) Was tragen die flinken Träger? Wie zeigt sich die Freude
der Mädchen? Wie unterscheidet sich der Jubel vom Singen? (Laute
Freudenrufe.) Welchen Kopfschmuck tragen die Mädchen? (Strohhüte mit
bunten Bändern.) Was tun letztere beim eiligen Gange? (Sie schweben
oder flattern durch die Reihen der Weinstöcke.) Womit schließt häufig
in der Weinlese ein schöner Tag? (Mit einem Tanze.) Was ist d e u t sch e r
Ringeltanz? (Reihen-, Reigen-, Rundtanz.) Wie entsteht die Abend-
röte und wie der Mond englanz? Wer macht Musik und womit?
Warum winken junge Winzerinnen, und wem winken sie?
II. Vertiefung. 1. Lagebild. Herbstlandschaft in einer hügeligen
Weingegend. Ein Dörfchen und seitab ein Gutshof. Stoppelfelder. Bunte
Wälder. Morgens auf Wald und Feld graue Nebel, die ein kühler Wind
wellenförmig bewegt. Gärten um das Wohnhaus. Spaliere an den
Wänden und Wegen. Reich beladene Obstbäume. Weinberg mit vielen
Weinstöcken. Geschäftige Winzer und Winzerinnen. Unter einem Baume
nahe am Dörflein Musik und Tanz. Der westliche Himmel vom Abend-
rot vergoldet, am östlichen der Vollmond.
2. Gedankengang. Str. 1. Herbstboten. Str. 2: Herbst-
segen. Str. 3: Herbstarbeit. Str. 4: Herbstfreude. Str. 5: Herbst-
tanz.
Grundgedanke: Der Segen des Herbstes stimmt die Seele dankbar
und froh.
3. Eigentümlichkeiten in der Form. Das Herbstlied ist
im schlichten Tone des Volksliedes gehalten und erinnert an das Abend-
lied: Nun ruhen alle Wälder. Nur hat ersteres trochäische, letzteres
jambische Verse. Das Herbstlied ist ein freundliches Herbstgemälde von
wenigen treffenden Strichen. Die wehmütige Stimmung, welche die Boten
des Herbstes in Str. 1 erregen, verwandelt sich im Hinblick auf den reichen
Herbstsegen und die frohe Erntearbeit in eine freudige und klingt endlich
in Musik und Tanz aus. Von der Wehmut bis zur Tanzlust durch-
laufen wir in den fünf Strophen eine ganze Skala der Gefühle.
III. Verwertung in Rede- und Stilübungen. 1. Wie werden
die verschiedenen Früchte des Feldes und Gartens eingeerntet? (Das
Getreide wird gemäht, in Garben gebunden und in die Scheuer gefahren.
Die Kartoffeln werden ausgegraben, in Säcke'gelesen und in den Keller
geschüttet usw.) — 2. Was stimmt uns im Herbst froh und was traurig?
3. Vergleiche „Herbstbild" von Friede. Hebbel!
1. Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd fern und nah
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
458
III. Lyrische Gedichte.
2. O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält;
denn heute löst sich von den Zweigen nur,
was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.
(Ein stiller, sonniger Herbsttag. Kein lauter Atemzug. Nur raschelnd
hört man fern und nahe die schönsten Früchte von den Bäumen fallen.
Nicht der Sturmwind reißt sie ab, und nicht die Hand des Menschen
hält Lese und pflückt die Früchte; sondern was der milde Strahl der
Sonne gereift hat, das löst sich selbst geräuschlos von den Zweigen. Das
ist die Herbstfeier der Natur. Schaut sie an, aber stört sie nicht.) P.
173. Herbftpredigt.
Friedrich Ahlfeld. Ausgewählte Gedichte. Halle 1885.
I. Vorbereitung. Unser Heiland Jesus Christus war ein großer
Freund der Natur, der Schöpfung feines himmlischen Vaters. Mit offenen
Augen und liebevollem Herzen schaute er auf das Werden und Wachsen
der Pflanzen, auf das Leben und Treiben der Tiere. Immer aber sah
er in ihnen mehr als das Natürliche: in seinem Geiste und in seinem
Munde wurde das Irdische, Vergängliche ein Hinweis ans das Himm-
lische, Ewige. Das lehren uns seine köstlichen Gleichnisse. Beispiele!
Wer ihm nachfolgt, wird auch in dieser Beziehung von ihm lernen. Und
so hat uns denn der berühmte Prediger und Dichter Friedrich Ahl-
feld das, was er als Christi Jünger ans dem Wesen und Weben des
Herbstes heraushört, zur Beherzigung in einem Liede mit der Über-
schrift „Herb st predigt" wiedergegeben.
II. Darbietung. 1. Vorlesen des Gedichtes.
1. Es tobet der Wind, es heulet der Sturm,
ins Nestlein verkriechet sich Käfer und Wurm.
Wie ist's doch so traulich im warmen Haus!
Ich schaue kaum gerne zum Fenster hinaus.
2. Die Blätter entfallen dem alternden Baum,
ringsum vermodert des Frühlings Traum;
noch einmal bemalet wie Abendrot
der Baum die Blätter, dann kommt der Tod.
3. Ja, treibet noch einmal die Mutter Natur
ihr Frühlingsspiel auf der sonnigen Flur,
daß Schmetterlinge im bunten Gewand
auf Astern spielen: es ist nur Tand.
4. Auf Sturmesflügeln ziehn Wolken umher,
die trüglichen Falter, du siehst sie nicht mehr;
erstarrt von Kälte, vom Sturmeshauch matt,
sie betten sich unter ein fallendes Blatt.
5. Und Nebel so ernst, so grämlich und grau
verhüllen das liebe, himmlische Blau.
Ade nun, ihr Berge, von Wolken bedeckt,
schlaft wohl, bis Frühling euch wieder erweckt!
Ahlfetd: Herbstpredigt.
459
6. Was predigt das Feld, was lehret der Sturm,
das fallende Blatt, der schlafende Wurm?
O Mensch, du Blume auf herbstlicher Flur,
die Zeit rauscht hin und tilgt deine Spur.
7. Der Zeiten Flügel, so schnell und schwer,
verwischt deine Stätte, man kennt sie nicht mehr;
nur eins durchdauert den Sturm und die Zeit:
Gottes Gnade, die bleibet in Ewigkeit!
2. Erläuterungen. Str. 1: Wo haben wir das Nest des
Käfers und des Wurmes zu suchen? — Tiere und Menschen suchen
bei dein unwirtlichen Herbstwetter ihre sichere Behausung auf. — Str. 2:
Was ist des FrühlingsTraum? (Sprießen und Blühen der Pflanzen,
Singen der Vögel, Sonnenschein.) Weshalb heißt diese Herrlichkeit
Traum? (Weil sie wie ein Traum vergeht.) Was bedeuten die Worte:
„Des Frühlings Traum vermodert"? — Der Herbst färbt die Blätter
rot (braun, gelb) vor ihrem Verschwinden, so wie der Himmel mit Abend-
rot sich schmückt vor dem Verschwinden des Tages. — Die Natur trägt
inl Herbste die Züge des Todes. — Str. 3: Daran kann auch ein schöner
Herbsttag nicht irremachen. — Stelle dem Nebensätze die Konjunktion
„wenn" voran! Was ist Frühlingsspiel der Natur? (Sonnenschein,
Blumen, Schmetterlinge.) — „Tand" ist so viel wie „leeres Geschwätz,
Possen", hier also Täuschung. Weshalb? Antwort in Str. 4 und 5!
Inwiefern heißen die Falter trüglich? (Sie betrügen den Menschen, in-
dem ihr Spiel auf Frühling schließen läßt.) — Wolken und Nebel um-
hüllen den Himmel, und die Berge nehmen uns die Aussicht auf das
Hohe. — Str. 6 und 7: Ps. 103, 15—17: „Ein Mensch ist in seinem
Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde: wenn der
Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht
mehr. Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit."
III. Vertiefung. 1. Gliederung: a) Das Bild des Herbstes
Str. 1—5. Str. 1 und 2: Der Mensch, die Tiere, die Pflanzen im
Herbststurm; Str. 3: Täuschende Herbsttage; Str. 4 und 5: Ende des
Herbstes, b) Die Predigt des Herbstes Str. 6 und 7, traurig mahnend
nnd freundlich tröstend.
2. Grundgedanke. Str. 6 und 7 Predigt des Herbstes in zwei
Teilen: O Mensch, die Zeit rauscht hin und tilgt deine Spur. Gottes
Gnade aber, die bleibet in Ewigkeit. — Als dritten Teil könnte man
dann noch hinzufügen: Darum halte dich an den ewigen Gott und seine
Gnade, er gibt dir ewiges Leben.
3. Eigentümliches. Die Sprache des Gedichtes ist ausgezeichnet
durch eine Fülle von Vergleichen und bildlichen Ausdrücken.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Alles Ding währt seine Zeit,
Gottes Lieb' in Ewigkeit. — Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis
(Goethe). — Gellert: Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht — Str. 4: Dich
predigt Sonnenschein und Sturm, dich preist der Sand am Meere usw.
2. Stilübungen. Suche die Bilder aus, und führe sie aus! Was
predigt der Frühling? vr. ?. Polack.
460
III. Lyrische Gedichte.
176. A. Herbftlied.
Gottfried Arnold. Unsere Lieder. Hamburg 1861. S. 64.
1. Näher rückt die trübe Zeit,
und ich fühl's mit Beben:
schwinden muß die Herrlichkeit,
sterben junges Leben.
Waldesschmuck und Blütenpracht
sinken bald in Grabesnacht.
Scheiden, das macht Leiden :, :
3. Blatt sinkt nieder in den Staub,
wird ein Spiel der Winde;
traurig schüttelt ab ihr Laub
auf den Weg die Linde.
Wolke eilt, dem Pfeile gleich,
stürmend durch der Lüfte Reich,
scheucht die trauten Sterne
2. Blumen auf der grünen Au
still ihr Haupt schon neigen,
Sommerabendlüfte lau
Vogel auf der Bergeshöh',
Schmetterling am tiefen See
müssen von uns scheiden
rauhen Stürmen weichen.
4. „Morgen muß ich fort von hier,"
singt der Fink mit Grämen:
Rosen schwindet ihre Zier,
müssen Abschied nehmen.
Ach, es macht so bittern Schmerz,
wenn, die innig liebt das Herz,
alle uns verlassen :,:
I. Erläuterungsfragen. Welche trübe Zeit meint hier der Dichter?
(Ende November und Anfang Dezember, wenn der Herbst vorüber, und
der Winter noch nicht erschienen, wenn es nebelig, naßkalt und stürmisch
ist.) Was heißt: Ich fühl's mit Beben? (Mit Grauen, mit Schaudern.)
Was ist unter Herrlichkeit zu verstehen? (Die Herrlichkeit der sommer-
lichen und herbstlichen Natur: Vogelfang, Waldesgrün, Blüten, Früchte
usw.) Was heißt: Sterben muß junges Leben? (Die grüne Natur
— Blumen, Bäume, Sträucher, Gräser usw. — wird grau und fahl; die
meisten Insekten sterben, und die Vögel ziehen fort in wärmere Länder.)
Wovon neigen im Herbst die Blumen auf einmal ihr Haupt? (Bon
dem ersten Froste.) Wer sind wohl die Vögel auf der Bergeshöh'?
(Lerchen, Finken, Meisen, Kramtsvögel usw.) Wie kommt es, daß die
Blätter der.Bäume abfallen und ein Spiel der Winde wer-
den? Bilde einen andern Vergleich mit der Wolke! (Dem Vogel
gleich.) Wie ist der Ausdruck zu verstehen: Die eilende Wolke scheucht
die trauten Sterne? (Dem trügerischen Augenschein kommt es so vor,
als ob der Mond und die Sterne am Himmel schnell dahin zögen und
die Wolken festständen. Oder scheuchen ist zu verstehen in dem Sinne
von verjagen und verdunkeln. Die Wolke verdunkelt das Licht der
Sterne.) Singt der Fink noch im Herbst? (Das Wort „Fink" steht hier
überhaupt für Singvogel.) Welcher kann hiermit gemeint sein? (Rot-
kehlchen, Meise, Stieglitz oder irgendein anderer Herbstsänger.) Wen meint
der Dichter in den drei letzten Zeilen der Str. 4? (Nicht nur die Dinge
in der leblosen Natur, nicht nur die Tiere des Waldes und des Feldes,
sondern vor allen die Menschen, die uns lieb und wert sind und uns
auch verlassen.) Mit diesen Worten seuszt ein Greis im Spätherbst seines
Lebens, wenn seine Freunde und Verwandten, ja selbst seine Kinder und
Enkel um ihn her wegsterben: „Ach,- es macht so bittern Schmerz, wenn,
die innig liebt das Herz, alle uns verlassen."
II. Verwertung. Vergleichung des Herbstliedes mit einem
zweiten:
Geibel: Herbstlied.
B. Herbstlied.
Emcmuel Geibel, Juniuslieder. 18. Aufl. Stuttgart 1870. S. 25.
1. Es schleicht um Busch uud Halbes
der Sonnenstrahl so matt;
im herbstlich stillen Walde
Fällt langsam Blatt um Blatt?)
Die Welt versinkt in Todesruh',
was ist's denn mehr? Auch du,
auch du,
mein Herz, du findest balde
die rechte Lagerstatt?)
Du brachst am Lebenssteige4)
die Früchte, die er bot,
der Jugend Rosenzweigeb),
der Minne Himmelsbrot, o)
Doch endlich wird des Windes
Raub
die letzte Lieb', das letzte Laub?)
So neige dich, o neige
dich lächelnd8) in den Tod-!
I. Erläuterung. 1. Halde = eine niederwärts geneigte Erdfläche,
ein Bergabhang, eine Berglehne, Bergleite (Halde v. ahd. hald —
niederwärts, geneigt, verwandt mit Huld, Hulde und hold).
2. Blatt um Blatt bezeichnet das regelmäßige, wiederkehrende, lang-
same und leise Fallen der Blätter. 3. Lagerstatt. Wie der Leib R u h e
im Grabe, so findet die Seele Frieden im Himmel. Wie die Natur aus
dem Winterschlafe (der Todesruh') zu neuem Leben im Frühlinge erwacht,
so der Mensch aus dem Grabe zu einem neuen himmlischen Dasein.
4. Lebenssteige, d. i. an deinem Lebenswege genössest du 5. der
Jugend Rosenzweige: Frohsinn, Lebenslust, Freundschaft und
Freude, sowie auch 6. der M i n n e H i m m e l s b r o t, d. i. der Liebe himm-
lische Güter: herzliche Zuneigung, innige Lebensgemeinschaft, Glück und
Seligkeit. 7. Wie endlich das letzte Blatt ein Raub des Sturmes wird,
so zerschneidet der Tod auch den letzten Faden, der uns hienieden mit
lieben Menschen verknüpft. 8. Doch die Liebe im Herzen ist unsterblich
und zieht mit unserer Seele hinaus zur neuen Heimat. Drum, Menschen-
kind, geh ohne Furcht und Grauen dem Tode entgegen und stirb, wenn
einst dein letztes Stündlein naht, gern und freudig!
II. Vergleichung beider Gedichte. ^.Ähnlichkeiten: Beide Dich-
tungen sind Herbstlieder, in welchen die Dichter über die Vergänglich-
keit der herbstlichen Natur und aller irdischen Dinge klagen. Durch beide
Dichtungen geht ein Zug von Wehmut. In beiden Dichtungen wird mit
dem Scheiden des Herbstes das menschliche Sterben verglichen, das auch
wie der Winterschlaf der Natur zur Wiege eines neuen Lebens wird.
L. Die gemeinsamen Gedanken und Empfindungen der
beiden Dichtungen.
Arnolds Gedicht:
1. Näher rückt die trübe Zeit.
2. Schwinden muß die Herrlichkeit,
sterben junges Leben.
3. Waldesschmuck und Blütenpracht
sinken bald in Gravesnach^
4. Blatt sinkt nieder in den Staub,
wird ein Spiel der Winde.
5. Ach, es macht so bittern Schmerz,
wenn, die innig liebt das Herz,
müssen von uns scheiden.
Geibels Gedicht:
Es schleicht am Busch und Halde
der Sonnenstrahl so matt.
Die Welt versinkt in Todesruh'.
Im herbstlich stillen Walde
fällt langsam Blatt um Blatt.
Doch endlich wird des Windes Raub
die letzte Lieb', das letzte Laub.
Was ist's denn mehr? Auch du, auch du,
mein Herz, du findest balde
die letzte Lagerstatt.
462
III. Lyrische Gedichte.
0. Die eigentümlichen Gedanken und Empfindu ngen jede r
Dichtung:
1. Und ich fühl's mit Beben. 1. Du brachst am Lebenssteigc
die Früchte, die er bot,
der Jugend Rosenzweige,
der Minne Himmelsbrot.
2. Scheiden, das macht Leiden. 2. So neige dich, o neige
dich lächelnd in den Tod!
3. (Die ganze Strophe 2.)
4. Traurig schüttelt ab ihr Laub
aus den Weg die Linde usw.
v. Verschieden heitenbeiderDich tun gen. 1. Arnold schil-
dert den Herbst und den Eingang der Natur zum Winterschlafe ganz aus-
führlich, während Geibel nur einige wesentliche Veränderungen der
Natur im Herbste angibt. 2. Arnold spricht zu wiederholten Malen Klagen
aus: z. B. Scheiden, das macht Leiden. Ich fühl's mit Beben. „Morgen
muß ich fort von hier. Ach, es macht so bittern Schmerz usw." Geibel
spricht sich und uns Trost zu: „Was ist's denn mehr? Auch du, auch
du, mein Herz, du findest bald die rechte Lagerstatt," und „So neige
dich, so neige dich lächelnd in den Tod!" Arnold denkt nur an Scheiden,
Sterben und Tod, Geibel an den Genuß des Lebens, an Erlösung von
der Erde Leiden, an ein Wiederaufstehen und ein besseres, schöneres Sein
im Himmel.
III. Vergleiche: <1. Das Herbftblatt
E. L. Rochholz, Liederfibel. 3. Aufl. S. 170.
1. „Wohin nun willst du gehen,
verwelktes, armes Blatt,
das wild des Sturmes Wehen
vom Zweig gerissen hat?"
2. „„Das weiß ich nicht zu sagen.
Hat doch der Sturm sogar
die Eiche mir zerschlagen,
die meine Stütze war.
3. Und ohne viel zu klagen,
lass' ich mich ohne Wahl
im Winde weiter tragen
vom Berg hinab zum Tal.
4. Ich geh' gemäß dem Lose,
daß alles so verweht,
wohin das Blatt der Rose,
das Blatt des Lorbeers geht.""
R. D.
177. Ich sah den Wald sich färben.
Enlanuel Geibel, Juniuslieder. 14. Aufl. Stuttgart 1870. S. 94.
I. Einführung in Stoss und Stimmung. Wenn der Herbst kommt,
da verbleicht die grüne Farbe der Wälder und Felder; graue Nebel kriechen
über das Land; der Ruf der Lust und Freude verstummt; der Wind
reißt das dürre Laub von den Stauden (dem Herbstgestäude) und jagt
es durch das Feld. Über mir ziehen WanderlWgel, die flüchtigen Sommer-
gäste, nach dem schönen Süden. Die ersten Nachtfröste schlagen die Erd-
schollen in Bande. Alles welkt und fällt, stirbt oder flieht; da wird auch
die Seele matt und betrübt zum Sterben. Mit Elias seufzt sie: „Es
ist genug! Frühling und Sommer des Lebens flohen dahin; der rauhe
Geibel: Ich sah den Wald sich färben.
463
Winter kommt. Nimm mich, o Herr, zu dir!" Da rauschen die Flügel
(Schwingen) eines verspäteten Wandervogels über mir; sein Lied tönt
zu mir herab, und Trost zieht in mein Herz. Hat meine Seele nicht auch
Flügel? Winkt nicht auch mir ein sonniges Land über dieser Erde, eine
ewige Heimat im Himmel? Dahin sollen mich die Flügel des Glaubens,
der Liebe und der Hoffnung tragen, wenn auch der Leib an die Scholle
dieser Erde gebannt bleiben muß. — Diese Gedanken hat der Dichter
Emanuel Geibel in dem „Herbstliede" ausgesprochen.
II. Vortrag. A.
1. Ich sah den Wald sich färben,
die Luft war grau und stumm;
mir war betrübt zum Sterben,
und wußt' es kaum, warum.
4. Da Plötzlich floß ein klares
Getön in Lüften hoch;
ein Wandervogel war es,
der nach dem Süden zog.
2. Durchs Feld vom Herbstgestäude
hertrieb das dürre Laub;
da dacht' ich: „Deine Freude
ward so des Windes Raub.
5. Ach ! wie der Schlag der Schwingen,
das Lied ins Ohr mir kam,
fühlt' ich's wie Trost mir dringen
zum Herzen wundersam.
3. Dein Lenz, der blütenvolle,
dein reicher Sommer schwand;
an die gefrorne Scholle
bist du nun festgebannt."
6. Es mahnt aus heller Kehle
mich ja der flücht'ge Gast:
„Vergiß, o Menschenseele,
nicht, daß du Flügel hast!"
III. Vertiefung. Gedanken gang. Str. 1. Der trübe Himmel
stimmt die Seele traurig. Str. 2. Dein fallenden Laube gleichen die
Freuden des Lebens. Str. 3. Frühling und Sommer des Lebens sind
verschwunden, der kalte Winter ist gekommen. Str. 4. Die Gesangstöne
eines Wandervogels fließen aus hoher Luft hernieder. Str. 5. Sein
Flügelschlag und sein Gesang bringen Trost in das Herz. Str. 6. Sie
erinnern an die Flügel der Seele, die zu einer schöneren Heimat tragen. —
Grundgedanke: Der Herbst mit seinem Welken und Sterben
stimmt die Seele traurig; aber die Flügel des Glaubens und der Hoff-
nung tragen sie zum Himmel empor.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Auch unser Leben hat vier
Jahreszeiten: die Jugend ist der blüten- und hoffnungsreiche Lenz, das
Mannesalter ist der früchtcreiche Sommer, das Greisenalter ist der trübe
Herbst; Tod und Grab ist der Winter. Je mehr der müde Leib an die
Scholle gebannt wird, desto mehr wachsen der Seele die Flügel der Sehn-
sucht, die uns in die wahre Heimat, zu Gott, tragen.
2. Bekanntes und Verwandtes. Ps. 90, 5, 6. Du lässest sie
dahinfahren wie einen Strom —. Ps. 103, 15. Ein Mensch ist in seinem
Leben wie Gras —. „Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du
wieder werden —" (Grabspruch). Hebels Kirschbaum: „Und d'Blättli
werde gel und rot und fallen eis im andre no; und was vom Bode obst
chnnnt, muß au zum Bode nidsi goh." Der alte Simeon sprach: Herr,
nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren —. In dem Liede von
Knak: „Laßt mich gehn" — heißt's in Str. 3: „Hätt' ich Flügel, hätt' ich
Flügel, flög ich über Tal und Hügel heute.noch nach Zions Höhn."
464
III. Lyrische Gedichte.
B. Von Moritz Hartmann (Kelch und Schwert. Leipzig 1845. S. 44):
1. Fern von Gottes Herzen, ihrem Heimatland,
ist die Seele einsam an die Welt gebannt.
2. Ein geheimes Trauern winkt ihr himmelwärts,
doch ihr fehlt Verständnis für den eignen Schmerz.
3. Bis das Lied des Himmels, bis sich niedersenkt
Liebe — und die Sehnsucht nach der Heimat lenkt.
4. Liebe ist der Seele, was dem Alpenkind
der verlornen Berge ferne Lieder sind.
5. Darum ist der Seele einz'ge Ruhefrist,
wenn sie ruht, wo einzig ihre Heimat ist.
0. Von Ludwig Tieck (Schillers
1. Feldeinwärts flog ein Vögelein
und sang im muntern Sonnenschein
mit süßem, wunderbarem Ton:
Ade! ich fliege nun davon,
weit! weit!
reis' ich noch heut'.
2. Ich horchte auf den Feldgesang,
mir ward so Wohl und doch so bang;
mit frohem Schmerz, mit trüber
Lust
stieg wechselnd bald und sank die
Brust:
Herz! Herz!
Brichst du vor Wonn' oder
Schmerz?
Musenalmanach für 1799. S. 216):
3. Doch als ich Blätter fallen sah,
da sagt' ich: Ach, der Herbst ist da,
der Sommergast, die Schwalbe,
zieht,
vielleicht so Lieb und Sehnsucht
flieht,
weit! weit!
rasch mit der Zeit.
4. Doch rückwärts kam der Sonnen-
schein,
dicht zu rnir drauf das Vögelein,
es sah mein tränend Angesicht
und sang: Die Liebe wintert nicht,
nein! nein!
ist und bleibt Frühlingsschein.
3. Rede- und Stilübungen, a) Welche Züge hat das Hart-
man nsche Gedicht mit dem Geibelschen gemein und welche eigen-
tümlich?
A. Gemeinsames. Die Seele hat ihre Heimat im Himmel bei
Gott; hier unten ist sie einsam an die Welt gebannt. Sie trauert und
weiß doch nicht, warum; ihr fehlt Verständnis für den eigenen Schmerz.
Die Flügel der Seele sind Liebe und Sehnsucht. Das Lied des Himmels,
das von oben hernieder tönet, ist die Liebe zu Gott und den Menschen.
Die Seele kann nur wahre Ruhe finden — hienieden und droben —
in der Liebe.
B. Eigentümliches. Das Geib elsche Lied knüpft diese Ge-
danken an den Herbst und an den Gesang des Wandervogels. Es
spricht auch von den verlorenen Freuden, von den Blüten und Früchten
des Lebens. Das Hartmannsche Lied hat diese Einkleidung nicht. Statt
des Wandervogels redet es von dem Alpenkinde, das die Berge seiner
Heimat verlassen hat, aber durch die heimatlichen Lieder aufs lebhafteste
daran erinnert und mit Sehnsucht danach erfüllt wird. Als die Seele
ihre himmlische Heimat verließ, da gab ihr Gott gleichsam als Lied des
Himmels, das uns immer voll Sehnsucht wieder nach der Heimat zieht,
die Liebe mit. Was das Hartmannsche Lied trefflich ausführt, das ent-
hält das Geibelsche in der letzten Strophe nur als Andeutung.
b) Vergleiche das Geibelsche und das Tiecksche Lied!
Krumm ach er: Das Lied vom Samenkorn.
465
A. Ähnliches. Beide sind Herbstlieder. Beide werden estnem herbst-
lichen Wanderer in den Mund gelegt. In beiden läßt ein Wandervogel,
der nach Süden zieht, ans der Luft seinen ergreifenden Gesang hernieder
tönen. Der Gesang dringt beiden Wanderern tief ins Herz. Das Fallen
des Laubes stimmt sie traurig. Sie werden an die Flucht der Zeit und
an den Verlust der Erdenfreuden erinnert. Beide klingen tröstlich aus,
indem das Herz in der ewigen Dauer der Liebe und in der Hoffnung
aus eine ewige Heimat im Himmel Ruhe und Trost findet.
B. Verschiedenes. Eigentümlich ist bei Geibel: Der Wald färbt
sich; die Luft ist grau und stumm; der Wanderer ist an die gefrorene
Scholle gebannt; er beklagt den Verlust der Lebensfreuden. Der Gesang
fließt als klares Getön durch die Luft; der Schlag der Schwingen gesellt
sich zum Gesänge; die Menschenseele wird ermahnt, nicht zu vergessen,
daß sie Flügel hat.
Bei Ti eck: Das Vöglein hält Zwiesprach mit dem Wanderer. Der
Inhalt des Gesanges wird angegeben, und zwar wird erst ein Naturlaut
(weit! weit!) nachgeahmt und dann in einer regellosen Schlußzeile das
singende Geplauder fortgesetzt. Der Gesang erfüllt das Herz wechselnd
mit Wonne und Schmerz. Mit der Schwalbe fliegen Liebe und Sehn-
sucht in die Weite. Der wandernde Sonnenschein kehrt zurück; das Vög-
lein naht sich dem Wanderer und tröstet den Weinenden mit der ewigen
Frühlingsdauer der Liebe. P.
178a. A. Das Lied vom Samenkorn.
Friedr. Advlf Krummacher. Das Christfest. 2. Auflage. Duisburg u. Essen 1814. S. 147.
1. Der Sämann streut aus voller Hand und wundersam! was er gesät,
den Samen auf das weiche Land; das Körnlein wieder aufersteht usw.
(Das Lied steht in den meisten Lesebüchern.)
I. A. Erläuterungsfragen. Wann und wie bestellt der Sämann
das Wintergetreide? Was für Samen sät er? (Denke an das Gleichnis
vom Sämann und vom Unkraut unter dem Weizen!) Wodurch ist das
Land ein weiches Bett für den Samen geworden? (Durch Pflügen und
Eggen.) Was ist wundersam oder zum Verwundern? (Die Auf-
erstehung des toten Körnleins. 1. Kor. 15, 35—44.) Womit ist in
Str. 2 die Erde, das Land, das Korn und seine Schale verglichen?
(Mit einer Mutter, die ihr kleines Kind aus den Schoß nimmt und es
ans den Windeln und Binden loswickelt.) Womit ist die rötliche
Spitze des Keimes verglichen? (Mit dem Haupt oder Köpflein des
Kindes.) Wann friert der Keim, wann bittet er stumm um Tau und
wann um Sonnenschein? Warum heißt die Saat der Erde Kind-
lein? Wie schaut die Sonne von hoher Bahn? (Sie scheint vom
Himmel.) Wie verbergen sich Mensch und Wurm, d. h. alle lebendigen
Geschöpfe, bei Frost und Sturm? Warum das Körnlein nicht? In
welche Jahreszeit führt uns Str. 5? Welche Decke erhält die nackte
Saat im Winter? Worin besteht der Schlummer? (Die Saat lebt
AdL. II. 8. Ausl. 30
466
III. Lyrische Gedichte.
zwar, aber sie ruht und hört auf zu wachsen.) Womit wird in Str. 6
der Winter und womit der Frühling verglichen? (Der Winter ist eine
lange, trübe Nacht, der Lenz ein schöner Morgen und ein fröhlicher
Bote Gottes, der das Leben weckt, Schmuck und Freude bringt.) Warum
wird in Str. 7 das Feld voller Halme und Ähren mit einem Meere
verglichen? (Es ist so grünlich, tief und weit, so still oder im Winde
hin- und herschwankend und wogend wie die Meeresflut. Nichts gleicht
mehr denl Meere als ein weites, vom Winde bewegtes grünliches Halmen-
meer.) Welche Zeit ist nach Str. 8 gekommen? Wie gleicht die Erde
dann einer Braut? (Ein stiller Glanz und Duft webt über ihr wie
der Glücksschimmer im Auge einer Braut; ein goldener Kranz von reifen
Ähren liegt auf ihrem Haupte; die Sonne schaut wie ein glückliches Mutter-
auge aus sie herab.) Welche Stimmen lassen sich nach Str. 9 bei der
Ernte hören? (Das Klingen der Sicheln und Sensen, das Rauschen der
Halme und Garben, der laute Freudenruf der Schnitter und der leise
Dank der Herzen.)
B. Christ, ein Gärtner.
Max von Schenkendorf. Bibliothek deutsch. Klass. Hildburghausen 1861. Bd. XVII, S. 525.
1. Ein Gärtner geht im Garten,
wo tausend Blumen blühn;
und alle treu zu warten,
ist einzig sein Bemühn.
2. Der gönnt er sanften Regen
und jener Sonnenschein;
das nenn' ich treues Pflegen,
da müssen sie gedeihn.
3. In liebenden Gedanken
sieht man sie fröhlich blühn,
sie möchten mit den Ranken
den Gärtner all umziehn.
4. Und wann ihr Tag gekommen,
legt er sie an sein Herz,
und zu den Sel'gen, Frommen
trägt er sie himmelwärts,
5. zu seinem Paradiese,
zu seiner schönern Welt,
die nimmermehr wie diese
in Staub und Äsche fällt.
6. Hier muß das Herz verglühen,
das Weizenkorn verdirbt,
dort oben gilt ein Blühen,
das nimmermehr erstirbt.
7. Du Gärtner, treu und milde,
o laß uns fromm und fein
zum himmlischen Gefilde,
zum ew'gen Lenz gedeihn!
I. B. Erläuterungsfragen. Wer ist derGärtner? (Christus.) Was
ist der Garten? (Die christliche Kirche auf Erden.) Die Blumen?
(Gläubige Christen.) Die Wartung? (Er versorgt sie mit den Gnaden-
und Heilsmitteln.) Sein Bemühen? (Sie dadurch zu beglücken.) Der
sanfte Regen? (Trost und Erquickung in der Hitze und Dürre der Trüb-
sal.) Der Sonnenschein? (Glück und Freude in guten Tagen.) Das
Gedeihen? (Das Wachstum der Seele in allem Guten.) Die Blüte?
(Das Glück in Jesu.) Die Ranken, die wie Efeuarme den Eichbaum
umschlingen? (Die Liebe, die sich im Verlangen, im Gebet, in Werken
der Barmherzigkeit mit Jesu vereinigt.) Ihr Tag? (Der Todestag.)
An sein Herz? (Nimmt sie wie der Bräutigam die Braut, die Mutter
ihr Kind in seine Arme und an seine Brust.) Paradies? (Ort seliger
Freude — Abrahams Schoß.) Der Zerfall dieser irdischen Welt?
(Untergang der Erde am jüngsten Tage.) Das Verglühen des Her-
Schenkendorf: Christ, ein Gärtner. 467
z e n s und das Verderben des Weizen kor ns? (Das irdische Leben
verglüht oder erlischt wie ein Licht, und der Leib verwest wie ein Weizen-
korn.) Das unsterbliche Blühen droben? (Endlose Seligkeit.) Das
himmlische Gefilde? (Die Wohnung der Seligen im Himmel.) Der
ewige Lenz? (Ein seliges Leben, das dem schönsten Frühling ohne
Ende gleicht.)
II. Vergleichung der beiden Gedichte. 1. Ähnlichkeit. Beides sind
Allegorien oder sinnbildliche Darstellungen. In schöner, bilderreicher
Sprache wird erzählt, wie selbstlose Liebe und Sorgfalt ihre Pfleglinge
unter wechselnden Schicksalen vom Anfange bis zur Vollendung treulich
pflegt, versorgt und erzieht.
2. Verschiedenheit. In A werden die Samenkörner mit Kin-
dern, in B die Menschenkinder mit Blumen verglichen. A führt uns auf
das Feld durch den Kreis eines Jahres, B in den Garten durch die Dauer
eines Menschenlebens bis in die endlose Ewigkeit. In A ist Gott der
ungenannte mächtige, weise und gütige Schöpfer und Erhalter, in B
Christus ein weiser und liebevoller Gärtner. A enthält die Entwicklung
des Samenkorns bis ins einzelne, B die Pflege der Blumen im allge-
meinen. In A Str. 1 streut der Sämann den Samen in das zubereitete
Land und befiehlt die Weiterentwicklung Gott; in B Str. 1 wartet der
Gärtner im Garten eifrig und liebevoll aller Blumen. In A Str. 2
und 3 pflegt die Erde das Kindlein in ihrem Schoß, die Sonne gibt
ihm Wärme und der Tau Erfrischung, in B Str. 2 spendet der Gärtner
der einen Blume Regen, der andern Sonnenschein, je nachdem es ihr
Gedeihen erfordert. A beschreibt (Str. 4 und 5) die harten Geschicke des
Körnleins, B deutet die Erziehung durch Leiden und Trübsal kaum an
(Str. 2). In A wird das frohe und glückliche Gedeihen von der Erde
Kindern geschildert (Str. 6 und 7), in B nur die innige, beseligende Ge-
meinschaft zwischen dem Gärtner und den Blumen durch die Liebe
(Str. 3). In A schaut die Sommersonne froh herab auf die bräutlich
geschmückte Erde (Str. 8), in B holt Christus die bräutlich geschmückte
Seele in seinen Himmelssaal (Str. 4). In A (Str. 8) wird Glück und
Freude der Ernte, in B (Str. 5) die Herrlichkeit des Paradieses geschildert.
Wie in A (Str. 1) das Körnlein erst verwest und dann aufersteht, so
muß in B (Str. 6) der Leib gleich einem Weizenkorn verderben, das
Leben wie ein Licht verglühen, um droben zu unvergleichlicher Blüte zu
kommen. A klingt (Str. 9) aus im lauten Jubel der Freude und im
stillen Dank des Herzens, B (Str. 7) in der innigen Bitte an den treuen
Gärtner, uns als feine und fromme Blumen zu dem ewigen Lenze in
das himmlische Feld zu verpflanzen.
III. Ausgaben. 1. Wie gleicht das Körnlein einem Kinde, das Kind
einer Blume? — 2. Wie wartet der Bauersmann treulich des Samen-
korns von der Aussaat bis zur Ernte, und wie pflegt der Gärtner die
Blumen von Anfang bis Ende?— 3. Suche Geschichten, Sprüche und
Sprichwörter, die von Saat und Ernte, von Getreide und Blumen, von
Landmann und Gärtner handeln! —
30
468
III. Lyrische Gedichte.
4. Vergleiche mit „Christ, ein Gärtner" das liebliche Gedicht von
Heinrich Heine (Sämtl. Werke. Hamburg 1874, Bd. XV. 1. Teil,
S. 159):
C. Du bist wie eine Blume.
1. Du bist wie eine Blume 2. Mir ist, als ob ich die Hände
so hold und schön und rein: aufs Haupt dir legen sollt',
ich schau' dich an, und Wehmut betend, daß Gott dich erhalte
schleicht mir ins Herz hinein. so rein und schön und hold.
Die Blume ist hier ein Mägdlein, wie eine weiße Lilie oder Rose
schön und lieblich von Gestalt, holdselig in ihrem Wesen und rein in ihrem
Gemüt. Der Gärtner ist Vater oder Mutter (etwa am Tage der Ein-
segnung); mit Augen der Liebe und Sorge schauen sie ihr geliebtes Kind
an, dessen Glück ihr einziges Bemühen ist. Der Garten ist die Welt,
eine Well voll Gefahren für ihr Kind. Denken sie daran, dann schleicht
leise und unwiderstehlich die Wehmut in ihr Herz, und der bange Seufzer
ringt sich los: „Wird unser Kind den Lockungen widerstehen, sich im
Strudel der Welt und ihrer Lust nicht verlieren, so rein und schön und
hold wie jetzt bleiben?" Im Gefühl ihrer eigenen Ohnmacht und Un-
zulänglichkeit befehlen sie das Kind einem stärkeren Schutz und einer
treuereit Pflege. Eine dunkle Angst und Ahnitng bedrückt das Herz, drängt
die Träne ins Auge und zieht die Hand auf das Haupt des geliebten
Kindes, um die unsichtbaren Gefahren abzuwehren. Ihre Wartung
und Pflege der reinen, schönen Menschenblüte muß sich hinfort auf die
segnende Hand und das betende Herz beschränken. Gott wolle
der Hüter und Wächter, der Schirm und Schild des Kindes sein, ein
treuer Gärtner, wie ihn Schenkendors schildert! Was bei S ch e n k e n d o r f
der Glaube hat, die Liebe übt und die Hoffnung schaut, das ist bei Heine
noch Gegenstand banger Sorge und wehmütigen Schmerzes. Dort hat
der Himmel sein verklärendes Licht über die Erde gegossen; hier steht
noch eine düstere Wolke von Gefahren zwischen der Gegenwart und Zu-
kunft, zwischen Erde und Himmel. Dort winkt die Siegespalme, hier
droht des Lebens Kampf und Leid. P.
178 b. A. Kornrauschen.
Ferdinand Avenarius. Stimmen u. Bilder. S. 17 (München).
I. Einführung in Stoff und Stimmung. In der Gegenwart die
Zukunft zu sehen, das ist Prophetenart. Es ist aber auch die Weise jedes
denkenden Menschen. Alles, was ist, das ist geworden und strebt einem
Ziele zu. Darum fragt der sinnende Mensch bei jeder Erscheinung: „W o -
her bist du gekommen, und wohin strebst du?" So fragt er die Quelle,
die der Erde entspringt, und das Pflänzlein, das der Erde entsprießt.
So fragt er auch nach dem Woher und Wohin seines eigenen Lebens.
Aus dem Gegenwärtigen die künftigen Entwicklungen lesen und sie gleich-
sam im voraus fühlen, das ist die rechte Betrachtungsweise aller Er-
scheinungen im Natur- und Menschenleben. So sah und fühlte der Dichter
Avenarius: Kornrauschen.
469
Ferd. Avenarius bei einem Gange durch das rauschende Kornfeld den
künftigen Lebensgang des Getreides. Hört sein Gedicht darüber!
Bist du wohl im Kornfeld schon gegangen,
wenn die vollen Ähren überhangen,
durch die schmale Gasse dann inmitten
schlanker Flüsterhalme hingeschritten?
5 Zwang dich nicht das heimelige Rauschen,
stehn zu bleiben und darein zu lauschen?
Hörtest du nicht aus den Ähren allen
wie aus weiter Ferne Stimmen hallen?
Klang es drinnen nicht wie Sichelklang?
lO Sang es drinnen nicht wie Schnittersang?
Hörtest nicht den Wind du aus den Höhn
lustig sausend da die Flügel drehn?
Hörtest nicht die Wasser ans den kühlen
Tälern singen du von Rädermühlen?
15 Leis, ganz leis nur hallt das und verschwebt,
wie im Korn sich Traum mit Traum verwebt,
in ein Summen wie von Orgelklingen,
drein ihr Danklied die Gemeinden singen.
Rückt die Sonne dann der Erde zu,
20 wird im Korne immer tiefre Ruh'.
Und der liebe Wind hat's eingewiegt,
wenn die Mondnacht schimmernd drüber liegt.
Wie von warmem Brot ein lauer Duft
zieht mit würz'gen Wellen durch die Luft.
II. Lagebild. Es ist ein lauer Sommerabend. Weite, wogende Korn-
felder umgeben ein Dörflein. Die vollen Ähren hangen nieder und künden
die nahe Ernte. Ein Fußpfad führt wie eine schmale Gasse mitten durch
das Feld. Ein Wanderer schreitet hindurch und bleibt sinnend stehen.
Um ihn halten die rauschenden Halme flüsternd traute Zwiesprache. Was
hört der Wanderer aus den geheimnisvollen Stimmen? Klingen sie nicht
wie ferner Sichelklang, wie fröhlicher Gesang der Schnitter? Klingt's
nicht vom Dörflein wie das Dengeln der Sensen, wie kfas Summen der
Orgel, wie Lobgesang der Gemeinde? Dort auf dem Hügel dreht die
Windmühle ihre Flügel, und dort im kühlen Tale klappert und singt die
Wassermühle. Die Sonne neigt sich zum Untergange. Im Osten steigt der
Mond auf, und bald wird sein Schein schiminernd auf den Feldern liegen,
die der Abendwind zur Nachtruhe eingewiegt hat. Durch das schlafende
Kornfeld weht es in würzigen Wellen wie der laue Dust von frischem Brote.
III. Gliederung. 1. Ein Wanderer geht durch das rauschende, ernte-
reife Kornfeld (1.—4. Verszeile). 2. Im Geiste hört er den Sichelklang
und Schnittersang der Erntearbeiter (V. 5—10). 3. Er sieht, wie Wind-
und Wassermühle das Getreide in Mehl verwandeln (V. 11—14). 4. Wie
im Traume hört er das Orgelsummen und den Gemeindesang am Ernte-
feste erklingen (V. 15—18). 5. Er spürt, wie aus dem stillen, mondbeglänz-
ten Kornselde in würzigen Wellen ein Duft wie von warmem Brote auf-
steigt (V. 19—24).
IV. Vertieftrng. 1. Verwandtes. Tischgebete. Das Lied vom
Samenkorn. Hebels „Hafermus". Matth. 6 „Vom Sorgen".
470
III. Lyrische Gedichte.
2. Vergleiche B „Guter Rat" von Theodor Fontane!
1. An einem Sommermorgen,
da nimm den Wanderstab;
es fallen deine Sorgen
wie Nebel von dir ab.
3. Rings Blüten nur und Triebe
und Halme, von Segen schwer,
dir ist, als zöge die Liebe
des Weges nebenher.
2. Des Himmels heitere Bläue
lacht dir ins Herz hinein
und schließt, wie Gottes Treue,
mit seinem Dach dich ein.
4. So heimisch alles klinget
als wie im Vaterhaus,
und über die Lerche schwinget
die Seele sich hinaus.
Ähnlichkeiten in A und B: Die Liebe Gottes begleitet uns auf
allen Wegen in der Natur. Sie sorgt für Speise und Freude. Alles in
der Natur weist die Seele des Wanderers hinaus nach der ewigen Heimat
in Gottes Vaterhaus.
Verschiedenheiten: A. Ein Abendgang durchs Kornfeld. B. Ein
Morgengang durch die erwachte Natur. A. Das Kornfeld als Gottes Vor-
ratshaus. B. Der Himmel, unser Schutzdach, ein Bild von Gottes Treue.
A. Die heimlichen Stimmen der Halme, der Sicheln, der Orgel, des Ge-
sanges. B. Der laute Sang der Lerche.
3. Vergleiche das Sonett: 0. Mittagszauber von Her-
mann Lingg!
1. Vor Wonne zitternd hat die Mittagsschwüle
auf Tal und Höh' in Stille sich gebreitet;
man hört nur, wie der Specht im Tannicht scheitet,
und wie durchs Tobel rauscht die Sägemühle.
2. Und schneller fließt der Bach, als such' er Kühle.
Die Blume schaut ihm durstig nach und spreitet
die Blätter sehnend aus, und trunken gleitet
der Schmetterling vom seidnen Blütenpfühle.
3. Am Ufer sucht der Fährmann sich im Nachen
aus Weidenlaub ein Sonnendach zu zimmern
und sieht ins Wasser, was die Wellen machen.
4. Jetzt ist die Zeit, wo oft im Schilf ein Wimmern
den Fischer weckt; der Jäger hört ein Lachen,
und golden sieht der Hirt die Felsen schimmern.
A. Ein Abend-, B ein Morgen-, C ein Mittagsbild. A. Ein Wan-
derer abends im Kornfelde. B. Ein Wanderer morgens im freien Felde.
0. Ein Fährmann mittags im Nachen auf dem Wasser, in dem sich die
Wolken spiegeln.
A. Gott gibt seinen Kindern Brot, B. Freude und Zuversicht, 6.
Schutz vor der Mittagsglut. (Bach, Blätter, Schmetterling, Fährmann,
Jäger, Hirt.)
A zeigt den Lebensgang des Getreides, B die Erhebung der Seele
über die Sorgen zu dem treuen Gott, 6 die Flucht der Geschöpfe vor
der Mittagsschwüle an geschützte Örter.
Allerlei Stimmen lassen sich hören, in A das Flüstern der Halme,
das Klingen der Sicheln, das Summen der Orgel, der Gesang der dank-
baren Erntearbeiter; in B das Trillern der Lerche und die Stimmen der
Eichendorff: Morgengebet.
471
verschiedenen Geschöpfe, in 0 das Scheiten (Zerhacken des Holzes in Scheit-
chen oder Späne) des Spechts im Tannicht, das Rauschen des Bachs im
kühlen Tobel (Waldschlucht), ein geheimnisvolles Wimmern im Schilfe und
ein Lachen im Tannicht (Tannenwalde). P.
179. Morgengebet.
Joseph Freiherr von Eichendorff. Gedichte. 8. Aufl. Leipzig 1874. S. 339.
I. Vorbereitung. Ein Wanderer war abends reisemüde in der Her-
berge angelangt; sein Herz war von Sorgen gedrückt, seine Spannkraft
unter allerlei Druck und Not erschlafft. Der Schlaf floh sein Lager. Früh
brach er auf und wanderte weiter. Auf einer bewaldeten Anhöhe machte
er halt. Tiefes Schweigen umfing den einsamen Wanderer; nur in den
Wipfeln rauschte cs leise. Der Klang einer fernen Morgenglocke schlug
an sein Ohr; ihm war es, als ob der Herr selbst durch das stille Feld
ginge, der Wald aber sich vor ihm neige wie einst Abraham, 1. Mos.
18, 2. Betend erhob sich seine Seele zu Gott. Da ward ihm frei und
leicht ums Herz. Er schämte sich im Lichte des jungen Tages seiner
gestrigen verzagten Stimmung und sah das Leben im Lichte der Ewig-
keit als eine Pilgerreise nach dem Himmel, Gram und Glück der Welt
als die Brücke an, die über den breiten Strom der Zeit zu Gott führt.
Dieser Stimmung hat der Dichter Eichendorfs in dem „Morgengebete"
einen wundervollen poetischen Ausdruck gegeben.
II. Vortrag.
1. O wunderbares, tiefes Schweigen,
wie einsam ist's noch aus der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
als ging' der Herr durchs stille
Feld.
Ich fühl' mich recht wie neu ge-
schaffen !
Wo ist die Sorge nun und Not?
Was mich noch gestern wollt'erschlaffen,
ich schäm' mich des im Morgenrot.
3. Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
will ich, ein Pilger, frohbereit
betreten nur wie eine Brücke
zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist in der Frühe eines
schönen Sommermorgens. Den Himmel säumt im Osten das Morgenrot.
Weite Fluren dehnen sich bis zum Rande eines Waldes aus. Ein leiser
Hauch bewegt die Blätter der Bäume. Ein einsamer Wanderer steht auf
einer Anhöhe, hat die Hände gefaltet und die Augen zum Himmel erhoben.
2. Gedankengang. Str. 1. Wunderbare Stille und heilige Gottes-
nähe in der Morgenfrühe. Str. 2. Erhebung der Seele über Sorge und
Not des Lebens. Str. 3. Das Leben eine Pilgerfahrt über den -ström
der Zeit nach dem Hafen der Ewigkeit.
Grundgedanken: In der Einsamkeit der Natur, wo der Lärm der
Welt schweigt, da hören wir Gottes Stimme, da wird die Seele sorgen-
frei und lebensmutig und lernt ihre irdische und himmlische Ausgabe ver-
stehen. „Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige
suchen wir." (Ebräer 13, 14.) „Dieser Zeit Leiden ilt nicht wert der
Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden." (Römer 8, 18.)
472
III. Lyrische Gedichte.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes. Die
wechselnde Stimmung in den: Gedichte spiegelt sich wieder in der Ge-
schichte des Propheten Elia 1. Kön. 19. Elia hatte sich vor dem Zorn
der Königin Jsebel in die Wüste geflüchtet. Das Herz von Sorge gepreßt,
die Kraft der Seele von Not erschlafft, so setzte er sich lebensmüde unter
einen Wacholder und bat: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine
Seele!" Er entschlief und fand beim Erwachen ein geröstet Brot und eine
Kanne mit Wasser. Er fühlte sich wie neu geschaffen und schämte sich
seines Kleinmuts und wanderte in Kraft der genossenen Erquickung 40
Tagereisen weit in die Wüste bis an den Berg Gottes Horeb. Hier über-
nachtete er in einer Höhle, und neuer Kleinmut überfiel sein Herz. Da
führte ihn der Herr aus einen Berg und zeigte ihm einen großen Wind,
der die Berge zerriß, ein Erdbeben, das die Felsen zerbrach, und ein
Feuer. Danach kam ein stilles, sanftes Sausen. Da merkte Elia, daß
der Herr vorüber ging, verhüllte sein Angesicht im Mantel und neigte
sich zur Erde. Und hell ward es in seiner Seele! Nur ein Pilger ist er
hienieden, der nach heiliger Stätte wallt- Seine Lenden soll er gürten,
froh und bereitwillig die Lebensbahn durchwallen, die wie eine Brücke
über den Strom der Zeit in die selige Heimat zu dem Herrn führt. —
Wanderers Nachtlied.
Goethes Werke. Leipzig. Bibliographisches Institut. Bd. I, S. 95.
Der du von dem Himmel bist, Ach, ich bin des Treibens müde!
alles Leid und Schmerzen stillest. Was soll all der Schmerz und Lust?
den, der doppelt elend ist. Süßer Friede,
doppelt mit Erquicktlng füllest: komm, ach komm in meine Brust!
Augustin: Des Menschen Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir, o Gott!
2. Rede- und Stilübungen, a) Schildere die Morgenfrühe im
Sommer! b) Welche Arten von Gram können das Herz bedrängen?
c) Welche Arten von Glück können das Herz zum Aufjubeln bewegen?
d) Wodurch ähnelt das Leben einer Pilgerfahrt? e) Welche Momente
finden sich in dem Gedichte aus Elias Geschichte? k) Vergleiche Wan-
derers Nachtlied mit dem Morgengebete nach den ähnlichen und
den verschiedenenZügen! P.
180. Morgenlied.
Fr. Schiller. Werke. Stuttgart. 1872. III, S. 494.
1. Verschwunden ist die finstre Nacht,
die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
die Sonne kommt mit Prangen
am Himmel aufgegangen.
Sie scheint in Königs Prunk-
gemach,
sie scheinet durch des Bettlers
Dach,
und was in Nacht verborgen war,
das macht sie kund und offenbar.
2. Lob sei dem Herrn und Dank ge-
bracht,
der über diesem Haus gewacht,
mit seinen heil'gen Scharen
uns gnädig wollt' bewahren!
Wohl mancher schloß die Augen
" schwer
und öffnet sie dem Licht nicht mehr.
Drum freue sich, wer neu belebt
den frischen Blick zur Sonn' erhebt!
Claudius: Morgenlied eines Bauersmannes.
473
I. Vermittlung. Dieses einfache Morgenlied findet sich in dem von
Schiller übertragenen Shakespearischen Trauerspiele Macbeth (I. Akt,
Szene 5), Der Pförtner eines Schlosses singt es nach einer bösen
Nacht. —
Str. 1 schildert den Anbruch des Tages in wenigen, aber treffenden
Zügen. Das Verschwinden der Finsternis, der Gesang der Vögel, das
Erwachen (poetischer Ausdruck für Beginn) des Tages, der Aufgang der
Sonne sind die sicheren Zeichen dieses Vorganges. — Inhalt: Der An-
bruch des Tages. Str. 2 enthält das eigentliche Gebet: „Lob sei dem
Herrn und Dank gebracht" usw. und außerdem den frommen Wunsch, daß
sich die Menschen des jungen Tages erfreuen mögen. — Inhalt: Das
Gebet und ein frommer Wunsch.
II. Dichterische und sprachliche Darstellung. Trotz der Kürze und
Einfachheit des kleinen Gedichts erweist sich der Dichter darin dennoch
als ein großer Meister in der Sprache. Ganz besonders ivirksam ist die
Anwendung der Gegensätze (Antithesen), die sich logisch gegenüber-
stehen: Die Nacht verschwindet, der Tag erwacht; Königs
Prunkgemach, Bettlers Dach; in der Nacht verborgen, durch die
Sonne kund und offenbar; das Schließen der Augen, das Öffnen
derselben. Ebenso wirksam sind einige schöne Bilder, z. B. „Der Tag er-
wacht". Der Ausdruck „erwacht" kommt nur lebendigen Wesen zu und er-
innert an das Leben, welches beim Anbruch des Tages in der Natur be-
ginnt. Ferner die Personifikation der Sonne: Sie „kommt aufgegangen",
„macht kund und offenbar". Die „heiligen Scharen" ist eine schöne Ver-
tauschung (Synekdoche) für „die Engel". —
III. Anwendung für Herz und Leben. „Ein guter Tag fängt an mit
Gottes Preis; 's ist kein Geschäft so selig wie das Beten." W. D.
181. Moraenlied eines Bauersmannes.
Mattb- Claudius. Sämtl. Werke des Wandsbecker Baten. 1778. III. Teil, S. 1.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Von dem Wesen der Sonne,
welche der Erde Leben und Fruchtbarkeit spendet, haben sich die Menschen
zu allen Zeiten allerlei Vorstellungen gemacht. Die alten Griechen
glaubten, daß der Sonnengott Helios jeden Morgen aus dem Meere
stiege, auf seinem mit vier Rossen bespannten Wagen über den Himmel
führe, abends wieder zu den Fluten hinabtauche und während der Nacht
in einem goldenen Kahne über den Ozean zum Aufgangsort der Sonne
zurückkehre.
Ps. 19, 5—7 heißt es: Gott hat der Sonne eine Hütte in dem Him-
mel gemacht. Und dieselbe gehet heraus wie ein Bräutigam aus seiner
Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen den Weg. Sie gehet auf
an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende,
und bleibt nichts vor ihrer Hitze verborgen.
Der schlichte Bauer in Claudius' Morgenliede weiß nichts von dem
Kopernikanischen System, wonach die Sonne als Fixstern still steht und
die Erde sich um dieselbe bewegt. Er sieht in der Sonne einen göttlichen
474
III. Lyrische Gedichte.
Boten, der rings die Erde umkreist und überall Segen verbreitet. Er
redet in dem nachstehenden Gedichte mit ihr wie mit einer Person, vergißt
aber nicht über dem Geschöpf den Schöpfer, über dem Boten den, der
ihn gesandt.
1. Da kommt die liebe Sonne wieder,
da kommt sie wieder her!
Sie schlummert nicht und wird
nicht müder
und läuft doch immer sehr.
2. Sie ist ein sonderliches Wesens;
wenn 's Morgens2) auf sie geht,
freut sich der Mensch und ist ge-
nesen 3)
wie beim Altargerät.
3. Von ihr kommt Segen und Ge-
deihen,
sie macht die Saat so grün,
sie macht das weite Feld sich
neuen b)
und meine Bäume blühn.
4. Und meine Kinder spielen drunter
und tanzen ihren Reihn6),
sind frisch und rund und rot und
munter,
und das macht all ihr Schein.
5. Was hab'ich dir getan, du Sonne,
daß mir das widerfährt
Bringst jedenTag mir neueWonne,
und bin's fürwahr nicht wert.
6. Du hast nicht menschliche Gebärde,
du issest nicht wie wir;
sonst holt' ich gleich von meiner Herde,
ein Lamm und brächt' es dir,b)
7. Und stünd' und schmeichelte von
ferne:
„Iß und erquicke dich!
Iß, liebe Sonn', ich geb' es gerne,
und willst du mehr, so sprich!"
8. Gott in dem blauen Himmel oben,
Gott denn belohn' es dir!
Ich aber will im Herzen loben
von deiner Güt' und Zier.
9. Und weil wir ihn nicht sehen
können,
will ich wahrnehmen feind)
und an dem edlen Werk erkennen,
wie freundlich er muß sein.
10. O, Bt§10) mir denn willkommen
heute,
bis Willkomm', schöner Held!
Und fegn' uns arme Bauersleute
und unser Haus und Feld!
11. Bring unserm König heut auch
Freude
und seiner Frau dazu"),
fegn' ihn und tu ihm nichts zu-
leide
und mach' ihn mild wie du!")
II. Erläuterungen. 1. Ein besonderes, sonderbares, unbegreifliches
Wesen. 2. Des Morgens. 3. Die Morgensonne weckt den Menschen zu
neuer Tat und neuer Freude und gibt ihm neue Kräfte, als ob er von
einer Krankheit genesen (gesund geworden) sei. 4. Im Sakramente des
Altars, das mit heiligen Geräten oder Gefäßen gespendet wird. Sünde
ist Krankheit der Seele, Sündenvergebung darum Genesung. Wir finden
sie im Sakramente des Altars. 1. Mos. 32, 31: Ich habe Gott von
Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen. 5. Sie erneuert die Ge-
stalt der Erde, indem das Feld neue Früchte trägt. 6. Im Schatten der
Bäume tanzen die fröhlichen, gesunden Kinder einen Reigen- oder Ringel-
tanz. 7. Röm. 11, 35. Wer hat ihm etwas zuvor gegeben, das ihm
werde wieder vergolten? 8. Dem Sonnengotte brachten die Griechen
Opfer. 9. Apostelg. 17, 27. Daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie
doch ihn fühlen und finden möchten. 10. Bis ist die alte Form für
„sei". 11. 1. Tim. 2, 1. 2. Man tue Fürbitte für die Könige und für
alle Obrigkeit, auf daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen.
12. Hier ist zu ergänzen „bist", sonst müßte es heißen: „Und mach
ihn mild wie d i ch."
Krummacher: Das Alpenlied.
475
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild. Ein Frühlingsmorgen auf dem
Lande. Blauer Himmel über der Erde und im Osten die aufgehende
Sonne. Ein Dörflein, dessen Kirchturm himmelan weist, ist von grünen
Feldern umgeben. In den Hürden auf dem Felde ruht eine Schafherde.
Ein Bauersmann steht vor seinem Hause, hat die Hände gefaltet und
schaut nach der Sonne. Blühende Bäume, in deren Schatten nachmittags
seine gesunden und fröhlichen Kinder spielen, umgeben das Haus. Überall
zeigen und regen sich geschäftige Bauersleute.
2. Gedankengang. Str. 1. Die Sonne läuft rastlos und un-
ermüdet ihre Bahn. Str. 2. Ihr Aufgang stärkt und belebt die Menschen.
Str. 3. Sie verbreitet Fruchtbarkeit in Garten und Feld, und Str. 4
Freude unter den Menschen. Str. 5. Das widerfährt uns unverdient.
Str. 6. Man kann ihr dafür nicht danken, Str. 7 sie nicht speisen und
erquicken, Str. 8 nur ihre Schönheit preisen und sie Gott befehlen. Str. 9.
An ihr, dem göttlichen Werke, soll man die Größe und Güte des Schöpfers
erkennen, Str. 10 sie willkommen heißen für die Bauersleute, Str. 11
von ihr Segen und Freude für den König und sein Haus erflehn.
Grundgedanke: Die Sonne, als unermüdlicher Gottesbote, bringt
der Erde Segen und dem Menschen Freude; sie mahnt uns zum Dank
gegen den Schöpfer und zur Fürbitte für andere Menschen.
3. Form der Darstellung. Die Anschauungsweise wie die Sprache
des Gedichts sind schlicht, volkstümlich und mit manchen biblischen An-
klängen durchsetzt. Die Personifikation der Sonne als eines göttlichen
Segensboten ist kindlich und innig.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Ebr. 1, 14. Sind sie nicht allzumal dienstbare Geister —. Ps. 104, 4.
Du machst Deine Engel zu Winden —. Vergiß nicht den Schöpfer über
dem Geschöpf (Röm. 1,25)! — Jak. 1,17. Alle gute Gabe und alle
vollkommene Gabe kommt von oben herab —. Gedenke auch liebend und
fürbittend deiner Mitmenschen!
2. Verwandtes. Abendlied eines Bauern I, Nr. 279. — Som-
merabendlich I, Nr. 319. — Lied vom Samenkorn, II, Nr. 178 a,. — Nun
ruhen alle Wälder. — Andere Morgen-und Abendlieder. — Josua 10,12:
Sonne, stehe still zu Gibeon —. Die Sonne wird das strahlende Gottes-
auge genannt.
3. Rede- und Stilübungen, a) Welche Wohltaten spendet die
Sonne? — b) Beschreibe kurz ihre Bahn und ihr Tagewerk! — c) Was
hat sie mit einem Boten gemein? P-
182. A. Das Akpenlied.
Fr. A. Krummacher. Der Sonntag. Essen 1828. S. 150.
l. Auf hoher Alp
wohnt auch der liebe Gott!
Er färbt den Morgen rot,
die Blümlein weiß und blau
und lachet sie mit Tau.
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
2. Auf hoher Alp
von kräuterreichen Höhn
die Lüftlein lieblich wehn,
gewürzig, frei und rein.
Mag's auch sein Odem sein?
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
476
III. Lyrische Gedichte.
3. Auf hoher Alp
erquickt sein milder Strahl
das stille Weidetal;
des hohen Gletschers Eis
glänzt wie ein Blütenreis.
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
5. Aus hoher Alp
in Scharen, weiß und schön,
die Schaf' und Zieglein gehn
und finden 's Mahl bereit,
daß sich ihr Herze freut.
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
4. Auf hoher Alp
des Gießbachs Silber blinkt;
die kühne Gemse trinkt
an jäher Felsen Rand
aus seiner hohlen Hand.
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
6. Auf hoher Alp
der Hirt sein Herdlein schaut;
sein Herze Gott vertraut,
- der Geiß und Lamm ernährt,
ihm auch wohl gern beschert.
Auf hoher Alp ein lieber Vater
wohnt.
I. Vorbereitung. Dieses schöne Gedicht steht in einem Büchlein,
welches der Dichter genannt hat: „Der Sonntag". Das Büchlein ent-
hält kleine Erzählungen und Lieder, die davon Kunde geben, wie fromme
Menschen ihren Sonntag feiern. Das „Alpenlied" ist ebenfalls einer
solchen Erzählung einverleibt, die also lautet:
„In dem Schweizerlande gibt es ein hohes Gebirge, die Alpen genannt,
dessen Spitze ragt weit über die Wolken hinaus und ist mit ewigem Schnee
und Eise bedeckt. Aber die Mitte des Gebirges ist reich au herrlichen kräuter-
reichen Weiden, und rings umher wohnen Hirten. Die Kinder wachsen unter
den Herden auf und lernen früh sie klüglich regieren. — So waren auch zwei
Knaben, Lienhard und Wälty, Nachbarskinder, deren Eltern wohnten am
Fuße des Gebirges und hatten jeglicher eine kleine Herde. Auch war noch ein
anderer Knabe, Namens Hannely, der wohnte ein wenig ferner; der pflegte
auch mit ihnen zu weiden auf dem Gebirge. So zogen sie dann hinauf im
Frühling und Sommer, Sonntags und Werkeltags auf die hohe Alp. Denn
die Eltern besorgten die häuslichen Dinge, aber sie vermochten nicht, die
Höhen zu ersteigen, wo die besten Kräuter wachsen.
Eines Morgens, als der Tag dämmerte, zogen Lienhard und Wälty
wieder hinaus auf die Alp. Sie harrten ein Weilchen unten auf der Matte,
ob Hanneley kommen würde; er kam aber nicht. Da sprachen die Knaben: Er
wird wohl kommen! Er weiß ja den Weg, wo er uns findet. Aber es ist schade,
daß er nicht bei uns ist, sagte Lienhard. Denn es ist Sonntag, und wir müssen
den zusammen feiern, wie sonst. Aber ich habe auch noch etwas Besonderes
vor. Da fragte Wälty: Was ist denn das? Und Lienhard antwortete: Siehe,
wir wollen nns ein Kirchlein bauen. Da sprach Wälty: Wie mögen wir Knaben
ein Kirchlein bauen? Hätten wir auch Stein und Werkzeug, so fehlet uns die
Kraft und die Kunst dazu. Auch ist es ja Sonntag, da darf man nicht arbeiten!
Ein frommes Werk darf man wohl tun! antwortete Lienhard. Und es
soll kein Kirchlein Von Stein und Holz werden, sondern wir bauen eins von
Zweigen. Sieh! drüben liegen noch Pfähle von einer verfallenen Sennhütte,
die dienen uns zu Pfeilern! Daraus machten sich die Knaben an die Arbeit
und sprachen: Wie wird sich Hannely wundern, wenn er das Kirchlein sieht!
— Nun arbeiteten sie mit frischem Mut, und bald hatten sie das Hüttchen voll-
endet. Es stand aus einer hohen Alp in einem lieblichen Tale, das nur gegen
Morgen sich eröffnete in eine unermeßliche Aussicht; an der andern Seite
strebten die Berge empor bis weit über die Wolken, und von oben glänzten
die weiten Eismassen, jetzt erglühend im Strahl der Morgensonne.
Darauf pflückten die Knaben die herrlichsten Blumen des Alpengebirges,
die goldfarbigen und blauen Enziane, Aucikeln und Ranunkeln und andere,
flochten daraus Kränze und Gewinde und schmückten damit die Seiten ihres
Tempelchens, Auch bauten sie einen Altar von Rasen und bekränzten ihn mit
Krumm ach er: Das Alpenlied.
477
den schönsten Blumen. Darauf warteten sie, ob Hannely käme. Aber er kam
nicht. Nun schauten sie von der Höhe hernieder, ob sie nicht seine Herde von
ferne sähen; aber sie sahen keine Herde und keinen Hirten. Endlich hörten sie
von fern aus dem Dörflein das Sonntagsglöckchen läuten. Da sagte Lien-
hard: Komm, Wälty, jetzt ist's auch unsre Zeit, ins Kirchlein zu gehen. Nun
trieben sie die Herde in das Tal, nahe bei dem Hüttchen, und sagten zu den
Schafen und Ziegen: Graset nur fein und seid stille; wir müssen ins Kirchlein
gehen!
Als sie nun hereintraten, nahmen sie ihr Käppchen ab und setzten sich
auf ein Bänklein und saßen ganz still und andächtig ein Weilchen, und es
wurde ihnen eigen und heimlich. Denn das Morgenlüftchen spielte in die
Blätter des Kirchleins, also daß es leise säuselte; dazu tönte das Glöckchen aus
der Ferne. — Die Knabxn aber beteten heimlich in ihren Herzen. Darauf
flüsterte Wälty zum Lienhard: Könnten wir auch ein Liedchen singen? Da
sagte Lienhard: Wir wollen das Alpenliedlein singen! Das ist gut dazu.
Darauf sangen die Knaben das Alpenlied: „Auf hoher Alp" usw. Als sie das
Alpenliedlein ausgesungen hatten, nahmen sie Blumen und streuten sie auf
den Altar als Zeichen ihrer Dankbarkeit. Darauf kehrten sie zu ihren Herden
zurück, die am Abhang ruhig weideten. Als sie nun in das Tal hinuntersahen,
erblickten sie ganz unten eine kleine Herde. Da riefen sie: Das ist Hannelys
Herde! Wir wollen hinunter und ihn holen, daß er nicht allein weide und
damit er unser Kirchlein schaue.
Als sic nun unten ankamen, sahen sie, daß nicht Hannely, sondern dessen
Vater die Herde weidete, und sie wunderten sich und fragten: Wo ist Hannely?
Da sprach der Vater: Ec liegt im Bett und ist krank. Darum weid' ich die
Schafe, aber ich darf nicht ferne gehen von der Heimat, denn die Mutter ist
betrübt. Da sprachen die Knaben einmütig: Wir wollen die Schafe hüten, als
ob es unsere eigenen wären, bis Hannely wieder wohl ist. — Also übernahmen
sie die Herde, und der Vater kehrte froh zur Heimat. Die Knaben aber ge-
dachten nun, daß Hannely so gern Erdbeeren äße, und nun gingen sie und
sammelten die würzigsten und reifsten, die auf der Alp wuchsen, und flochten
ein Körblein aus Halmen, das füllten sie bis oben an. Und als sie nun am
Abend von der Alp kamen und die Herden hiueingeleiteten, gingen sie beide
zu Hannely und brachten ihm das Körblein mit Erdbeeren, und ein Blumen-
kränzlein lag darüber. Da freute sich der kranke Hannely über die Maßen,
und er aß von den Erdbeeren und genas in kurzer Zeit.
Lienhard aber und Wälty sagten: Wir haben einen schönen Sonntag ge-
feiert." —
II. Vertiefung. 1. Gliederung des Inhalts. Das Gedicht will
uns den Belveis liefern, daßauchaufhoherAlpeinlieberBater
wohnt. Str. 1. Der liebe Vater färbt den Morgen rot (schafft das
schöne Früh - oder Morgenrot beim Aufgange der Sonne), färbt und
labt mit Tau die Blümlein. Str. 2. Gott läßt auf den reich mit
Kräutern bewachsenen Höhen liebliche, würzige, freie und reine Lüfte
wehen, die uns wie sein Odem vorkommen. Str. 3. Gott erquickt mit
den milden Sonnenstrahlen die grünen Weiden und gibt den Glet-
schern den schönen weißen Glanz. Str. 4. Gott macht, daß die ans
den Gletschern kommenden Gewässer (G i e ß b ä ch e) wie Silber blinken und
den kühnen Gemsen erfrischenden Trunk geben. Str. 5. Der Herr er-
nährt die Schafe und Ziegen (Geißen) mit den würzigen Alpenkräu-
tern und erfreut deren Herz (— macht sie fröhlich). Str. 6. Der liebe
Gott erfreut auch den Hirten, der vergnügt auf seine muntere Herde
schaut.
478
III. Lyrische Gedichte.
2. Gedankengang. Thema: Auf hoher Alp wohnt der liebe Gott,
der 1. die leblosen Geschöpfe schafft und erhält (Str. 1—4, Vers2);
2. die leb end ig en Geschöpfe (Tiere und Menschen) speist und tränkt und
erfreut. (Str. 4, Vers 3 bis Str. 6.)
III. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben. Der
H a u P t g e d a n k e ist in den beiden ersten Zeilen ausgesprochen und wieder-
holt sich in dem Kehrreim jeder Strophe.
2. Rede- und Stilübungen, a) Welche Schönheiten haben die
Alpen? (Morgenrot, Blümlein, Weidetäler, Gletscher, jähe Felsen, Gieß-
bäche, würzige Kräuter, reine Lüfte, kühne Gemsen, muntere Herden,
fröhliche, fromme Hirten.)
b) Vergleich ungdesAlpenliedes mit dem untenstehenden Ge-
dichte von Stöber. (Wer singt die Lieder? Was preisen die Lieder ge-
meinschaftlich, was jedes besonders? Wodurch unterscheiden sich die Haupt-
gedanken beider Lieder? A hat den Hauptgedanken: Auf hoher Alp ein
lieber Vater wohnt. B hat den Hauptgedanken: Die Schönheiten der
Alpen zwingen den Menschen zur Anbetung usw.)
8. Sonntagsfeier auf den Alpen.
A. Stöber, Gedichte. Hannover 1845. S. 58. (Gekürzt.)
1. Alphirten wallen nah und fern,
im Tale drunten schallt Geläute:
gar festlich strahlt der Tag des
Herrn,
und sonnig steht das Kirchlein heute.
Von der Gemeinde nicht umschart,
erklimm'ich einsam diese TriftenZ;
die Wunder?) Gottes offenbart
kein Priester mir aus heil'gen
Schriften.
2. Doch horch'! Es wogt der Wasser-
fall:
Von allen Felsen hallt es wider
und rauscht wie voller Orgelschall^)
vom hohen Berghang schulternd
nieder.
Ein Heilger Schauers weht mich an.
In seines weiten Mantels Falten^)
seh' ich den Gletscher angetan,
als wollt' erHochaint^) eben halten.
3. Sein EisknaufZ blitzt und flimmert
ganz,
von goldnem Sonnenschein umzogen.
Vor dieser heiligen Monstranz8)
hab' ich die Knie tief gebogen.
Mir ist, als hört' ich um und um
aus Priestermunde fromme Sagen.
Ihr Blumenevangelium 9)
hält mir die Flur weit aufge-
schlagen.
4. Alprosen tausendfach geschart
vertrauen mir die frohe Kunde,
wie sich der Himmel offenbart
in ihrem weihevollen Grunde:
„Der Vater hat die Kinder lieb!"
Das les'ich rings in klaren Zügen,
und was der Herr mir selber schrieb,
ich glaub' es fest — er kann nicht
lügön.
5. Weiß nicht, wie plötzlich mir ge-
schehn,
daß ich wie Jakob 10) möchte rufen,
der einst im freien Feld gesehn
der Himmelsleiter lichte Stufen:
„So heil'ge Stätte fand ich nie;
der Herr ist hier an diesem Orte!
Gewißlich ist nichts anders hie
denn Gottes Haus und Himmels-
pforte!" —
1. Weideplätze, Matten. 2. Die Wunder der Alpen. 3. Hier ist
auf die Vergleichung des wogenden und brausenden Wasserfalls mit dem
Urner: Goldene Abendsonne.
479
Orgelschalle aufmerksam zu machen. 4. Eine heilige Scheu, ein Bangen,
ahnungsvolles Grauen, gemischt mit Freude (vgl. Uhlands: „O süßes
Graun"). 5. Die den Gletscher bedeckenden Nebel. 6. Wie sich der hohe
katholische Geistliche beim festlichen Hochamt mit einem Meißen Kleide
schmückt, so der Gletscher. 7. Knaus = rundliche Hervorragung,
Spitze des Gletschers, die eigentümlich geformt ist. 8. Monstranz, ein
kunstvolles Gehäuse, in das man hineinsehen kann, um ein darin befind-
liches Heiligtum, z. B. eine Reliquie, namentlich aber die Hostie, den an-
betenden (katholischen) Gläubigen zu zeigen. 9. Die frohe Botschaft,
welche dem sinnigen Beschauer die Schönheit der Blumen verkündigt.
10. 1. Mose 28, Bers 16 und 17: „Da nun Jakob von seinem Schlaf
erwachte, sprach er: Gewißlich ist der Herr an diesem Orte, und ich wußte
es nicht. Und fürchtete fich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier
ist nichts andres, denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Him-
mels." (Vgl. auch Schäfers Sonntagslied.) W. D.
183. A. Die untergehende Sonne.
Fricdr. Adolf Krummacher. Festbüchlein. Bd- 1. Der Sonntag- ö. Aufl. S- 1üL.
1. Wie geht so klar und munter
die liebe Sonne unter!
Wie schaut sie uns so freudig an
von ihrer hohen Himmelsbahn!
2. Das ist so ihre Weise:
Sie zeuget still und leise.
Wer flink am Tage Gutes tut,
dem ist am Abend wohl zu Mut.
3. Sie läuft den Weg behende
von Anfang bis zu Ende,
erhellt und wärmt die ganze
Welt
aus ihrem himmlischen Gezelt.
4. Auf allen ihren Wegen
ist lauter Glück und Segen;
dann schließt sie freundlich ihre
Bahn
und lächelt uns noch einmal an.
5. Jetzt geht sie klar und munter
am Abendhiinmel unter. —
Bald aus des Morgeuhimmels Tor
steigt sie mit neueni Glanz hervor.
6. Drum wallet frohen Mutes
wie sie, und tuet Gutes!
Dann schließt ihr fröhlich euern
Lauf
und steht frohlockend wieder auf.
U. Goldene Abendsonne.
Barbara Urner, geb. Welti. (Liederschatz für Schule und Haus von Ballten. 10. Auflage.
Brandenburg 1871. S. 40.)
1. Goldne Abendsonne, Nie kann ohne Wonne
wie bist du so schön! deinen Glanz ich sehn usw.
(Das Gedicht sindet sich in allen Liederbüchern.)
Vergleichung beider Gedichte. I. Ähnlichkeiten: Beide Gedichte
lobpreisen die untergehende Sonne, betrachten ihre Wirkung auf
menschliches Tun und Sein und leiten von ihrem Anblick heilsame
Lehren her.
II. Verschiedenheiten. 1. In A verfährt der Dichter rein ob-
jektiv; er schildert das Leben, das Tun und Treiben, das Wirken und
480
III. Lyrische Gedichte.
Segnen der Sonne, während seine eigene Persönlichkeit in den Hinter-
grund tritt. In B ist die Subjektivität der Dichterin vorherrschend,
während die ruhige und gründliche Betrachtung des Objektes — der gol-
denen Abendsonne — gänzlich unterbleibt. 2. Als Wirkungen der
Betrachtung der untergehenden Sonne wird in A angeführt: a) sie schaut
und lächelt uns so freundlich an, b) sie reizt uns zur Nachahmung, c) sie
tröstet uns, d) sie führt uns durch dieses Pilgerleben zu einem besseren
und herrlicheren Sein. In B: a) Sie erweckt mich zur Wonne, b) schon
in der Jugend erregte sie mein Wohlgefallen, c) sie erhöhte in mir den
Trieb zur Tugend, ä) erweckte mein Erstaunen, e) labte mich und k) er-
zeugte in mir die hohe Empfindung der Huld Gottes; g) sie lenkte meinen
Sinn auf mich selbst zurück und steigerte mein Wonnegefühl; h) sie führte
mich zurück zu dem Urquell alles Seins, zu meinem Schöpfer, und lehrte
mich Demut und Bescheidenheit: Dich, Sonne, schuf er im Strahlenkleidc
und mich im Staubgewande, d. i. du bist hehr und groß und dauerst
schon Jahrtausende lang fort, und ich — bin gering und klein, und meine
irdische Wallfahrt währt nur eine kurze Spanne Zeit. R. D.
184* A. Bei Sonnenuntergang.
Friedrich 9?liefert. Gesammelte Gedichte. V. Bd. Erlangen 1838. S. 37.
1. Fahr wohl, o goldne Sonne!
Du gehst zu deiner Ruh,
und voll von deiner Wonne
gehn mir die Augen zu?)
2. Schwer sind die Augenlider,
du nimmst das Lied mit fort.
Fahr wohl! Wir sehn uns wieder
hier unten oder dort?)
3. Hier unten, wann ich wieder
dies Haupt vom Schlaf erhob,
dann blickest du hernieder
und freuest dich darob.
4. Und trägt des Tods Gefieder 0
mich statt des Traums empor,
so schau' ich selbst hernieder
zu dir aus höherm ChorZ —
5. Und danke deinem Strahle
für jeden schönen Tag,
wo ich mit meinem Tale
an deinem Schimmer lag?)
8. Der Elfen °) Abendfeicr.
Julius Sturm, Gedichte. 4. Ausl. Leipzig 1873. S. 42.
Wenn der Sonne letzter Strahl ver-
glommen
und es still und stiller wird im
Garten,
tritt eine Elfe an die Glocken-
blume,
rüttelt an dem zarten Lilienstengel,
bis die Glocken an zu läuten fangen,
und dann wird's lebendig in dem
Garten.
All die Elfen, die verborgen lagen
in den Blumenkelchen, unter Blättern,
wandern schweigend nach dem nahen
Dome?),
nach der Lilie weißem Blütenkelche,
den als Ampel ch ein Johannis-
würmchen
mild mit seinem goldnen Schein er-
leuchtet,
und nun knien die Elfen in dem Dome,
falten betend ihre kleinen Hände,
danken freudig ihrem Herrn und
Schöpfer,
preisen ihn für seine ew'ge Güte,
für den Sonnenstrahl, der sie er-
wärmte,
für das Tröpfchen Tau, das sie er-
quickte,
für den Tropfen Honig, der sie nährte,
für die Blume, ihre kleine Hütte.
Sturm: Der Elfen Abendfeier.
481
Und nachdem sie ihr Gebet beendet, Kind, mein Kind, hörst du die
kehren sie zurück in ihre Wohnung, Abendglocken?
schlummern ohne Kummer, ohne Komm, und falte betend deine Hände,
Sorge, und dann wirst du auch so selig
im Vertrauen auf den güt'gen Vater, schlummern
dessen Auge über ihnen wacht. wie die Elfen dort im Rosenkelche!
I. Vermittlung des Verständnisses. 1. Die Sonne wird als leben-
des Wesen, als der strahlende Bote Gottes gedacht. (Vgl. Nr. 181!)
Sie hat sich den Tag über auf ihrem Rundgange um die Erde müde
gelaufen und abgearbeitet. Nun geht sie unter, d. h. verschwindet unter
dem Horizonte, geht gleichsam zu Bett, zu ihrer Ruhe. Das schöne
Schauspiel ihres strahlenden Unterganges hat den Dichter mit Wonne
erfüllt und seinen arbeitsvollen Tag mit einer letzten Freude beschlossen.
2. Nun fallen ihm die schweren, müden Augenlider zck) und das letzte
Lied, wozu ihn der schöne Sonnenuntergang begeisterte, bleibt ungesnngen,
wird gleichsam von der scheidenden Sonne mit fortgenommen. Er kann
nur noch einen Scheidegruß lallen: Leb wohl! Glückliche Fahrt! Auf
Wiedersehen! 3. Der Tod wird als geflügelter Gottesbote gedacht. Sein
Gefieder erinnert an die Vögel, die eilenden Segler der Lüfte, und soll
den raschen Flug von der Erde zum Himmel andeuten. Wohin mich
sonst blitzgeschwind ein Traum emportrug, dahin trägt mich einst der Tod.
4. Der höhere Chor ist die Gemeinschaft der Engel und Seligen, die
als Sängerkreis um den Thron Gottes, hoch über dem „Gezelt der
Sonne" stehen. 5. In der Wonne des Himmels will sich der Dichter noch
dankbar der schönen Tage erinnern, als seine Wohnung in einem schönen
Tale im Schimmer und Glanz der Sonne lag.
6. Elfen sind kleine, geistige Wesen, die in den Blumenkelchen woh-
nen und im leichten Reigen über Grashalme und Blumen dahinschweben.
7. Dom ist eine große, schöne Kirche. 8. Ampel ist eine Hängelampe,
die in der Lilienkrone durch ein leuchtendes Johanniswürmchen ersetzt wird.
II. Vergleichung. 1. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte sind Abend-
lieder, die an den Untergang der Sonne anknüpfen, die Schönheit des
Abends preisen, dem Schöpfer Dank sagen, eine höhere Abendfeier ahnen
lassen und von sanftem Entschlummern reden.
2. Verschiedenheiten. A enthält den letzten Gruß des müden
Dichters an die untergehende Sonne, B die Abendfeier der Elfen und eine
Mahnung an die Kinder zum Gebet- — A führt uns auf einen Hügel,
von den: man die Sonne strahlend untergehen sieht, B in einen Garten
voll schöner Blumen. A versetzt uns an einen schönen Sommerabend,
wirft aber auch einen Blick in die Vergangenheit und Zukunft. B deutet
einen Sommerabend um Johanni an, wenn die Sonne als „Himmels-
feuer" verglommen oder erloschen ist, die Blumengeistchen lebendig werden
und die Abendglocken zum Gebet mahnen. — In A spricht der Dichter
mit der Sonne, in B mit den Kindern. In A sind Sonne und Tod als
Personen gedacht, in B die Blumen mit Elfen bevölkert, ihre Kronen mit
Hütten, die Glockenblumen mit Glocken, die Lilienkrone mit einem Dome,
das Johanniswürmchen mit einer Ampel verglichen. — In A ist der
AdL- II. 8. Aufl. - 31
482
III. Lyrische Gedichte.
Gedankengang: a) Die Sonne geht unter, und die Augen fallen zu.
b) Ich sage ihr vor dein Einschlafen Lebewohl und „Auf Wiedersehen!"
c) Erwache ich wieder hier unten auf Erden, dann blickt die Sonne
morgen segnend auf mich nieder, d) Sterbe ich in der Nacht, so schaue
ich von oben aus dem Chor der Seligen auf sie herab, e) Ich danke
ihr für die Wohltaten, die sie mir bei meinen Lebzeiten gespendet hat.
In B: a) Bei Sonnenuntergang werden die Elfen in den Blumen lebendig,
b) Sie versammeln sich zum Abendgottesdienste in einer Lilienkrone. e)Sie
danken ihrem Schöpfer für allerlei Wohltaten, ä) Dann entschlummern
sie voll Vertrauen auf Gottes Schutz, s) Sie sollen den Kindern ein
Vorbild sein. — Grundgedanke in A: Wir sehen uns wieder, o schei-
dende Sonne, entweder nächsten Morgen hier unten oder für immer im
ewigen Lichte droben. In B: Alle Geschöpfe danken ihrem Herrn und
Schöpfer am Abend, und du, o Menschenkind, wolltest den Dank vergessen?
?.
183. A. Abendfeier.
K. I. P. Spitta, Psalter und Harfe. Leipzig 1876. I. S. 8.
1. Wie ist der Abend so traulich *), 3. Wohin ich gehe und schaue,
wie lächelnd?) der Tag verschied«); ist Abendandacht. Im Strom
wie singen so herzlich erbaulich ^) spiegelt sich auch der blaue,
die Vögel ihr Abendlied! prächtige Himmelsdom.
2. Die Blumen müssen wohl schweigen, 4. Und alles betet lebendig
kein Ton ist Blumen beschert5); um eine selige Ruh',
doch, stille Beter, neigen und alles mahnt mich inständig«):
sie alle das Haupt zur Erd'. O Menschenkind, bete auch du!
1. Vermittlung und Vertiefung. 1. Worterklärung. 1. Trau-
lich ----- anheimelnd, angenehm. 2. Wie lächelnd — also freundlich, heiter.
3. „Der Tag verschied" = Der Tag ging scheidend fort oder zu Ende.
4. Erbaulich = Erbauung erweckend, tröstend, fromme Empfindungen
erregend. 5. Beschert = von Gott zuteil geworden. „Kein Ton ist Blumen
beschert" = Gott hat den Blumen keine Stimme verliehen oder geschenkt.
6. Inständig — dauernd und dringend.
2. Kurze Inhaltsangabe. An einem freundlichen Sommer-
abend befindet sich der Dichter im Freien und wird durch den Gesang
der Vögel, durch die ihr Haupt zur Erde neigenden Blumen, durch
den den Himmel abspiegelnden Strom und vieles andere zum Beteu
aufgefordert.
II. Verwertung. 1. Lehren für Herz und Leben, a) Wer die
Natur in sinniger Weise beobachtet, wird zum Gebet gemahnt. — b) Da
die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe dem Schöpfer am Abend ihr
Danklied bringen, so darf der Mensch das Abendgebet um so weniger
unterlassen.
2. Vergleiche: B. Abendheimgang.
Fr. Rückert, Werke. Frankfurt a. M. 1868. II. S. 475.
1. Solang die Sonn'am Himmel steht, werd' ich mein Haus nicht suchen,
geh'ich nicht weg von den Buchen; Die Sonne sank, es flammt der
eh' der Vogel zu Neste geht, West,
Kinkel: Abendstille.
483
der Vogel zwitschert leis' im Nest,
leise zu Gottes Preise,
Dank, Dank für Trank und Speise!
Herz, danke du gleicher Weise!
2. Nun will ich auch zu Bette gehn
mit all der Tageswonne
und morgen wieder früh aufstehn
mit dem Vogel, der Sonne.
Die Sonne sank, es flammt der
West,
der Vogel zwitschert leis' im Nest,
leise zu Gottes Preise,
Dank, Dank für Trank und Speise!
Herz, danke du gleicher Weise!
A. Ähnlichkeiten. Die Dichter sind in der freien Natur. Sie
hören die Vögel ihr Abendlied singen. Sie werden durch den Gesang
der Vögel selbst gemahnt zu beten.
B. Verschiedenheiten. Bei Rückert zwitschern die Vögel nur
noch, während Spitta sie herzlich erbaulich singen hört. Rückert fordert
zum Danke gegen Gott, Spitta nur im allgemeinen zum Gebet auf.
Spitta wird noch durch die Blumen usw. zum Gebet geladen, Rückert
nur durch die Vögel. W. D.
186. A. Abendstille.
Gottfried Kinkel, Gedichte. 6. Aufl. Stuttgart und Augsburg 1857. S. 184.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. An einem schönen Frühlings-
abende verließ der Professor Gottfried Kinkel die Stadt Bonn und wan-
delte in tiefen Gedanken am linken Ufer des Rheines hin. Seine Seele
war von Sehnen und Bangen, von Schmerzen und Sorgen bewegt: er
sehnte sich nach Glück am eigenen häuslichen Herde, aber das Weib seiner
Liebe erschien ihm unerreichbar. Er sehnte sich nach Frieden im Herzen,
aber Zweifel zerrissen seine Seele. Er sehnte eine Verbesserung des Loses
der Armen und Gedrückten herbei, aber die Hindernisse überstiegen seine
Kräfte.
Von der schmerzlichen inneren Arbeit der Gedanken richtete sich sein
Blick auf die Bilder des Friedens in der Natur. Der Lärm des Tages
war verstummt, die Sonne hinter den Bergen niedergesunken, der Vogel
auf seinem Ast oder in seinem Nest zur Ruhe gekommen und der Land-
mann mit seinem müden Rosse auf dem Wege zum heimischen Herde und
zum häuslichen Behagen. Die Schiffe auf dem Strome suchten den Hasen
(Port) und die Schiffer die nächtliche Ruhe im Hause. Ein wanderndes
Volk von Kranichen kehrte zurück aus dem Süden und zog wie eine Wolke
am Himmel hin dem Glück und der Ruhe in der alten Heimat zu.
Da wurde es still und stiller in der Seele des Dichters, und die
Zuversicht wuchs in seinem Herzen, daß auch er an das Ziel seiner Sehn-
sucht, an den Ort der Ruhe kommen würde. Diese Gedanken gestalteten
sich in ihm zu dem nachstehenden, vollendet schönen Gedichte:
1. Nun hat am klaren Frühlingstage
das Leben reich sich ausgeblüht,'
gleich einer ausgeklungnen Sage
im West das Abendrot verglüht.
Des Vogels Haupt ruht unterm
Flügel,
kein Rauschen tönt, kein Klang und
Wort;
der Landmann führt das Roß am
Zügel,
und alles' ruht an seinem Ort.
31
484
III. Lyrische Gedichte.
2. Nur fern im Strome noch Be-
wegung,
der weit durchs Tal die Fluten
rollt;
es quillt vom Grunde leise Regung,
und Silber säumt sein flüssig Gold.
Dort auf dem Strom noch ziehen
leise
die Schiffe zum bekannten Port,
geführt vom Fluh im sichern
Gleise —
sie kommen auch an ihren Ort!
3. Hoch oben aber eine Wolke
von Wandervögeln rauscht dahin;
ein Führer streicht voran dem Volke
mit Kraft und landeskund'gem
Sinn.
Sie kehren aus dem schönen Süden
mit junger Lust zum heim'schen
Nord,
nichts mag den sichern Flug er-
müden —
sie kommen auch an ihren Ort!
4. Und du, mein Herz! in Abendstille
dem Kahn bist du, dem Vogel
gleich;
es treibt auch dich ein starker Wille,
an Sehnsuchtsschmerzen bist du reich.
Sei's mit des Kahnes stillem Zuge,
zum Ziel doch geht es immer fort;
sei's mit des Kranichs raschem
Fluge —
auch du, Herz, kommst an deinen
Ort!
II. Vertiefung. 1. Erläuterung. Zeige, warum sehr treffend
der Frühlingstag klar, das Leben ausgeblüht, die Sage ver-
klungen, das Abendrot verglüht, der Vogel entschlummert, das
Roß müde, der Landmann barmherzig, der Strom bewegt, die
Flut rollend, das Tal weit, die Regung des Wassers leise, das
Gold flüssig und mit Silber gesäumt, die Bewegung der Schisse
l e i s e, der Port bekannt, das Flußgeleise sicher, die Führer der Zug-
vögel kräftig und landeskundig, der Süden schön, der Norden
heimisch, die Wanderlust jung, der Wille stark, die Sehnsucht
schmerzlich, der Zug des Kahnes still, der Flug der Kraniche rasch
genannt wird!
2. Gedankengang und Grundgedanke. Str. 1. Das all-
gemeine Bedürfnis der Ruhe am Abend, Str. 2 die leise Bewegung des
Stromes und die Heimkehr der Schiffe zum Hafen, Str. 3 der sichere
Flug der Wandervögel nach dem heimatlichen Norden, Str. 4 der starke,
unaufhaltsame Zug des Herzens nach hohen Zielen: das alles verbürgt
die Erfüllung der tiefen Sehnsucht des Herzens, durch Kampf zum Frieden
zu gelangen.
3. Schönheiten in der Form. Der reiche Gedankeninhalt, die
feine Beobachtung der Natur und des Herzens, die Kunst, mit wenigen
Strichen ein reiches Gemälde vor die Seele zu zaubern, die fließende,
dem flüssigen Golde des Stromes gleichende Sprache, die treffenden Bilder
und Vergleiche, der Gleichklang der Natur und des Menschenlebens, der
regelmäßige Aufbau des Ganzen wie die feinen Beziehungen Zwischen
den Gliedern, der vieldeutige und doch so versöhnlich ausklingende Kehr-
reim: das alles macht das Gedicht zu einer köstlichen Perle unserer ly-
rischen Poesie.
Einige Fingerzeige mögen auf einzelne Schönheiten des Gedichts auf-
merksam machen!
Das rege Leben und Treiben eines hellen Frühlingstages wird mit
schönen, duftigen Blüten verglichen, die gegen Abend ausgeblüht haben
Kinkel: Ein geistlich Abendlied.
485
oder keusch ihre Kelche schließen. — Das Abendrot, als letzter Abglanz
des Sonnenscheins, gleicht einer Sage, die erst laut von Lippe zu Lippe
ging und alle Herzen bewegte, dann aber immer schwächer aus der Ferne
herüberklang, bis sie endlich verhallte. — Der Vogel auf dem Ast hat
das Köpflein unter den Flügel gesteckt, hört und sieht nichts mehr
und verschläft Gefahr und Not. — Kein Rauschen (des Windes), kein
Gesang (aus Vogelkehlen), kein Wort (aus Menschenmund) mehr: welch
schöne Steigerung! — Roß und Pflüger, die fleißigen Arbeitsgenossen,
müde und langsam heimwärts schlendernd, der Landmann nicht bequem
auf dem Roß, sondern mitleidig daneben, es am Zügel führend:
welch schönes Bild! — Die Fluter: rollen in steter Bewegung durch
das breite Tal dem Meere zu. An manchen Stellen scheinen unsichtbare
Hände auf dem Grunde des Flußbettes Quellen geöffnet zu haben, die
ihr Wasser leise nach der Oberfläche steigen lassen und den Spiegel des
Flusses in stillen Kreisen bewegen. „Zuzeiten fuhr ein Engel herab
und bewegte das Wasser des Teiches." — Das Abendrot vergoldet die
breite Rheinflut, daß sie erglänzt wie flüssiges Gold. Dazwischen
sind dunkle Streifen oder Furchen, die wie Silber säume die goldene
Flut einfassen. — Der Fluß führt leise auf sicherem Geleise (Wege)
die Schiffe und Kähne stromab dem Hafen zu, ohne daß die Schiffer
schallend die Ruder ins Wasser zu schlagen brauchen. Die Zugvögel bilden
am klaren Abendhimmel eine dunkle Wolke, die rauschend dahinzieht.
An der Spitze des gefiederten Volkes fliegt ein des Weges und Landes
kundiger Führer, der mit besonderer Kraft an der Spitze des Winkels
die Luft durchschneidet und mit scharfen Augen auf den Weg nrerkt.
Jerem. 8, 7: „Ein Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, eine Turtel-
taube, Kranich und Schwalbe merken ihre Zeit, wann sie wiederkommen
sollen." — Der Süden schön, aber der Norden heimisch, die Wander-
lust jung und frisch, der Flug bei Tag und Nacht unermüdlich: wie
treffend und schön! Wie die Schöpfung im Menschen gipfelt, so ist die
Außenwelt nur Bild und Gleichnis von dem Leben des Geistes und Her-
zens. Bald wird das Herz gleich dem Kahne vorwärts gezogen von
einer stillen Kraft, langsam aber stetig, bald wird es gleich dem Wan-
dervogel getrieben von einem starken Willen, rasch und feurig. So oder
so führt rechtes Streben zu rechtem Ziele und bringt endlich das Herz
zum Frieden „an seinen Ort".
III. Vergleichung mit:
It. bin geistlich Abendlied.
Gottfried Kinkel. Gedichte. 6. Aufl. Stuttgart 1857. S. 185.
1. Es ist so still geworden.
verrauscht des Abends Wehn!*)
Nun hört man allerorten
der Engel Füße gehn. 2)
Rings in die Tale senket
sich Finsternis mit Macht —1 * 3 *)
wirf ab, Herz, was dich kränket,
und was dir bange macht!*)
2. Es ruht die Welt im Schweigen,
ihr Tosen ist vorbei 5),
stumm ihrer Freude Reigen
und stumm ihr Schmerzenschrei.
.Hat Rosen sie geschenket,
hat Dornen sie gebracht: —6)
wirf ab, Herz, was dich kränket,
und was dir bange macht!
486
III. Lyrische Gedichte.
3. Und hast dn heut' qefehlet?),
o, schaue nicht zurück8);
empfinde dich beseelet
von freier Gnade Glück!9)
Auch des Verirrten denket
der Hirt auf hoher Wacht. —10)
Wirf ab, Herz, was dich kränket,
und was dir bange macht!
4. Nun stehn im Himmelskreise
die Stern' in Majestätu),
in gleichem, festem Gleise
der goldne Wagen gel)t.12)
Und gleich den Sternen lenket
er deinen Weg durch Nacht.*9)
Wirf ab, Herz, was dich kränket,
und was dir bange macht!
1. Erläuterungen. 1. Der Lärm des Tages glich dem sausenden
Winde oder rauschenden Strome. Er ist nun vorübergeflutet und Stille
eingekehrt. 2. In der Stille hört man in der Luft, im Laube und
überall geheimnisvolles Flüstern, als ob unsichtbare Genossen uns um-
schwebten. 'Nur wenn es stille um uns und in uns wird, merkt man
die göttlichen Boten, die Erquickung und Frieden bringen. Bei dem stillen,
sanften Sausen merkte Elia, daß der Herr vorüberging. 3. Zuerst und
rasch dunkelt es in den Tälern; sie sind oft in Finsternis gehüllt, wenn
der letzte Tagesschimmer noch auf den Berggipfeln liegt. 4. Wirf die
Last oder Bürde deiner Sorgen ab! „Er wird dein Herze lösen von der
so schweren Last." 5. „Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt'
und Felder, es schläft die ganze Welt." 6. Die Freuden des Tages
gleichen dem Reigen (Tanze) und den Rosen, die Leiden aber pressen
den Schmerzensschrei aus und gleichen den Dornen. Freuden und Leiden
verstummen im Schlafe. 7. „Hab' ich Unrecht heut' getan, sieh es, lieber
Gott, nicht an!" 8. Phil. 3, 13: „Ich vergesse, was dahinten ist, und
strecke mich zu dem, was da vorne ist." 9. „Bei dem Herrn ist Gnade,
und viel Erlösung ist bei ihm." 10. „Siehe, der Hüter Israels schläft
noch schlummert nicht." 11. In himmlischer Pracht und Herrlichkeit steht
das Heer der Sterne am Firmament. 12. Die sieben hellen Sterne des
„Himmelswagens" oder „Bären" umkreisen auf fester, ewiger Bahn den
Polarstern. 13. „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und
Bahn, der wird auch Wege finden, wo dein Fuß gehen kann."
2. Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gedichten. Beide schildern
in vier achtzeiligen Strophen die Wirkung eines stillen, schönen Abends
auf das unruhige Menschenherz. Jede Strophe klingt in einem Kehrreim
aus, der Trost und Frieden in das bange Herz gießen soll.
. 3- Verschiedenheiten. In A ist bte Schilderung eines schönen
Frühlingsabends reich und voll eigenartiger Züge, die Anwendung auf
das Menschenherz kürzer; in 6 dagegen ist der Abend nur durch einzelne
Züge im allgemeinen gekennzeichnet, die Anwendung auf das Herz aber
reich und eingehend. A führt mehr hinaus in die Natur, 6 mehr
hinein in das Herz. A schärst den Blick für ermutigende Bilder in
der Natur; B zeigt mehr das tröstliche Hineingreifen himmlischer
Mächte in das Erdenleben; darum heißt es „ein geistlich Abendlied".
A will die Zuversicht des Strebens stärken, B Trost zum Er-
tragen der Erdenbürde geben. In A ermutigt der Kehrreim das Herz
zu starkem, stetigem Streben; denn wie die müden Arbeiter zur Ruhe
an ihren Ort kommen (Str. 1), wie ein stiller Zug im Wasser die Schiffe
Claudius: Abendlied.
487
langsam zum Hafen führt (Str. 2), und wie ein innerer Drang und
unermüdlicher Flug die Zugvögel in ihre alte Heimat bringt: so wird
das sich sehnende, Willensstärke Herz zum Ziel, „an seinen Ort", kommen
(Str. 4). In B wird das Herz ermahnt, seine vierfache Bürde abzu-
werfen: die Unruhe (Str. 1), die Schmerzen (Str. 2), die Sünden
(Str. 3) und die Sorgen (Str. 4).
4. Rede- und Stilübungen. a) Schilderung des Abends nach
den beiden Gedichten! — b) Welche Anklänge an Sprüche, Lieder und
bibl. Geschichten finden sich? — c) Vergleiche unser Lied mit „Nun ruhen
alle Wälder" von P. Gerhardt und mit dem „Abendlied" von Matth.
Claudius! — ä) Vergleiche „A b e n d l i e d" von O. Jul. B i e r b a um!
1. Die Nacht ist niedergegangen;
die schwarten Schleier hangen
nun über Busch und Haus.
Leis rauscht es in den Buchen,
die letzten Winde suchen
die vollsten Wipfel sich zum Neste
aus.
2. Noch einmal leis ein Wehen;
dann bleibt der Atem stehen
der müden, müden Welt.
Nur noch ein zages Beben
fühl' durch die Nacht ich schweben,
auf die der Friede seine Hände
hält.
(Schöne Bilder: Die Nacht hängt ihre schwarzen Schleier auf
Busch und Haus. — Die letzten Winde kräuseln nur noch die vollsten
Wipfel, als ob sie sich da ein Nest zum Schlafe suchen. — Immer leiser
das Wehen, als ob der müden, müden Welt der Atem stillstände. —
Nur noch ein zages Leben in der Lust, und dann breitet der Friede seine
Hände segnend über die schlafende Erde.) B.
187. A. Abendlied.
Matthias Claudius, Werke. Gotha 1871. 9. Ausl. 4. Teil. S. 41.
I. Vorbereitung. Auf einem Dorfe haben sich an einem Sommer-
abende mehrere Nachbar^ und Freunde nach des Tages Last und Hitze
vor der Tür eines Bauernhauses versammelt. Da sitzen sie auf einer
Bank, auf Bauhölzern und Steinen und plaudern von diesem und jenem,
was ihre kleine Welt bewegt. Nicht weit von dem Hause liegen Wiesen,
aus denen ein weißer Nebel aufsteigt und sich wie ein Schleier, wie eine
dämmerige Hülle, ausbreitet. Etwas entfernter steht geheimnisvoll wie
ein schwarzer, schweigender Riese der Wald. An dem klaren Himmel
glänzen die Sterne und wandelt der Mond schweigend seine Bahn. Der
Lärm des Tages ist verstummt, und wie eine stille, trauliche Schlafkammer
erscheint die Welt. Die schlichten Leute reden über den Mond und seine
wechselnde Gestalt, über die neuen Erfindungen der stolzen und klugen
Menschenkinder, über die Eitelkeit der Welt, die falschem Schimmer und
vergänglichen Freuden nachläuft, über Hagelschlag und Brandschaden, der
hier und da wie eine Strafe Gottes Felder und Häuser verheert hat, über
den kranken Nachbar, über den plötzlichen Tod dieses und jenes Bekannten
und über das Eine, was uns in Zeit und Ewigkeit zum Heil nötig ist. —
Eine Pause tritt ein! Da stimmt ein Nachbar das Abendlied von
Claudius an, das von allen diesen Dingen so schön handelt, nach der
Melodie „Nun ruhen alle Wälder"; die.andern fallen ein und singen
488
III. Lyrische Gedichte.
mit rechter Herzenserhebung das ergreifende Volkslied. Dann befehlen
sie sich dem Schutze Gottes und wünschen sich und dem kranken Nachbar
eine gute Nacht.
II. Vortrag und Einlesen des Liedes.
1. Der Mond ist aufgegangen; die goldnen Sternlein prangen am Him-
mel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget H, und aus den Wiesen
steiget der weiße Nebel wunderbar?)
2. Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle 3) so traulich
und so hold! als eine stille Kammer, tvo ihr des Tages Jammer verschlafen
und vergessen sollt?)
3. Seht ihr den Mond dort stehen? — Er ist nur halb zu sehen und ist
doch rund und schön!5) So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn?)
4. Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar
nicht viel; wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen
weiter von dem Ziel?)
5. Gott, laß dein Heil uns schauen, auf nichts Bergänglich's trauen,
nicht Eitelkeit uns freun! Laß uns einfältig werden und vor dir hier auf
Erden wie Kinder fromm und fröhlich fein!8)
6. Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch
einen sanften Tod! Und wenn du uns genommen, laß uns in'n Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott!8)
7. So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder! Kalt ist der
Abendhauch. Verschon' uns, Gott, mit Strafen und laß uns ruhig schlafen —
und unsern kranken Nachbar auch!10)
Erläuterungen. 1. Kein Mondstrahl durchdringt die dunkle
Masse des Waldes, die, von keinem Hauch bewegt, wie ein schlafender
Riese vom Mondenglanz umflossen ist oder wie eine schwarze Insel im
Lichtmeer liegt. Nicht eigentlich der Wald,, sondern dessen Bewohner, in-
sonderheit die Vögel, schweigen und ruhen. 2..Es ist ein wunderbar
schönes Bild, wie der weiße Nebel aus den Wiesen steiget, allerlei,
wunderbare Gestalten annimmt und gleichsam einen Schleier über die
ruhende Erde breitet. 3. Die Dämmerung zwischen Licht und Dunkel
und die Stille öffnet die Herzen, so daß sie sich vertraut (traulich) einander
zuneigen (hold sind). 4. Der Jammer des Lebens (Sorgen, Mühen
und Schmerzen) wird zeitweise verschlafen oder gänzlich vergessen.
5. Dem schlichten Verständnis erscheint der Vollmond als Scheibe. Der
Gebildete weiß, daß er eine Kugel, rund und schön, ist, und daß er uns
immer dieselbe erleuchtete Hälfte zeigt, die gegenüberliegende aber ver-
birgt. 6. Das erscheint manchem lächerlich, weil er's nicht begreift, und
wir nennen ihn deshalb töricht und unwissend. Machen wir es denn
aber anders mit vielen Sachen? Weil wir sie mit unsern Augen nicht
sehen, nicht von allen Seiten gründlich untersuchen und mit unsern Händen
greifen können, darum leugnen wir sie, belachen sie als nicht vorhanden,
ganz sicher und getrost, als ob wir die vollkommenste Kenntnis davon
hätten. Wer ist wohl törichter: ein Bauer, der eine zweite Mondhälfte
lächerlich findet und leugnet, oder ein ungläubiger Arzt, der die Seele
und ihre Unsterblichkeit belacht und leugnet, weil er noch in keinem Körper
Claudius: Abendlied.
489
eine Seele gefunden hat? 7. Wir Menschenkinder sind stolz ans unsere
Tugenden und unser Wissen. Wie steht's aber um uns und unser Wissen,
das uns so leicht aufblähet? Wir sind eitel (nichts als) arme Sünder
(ohne Verdienst und Würdigkeit), und unser Wissen ist Stückwerk. Die
Menschen tragen sich mit allerlei stolzen Plänen, aber es sind Luft-
gespinste, Spinngewebe, die ein Platzregen zerschlägt und ein Wind
zerreißt. Sie suchen und versuchen allerlei Künste, um reicher, klüger,
mächtiger und glücklicher zu werden, dabei aber entfernen sie sich immer
weiter von dem rechten Ziel der Wahrheit im Worte Gottes und dem
Glück des Friedens in Gott. 8. Die Betrachtung erhebt sich zur herz-
lichen Bitte. Das Ziel unseres Lebens und Strebens sei das Heil in
Gott. Man gewinnt und schaut es nur, wenn man ans nichts Ver-
gängliches (Geld und Gut, Ehre und Ruhm, Freude und Genuß und
andere Menschen) baut (sein Vertrauen setzt) und sich der Eitelkeit (der
eiteln und vergänglichen Erdendinge) nicht freut, sondern Gott um ein
einfältiges Herz (das gleichsam nur eine Falte hat, schlicht, wahr und
aufrichtig ist) und um einen frommen und fröhlichen Kindersinn bittet.
9. Laß uns sonder Grämen (ohne Gram und Schmerz) ans der Welt
scheiden und zu dir in den Himmel kommen! 10. Vom Walde und vom
Wiesentale weht ein kalter Luftzug herüber, denn es ist schon spät ge-
worden. Da mahnt einer die „Brüder" zum Aufbruch. Noch einen Blick
werfen sie auf den Himmel, ob nicht ein Gewitter heranzieht, und einen
auf das stille Dorf, ob nicht Fenersgefahr droht. Mit einer Bitte um
Abwendung solcher — nach ihrem Glauben — göttlichen Strafgerichte
wegen ihrer Sünden und mit einer Fürbitte für den kranken Nachbar
wünschen sie sich gute Nacht und ruhigen Schlaf.
III. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1 schildert die Abend-
landschaft; Str. 2—4 enthalten Betrachtungen a) über den ge-
heimnisvollen Zauber der Abenddämmerung (Str. 2), b) über die Ge-
stalt des Mondes und andere Sachen, die wir beurteilen, ohne sie zu
verstehen (Str. 3), e) über den Stolz und die Künste der Menschen, die
vom rechten Ziele ab auf Irrwege führen (Str. 4); Str. 5—7 sind ein
Abendgebet a) um die rechte Gesinnung (Str. 5), b) um ein seliges
Ende (Str. 6), o) um Verschonung vor Strafen und Gewährung einer
erquicklichen Nachtruhe für Gesunde und Kranke (Str. 7).
Grundgedanke: Das ist ein rechter Feierabend, wenn sich
der redliche Arbeiter der Ruhe, Stille und Herrlichkeit in der Natur freut,
Gottes und seine eigenen Werke mit offenem Auge und demütigem Herzen
betrachtet und sich und seine Lieben im Gebete dem Schutze des allmäch-
tigen Gottes befiehlt.
2. Eigentümliches. Das Lied hat die schlichte, ergreifende Weise
des Volksliedes, darum auch volkstümliche Ausdrücke wie „in" (genauer
„in'n ----- in den) Himmel kommen" und einige Härten durch Verlegung
schwerer Silben in die Tonsenkung und leichter in die Tonhebung (Str. 5).
Überwältigend wirkt die einfache Fürbitte für den kranken Nachbar am
Schluß. Auch die eigene Melodie von I. A. P. S ch u l z, sowie die Melodie
490
HL Lyrische Gedichte.
„Nun ruhen alle Wälder" sind sehr geeignet, den Eindruck des herrlichen
Liedes auf das Gemüt zu erhöhen. Der große Herder hat das Lied
in seine „Stimmen der Völker", eine umfassende Sammlung von Volks-
liedern, ausgenommen, „um einen Wink zu geben, welchen Inhalts die
besten Volkslieder sein und bleiben werden".
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes.
Str. 1: Bd. I, Nr. 279. Str. 2: Die Erde ist ein Jammertal (7. Bitte).
Str. 3: Es sind mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure
Schulweisheit sich träumen läßt. Str. 4: Das Wissen blähet aus, aber
die Liebe bessert. — Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen
ist Stückwerk. — Christum lieb haben ist besser denn alles Wissen. —
Gott steuert den Bäumen, daß sie nicht in den Himmel wachsen. — Der
Heide Sokrates sagte: „Meine Weisheit besteht darin, daß ich erkannt
habe, wie ich nichts weiß!" — Salomo spricht: „Gott hat den Menschen
aufrichtig gemacht, aber sie suchen viele Künste!" Str. 5: Jakob sprach
auf dem Sterbebette: „Herr, ich warte auf dein Heil!" „Alles ist eitel"
(vergänglich, hinfällig)! sprach Salomo. — „Eitel Brot — eitel Strafe"
(nichts als Brot, nichts als Strafe). „So ihr nicht werdet wie die
Kinder, könnet ihr das Reich Gottes nicht ererben." Str. 6: Jakob
sprach zu Joseph: „Ich will nun gerne sterben, nachdein ich dein Antlitz
wiedergesehen habe!" Der alte Simeon: „Herr, nun lässest du deinen
Diener in Frieden fahren!" Paulus: „Ich habe Lust abzuscheiden und
bei Christo zu sein!" Str. 7: „Müde bin ich, geh' zur Ruh' —."
2. Vergleiche das folgende Gedicht von Karoline Rudolphi
(Deutsche Gedichte von W. Fricke. S. 155)!
». Der Mond.
1. Im stillen, heitern Glanze tritt er so sanft einher!
Wer ist im Sternenkranze so schön geschmückt wie er?
2. Er wandelt still bescheiden, verhüllt sein Angesicht
und gibt doch so viel Freuden mit seinem tränten Licht.
3. Er lohnt des Tags Beschwerde, schließt sanft die Augen zu
und winkt der müden Erde zur stillen Abendruh';
4. schenkt mit der Abendkühle der Seele reine Lust;
die seligsten Gefühle gießt er in unsre Brust.
5. Du, der ihn uns gegeben mit seinem trauten Licht,
hast Freud' am frohen Leben, sonst gäbst du ihn uns nicht.
6. Hab Dank für alle Freuden, hab Dank für deinen Mond,
der Tages Last und Leiden so reich, so freundlich lohnt!
(Der Mond hat einen stillen, heitern Glanz und tritt sanft einher.
Die Sterne bilden einen Kranz und schmücken den Mond. Er wandelt
bescheiden, verhüllt sein Gesicht zuweilen hinter Wolken, spendet Freuden,
lohnt die Beschwerden des Tages durch eine stille Abendruhe, zu der er
winkt und einladet. Er bringt der Erde die Abendkühle, der Seele reine
Lust, in die Brust selige Gefühle. Gott muß Freude am frohen Leben
haben, sonst hätte er uns den trauten Mond nicht gegeben. Es gebührt
dem Herrn Dank dafür.)
Güll: Am Abend.
491
3. Wo findet sich in dem Liede
denglanz, der Sternenkranz,
traute Licht, des Tages Besch
Abendkühle, reine Lust und se
und Leiden, der Dank?
4. Vergleiche: „Mondnach
1. Es war, als hätt' der Himmel
die Erde still geküßt,
daß sie im Blütenschimmer
von ihm nun träumen müßt'.
2. Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
von Claudius: der heitere Mon-
das verhüllte Angesicht, das
werde, der sauste Schlaf, die
lige Gefühle, des Tages Last
t" von Jos. von Eichendorff!
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.
3. Und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als fliege sie nach Haus.
(Inhalt: Der Blütenschimmer der Erde ein Traum von dem Kuß
des Himmels. — Die sternklare Mondnacht, das leise Rauschen der Wäl-
der und das sanfte Wogen der Ährenfelder ergreifen die Seele. — Sie
spannt ihre Flügel weit und sehnlich aus und fliegt durch die stillen Lande
zu den Lieben in der Heimat und zu dem Vater in der Höhe.)
188. Am Abend.
Friedr. Güll. Neue Bilder f. Kinder v. Mutterthaler u. Fr. Güll. München o. I. S- 51.
I. Vorbereitung. Habt ihr, liebe Kinder, euer Tagewerk vollbracht,
seid ihr am Tage fleißig und brav gewesen, und senkt sich dann der
Abend still auf die Erde herab, so legt ihr euch ermüdet nieder auf euer
Nachtlager und schlummert bald, nachdem ihr euer Abendgebet ge-
sprochen, sanft und ruhig ein. Denn
„Jetzt noch, ihr Kinder, ist goldne Zeit,
später, ach später ist's nimmer wie heut:
stellen dann Sorgen ums Lager sich her,
Kinder, dann schläft sich's so ruhig nicht mehr."
Kein Laut ist vernehmbar. Der Lärm und das Getöse des Tages
ist verklungen. Feierliche Stille ruht über den Wohnungen der Men-
schen. — Horch! da erklingen mahnend die Glocken des nahen Turmes.
— Was wollen sie verkünden?
II. Vortrag.
1. Die Abendglocken läuten
den müden Tag zur Ruh'.
Die Blumen auf den Heiden
tun schläfrig die Augen zu.
2. Die Vöglein in den Bäumen,
sie schweigen alle still,
ein jedes heimlich träumen
vom goldnen Morgen will.
3. Die Schiffe ruhn im Hafen,
keine Welle regt sich mehr:
so geh auch du nun schlafen
und bange nicht so sehr!
4. Und laß den Vater sorgen,
der über den Sternen wacht:
er segnet mit Freuden den Morgen,
er segnet mit Frieden die Nacht.
III. Vertiefung. A. Gedanken gang. £ rost ruf der Abend-
glocken an das bekümmerte M e n s ch e n h e r z: 1. Blick um dich!
a) Die Blumen auf den Fluren haben >vie harmlose Kindlein ihre
492
III. Lyrische Gedichte.
Augen (ihre Kelche) geschlossen und schlummern sanft und friedlich. Schaut
die Lilien auf dem Felde! — (Matth. 6, 28.) — b) Der Vöglein Lied
ist verstummt. Sie haben im Laubwerk der Bäume ihre Schlummerstätte
aufgesucht und erwarten hier heimlich träumend (Gegenteil von unheim-
lichen, beängstigenden Träumen) einen neuen, fröhlichen Morgen. — Seht
die Vöglein unter dem Himmel an! — (Matth. 6,26.) — c) Auf dem nahen
See hat das bewegte Treiben aufgehört. Die schiffe haben einen sichern
Ankerplatz gefunden, wo die gefahrdrohenden Wellen sie nicht erreichen
können. O trauerndes Menschen herz, auch du suchst nicht vergebens
nach einem festen Ankergrunde; denn:
2. Blicke nur über dich! Droben am Firmament funkeln tau-
send Sterne und leuchten freundlich hernieder in dieses dunkle Erdental.
Drüben über den Sternen wohnt und wacht ein liebender Vater, ohne
dessen Willen kein Haar von deinem Haupte fällt. — Siehe, der Hüter
Israels schläft und schlummert nicht! Darum:
3. Verzage nicht! Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen
gute Nacht! Laß fahren, was das Herze betrübt und traurig macht! —
Ihn, ihn laß tun und walten! er ist ein weiser Fürst und wird sich so
verhalten, daß du dich wundern wirst. — Alle eure Sorgen werfet auf
ihn, denn er sorget für euch! — (1. Petr. 5, 7.) — Wie die Blumen der
Flur, wie die Vöglein des Waldes, wie die Schiffe im sichern Port, so
suche auch du nun dein Lager aus! Gott schenkt dir Frieden in dein
zagendes Herz, daß du gestärkt an Leib und Seele mit Freuden den
kommenden Morgen begrüßen wirst.
B. Schönheiten in der Form und Darstellung. Ein zarter
poetischer Schmelz liegt über der feinen Symbolik dieses schlichten
Abendliedes. Das Läuten der Abeudglocken, das Zutun der Augen der
Blumen, das Schweigen und Träumen der Vöglein und das Ruhen der
Menschen im Schiffe sind passende und schöne Sinnbilder des dem himm-
lischen Vater vertrauenden Menschenherzens beim Niederlegen zur nächt-
lichen Ruhe.
In der A u o r d n u u g der Gedanken liegt zugleich eine Steigerung
des Inhalts: a) Abendglocken, b) Blumen, c) Vöglein, d) Schiffe; zuerst
leblose Dinge, denen aber vom Dichter menschliche Gefühle beigelegt
werden, dann lebende Wesen: die so oft und gern besungenen Vöglein und
zuletzt die Menschen im ruhenden Schiffe.
Auch auf die wirksame poetische Form der Wiederholung und
des Stabreims:
„er segnet mit Freuden den Morgen,
er segnet mit Frieden die Nacht —"
sind die Schüler aufmerksam zu machen.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes: Suche Abendgebete und Abend-
lieder !
Willst du frei und lustig gehn durch das Weltgetümmel,
mußt du auf die Vöglein sehn, wohnend unterm Himmel:
jedes hüpft und singt und lebt ohne Gram und Sorgen,
schläft, vom grünen Zweig umschwebt, sicher bis zum Morgen.
Goethe: Wanderers Nachtlied.
493
2. Rede- und Stilübung: Der Abend des Frommen und des
Gottlosen! (Der Gottesfürchtige faltet fromm zum Gebet die Hände
und richtet glaubensvoll seine Augen zum Himmel, von welchem ihm
Hilfe kommt. — Den Gottlosen aber läßt das böse Gewissen nicht
zur Ruhe kommen; unheimliche Träume schrecken ihn auf aus seinem
unruhigen Schlafe; mit Furcht und Zittern durchwacht er die Nacht —
denn nur ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Ein Gewissen,
gut und rein, geht über Gold und Edelstein.) Rodert ^Veraeelre.
189. A. Wanderers Nachtlied.*)
Goethe, Gedichte. Stuttgart. O. I. I, S. 59.
kaum einen Hauch;
die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur! balde
ruhest du auch.
über allen Gipfeln
ist Ruh',
in allen Wipfeln
spürest du
I. Entstehung des Liedes. Goethe schrieb dieses einfache, zart hin-
gehauchte, rührende Gedichtchen im September 1783 mit Bleistift auf
die hölzernen Fensterpfosten eines auf dem Gickelhahn bei Ilmenau stehen-
den großherzoglichen Sommerhäuschens. **) Das Gedicht ist die Wieder-
gabe von Eindrücken seines Lebens, die der Entstehung desselben un-
mittelbar vorhergingen. „Es ist der Ausfluß einer sausten Wehmut, einer
unnennbaren Sehnsucht, die nur des stillen Friedens, den der Abend über
die Bergeinsamkeit ausgegossen hatte, bedurfte, um sich zu einem trösten-
den Liede zu gestalten." (Gude.) So klar die Sehnsucht nach Ruhe auch
in bem Gedichte ausgesprochen ist, so können wir doch in den Worten
selbst nicht erkennen, ob die Ruhe nach ermüdender Arbeit oder die Ruhe
während der Nacht oder gar die Ruhe des Grabes, die alles Leid von
hinnen nimmt, gemeint ist. Nur aus der Geschichte seines Lebens wissen
wir, daß der Dichter zu jener Zeit vielfach durch erdrückende Amtsgeschäfte
an seiner poetischen Produktion gehindert wurde, und daß er in feinern
Herzen sich nach dem Frieden sehnte, den nur die Ruhe des Grabes geben
konnte.
Gerade darum, weil der Dichter ein so unbestimmtes Sehnen in
diese wenigen Worte gelegt hat, ist das Gedicht für den Leser so er-
greifend. „Es löst jede unbefriedigte Sehnsucht, jede stille Wehmut auf
in die seligste Ruhe, und einmal vernommen, klingen seine Töne un-
sterblich fort." (Gude.)
II. Vermittlung und Vertiefung. „Über allen Gipfeln ist Ruh' usw."
Diese Worte versteht man erst recht, wenn man sich den Ort vergegen-
wärtigt, wo sie entstanden. „Es war an einem schönen Herbstabende,
als unser Goethe auf der Spitze des 800 m hohen Gickelhahnes stand.
*) Die eigentliche Überschrift lautet „Ein gleiches", weil der Dichter dieses
Lied in seinen Werken hinter das unter L behandelte Nachtlied („Der du von
dem Himmel bist") gestellt hat. ^
**) Das Häuschen brannte 1870 ab, wurde aber in getreuer Nachbildung
wieder aufgebaut.
494
III. Lyrische Gedichte.
Hoch über den Wipfeln der Bäume, hoch erhaben über der Erde un-
ruhigem Treiben und der Menschen Sorgen und Leiden wandelten die
Sternlein am wolkenlosen Himmel friedlich und ruhig ihre Bahnen. Er
schaute um sich; über die hohen Berggipfel des Thüringer Waldes hatte
der Abend seinen Frieden ausgebreitet. Der Feierabend des Gebirgs-
waldes, der blaue Duft des scheidenden Tages, die vom Abendrot zittern-
den Bergspitzen verkündeten himmlischen Frieden. Die immergrünen,
treuen Tannen neigten gleichsam ihr müdes Haupt zum Schlafe, und nicht
die leiseste Bewegung ließ sich spüren, selbst die lebendigen, muntern
Sänger des Waldes und die säuselnden Lüfte waren zur Ruhe gegangen.
Überall und überall, aus weitester und aus nächster Nähe, rief die Natur
ihren Kindern ein: »Friede sei mit euch!' zu. In dieser köstlichen Ruhe,
in der Sabbatstille, wo alles Frieden atmete, stand Goethe einsam und
allein auf hoher Bergesspitze, bewegt, unruhvoll Friede suchend. Wann
findest du einst Ruhe? Wann wird es auch in deinem Herzen einst still?
Dieser Friede, in den die Nacht die Erde hüllt, wird dem Dichter zum
tröstenden Bilde der Ruhe, die auch ihm kommen wird." (Kehr.) Hatte
Goethe die Grabesruhe gemeint, so sollte er sie erst beinahe ein halbes
Jahrhundert später, den 22. März 1832, finden und kurz vor seinem
Tode noch einmal das „Warte nur" vernehmen. Als Greis machte sich
Goethe noch einmal auf, um den Gickelhahn am 27. August 1831 zu
besuchen. Nachdem er sich erst an der kostbaren Aussicht auf dem Rondel
ergötzt, dann sich über die herrliche Waldung gefreut hatte, ging er in
das Jagdhaus und sah das Lied zum letztenmal. Er überlas die wenigen
Verse, und Tränen flössen über seine Wangen. Ganz langsam zog der
82 jährige Greis sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen
Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach: „Ja, warte nur! Bald
ruhst du auch!" schwieg eine halbe Stunde, sah nochmals durch das Fenster
in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu seinem Begleiter,
dem Berginspektor Mahr*), mit den Worten: „Nun wollen wir wieder
gehen."
Für reifere Schüler dürften sich auch folgende, von Gude gegebenen
Gedanken in bezug auf die äußere Form verwerten lassen: „Bezweckt
man Erhebung des Gemütes, so muß man in großen Zügen malen, muß
alle Nebenvorstellungen sorgfältig entfernen und darf nicht ins Detail
gehen. Die ungewöhnliche poetische Kraft des kurzen Liedes beruht eben
in seiner Kürze. Außerdem trägt auch die metrische Form viel zu seiner
großen Wirkung bei: es wechselt der trochäische, jambische und daktylische
Rhythmus. Feierlich leitet sein Anfang mit dem ersten Trochäus den
Blick nach oben, nach der lichten, ruhigen Höhe über dem Walde, wo alle
Schmerzen verstummen. Dann folgt das Nähere, der Wald mit seinen
Bäumen und seinen Vögeln. Der Vers wird hier durch die auftretenden
Jamben und Daktylen lebhafter, die innern Gefühlsaufregungen, deren
*) Mahr hat über diesen letzten Besuch Goethes auf dem Gickelhahn
eine interessante Schilderung im ersten Jahrgang des weimarischen Sonntags--
blattes gegeben.
Goethe: Wanderers Nachtlied.
495
Wellen noch leise fluten, gleich versinnlichend. Von schöner Wirkung ist;
besonders die auf einmal eintretende raschere Bewegung in den Worten:
,Die Vöglein schweigen im Waldes gegen welche dann der Schluß mit
seiner langsamen Bewegung und seinen tiefen, das Gedicht gleichsam aus-
läutenden, vollen Vokalen um so mehr absticht. Auch die Reime, wie die
Kürze einzelner Verse, unterstützen die Wirkung des Ganzen: vorherrschend
ist in den Reimen das ernste, schwere U und Au. Das A in dem schönen
Worte ,Balde< tönt wie die reinste, sich zum Himmel emporschwingende
Freude. Mit der größten Geschmeidigkeit schließen sich die Klänge der
Worte den Empfindungen an. Das ganze Lied ist eine Musik der lieblich-
sten Töne."
Das Lied ist von mehreren Musikern komponiert; die bekannteste
Melodie ist die von Zelter, welcher auch das untenstehende „Nachtlied"
komponiert hat. Für Zelters Komposition hat Joh. Dan. Falk (1817)
noch zwei Strophen hinzugedichtet, die jedoch nicht gut als Fortsetzung
gelten können, da das Lied an sich ein vollständig abgeschlossenes und ab-
gerundetes Ganzes ist. Die Verse von Falk lauten:
2. Unter allen Monden ist Plag'
und alle Jahre und alle Tag'
Jammerlaut;
das Laub verwelkt im Walde.
Warte nur! Balde
welkest du auch!
3. Unter allen Sternen ist Ruh',
in allen Himmeln hörest du
Harfenlaut!
Die Englein spielen — das schallte!
Warte nur! Balde
spielest du auch!
III. Vergleiche. B. Wanderers Nachtlied.
Goethe. Sämtliche Werke. Stuttgart 1874. I, 54.
Der du von dem Himmel bist, ach, ich bin des Treibens müdes
alles Leid und Schmerzen stillest, Was soll all der Schmerz und Lust?
den, der doppelt elend ist, Süßer Friede,
doppelt mit Erquickung füllest, komm, ach komm in meine Brust!
1. Warum nennt der Dichter beide Lieder Nachtlieder? Nicht nur
deshalb, weil sie zur Nachtzeit etwa gedichtet sind und gesungen werden
sollen, sondern auch deshalb, weil beide eine dunkle, nächtige Stimmung
ausdrücken. 2. Welche Sehnsucht drückt sich in beiden Gedichten aus?
Die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden der Seele. 3. Wie drückt sich
der Dichter in beiden Gedichten über die Ruhe aus? Im ersten Nachtliede
schildert er die Ruhe der Nacht, welche ihm den Trost bringt, daß auch
er selbst bald Ruhe finden werde; im andern Liede tritt das Bild zurück,
und der Dichter deutet nur an, daß die Stimmung in seinem Gemüte
ebenfalls durch die Nacht hervorgerufen wird- 4. Welcher Unterschied i|t
ferner noch in der Stimmung der Lieder bemerkbar? Das eine Lied ringt
noch sichtlich nach Frieden und Ruhe, das andere dagegen ist der Ausdruck
der Ergebung, der Hoffnung, der stillen inneren Sammlung. 5.. Welcher
Unterschied ist im äußeren Bau der Lieder zu bemerken? Das eine ist in
regelmäßigen, schwermütigen Trochäen geschrieben, das andere läßt
Trochäen mit Jamben wechseln. . w-D-
496
HI. Lyrische Gedichte.
190. A. Wachterruf.
Robert Reinick nach Peter Hebel. Hebels alemannische Gedichte. Ins Hochdeutsche
übertragen von Reinick. Leipzig 1869. S. 117.
1. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat zehn geschlagen.
Jetzt bet und schlaf, das ist mein
Rat,
und wer ein gut Gewissen hat,
schlaf' sanft und wohl! Im Him-
mel wacht
ein heiter Aug' die ganze Nacht.
2. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat elf geschlagen.
Und wer noch an der Arbeit schwitzt,
und wer noch bei den Karten sitzt,
zum letztenmal ruf ich euch zu:
's ist hohe Zeit, — und schlaft in
Ruh'!
3. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat zwölf geschlagen.
Und wo noch in der Mitternacht
ein Herz in Schmerz und Kummer
wacht,
Gott geb' ihm Ruh zu dieser Stund'
und mach' es fröhlich und gesund!
4. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat eins geschlagen.
Und wo mit Satans Rat und List
ein Dieb auf dunkeln Wegen ist, —
ich will's nicht hoffen, doch ge-
schieht's —
geh heim! Der Richter droben
fieht's!
5. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat zwei geschlagen.
Und wem schon wieder, eh's noch
tagt,
die schwere Sorg am Herzen nagt,
du armer Tropf, so quäl' dich nicht!
Gott sorgt! Er weiß, was dir ge-
bricht!
6. Höret, was ich euch will sagen!
Die Glock' hat drei geschlagen.
Die Morgenstund'am Himmel schwebt,
und wer den Tag in Freud' erlebt,
dank' Gott und fasse frohen Mut!
Geh ans Geschäft, — und halt dich
gut!
I. Vorbereitung und dann Vortrag. In vielen Gegenden ist es Sitte,
daß der Nachtwächter die einzelnen Stunden der Nacht von zehn bis drei bzw.
vier Uhr abruft und dabei jedesmal eine Strophe singt. Ein sehr verbreiteter
Wächterruf ist z. B.: „Hört, ihr Herrn, und laßt ench sagen: Unsre Glock'
hat zehn geschlagen. Bewahrt das Feu'r und auch das Licht, daß unsern!
Ort kein Schaden geschicht, und lobet Gott den Herrn!"
Der alemannische Dichter Joh. Peter Hebel mit seinem feinen Sinne
für alles Volkstümliche hat nun dem Wächter für die einzelnen Nacht-
stunden ergreifende Mahnungen in den Mund gelegt. Einmal hat er
selbst in schlafloser Nacht die beruhigende Wirkung dieses Wächterrufs
an sich erfahren. Er sollte aus dem liebgewordenen Karlsruhe als Geist-
licher nach Freiburg im Breisgau versetzt werden. Trotz mancherlei Be-
denken machte er sich im Dezember 1806 dahin auf den Weg, um sich
die Verhältnisse in der Nähe anzusehen. Er fand ein so freundliches Ent-
gegenkommen, daß er die Stelle anzunehmen beschloß. Kaum aber hatte
er Freiburg im Rücken, so kehrten Zweifel, Bedenken und Unentschlossen-
heit mit erneuter Macht zurück und erregten ihn aufs heftigste. In Emmen-
dingen, drei Stunden von Freiburg, übernachtete er, konnte aber stunden-
lang keinen Schlaf finden. Als er endlich erschöpft entschlummert war, da
weckte ihn morgens zwei Uhr die Stimme des Nachtwächters mit seinen
eigenen Worten in Str. 5 des Wächterrufs. Wie eine mahnende und
tröstende Stimme von oben fielen die Worte in sein Herz und beruhigten
ihn. Sanft schlief er bis zum Morgen; zuversichtlich reiste er zurück, und
gern blieb er auf Wunsch seines Fürsten in Karlsruhe.
Scherer: Nachtwächterlied.
497
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. In dunkler Nacht wandert der
Wächter durch die stillen Straßen. Er ist in einen Mantel gehüllt und
von einem Hunde begleitet. Ein Horn hängt an seiner Seite, und einen
Stab hälr die Hand- Ein Licht nach dem andern verlöscht, immer dunkler
und stiller wird's. Zuletzt gehen die Spieler aus dem Wirtshause fort,
nachdem er ihnen Feierabend geboten. Nur einzelne Fenster sind noch
matt vom Scheine der Nachtlichter erhellt; dort seufzen wohl Kranke.
Durch den Garten schleicht ein Dieb und legt die Leiter an ein Haus, um
durch ein Fenster einzusteigen und zu stehlen. Hundegebell und Wächterruf
verscheuchen ihn.
2. DieMenschen inder Nacht. Den Nachtwächter hält die
Pflicht wach. Den meisten Arbeitern schließt die Müdigkeit die Augen,
und ein gut Gewissen ist ihr Ruhekissen. Den überfleißigen Arbei-
tern und den Spielern muß Halt geboten werden. Den Kranken an
Leib und Seele wird Ruhe und Gesundheit gewünscht, dem gewissenlosen
Diebe eine Warnung zugerufen; der Sorgenvolle wird auf die gött-
liche Fürsorge verwiesen, dem Frühaufsteher ein gesegneter Tag ge-
wünscht.
3. G e d a n k e n g a n g. Str. 1. Um zehn Uhr gehen die Müden zu Bett
und vertrauen sich der göttlichen Obhut an. Str. 2. Um elf werden die
Arbeitsseligen und die Spieler ins Bett geschickt. Str. 3. Um zwölf
wird den Kranken ein friedlicher Schlaf und Gesundheit gewünscht. Str. 4.
Um eins wird ein Dieb eindringlich gewarnt. Str. 5. Um zwei wird
der Sorgenwache auf die göttliche Fürsorge hingewiesen (vgl. Ps. 127, 2).
Str. 6. Um drei wird Segen zum neuen Tagewerk gewünscht.
Grundgedanke: Dem Tage die Arbeit, der Nacht die Ruhe, von
Gott aber Segen für die Arbeit des Tages und Schutz für die Ruhe-
der Nacht!
4. Eigentümliches. Die einzelnen Mahnungen sind an den fort-
schreitenden Stundenschlag geknüpft und enthalten eine schöne Steigerung
und ein treffliches Gemälde mit der Unterschrift: „Der Mensch in der
Nacht." In der alemannischen Mundart klingt das Lied noch kindlicher
und herzlicher:
Str. 1. Loset, was i euch will sage!
D' Glocke hat zehni gschlage.
Jez betet und jez göhnt ins Bett,
und wer e rüeihig Gwisse het,
schlof sanft und wohl! Im Himmel
wacht
e heiter Aug' die ganzi Nacht.
Str. 5. Loset, was i euch will sage!
D' Glocke hat zwei gschlage.
Und wem scho wieder, eb's no tagt,
die schweri Sorg am Herzen nagt,
du arme Tropf, di Schlof isch hi!
Gott sorgt! Es wär nit nötig gsi.
5. Zur Vergleichung: Nachtwächterlied.
Volkslied aus Gg. Scherers Jungbrunnen. Berlin 1875. S. 311.
1. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat zehn geschlagen.
Zehn Gebote setzt' Gott einZ;
ach, laßt uns gehorsam sein!
AdL II. 8. Aufl.
Menschenwachen wird nichts nützen,
Gott muß wachen, Gott muß
schützen?)
Herr, durch deine Huld und Macht
gib -uns eine gute Nacht!
3ü
498
III. Lyrische Gedichte.
2. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat elf geschlagen.
Nur elf Jünger blieben treu;
gib, daß gar kein Abfall fei!I. * 3)
3. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat z w ö l f geschlagen.
Zwölf, das ist das Ziel der Zeit;
Mensch, bedenk die Ewigkeit!^)
4. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat eins geschlagen.
Eins ist not3), du treuer Gott,
gib uns einen sel'gen Tod!
5. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat zwei geschlagen.
Zwei Weg' hat der Mensch vor sich:
Herr, den schmalen führe mich!3 * *)
6. Hört, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat drei geschlagen.
Drei ist eins, was göttlich heißt,
Vater, Sohn und heil'ger Geist.7)
7. Hort, ihr Herrn, und laßt euch
sagen:
Unsre Glock' hat vier geschlagen.
Vierfach ist das Ackerfeld3);
Mensch, wie ist dein Herz bestellt?
Auf, ermuntert eure Sinnen,
denn es weicht die Nacht von
hinnen.
Danket Gott, der uns die Nacht
hat so väterlich bewacht!
1. 2. Mos. 20. 2. Ps. 127, 1. 2. 3. Joh. 6, 70. 4. Matth. 25, 60 f.
5. Luk. 10, 42. 6. Matth. 7, 13. 14. 7. Matth. 28, 19. 8. Matth.
13, 3-8.
I. Ähnliches. Beides sind Wächterrufe, die ihre Mahnungen an den
Stundenschlag anknüpfen, auf Gottes Schutz und Fürsorge verweisen und
früh zum Danke ermuntern.
II. Verschiedenes. A entnimmt seine Mahnungen der Beobachtung
des nächtlichen Lebens und Treibens, 8 der Bibel, wobei die Gleichheit
der Zahl und der Umstände den Haken bildet. A knüpft an die Nacht-
stunden von zehn bis drei, 8 von zehn bis vier Uhr usw. ?.
191. Der Mond.
H. Kletke. Kinderlieber. Berlin 1846. S. 72.
1. Wie ist doch über Wald und Feld 2. Zu allen Menschen groß und klein
so himmelhoch der Mond gestellt! sein lichtes Auge sieht herein,
Und wie ein Wächter ohne Ruh' sieht, wo ein leisesLämpchen scheint,
sieht er der stillen Erde zu. am Kindesbett die Mutter weint;
3. sieht, wo im Wald die Blume steht,
und wo noch spät ein Wandrer geht. —
Du nimnist sie all' in deine Hut,
du, guter Gott, bist allen gut!
I. Vermittlung. Der Dichter stellt uns den Mond als einen Wäch-
ter dar, der über Wald und Feld himmelhoch, gestellt ist. Wer hat
aber diesen Wächter hingestellt? Das deutet uns die letzte Zeile an: „Du,
guter Gott, bist allen gut." So können wir beit Mond mit Recht einen
Wächter Gottes nennen. In der 1. Strophe wird gesagt, wo dieser
Wächter Gottes zu finden ist: „Himmelhoch über Wald und Feld". Warum
das? Weil er von da aus einen großen Teil der am Abend „stillen"
Erde übersehen kann. Str. 2 und Str. 3 V. 1 und 2 schildern uns die
A m t s g e s ch ä f t e, die der Herr seinem Wächter übertragen hat. Zunächst
Reinick: Der Strom.
499
hat er mit lichtem (Hellem) Auge über alle Menschen groß und klein
zu wachen. Besonders soll er in die Krankenstuben schauen, wo „am
Kindesbett die Mutter weint". Dabei soll er aber auch acht geben auf die
Blümelein im Walde und auf den Wanderer, der noch spät nach
seiner Heimat geht, damit auch denen kein Schaden geschieht. — Kommt
endlich am Morgen die liebe Sonne am Himmel heraus, dann überläßt
der Wächter ihr sein Amt und geht nun zum Herrn, um über das, was
er gesehen, Bericht zu erstatten- Er erzählt ihm, wie er die Menschen, be-
sonders die kranken Kinder, die zarten Blumen und die einsamen Wan-
derer gefunden hat, und empfiehlt sie vertrauensvoll seinem Schutze.
II. Verwertung. 1. Anwendung für Herz und Leben. Bete
auch du an jedem Abend: Guter Gott, du bist allen gut, nimm deshalb
auch mich in deinen gnädigen Schutz! —
2. Rede- und Stil Übungen, a) Vergleiche den Mond mit
einem Wächter! (Wo ist der Wächter? Wann wacht er? Wen bewacht
er? Was tut er am Ende?) b) Vergleichung des Gedichts mit dem Schiller-
schen Rätsel: „Aus einer großen Weide gehn" usw. (Nr. 196.)
^..Ähnlichkeiten: In beiden Gedichten wird der Mond mit einem
Wächter (Hirten) verglichen, der sein Amt treu verwaltet.
B. Verschiedenheiten.
Der Mond v. Kletke:
1. Der Dichter sagt in der Über-
schrift, daß er vom Monde sprechen
will.
2. Der Mond wacht über Menschen
und Blumen.
3. Der Mond wird als ein Mann
mit „lichten Augen" vorgeführt.
4. Der Mond wird als allein am
Himmel stehend gedacht.
Das Rätsel v. Schiller:
1. Der Dichter fordert den Leser
auf zu erraten, wer der von ihm
beschriebene Hirt ist.
2. Der Mond ist Hirte der
Sterne.
3. Der Mond wird als an einem
Silberhorn kenntlich beschrieben.
4. Außer dem Monde stehen noch
die Sterne am Himmel.
W. D.
192. Der Strom
Robert Reinick.
1. Tief in waldgrüner Nacht
ist ein Bächlein erwacht,
kommt von Halde zu Halde ge-
sprungen,
und die Blumen, sie stehn
ganz verwundert und sehn
in die Augen dem lustigen Jungen.
2. Und sie bitten: „Bleib hier
in dem stillen Revier!"
Wie sie drängen, den Weg ihm zu
hindern!
Doch er küßt sie im Flug;
und mit neckischem Zug
ist er entschlüpft den lieblichen
Kindern.
3. Und nun springt er hinaus
ans dem stillgrünen Haus:
„O du weite, du strahlende Ferne!
Dir gehör' ich, o Welt!" —
Und er dünkt sich ein Held,
und ihm leuchten die Äugen wie
Sterne.
4. „Gebt mir Taten zu tun!
Darf nicht rasten, nicht ruhn,
soll der Vater, der alte, mich
loben." —
Hoch zum Flusse geschwellt,
von dem Fels in die Welt
braust er nieder mit freudigem
Toben.
' 32*
500
III. Lyrische Gedichte.
5. „Gebt mir Taten zu tun,
kann nicht rasten, nicht ruhn!" —
Und schon hört man die Hämmer
ihn schmettern,
zwischen rankendem Wein
schauen Dörfer darein
und die Städte und Burgen und
Dome.
und vorbei an dem Riff
trägt er sicher das Schiff
7. Und er kommt an das Meer;
heller leuchtet es her.
in dem Kampf mit Sturm und mit
Wettern.
wie verklärt von göttlichem Walten.
Welch ein Rauschen im Wind?
rttPtrt f" 9sY?Pttt 6!trtS k"
6. Immer voller die Lust,
immer weiter die Brust,
und er wächst zum gewaltigen Strome;
„Du mein Vater!" „Mein Kind!"
Und er ruht in den Armen des
Alten.
1. Vorbereitung. In seinem Gedichte „Der Strom" schildert uns
Robert Reinick den Lebenslauf des Stromes. Er vermenschlicht oder
personifiziert ihn. Wie der Mensch von seiner Geburt an mehrere Lebens-
abschnitte durchläuft, Kindes-, Jünglings- und Mannesalter, so auch der
Strom! Hören wir, in welch sinniger Weise der Dichter diesen Gedanken
durchgeführt hat!
II. Darbietung. 1. Vorlesen des Gedichtes.
2. Erläuterungen. Str. 1: Wald grüne Nacht ist die grün-
liche Nacht oder die Dämmerung, die unter dem dichten Laubgezweige des
Waldes herrscht. Deute das Bild vom Erwachen des Bächleins! (Wie
ein Kind beim Erwachen die glänzenden Augen aufschlägt, so erglänzt das
Wasser beim Hervortreten aus der dunkeln Erde.) — Halde ist ein
Bergeshang. — Welche Blumen sind gemeint? (Am Ufer — Vergißmein-
nicht, Ehrenpreis usw.) — Str. 2: Die Blumen wachsen in den Bach
hinein und scheinen ihn so aufhalten zu wollen. Doch er küßt sie, umspielt
sie mit seinen Wellen, neckt sie so und flieht. — Welche Lebensabschnitte
des Stromes lernen wir in Str. 1 und 2 kennen? (Geburt und Kin-
de s a l t e r.) Wo lebt er, und was tut er? Er wird als Bächlein im Walde
geboren, springt wie ein lustiger Junge umher, neckt die Blumen, will
aber nicht ihr Spielgefährte bleiben. Weshalb bleibt er nicht in der Hei-
mat? Antwort in Str. 3: Er fühlt sich nicht wohl in der Enge des
„stillgrünen Hauses", er liebt nicht das Spiel mit „lieblichen Kin-
dern", er sucht die Weite, will ein Held sein und als Held der Welt
dienen. — Str. 4: Wer ist der Vater, der alte? Vgl. Str. 7. Welche
Tat vollbringt er? In kühnem Sprunge (Wasserfall) überwindet er
das letzte Hindernis des Berglandes. — Welches Lebensalter schildern
Str. 3 und 4? (Jünglingsalter.) Was tut der Strom in diesem
Lebensabschnitte? Er verläßt die enge, stille Heimat, wünscht Heldentaten
zu tun und überwindet als Fluß den letzten hemmenden Fels. — Str. 5:
Welche Taten vollbringt er nun? Er nützt den Menschen, indem er in
Fabriken Räder und Hämmer in Bewegung setzt und Schiffe trägt. Was
ist ein Riff? Eine abgerissene Felsmasse, eine Klippenreihe, die von der
Arbeit des Flusses in alten Zeiten Zeugnis ablegt. — Str. 6: Was be-
deuten die Worte „Immer weiter die Brust"? Was ist ein Dom? (Ent-
lehnt aus lat. äomus, also Haus Gottes.) — Welches Lebensalter schil-
dern Str. 5 und 6 ? (M a n n e s a l t e r.) Was tut der Strom? Jetzt fördert
Reinick: Der Strom.
501
er als wirklicher Strom — früher Bach, Fluß — im Dienste des Men-
schen Gewerbe, Handel und Schiffahrt; seine Ufer laden den Menschen
zur Ansiedelung ein: Dörfer mit Rebenpflanzungen, Burgen, Städte mit
Domen, sie erhalten ihre Bedeutung vom Strome. An welchen Strom
erinnern viele Züge aus Str. 4—6? An den Rhein. Zähle sie auf! —
Str. 7: Auf der weiten, scheinbar unendlichen Fläche des Meeres liegt
der leuchtende Sonnenschein; dadurch erscheint die Meeresfläche wie ver-
klärt dnrch das Licht Gottes; vgl. Jesus ward verklärt, und sein An-
gesicht leuchtete wie die Sonne. — Was will das Rauschen der Wellen
sagen? Es drückt die innere Bewegung durch die Wiedersehensfreude auf
beiden Seiten aus. Der bisher so unruhige, nirgends rastende Strom
ist nun in den Armen des Vaters zur Ruhe gekommen. Mit welchem
Rechte heißt das Meer Vater des Stromes? Das Meerwasser steigt als
Wasserdampf ans, zieht in Wolkenform über das Land, senkt sich in flüssiger
Form als Regen zur Erde nieder, sickert in die Erde ein, tritt als Quelle
wieder hervor und eilt nun wieder als Bach, Fluß, Strom dem Meere
zu. — Welchen Abschnitt aus dem Leben des Stromes schildert Str. 7?
(Wiedervereinigung mit dem Meere, Einmündung.)
III. Vertiefung. 1. Gliederung: a) Str. 1 und 2: Der Strom
in seinem Knabenalter als Bach (Geburt, Lauf und Spiel im Walde);
b) Str. 3 und 4: in seinem Jünglingsalter als Fluß (Eiutritt in die
Weite, Tatendurst, Sprung); c) Str. 5 und 6: in seinem Mannesalter
als Strom (Tätigkeit im Dienste des Menschen, Bedeutung für Dorf und
Stadt); ck) Str. 7: Wiedersehn und Wiedervereinigung mit dem Meere.
2. Eigentümliches: Die Personifikation ist in sinniger Weise auf
das glücklichste durchgeführt in dem Bilde eines sich zum Manne ent-
wickelnden Knaben. Folgende Züge treten hervor: das lustige Springen
und Spielen des Knaben; des Jünglings Sehnsucht nach der Weite, Taten-
durst und toller Übermut; des Mannes ernste, segensreiche Tätigkeit. —
An einer einzigen Stelle, in der zweiten Hälfte von Str. 6, wird der Ver-
gleich verlassen. — Wirksam ist in ihrer Kürze und Innigkeit die Wieder-
sehnsszene. — Der Versbau ist streng regelmäßig. Jede Strovhe be-
steht aus zwei gleichgebauten Teilen von drei Versen, die Trochäen und
Daktylen in regelmäßiger Mischung enthalten.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes: Die alten Griechen personifi-
zierten die Flüsse und verehrten sie als Flußgötter; diese galten als
Söhne des uralten Gottes Okeanos. Vgl. die Personifikation des
Rheins auf dem Niederwalddenkmal! Goethe, Mahomets Gesang. —
Zu Str. 2, 3 und 7 vgl. Abr. Em. Fröhlich, Wiederfinden Bd. II,
Nr. 41. — Theseus, Herakles, die Ritter des Mittelalters ziehen aus,
Heldentaten zu tun. In „Siegfrieds Schwert" von Uh land heißt
es: „Nun schlag' ich wie ein andrer Held die Riesen und Drachen in Wald
und Feld."
2. Rede- und Stilübnngen: Lebenslaus des Stromes. Kreis-
lauf des Wassers. Das Wasser im Dienste des Menschen; Gegenstück:
Das Wasser als Feind des Menschen. .- Dr. P. Polack.
502
III. Lyrische Gedichte.
193. Drei Gedichte vom Meere.
I. Vorbereitung. Das Meer, auch die See genannt, ist die große
Wassermasse, welche alle Länder der Erde umgibt. Seine Farbe ist ge-
wöhnlich schön grün wie die des Edelsteins Smaragd. Nicht eine Scheide,
sondern eine Brücke zwischen den Ländern und Völkern der Erde ist das
Meer; denn auf seinem Rücken trägt es in Tausenden von Schiffen die
Menschen und Waren von Land zu Land. Selten ist seine Oberfläche glatt
und ruhig. Ebbe und Flut lassen es zurückweichen und anschwellen. Die
Wellen kommen und gehen regelmäßig; oft setzt sie ein frischer Wind
in lebhaftere Bewegung. Zuweilen wühlt ein Sturm das Meer auf, so
daß die Wogen sich zu haushohen Wasserbergen auftürmen und daneben
haushohe Abgründe klaffen. Nur selten tritt auf haushoher See nach
langer Windstille eine völlige Meeresstille ein. Dann liegen die Schiffe
mit schlaffen Segeln still auf der glatten Wasserfläche. Kein Laut läßt
sich auf der endlosen Wasserwüste hören. Fürchterlich ist die Totenstille
und dieses Warten der Reisenden, die nach dem Ziele streben und oft Eile
haben. Verdrossen schleichen die Schiffer umher und harren bange auf
den leisesten Luftzug. Die alten Griechen pflegten dann Äolus, den Herr-
scher der Winde, anzurufen. Sie meinten, er hielte die Winde in einem
Zanberschlauch eingeschlossen und brauchte nur vorsichtig das Band zu
lösen, um den geeigneten Wind herauszulassen. Würde das Band nicht
vorsichtig gelöst, so brächen alle Winde gleichzeitig entfesselt heraus und
wüteten nun entsetzlich auf dem Meere, wie es dem Odysseus bei seinen
Irrfahrten ergangen sei.
Oft bedeckt Nebel das Meer und zwingt die Schiffer, haltzumachen,
damit das Schiff nicht auf Klippen und Sandbänke gerät.
Das Meer ist aber nicht nur die Völker st raße der Reisenden,
sondern auch das Ackerfeld der Fischer. Sie fahren von der Küste
hinaus und werfen ihre Netze aus, wenn die See still oder fromm ist,
besonders um die Abendzeit, wenn die Sterne leuchtend am Himmelsbogen
aufziehen und sich in dem feuchten Elemente abspiegeln.
Aber auch ein Bild der Unendlichkeit und ein Zeuge der
göttlichen Allmacht und unserer Ohnmacht ist das Meer. Be-
sonders ergreifend und feierlich ist dieser Eindruck in einer ruhigen, klaren
Sternennacht. Da lernt man die Hände zum Gebet falten.
Das stille und das leise bewegte Meer als Völker st raßederRei-
senden, als Arbeitsfeld der Fischer und als Zeugen der gött-
lichen Allmacht zeigen uns die nachstehenden Gedichte von Goethe,
Scherenberg und Graf Strachwitz. Höret sie!
V. a. Meeresstille.
I. W. v. Goethe, Werke. Bibl. Institut. I. S. 93.
Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne Regung ruht das Meer,
und bekümmert sieht der Schiffer glatte Fläche rings umher.
Keine Luft von keiner Seite! Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuren Weite reget keine Welle sich.
Scherenberg: Fischerlied. — Strachwitz: Gebet auf den Wassern. 503
b. mi\äiiü>t Fahrt.
Die Nebel zerreißen, der Himmel ist helle,
und Äolus löset das ängstliche Band.
Es säuseln die Winde, es rührt sich der Schiffer!
Geschwinde! Geschwinde! Es teilt sich die Welle,
es naht sich die Ferne: schon seh' ich das Land.
». Fischerlied.
Christian Friedrich Scherenberg. Gedichte. Berlia 1850. S. 17.
1. Abend zieht gemach heran,
dunkel wird es in der Höh',
aus den Wellen leis' und linde
wehn die stillen Abendwinde,
weht's herüber von der See:
„Fischer komm! Fischer komm!
Die See ist fromm."
2. Sterne zünden sacht' sich an,
grüßen schweigend aus der Höh'
ihre tiefen, feuchten Brüder,
fragen still und hoch hernieder:
„Ist sie fromm, die See?"
Und die Tiefe spricht zur Höh':
„Sie ist fromm, die See."
3. Und herüber nickt der Stern:
„Fischer, komm! die See ist fromm."
„„Sterne, unser Gottvertraun,
Fischerlicht, auf das wir bauen,
wenn ihr es saget, sei's gewaget:
Mann und Zeug, macht fertig euch,
Fischer in die See!""
C. Gebet auf den Wassern.
Moritz Graf v. Strachwitz. Hansen. Lesebuch. 4. Teil. Hamburg 1873. S. 136.
1. Die Nacht ist hehr und heiter,
das Land ist weit, wie weit!
Es ruht das Meer in breiter,
smaragdener Herrlichkeit.
2. Mir ist zu Mut, als schliefe
der Woge Grimin und Macht
und schwebte über der Tiefe
der Herr durch die heilige Nacht.
3. Mir ist, als müßt' ich zur Stunde
hinsinken tief und jäh
zum grünsten Meeresgrunde,
o Herr, in deiner Näh'!
4. Mir ist, als müßte hoch über
mir ruhn die feuchte Gruft
und dieses Lied darüber
wehen als Morgenluft.
II. Fragen zur Vermittlung des Verständnisses. Wo und wie ent-
steht zuweilen Meeresstille? Warum regt sich das Meer nicht? Was
bekümmert den Schiffer? Warum Todes stille? Warum ist sie den
Reisenden fürchterlich? Warum ist die Weite ungeheuer? Was
sind Wellen?
Wann gibt's eine glückliche Fahrt? Was schadet der Nebel,
und wie zerreißt er? Wer war Äolus? Wie lösete er das Band?
Warum war das eine ängstliche Sache? Was ist das Wiudessäu-
fein? Wie rührt sich der Schiffer? Was bedeutet der zweimalige Ausruf
geschwinde? Wie teilt sich die Welle? (Das Schiff durchschneidet
sie.) Wie naht sich die Ferne? (Das Land scheint näher und näher
zu rücken, weil das Schiff dahinsährt.)
Wovon ist es ein Zeichen, wenn die Höhen der Berge und der Him-
mel dunkel werden? (Daß der Abend völlig hereingebrochen i>t.) Warum
wehen abends die Winde vom Meere nach dem Laude? (Die Luft auf
dem Lande hat sich rascher erwärmt, ist in die Höhe gestiegen, und die
kühlere vom Meere strömt nach. Morgens ist es umgekehrt.) Was be-
504
III. Lyrische Gedichte.
deuten die stillen Winde und die leisen Wellen für den Fischer?
Was ist das Gegenteil von einer frommen See? Wie zünden sich
die Sterne sacht an? (Sie haben ihr Licht, aber erst abends leuchtet es
uns.) Was ist ihr stilles Flimmern für den Schiffer? Wer sind die
tiefen, feuchten Brüder der Sterne? (Ihre Spiegelbilder in der
tiefen, feuchten See.) Wie kann die Tiefe zur Höhe sprechen? (Die
in der Tiefe ruhig funkelnden Sterne zeigen, daß die See klar und ruhig
ist.) Warum sind die Sterne das Go ttv er tränen der Fischer? (Die
Fischer glauben, daß Gott durch sie ihnen seine Weisungen gebe.) Waruni
Fi sch er licht? (Beim Sternenscheine gelingt der Fischfang am besten.)
Wer sind Mann und Zeug? (Die Fischer, ihre Kähne, Netze und Fisch-
behälter.) Wozu fertig machen? (Abzustoßen vom Lande und in die
See auf den Fischfang zu fahren.)
Wie ist eine hehre Nacht? (Erhaben, ergreifend durch die feierliche
Stille, die weite Entfernung vom Lande, die grünfunkelnde Meeresflut
und den gestirnten Himmel.) Wodurch wurde die Macht und der Grimm
der Wogen gleich wilden Tieren gebändigt? (Durch die Nähe des Herrn.)
„Es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem
Wasser." Wodurch ist die Nacht geheiligt? Welchen Eindruck macht
das Gefühl der Nähe Gottes auf den Dichter? Warum möchte er sich
vor dem Angesichte Gottes jäh (plötzlich) auf dem tiefsten Grunde des
Meeres verbergen? (Er fühlt seine Unwürdigkeit und Ohnmacht gegenüber
dem heiligen und allmächtigen Gotte.) Was soll als Scheide- und Schutz-
wand zwischen seine feuchte Gruft in der Tiefe und den heiligen Gott in
der Höhe treten? (Die ganze Meeresflut.) Nur was soll demütig wie
ein Gruß aus der Tiefe in die Höhe steigen? (Dies Lied, das Gebet.)
III. Vergleichung. 1. Hauptinhalt. A zeigt uns nach bangem
Harren in der Meeresstille eine frohe, glückliche Fahrt, 6 die Ausfahrt
der Fischer zum Fange unter guten Zeichen, C die Erhabenheit des Meeres
in der Nacht, die das Herz zu einem demütigen Gebete zwingt.
2. Ort. A führt uns auf die hohe, windstille See und dann dem
Lande entgegen, 8 an die Küste des sanft bewegten Meeres, über dem
sich der gestirnte Himmel wölbt, 6 gleichfalls auf das hohe, ruhige Meer
und hinab in die Tiefe desselben.
3. Zeit. In A geht der Nebel in hellen Himmel, in 8 der Tag in
den Abend, in 6 die Nacht in den Morgen über.
4. Personen. In A sehen wir bekümmerte und dann geschäftige
Schiffer, ängstliche und dann erfreute Reisende und dann den hilfreichen
Windschaffer Äolus; in 8 rührige Fischer und blinkende Sterne als ihre
Schutzbürgen und Pfaderleuchter; in C den einsamen Dichter, der sich vor
der Nähe des Herrn in die Tiefe des Meeres verbergen möchte.
5. Gedankengang. A: Totenstille im Meere, Zagen im Gemüte,
glückliche Änderung, frohe Fahrt. 8: Wind und Wellen locken den Fischer
hinaus. Die Sterne in der Höhe und in der Tiefe halten Zwiesprach
und ermutigen gleichfalls zum Kommen. Die Fischer trauen den Sternen
und rüsten sich zur Fahrt. 0: Hehre Nacht; der Woge Grimm gebändigt
Kaiser Wilhelm IL: Sang an Ägir.
505
durch den Herrn über den Wassern. Das Gefühl der Gottesnähe durch-
dringt den Dichter mit dem Gefühl seiner Unwürdigkeit und Ohnmacht;
in die Tiefe des Meeres, fern vom Angesichte des Herrn, wünscht er sich,
aber ein Lied, ein Gebet möchte er dem Herrn des Meeres hinaufsenden
als demütigen Morgengruß. (Ps. 139, 7—12: Wo soll ich hingehen vor
deinem Geiste? Wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesichte? —)
6. Grundgedanken. In A: Lerne warten ohne Murren und
hoffen ohne Zagen! Das widrige Geschick wird sich wenden und das Ziel
erreicht werden. In B: Folge vertrauensvoll den himmlischen Sternen
und gehe getrost in ihrem Lichte und Geleite ans Werk! In 6: Die feier-
liche Stille der Nacht auf dem Meere zwiugt das Herz zur Demut und
und zum Gebet. (1. Mos. 28, 16. 17: Jakob aber fürchtete sich und
sprach: Gewißlich ist der Herr an diesem Ort usw.)
7. Eigentümlichkeiten. In A wird die drückende Meeresstille
durch die ernsten trochäischen Verse, die bewegte See und die glückliche
Fahrt durch muntere Daktylen (mit Auftakt) gemalt. In B ist das Locken
von Wind und Wellen: „Fischer, komm! die See ist fromm!", die Zwie-
sprach der himmlischen Sterne droben und ihrer Spiegelbilder drunten,
sowie ihre Einladung: „Fischer, komm! die See ist fromm!" von be-
sonderer Schönheit und Wirkung. Nur im Frieden kann das Werk der
Fischer gedeihen. Wie ihr Entschluß „zu kommen" reift, wechselt das
Versmaß. In 6 sind die Bilder kühn und schön: Das ruhige Meer ist
in smaragdner Herrlichkeit wie ein breiter Gürtel um die Erde geschlagen.
— Der Wogen Grimm (im Sturme) schläft, gebändigt wie ein wildes Roß
von dem Herrn des Meeres. (Bis hierher und nicht weiter! Hier sollen
sich legen deine stolzen Wellen.) So bricht die Nähe des Herrn auch den
Stolz des Menschenherzens und macht es demütig. Auf den tiefsten,
grünsten Grund des Meeres wünscht es sich, die Wasserberge des Meeres
als Grabhügel über sich. Aber sein Gebet und Lied soll wie ein Fähnlein
über den Wassern von fern den Herrn grüßen. P.
194. Sang an Ägir.
Dichtung von dem deutschen Kaiser Wilhelm II.
I. Vorbereitung. In Kiel taufte der deutsche Kaiser Wilhelm II.
das neue Panzerschiff Ägir. Er hielt dabei etwa folgende Ansprache:
„Als ein Zeichen vaterländischen Fleißes nach angestrengter Arbeit der
kaiserlichen Werft steht nunmehr dieses Fahrzeug vor uns, um seinem
Elemente übergeben zu werden. Du sollst nun eingereiht werden in die
deutsche Marine. Du sollst dienen zum Schutze des Vaterlandes. Du
sollst dem Feinde Trutz eutgegenbringen und Vernichtung. Der alten
germanischen Sage entsprossen sind die Namen der Schiffe, die zu der
gleichen Klasse gehören. Daher sollst du gleichfalls an die graue Vor-
zeit unserer Ahnen erinnern, an die gewaltige Gottheit, die von
allen germanischen meerfahrenden Vorfahren angebetet und gefürchtet
wurde, und deren gewaltiges Reich bis an den eisigen Nordpol und
506
HL Lyrische Gedichte.
fernen Südpol sich erstreckte, in deren Gebiet die nordischen Kämpfe ans-
gefochten, Tod und Verderben in das Land des Feindes gebracht wurden.
Dieses großen Gottes gewaltigen Namen sollst du führen. Mögest du
dich desselben würdig erweisen! So taufe ich dich auf den Namen
„Äg ir"!"
Die alten Seekämpfer des Nordens, die vom 9.—11. Jahrhundert
ans ihren Drachen schiffen, die vorn in einen Drachenkopf und hinten
in einen Drachenschwanz ausliefen, zur Fehde, d. h. zum Streite um
Land und Beute, ausführen, hießen Wikinger. Einer der berühmtesten
war Frithjof. Er durchfuhr rasch und tatenkühn die weite Meerflut auf
feinern wunderbaren Drachenschiffe Ellida, einer Gabe des Meergottes
Ägir. Die Brust der Helden schützte die Brünne (Panzer oder Har-
nisch). Der linke Arm hielt den Schild (Schntzwaffe aus Linden- oder
Eschenholz mit Tierhäuten überzogen). Die rechte Hand schleuderte den
Speer. An der Seite hing das Schwert oder der Stahl. Große
Gefahren erwarteten die Wikinger auf der wilden Meerflnt, in dem Reiche
des Meergottes Ägir, von Wind und Wellen, Felsen und Klippen, von
Nix und Neck, d. h. den tückischen Meergeiftern. In Feindesland mußten
sie dann im wilden Harste (d. h. Heerhaufen im Handgemenge) mit den
Feinden ringen. Manchen Kämpfer wühlten die Schildesmaide oder
Walküren durch das Todeslos aus, um von der Walstatt nach Wal-
halla getragen zu werden.
Im Angesichte aller dieser Gefahren flehten die Helden vor ihrer
Abfahrt im Morgenlichte den gewaltigen Ägir um Schutz und Hilfe an.
Kaiser Wilhelm II. hat ihnen folgendes Lied in den Mund gelegt:
1. O Ägir, Herr der Fluten,
dem Nix und Neck sich beugt,
in Morgensonnengluten
die Heldenschar sich neigt!
In grimmer Fehd' wir fahren
hin an den fernen Strand;
durch Sturm, durch Fels und Klippen
führ' uns in Feindesland!
2. Will uns der Neck bedräuen,
versagt uns unser Schild,
so wehr' dein flammend Auge
dem Ansturm noch so wild.
Wie Frithjof auf Ellida
getrost durchfuhr dein Meer,
so schirm auf diesem Drachen
uns, deiner Söhne Heer!
3. Wenn in den: wilden Harste
sich Brünn' auf Brünne drängt,
den Feind, vom Stahl getroffen,
die Schildesmaid umfängt:
daun töne hin zum Meere
mit Schwert- und Schildesklang
dir, hoher Geist, zur Ehre
wie Sturmwind unser Sang!
II Vertiefung. 1. Lagebild. Ein Hafen an der norwegischen
Küste. Die Glnt der Morgensonne liegt golden auf den Bergen und der
leicht gekräuselten Meeresflut. Im Hafen ankern viele Drachenschiffe der
Wikinger und wiegen sich im leichten Morgenwinde auf der Flut. Am
Strande eine Kriegerschar, gerüstet mit Brünne, Schild, Speer und
Schwert. Vor dem Besteigen der Schiffe beugen sie die Knie, falten die
Hände, richten die andächtigen Blicke aus das Meer und flehen den mäch-
tigen Meergott Ägir um glückliche Fahrt an.
2. Charakterzeichnung. Ägir war, nach Uhland, die Ver-
persönlichnng des ruhigen, für die Schiffahrt geeigneten Meeres. Sein
Kaiser Wilhelm II.: Sang an Agir.
507
Weib war Ran, die Räuberische, die herzlos in der Tiefe hauste und
alles in ihr finsteres Reich zu ziehen suchte. Ihre neun Töchter waren
die Meereswogen, die in wilden Stürmen die Schiffer zu umarmen und
zu verderben drohten. Groß war Ägirs Macht. Seine dienstbaren Geister
waren „Nix (weiblich Nixe) und Neck". Beide waren die Vertreter
der „märchenhaften Seeungeheuer", die gern die Menschen in die Tiefe
zogen. Der Neck war nach dem nordischen Volksglauben ein alter Mann,
an dein alles grün war, ein mächtiger Riese, der die Menschen zu ver-
derben trachtete. Ägir beherrschte die Fluten, befahl dem Nix und
Neck, führte die Schiffe, flammte mit seinem Auge zwischen die Feinde,
schirmte seine Söhne, die Wikinger, empfing ihren Dank in Schwert-,
Schild- und Liederklang.
Die Wikinger, Ägirs Söhne, waren kühne Seefahrer des Nord-
landes und wilde Kriegshelden in stattlichen Rüstungen. Auf ihren
Drachenschiffen fuhren sie freinde Küsten an und kämpften in blutigen
Fehden um Land und Leute. Sie trotzten Wind und Wellen, Klippen
und Riffen, Nix und Neck, den tückischen Feinden der Tiefe und der Höhe.
Sie kämpften in ihrer Rüstung im wilden Handgemenge mit Todes-
verachtung gegen die überzahl der Feinde und hofften auf Sieg oder auf
einen Ehrenplatz in Walhalla, wohin die Schildmaide (Walküren) die
gefallenen tapferen Krieger trugen. Vor der Abfahrt riefen sie Ägir um
Beistand an, und nach dem Siege dankten sie ihm durch Lobsänge und
das Zusammenschlagen von Schwertern und Schilden.
3. Gliederung und Gedankengang. I. Das Gebet der ab-
fahrenden Seefahrer. II. Die Bitte der bedrohten Krieger. III. Der
Lobgesang der dankbaren Sieger. Oder I. Die Seefahrer flehen bei ihrer
Abfahrt nach fernem Strande den mächtigen Meeresgott Ägir um gün-
stige Fahrt an. II. Die Kämpferschar bittet Ägir um Beistand im Kampfe
gegen Meer und Menschen. III. Die glücklichen Sieger singen dem hohen
Gott unter Schwert- und Schildklang ein Danklied.
Grundgedanke: Mit Gebet beginn dein Werk! Treu und tapfer
kämpfe! Dankbar gib Gott die Ehre! Oder: Sei fromm, tapfer und
dankbar, dann gelingt dein Werk.
4. Eigentümlichkeiten. Anklänge an altdeutsche Sage und Ge-
schichte (Ägir, Nix und Neck, Wikingerzüge, Ritterrüstung, Schildesmaid
fHelm- oder Schlachtenjnngfrauen, Walkürenf, Drachenschiffe). — Der
fromme Sinn der Schiffer in der wilden Natur und den tobenden Kämpfen.
— Die Weise der Alten in Beruf und Kampf als Muster für unsere Zeit
und ihre Kämpfe. — Die Morgensonnenglut und die Andachtsglut der
Beter. Das flammende Auge des Gottes und der Ansturm des Meeres
und der Menschen, die männermordende Schlacht und der dankbare Sieges-
sang. — „Der Neck bedräut uns" = die Gefahr auf dem Meere. „Unser
Schild versagt" = die Gefahr vor den Feinden. „Dein flammend Auge
wehrt" — du hilfst. „Auf diesem Drachen" — ans diesen Schiffen in
Drachengestalt. „Brünne drängt sich auf Brünne" —Mann gegen Mann.
„Die Schildesmaid umfängt den Fallenden" — er stirbt, und seine Äeele
508
III. Lyrische Gedichte.
wird nach Walhalla getragen. („Es begab sich aber, daß der Arme starb
und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß.") „Wie
Sturmeswind tönt unser Sang" = so kräftig, so ans tiefster Brust, so
weithin.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
„Mit dem Herrn fang alles an —". Alles ist an Gottes Segen und
an seiner Gnad gelegen. — Bet' und arbeit', so hilft Gott allezeit. —
Je größer die Not, desto näher Gott. — „Rufe mich an in der Not —".
2. Verwandte Stoffe. Die Meeresstillung. „Nach dem Sturme
fahren wir" —. (33b, II, Nr. 268.) — Das Gudrunlied. — Goethes
„Fischer". (Bd. III, Nr. 77.) — Die Normanneneinfälle oder Wikinger-
züge in der Zeit Arnulfs und Ludwig des Kindes. — Esaias Tegners
„Frithjofs-Sage". — Der Durchgang durch das Rote Meer, der Unter-
gang der Ägypter und der Lobgesang des Volkes Israel. —
3. Rede- und Stilübungen. Ein Wikinger schildert (nach dem
Gedichte) eine Heldenfahrt. — Was weißt du von Frithjof und Inge-
borg und dem Schiffe Ellida? — Wie unterscheidet sich der Ägir
der germanischen von „der Ägis" (Ägide) der griechischen Götterlehre?
— Was haben die Namen Walstatt, Walküre und Walhalla zu
bedeuten?— P.
195. Die Tanne.
Zwei Gedichte von Ferd. Freiligrath. Gesammelte Dichtungen. Stuttgart 1873. I. S. 129.
I. Vorbereitung. Das Glück in der Heimat und das Heim-
weh in der Fremde: das sind die Gegensätze, die uns der Dichter
Freiligrath in zwei Gedichten von der Tanne, diesem edelsten Nadel-
holzbaume, zeigt. Die Tanne ist personifiziert, d. h. als lebendes Wesen
behandelt. Sie freut sich und leidet, sehnt sich und klagt >vie ein Mensch.
Sie ist ein Bild von des Dichters eignem Geschick. Aus dem Glück der
Heimat, in der alle Fasern seiner Seele wurzelten, wurde er gerissen und
hinaus ins wildbewegte Meer des Lebens und an fremde Küsten (in die
Verbannung nach England) geworfen. Aber auch in der Ferne behielt
er die Liebe zur Heimat uud die Sehnsucht nach ihrem Glück und Frieden.
Jeder Mastbaum eines landenden Schisses, der auf deu Bergen seines
Heimatlandes gewachsen sein konnte, führte aufs neue das Bild der Hei-
mat vor seine Seele und erneuerte den Schmerz der Trennung und die
Sehnsucht nach Heimkehr.
Das erste Gedicht Freiligraths zeigt uns die Edel- (Silber- oder
Weiß-)Tanne als kraftvollen Baum auf dem Boden der Hei-
mat, das zweite- als stolzen Mast bäum einer Fregatte (drei-
mastiges schnelles Kriegsschiff) aus dem Meere und an fremden
Küsten.
A.
1. Aus des Berges höchster Spitze 2. Nach den höchsten Wolkenbällen
steht die Tanne schlank und grün; läßt sie ihre Wipfel schweifen,
durch der Felswand tiefste Ritze als ob sie die vogelschnellen
läßt sie ihre Wurzeln ziehn. . mit den Armen wollte greisen.
Freiligrath: Die Tanne.
509
3. Ja, der Wolken vielgestalt'ge
Streifen, flatternd und zerrissen,
sind der Edeltann' gewalt'ge,
regenschwangre Nadelkissen.
4. Tief in ihren Wurzelknollen,
in den faserigen, braunen,
winzig klein und reich an tollen
Launen, wohnen die Alraunen,
5. die des Berges Grund befahren
ohne Eimer, ohne Leitern
und in seinen wunderbaren
Schachten die Metalle läutern.
6. Wirr läßt sie hinunterhangen
ihre Wurzeln ins Gewölbe;
Diamanten sieht sie prangen
und des Goldes Glut, die gelbe.
7. Aber oben mit den dunkeln
Ästen sieht sie schönres Leben,
sieht durch Laub die Sonue funkeln
und belauscht des Geistes Weben,
8. der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält
und mit seinen klugen Zwergen
alles leitet und bestellt,
9. oft zur Zeit der Sonnenwenden
nächtlich ihr vorübersaust,
eine Wildschur um die Lenden,
eine Kiefer in der Faust.
10. Sie vernimmt mit leisen Ohren,
wie die Vögel sich besprechen;
keine Silbe geht verloren
des Gemurmels in den Bächen.
11. Offen liegt vor ihr der stille
Haushalt da der wilden Tiere.
Welcher Friede, welche Fülle
in dem schattigen Reviere!
12. Menschen fern; — nur Rotwild-
stapfen
auf dein nroosbewachsnen Boden!
O, wohl magst du deine Zapfen
freudig schütteln in die Loden!
13. O, wohl magst du gelben Harzes
duft'ge Tropfen niedersprengen
und dein straffes, grünlich-
schwarzes
Haar mit Morgentau behängen!
14. O, wohl magst du lieblich wehen!
O, wohl magst du trotzig rauschen!
Einsanl aus des Berges Höhen,
stark und immergrün zu stehen —
Tanne, könnt' ich mit dir tauschen!
II. Erläuterungen. Str. 1. Die Wurzeln der Tanne bohren sich tief
ins Gestein und durchziehen die engsten Ritzen, während der Stamm schlank
und gerade himmelan steigt und der Wipfel ein immergrünes Kleid trägt.
— Str. 2. Die Wolken sind mit Bällen verglichen, die vogelschnell durch
die Lüfte fliegen, und nach denen die Tanne ihre Äste wie Arme ausstreckt,
um sie zu ergreifen und festzuhalten. — Str. 3. Die zerrissenen und im
Lustzuge auf und ab flatternden Wolkenstreifen, die oft auf den Gebirgen
lagern, sind gleichsam die großen Nadelkissen der Edeltanne, weil sie
ihre Nadeln hineinbohrt, um daraus erquickenden Tau und Regen zu er-
halten. — In einer früheren Lesart heißen die Nadelkissen g old ver-
brämt, weil sie oft die Sonne mit goldenen Rändern umzieht. — Str. 4.
In bent verwachsenen Wurzelgeflecht sollen die winzig kleinen, launen-
haften Alraunen, geheimnisvolle Erdgeister (von rüna, d. h. Geheim-
nis), Hausen. — Str. 5. Im Schoße der Erde gleiten sie als geschickte
Bergleute durch die Spalten und Höhlen, suchen und bearbeiten die kost-
baren Metalle. — Str. 6. Die wirren Tannenwurzeln reichen hinab bis
in die verborgenen Spalten, Höhlen und Gewölbe und sehen da edle Ge-
steine und Metalle flimmern. — Str. 7. Ihr Wipfel badet sich im Sonnen-
glanze und belauscht das geheimnisvolle Leben und Weben des Berg-
geistes, des Herrn vom Gebirge (z. B. Rübezahl im Riesengebirge). ■—
Str. 8 Derselbe führt die Herrschaft im Gebirge und richtet durch seine
Boten und Diener, die kleinen Zwerge, alles wohl aus. — Str. 9. Zur
510
III. Lyrische Gedichte.
Zeit der Sonnenwende (am 21. Juni und ant 21. Dezember) rast er
mit der wilden Jagd vorüber, hat eine Wildschur (Wolfsfell) um die
Lenden geschlagen und einen Kiefernbaum als Stab mit der Faust gepackt.
— Str. 10. Sie versteht die Sprache der Vögel und erlauscht ihre Ge->
Heimnisse; ja das Gemurmel des Baches weiß sie zu deuten. — Str. 11.
Sie sieht den Haushalt der Tiere, nimmt Anteil daran und freut sich über
die Fülle ihrer Speise und über den Frieden im schattigen Reviere. Eine
frühere Ausgabe schildert das Glück der Tiere folgendermaßen:
Mit der Elster tauscht der bunte Zierlich säubert mit den Pfoten
Häher Neuigkeiten aus; Lange (der Dachs) sein Gesicht, das
R e i n i k e mit dichter Lunte (Schweif) treue!
liegt am Eingang seines Baus. In den Gründen fliehn des roten
Wildes Rudel, schnelle, scheue. —
Str. 12. Die Menschen bleiben dieser wilden Einsamkeit fern. Nur
Rotwildspuren (Fußstapfen von Hirschen und Rehen) bemerkt man ans
dem moosbedeckten Boden. Da schüttelt die Tanne, freudig erregt, ihre
Fruchtzapfen zwischen die unter ihr stehenden Loden, d. h. junge, hoch-
aufgeschossene Bäumchen. — Str. 13. Ihr gelbes Harz aus der Rinde
sprengt sie in duftigen Tropfen auf das Gezweig der Loden, und ihr
schwarzgrünes Haar (die Nadeln) läßt sie sich mit glitzernden Tautropfen
wie mit Diamanten schmücken. — Str. 14. Linde Lüfte wehen säuselnd
durch das Nadelhaar, und starke Stürme rauschen und brausen durch das
trotzige Geäst, ohne jedoch den Stamm biegen oder brechen zu können.
Wer doch so fest und treu, stark und glücklich auf dem Boden der Heimat
stehen könnte!
1. Inmitten der Fregatte Z
hebt sich der starke Mast
mit Segel, Flagg' und Mattes
ihn beugt der Jahre Last.3)
2. Der schaumbedeckten Welle 0
klagt zürnend er sein Leid:
„Was hilft mir nun dies helle,
dies weiße Segelkleid?
3. Was helfen mir die Fahnen,
die schwanken Leiterstricke?
Ein starkes innres Mahnet!
zieht mich zum Forst zurücke.
4. In meinen jungen Jahren
hat man mich umgehauen;
das Meer sollt' ich befahren
und fremde Länder schauen.
5. Ich habe die See befahren;
Meerkön'ge sah ich thronen3 *);
mit schwarzen und blonden Haaren
sah ich die Nationen.3 *)
6. Isländisch Moos im Norden
grüßt' ich aus Felsenplatten H;
mit Palmen aus südlichen Borden1 2 3)
hab' Zwiesprach ich gehalten.
7. Doch nach dem Heimatberge
zieht mich ein starker Zug,
wo ich ins Reich der Zwerge
die haarigen Wurzeln schlug.3)
8. O stilles Leben im Walde!
O grüne Einsamkeit!
O blumenreiche Halde!10)
Wie weit seid ihr, wie wett!"
III. Erläuterungen. 1. Großes, schnelles Kriegsschiff mit drei Masten.
2. Der Hauptmast in der Mitte, ein großer und hoher Baum zum Tragen
der Segel st angen, Segel (Stücke weißer Leinewand), Taue und
Strickleitern, Flaggen (Fahnen) und Matten (grobe, geflochtene
Binsendecken im Mastkorbe). 3. Im langen Dienste alt geworden. 4. Die
Freiligrath: Die Tanne.
511
oberen Kämme oder Kanten der Wellen sind meist mit Schaum bedeckt.
5. Herren vieler Schiffe in ihrer Macht und Pracht. 6. Allerlei Völker
mit heller und dunkler Farbe des Haares und der Haut. 7. Ich sah im
nördlichen Eismeer die Armut des Nordens. Auf der öden Fels- und
Schneewüste erfreute ein Pflänzlein des isländischen Mooses so sehr, daß
man ihm als Zeichen des Lebens einen freudigen Gruß zurief. 8. Ich
landete an südlichen Küstenrändern und unterhielt mich mit den stolzen
Palmen, den Vertretern des Reichtums und der Schönheit im Süden.
9. Vergleiche Str. 4—6 von A! 10. Bergabhang.
IV. Vergleichung der beiden Gedichte. 1. Ort. In A steht die Tanne
fest auf dem Gipfel des Berges, in B durchfährt sie mit dem Schiff die
Meere und landet an vielen Küsten. In A ragt das Wurzelgeflecht tief
in den Schoß der Erde, der grüne Wipfel hoch in die Wolkenbälle und in
den goldenen Sonnenschein; in B sind die Wurzeln und der Wipfel ab-
gehauen: der untere Stumpf ist in den Schiffsbau eingekeilt, der obere
ragt in die Luft.
2. Zeit. Die Tanne in A steht in voller Manneskraft; sie ver-
bringt ihr Leben auf dem Berge, sieht Jahreszeiten, Wolken, Wind und
Wetter wechseln. Die Tamre in B stand in ihrer Jugend auf dem Berge,
dann wurde sie gefällt und ins Meer geschafft. Lange ist sie mit dem
Schiffe hin und her gefahren. Nun ist sie alt und mürbe und des Man-
derns müde.
3. Personen. Die Tanne in A hat zwischen ihren Wurzeln die
geschäftigen Alraunen. Um den Stamm tummeln sich der Berggeist, die
Zwerge und die wilden Tiere. Im Wipfel nisten allerlei Vögel. Die
Tanne in B ist mit toten Segeln, Stangen, Tauen, Flaggen und Matten
- behängt und von schäumenden Wellen umspielt. Sie hat Meerkönige und
allerlei Nationen gesehen, das isländische Moos gegrüßt, mit den Palmen
geplaudert. Der Umgang von A ist traut und beglückend, der von B
fremd, kalt und flüchtig.
4. Eigenschaften. Die Tanne in A war schlank und immergrün,
tief gewurzelt, hochragend, sonnbeglänzt, teilnehmend am Leben des Wal-
des, der Tiersprache kundig, freudig erregt, lieblich geschmückt, trotzig im
Sturm, einsam und stark. Die in B ist zwar schlank, hochragend und trotzig
im Sturm, aber geschält und gebleicht, des grünen Wipfels beraubt, ent-
wurzelt, wogenumrauscht und segelumflattert, gleichgültig gegen fremdes
Treiben, ohne Verständnis für die Freude, müde und verstimmt, alt und
schmucklos, gebeugt und voll Sehnsucht nach Heimat und Jugendglück.
5. Gedanken gang: JnA: I. Standort der Tanne (Str. 1).
II. Verkehr mit den Wolken (Str. 2—3). III. Leben zwischen den Wur-
zeln (Str. 4—6). IV. Beziehung zum Berggeiste (Str. 7—9). V. Teil-
nahme am Leben der Tiere (Str. 10—12). VI. Äußerungen des Glücks
(Str. 13—14). — In B: I. Standort der Tanne (Str. 1). II. Verkehr
mit den Wellen (Str. 2). III. Äußeres und inneres Leben (Str. 3).
IV. Rückblick in die Jugend (Str. 4). V. Wechselnde Erlebnisse (Str. 5
bis 6). VI. Sehnsucht nach dein Glück de.r Heimat (Str. 7—8).
512
III. Lyrische Gedichte.
6. Grundgedanke. In A: Glücklich, wer treu und fest auf dem
Boden der Heimat stehen und wirken darf! In B: In der Fremde blüht
kein Glück; immer kehrt die Sehnsucht zur Heimat zurück.
V. Rede- und Stilübungen. 1. Zeichne nach dem ersten Gedichte ein
Situationsgemälde: Die Tanne auf der Bergeshöhe! 2. Desgleichen nach
den: zweiten Gedichte: Die Tanne als Mast'auf dem Schiffe! 3. Lebens-
geschichte einer Tanne (Erzählung). 4. Wo kommt die Tanne in Sagen,
Gedichten, Sprüchen, Lesestücken vor? ?.
196. Acht Nätscl von Schiller.
Gedichte. Stuttgart 1867. S. 241 u. ff.
Das Rätsel im allgemeinen.
Unter dem Rätsel verstehen wir eine sprachliche Ausdrucksweise, die
das, was sie eigentlich sagen will, absichtlich verhüllt. Zu diesem Zwecke
nennt gewöhnlich das Rätsel die versteckten Merkmale eines Gegen-
standes, oder es stellt überraschende Vergleiche mit einem andern Gegen-
stände an, um daraus das nicht genannte Wort erraten zu lassen. Viele
Rätsel haben nur eine poetische Form, während ihnen der Ausdruck
des Schönen fehlt. Unserm Schiller und einigen andern Dichtern ist es
jedoch gelungen, durch sinnige Behandlung des Stoffes und durch Schön-
heit in der Darstellung dem Rätsel ein wahrhaft poetisches Interesse zu
geben.
„Die Veranlassung zur Rätseldichtung fand Schiller in seiner Be-
arbeitung von Gozzis Turandot. In diesem tragi-komischen Märchen
hängt das Schicksal des Helden von der Lösung dreier Rätsel ab. Um
nun bei der Wiederaufführung des Stückes das Interesse der Zuschauer
für dieselben neu zu beleben, ersetzte der Dichter sie jedesmal durch neue."
(Viehoff.)
Über den Gebrauch des Rätsels in der Volksschule äußert sich
Kahle in „Claudius und Hebel" (Berlin 1864) auf S. 202 folgender-,
maßen: „Der Gebrauch des Rätsels in der Volksschule muß stets ein
sehr beschränkter sein. Die Schüler sind um den Lehrer versammelt nicht
zum Spiel, sondern zu ernster Tätigkeit, nicht zu einseitiger Erweckung
der Verstandeskräfte oder gar bloß des Witzes, sondern zur Herausbil-
dung des Menschen Gottes aus dem natürlichen Menschen. Der verwerf-
lichen Sitte, in den letzten Stunden oder Tagen vor dem Schulschluß
die Schulordnung aufzuheben, hat neben dem Erzählen oder Vorlesen auch
das Ausgeben von Rätseln dienen müssen. Davor hüte sich der Lehrer!
Eine Schulordnung muß eine heiligeOrdnung sein. Dagegen hat
das Rätsel, auch schon auf den unteren Stufen, überall da seine Stätte,
wo, was früher Denk- und Verstandesübungen genannt wurde, hervor-
zutreten eine Berechtigung hat. Allgemeine Regeln über Auflösung und
Besprechung lassen sich bei der Verschiedenheit der Rätsel nicht geben..
Die Anfertigung von Rätseln durch die Schüler hat manches An-
regende, doch hat die Volksschule dazu im allgemeinen keinen Raum."
Acht Rätsel von Schiller.
513
I.
1. Wie heißt das Ding, das wen'ge schätzen?
» Doch ziert's des größten Kaisers Hand. Usw.
(Das Rätsel ist jedem zur Hand.)
Vermittlung des Verständnisses und Auflösung. Die Lösung dieses
Rätsels finden die Kinder gewöhnlich schon nach dem aufmerksamen Durch-
lesen, wenn man ihnen nur wenige Winke dabei gibt. Besonders sind es
folgende Sätze, die die Lösung bald herbeiführen:
„Es ist gemacht, um zu verletzen;
am nächsten ist's dem Schwert verwandt.
Kein Blut vergießt's und macht doch tausend Wunden."
Da weder das Schwert gemeint ist, noch irgendeine andere Waffe,
so ergibt sich sehr bald der Pflug als Lösung.
Die Hauptsache bei der Besprechung wird die sein, den Kindern klar
zu machen, daß jeder Satz eben nur den Pflug meinen kann.
Der Pflug wird von wenigen geschätzt. Alle diejenigen, die seinen
Zweck nicht kennen, und die, welche das gewöhnliche Ackergerät als etwas
Unbedeutendes und Unscheinbares ansehen, das nur aus ein paar Holz-
und Eisenstücken roh zusammengefügt ist, kennen seinen Wert nicht.
„Doch ziert's des größten Kaisers Hand."
Am ersten Tage des Jahres, wenn die Sonne in das Zeichen des
Wassermannes tritt, feiern die Chinesen ein Fest zu Ehren des Acker-
baues, und der Kaiser dieses größten und bevölkertsten Reiches nimmt
den Pflug selbst zur Hand, um einige Furchen zu ziehen. Dasselbe tun
auch die Prinzen des kaiserlichen Hauses und die Minister.
„Es ist gemacht, um zu verletzen,
am nächsten ist's dem Schwert verwandt."
Der Pflug reißt den Erdboden auf und durchwühlt ihn, also ist er
offenbar gemacht, um zu verletzen, und die scharfe Pflugschar hat nicht
geringe Ähnlichkeit mit dem Schwerte.
„Kein Blut vergießt's und macht doch tausend Wunden;
niemand beraubt's und macht doch reich."
Die Wunden der vom Pfluge aufgerissenen Erde bluten nicht, und
der fleißige Landmann, der seine Felder mit dem Pfluge bearbeitet, wird
reich, ohne irgend jemand seines Eigentums zu berauben.
„Es hat den Erdkreis überwunden;
es macht das Leben sanft und gleich."
Der Ackerbau, der ohne den Pflug nicht zu denken ist, gewöhnte die
Menschen an feste Wohnsitze, an eine segensreiche Ordnung und an sanfte
Sitten. Der Fleiß ist des Landmannes größte Zierde, und dieser Fleiß
hat sich allen Ständen der menschlichen Gesellschaft mitgeteilt.
Überall da, wo der Ackerbau blühet, findet man gebildete Völker auf
den: ganzen Erdkreise.
„Die größten Reiche hat's gegründet,
die ält'steu Städte hat's erbaut."
AdL. II. 8. Aufl.
33
514
III. Lyrische Gedichte.
Eben weil der Ackerbau die Menschen zwang, sich feste Wohnsitze
einzurichten, so gründete man Dörfer und Städte, und aus diesen ent-
standen Reiche.
„Doch niemals hat's den Krieg entzündet."
Der Pflug ist, wie schon im Anfange gesagt wurde, nicht da, um zu
verletzen und Krieg zu führen, sondern er ist ein Werkzeug, das nur
im Frieden seine Dienste leistet.
Der Pflug fördert das Menschenwohl, wie der Krieg dasselbe unter-
gräbt. Darum ruft der Dichter am Ende mit Recht aus:
„Heil dem Volt, das ihm vertraut!"
Schließlich wollen wir noch die poetische Lösung geben, wie sie in
dem genannten Schauspiele „Turandot" lautet:
Das Ding von Eisen, das nur wen'ge
schätzen,
das Chinas Kaiser selbst in seiner Hand
zu Ehren bringt am ersten Tag des
Jahres,
dies Werkzeug, das, unschuld'ger als
das Schwert,
dem frommen Fleiß den Erdkreis un-
terworfen —
wer träte aus den öden, wüsten Steppen
der Tartarei, wo nur der Jäger
schwärmt,
der Hirte weidet, in dies blüh'nde
Land
und sähe rings die Saatgefilde grünen
und hundert volkbelebteStädte steigen,
von friedlichen Gesetzen still beglückt,
und ehrte nicht das köstliche Geräte,
das allen diesen Segen schuf — den
Pflug!
II.
1. Unter allen Schlangen ist eine mit der an Schnelle keine,
auf Erden nicht gezeugt, an Wut sich keine vergleicht. Usw.
Vermittlung und Auflösung. Der Blitzstrahl ist die Schlange.
Die ersten Anhaltepunkte bei der Lösung geben schon die ersten vier
Zeilen. —
Da wir den Blitz aus den Wolken auf die Erde herabfallen sehen,
so meint der Dichter, er sei nicht auf der Erde gezeugt. Nach dem Augen-
scheine hat also der Dichter vollständig recht. Allein die Wissenschaft lehrt,
daß der Blitz nicht allein durch die Elektrizität in den Wolken, sondern
anch durch die in der Erde erzeugt wird. Denn gerade dann, wenn die
positive Elektrizität der Erde sich mit der negativen der Wolke verbindet,
entsteht der Blitz, welcher die Gegenstände auf der Erde vernichtet. Die
Zickzack-Erscheinung des Blitzes läßt sich passend mit der Bewegung einer
Schlange vergleichen. Bei „Schnelle" und „Wut" ist nur an die Schnellig-
keit des elektrischen Funkens (ca. 60000 Meilen in der Sekunde) und
an seine Kraft zu erinnern. Die Stimme ist der Donner, welcher stets den
Blitz begleitet. Die Angaben über die vernichtenden Wirkungen des Blitz-
strahls sind deutlich. Schloß und Riegel, die meist von Metall sind, können
als gute Leiter nicht schützen, sondern sie ziehen vielmehr, wie der Harnisch,
die Elektrizität an. Wenn der Blitz drohet, dann ist er auch bereits da.
Ein und derselbe Blitz entsteht nur einmal, und hat es „eingeschlagen",
so ist er selbst erloschen.
Acht Rätsel von Schiller.
515
Die im Schauspiel gegebene poetische Lösung lautet:
- „Diese Schlange, der an Schnelle keine gleicht,
die aus der Höhe schießt, die stärksten Eichen
wie dünnes Rohr zerbricht, durch Schloß und Riegel dringt,
vor der kein Harnisch kann beschützen,
die sich im eignen Feuer selbst verzehrt,
es ist der Blitz, — der ans der Wolke fährt."
III.
1. Zwei Eimer sieht man auf und ab
in einem Brunnen steigen. Usw.
Vermittlung des Verständnisses und Auflösung. Dieses Rätsel ist
eines der schwersten, weil das Bild zu allgemein gehalten ist. — Götzinger
sagt: „Das Rätsel läßt sich vielfach deuten, z. B. als „Vergangenheit
nnd Gegenwart", „Jugend und Alter." Wahrscheinlich ist es „Tag und
Nacht". Hierzu sagt Viehoff: „Als Jugend und Alter läßt sich das Rätsel
nicht füglich deuten, noch weniger als Vergangenheit und Gegenwart;
letztere sind nicht „abwechselnd voll und leer". Tag nnd Nacht ist
wohl das, was der Dichter im Sinne hat."
Tag nnd Nacht sind zwei Eimern gleich, die aus- und absteigen.
Nie sind sie zu gleicher Zeit an einem Orte. Der Tag vertreibt die
Nacht und umgekehrt. „Sie wandern rastlos hin und her," d. h. wenn
der eine kommt, so muß der andere weichen, und wenn der eine weicht,
so muß der andere kommen. Die eigentümlichen Gaben, welche jeder
bringt, können uns also auch nur zu der Zeit gespendet werden, wenn
der eine oder der andere die Herrschaft bei uns hat. — Eine Deutung
des Rätsels hat der Dichter selbst nicht gegeben.
IV.
1. Von Perlen baut sich eine Brücke
hoch über einen grauen See. Usw.
Vermittlung des Verständnisses. Das vorliegende Rätsel wird nur
mit Schülern behandelt, die bereits die Lehre vom Prisma und von
der Strahlenbrechung im naturkundlichen Unterrichte kennen gelernt
haben. Wird die Behandlung sofort an eine solche naturkundliche Unter-
richtsstunde angeknüpft, so werden die Kinder die Lösung ohne jegliche
Hilfe des Lehrers finden. — Es bedarf nur noch etwa folgender
Fingerzeige:
Wovon werden gewöhnlich die Brücken gebaut? (Stein, Holz, Eisen.)
Kann eine hohe, große Brücke von wirklichen Perlen, die sehr selten
vorkommen, gebaut werden? Warum nicht? Wozu werden die wirklichen
Brücken gebaut? (Lasten zu tragen!) Die Brücke im Rätsel kann auch
dies nicht! Was ist das einzige Merkmal, welches die Brücke im Rätsel
mit wirklichen Brücken geineinschaftlich hat? Der Bogen. Suchen wir
nach einem Bogen, der rasch entsteht, in schwindelnde Höhe steigt
und bald wieder verschwindet, so finden wir ihn am Himmel als
Regenbogen, der sich wie ein Brückenbogen in weitem Halbkreise aus-
33"
516
III. Lyrische Gedichte.
breitet. — Von „P erlen" baut sich die Brücke? Inwiefern sind die
Regentropfen mit den Perlen zu vergleichen? (Brechung der Sonnen-
strahlen. Beispiel: Die Beobachtung der Regenbogenfarben in den Tropfen
einer Gartenfontäne.) — Der „graue See" ist die große Menge der
Regentropfen, die keinen Reflex in unser Auge senden. „Und schwindelnd
steigt sie in die Höh'." Worauf bezieht sich das „schwindelnd"? „Und
scheint, wie du ihr nahst, zu flieh'n."" (An der Gartenfontäne bei Morgen-
oder Abendbeleuchtung leicht zu erklären.) — „Sie wird erst mit dem
Strom und schwindet, sowie des Wassers Flut versiegt." Die Vergleichung
des Regenstrvmes mit dem Wasserstrvm ist wiederum einfach; denn nur
mit dem Kommen und Gehen der Regenwolken erscheint der Regenbogen.
— „Und wer sie künstlich hat gefügt?" Diese Frage ist ebenfalls leicht zu
beantworten. — Haben wir nun die Lösung an jedem einzelnen Satze
nachgewiesen, so wird die poetische Lösung, wie sie Schiller selbst gibt,
leicht verständlich sein:
„Diese Brücke, die von Perlen sich erbaut,
sich glänzend erhebt und in die Lüfte gründet,
die mit dem Strom erst wird und mit dem Strome schwindet,
und über die kein Wandrer noch gezogen,
am Himmel siehst du sie, sie heißt — der Regenbogen."
y.
1. Es führt dich meilenweit von dannen
und bleibt doch stets an seinem Ort. Usw.
Vermittlung des Verständnisses und Lösung. Dieses Rätsel, zu wel-
chem Schiller selbst eine Lösung nicht gegeben hat, ist etwas dunkel,
und daher ist es wohl gekommen, daß man als Auflösung das Fern-
rohr und auch das Auge hat gelten lassen wollen. Viehoff und
Götzinger geben der zweiten Lösung (das Auge) den Vorzug. Letzterer
bemerkt dazu: „Hier wollte j)er Dichter vielleicht die Zuschauer bei Auf-
führung der Turarrdot absichtlich necken. Das eigentlich in das Stück ge-
hörige Rätsel (Kennst du das Bild auf zartem Grunde? sSiehe Nr. VII
unten!)) ist ebenfalls das Auge. Es mußte die Zuschauer überraschen,
wenn Turandot ein ganz anderes Rätsel aufgab und die Auslösung doch
die ihnen schon bekannte war." Die Lösung „Auge" wird leicht, >venn
man auf folgende Weise verfährt: Wir stehen auf einem hohen Berge
und schauen ins Land hinein: was erblicken wir da in meilenweiter
Ferne? (Städte, Dörfer, Schlösser usw.) Womit erblicken wir diese
Gegenstände? (Mit dem Auge.) Wo bleibt aber das Auge? Es
„bleibt doch stets an seinem Ort". —
„Und trägt dich durch die Lüfte fort".
Wie ist das zu verstehen? Inwiefern ist das Auge eine „Fähre?"
„Und durch das größte aller Meere
trägt es dich mit Gedankenflug."
Nicht die Ozeane der Erde sind hier gemeint, sondern das Äthermeer,
in welchem wir die Sterne erblicken. „Ihm ist ein Augenblick genug"
Acht Rätsel von Schiller. 517
deutet auf die Schnelligkeit des Blickes. — (Auch die „Phantasie" und
der „Gedanke" sind wohl als Lösung dieses Rätsels angegeben, allein der
Deutung „Phantasie" steht der zweite und der Deutung „Gedanke" der
vorletzte Vers entgegen.)
1. Auf einer großen Weide gehen
viel tausend Schafe silberweiß. Usw.
Vermittlung des Verständnisses und Lösung. Die Lösung dieses
schön ausgeführten Rätsels ist sehr leicht. Der Schwerpunkt der Erläute-
rung liegt in der Deutung des Bildes. Den Mond und die Sterne
führt uns der Dichter unter dem Bilde eines Hirten mit seinen Schafen
vor. Was ist die große Weide? Warum silberweiße Schafe? Welches
ist der unerschöpfte Born? Waruni „schöngebogenes Silberhorn"? Wel-
ches sind die „goldenen Tore"? (Der Himmel im Abendrot.) Warum
zählt er sie „jede Nacht"? Was sind die Lämmer? Wer ist der Hund und
Widder? (Die also genannten Sternbilder.) —
TU.
1. Kennst du das Bild auf zartem Grunde?
Es gibt sich selber Licht und Glanz. Usw.
I. Vermittlung des Verständnisses und Lösung. Wie in Nr. V (s.
oben) ist auch hier das Auge gemeint. Die einzelnen Vergleiche lassen
sich leicht anstellen, wenn man die von Schiller gegebene Lösung benutzt.
Diese lautet:
1. Das zarte Bild, das, in den kleinsten Rahmen
gefaßt, das Unermeßliche uns zeigt,
und der Kristall, in dem dies Bild sich malt,
und der noch Schönres von sich strahlt,
2. es ist das Aug', in das die Welt sich drückt,
dein Auge ist's, wenn es mir Liebe blickt.
„Vers 2," sagt Viehoff, „erklärt sich aus Goethes Farbentheorie,
welche dem Auge eine sonnenhafte Natur, subjektives Licht zuschreibt":
„Wär nicht das Auge sonnenhaft,
wie könnten wir das Licht erblicken?"
Der Zusammenhang der beiden letzten Verse im Rätsel mit dem
letzten Verse in der Lösung ist schön und der Beachtung wert.
II. Verwertung. Wodurch unterscheiden sich die beiden Rätsel (Nr. V
und VII), welche vom „Ange" handeln? (V schildert die Schnellig--
feit, mit welcher das Auge auch die entferntesten Gegenstände erblickt,
obgleich es „stets an seinem Ort" bleibt. VII schildert das Auge, wie
es trotz seiner Kleinheit die größten Gegenstände (Weltall, Himmels
widerspiegelt usw.)
YIIT.
Ein Bogel ist es, und an Schnelle
buhlt es mit eines Adlers Flug. Usw.
Vermittlung und Lösung. Der Gegenstand, der so schnell fliegt
wie ein Vogel und so gut schwimmt wie ein Fisch, der schwere Lasten
518
III. Lyrische Gedichte.
lute ein Elefant trägt, ist leicht zu erkennen als ein Schiff. Inwiefern
und wodurch gleicht das Schiff einem schnell fliegenden Vogel („buhlen"
heißt hier so viel als „wetteifern") und einem Fische? Was trägt das
Schiff auf seinem Rücken? (Masten und Güter aller Art.) Was sind die
Füße? (Ruder.) Was ist der spitzige Eisenzahn? (Der Anker.)
Auflösung des Rätsels. (Der Vogel, welcher in der Schnelligkeit
des Fluges dem Adler gleicht, der Fisch, welcher größer ist als das
größte Meer-Ungeheuer, der Elefant, der große Lasten und Masten trägt
usw., ist das Schiff auf dem Meere.) W. D.
2. LrebesKlänge.
197a. A. Wenn du noch eine Mutter hast.
Wilhelm Kaulisch.
1. Wenn du noch eine Mutter hast, Nicht allen auf dein Erdenrund
so danke Gott und sei zufrieden! ist dieses hohe Glück beschiedeu. Usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
I. Einführung. Der 1881 verstorbene Lehrer W. Kau lisch zu Neu-
stadt in Sachsen veröffentlichte 1866 im Leipziger Tageblatte ein tief
empfundenes Lied, das in ergreifenden Worten die Mnttersorge und Mut-
terliebe pries. Durch die schöne, rasch beliebt gewordene Melodie des
Komponisten Neu mann in Leipzig wurde das Gedicht weithin bekannt
und in viele Schullefebücher ausgenommen. Lange schrieb man es fälschlich
dem Dichter Alb. Träger zu.
Hört nun dieses Loblied der Mnttertreue!
II. Zur Erläuterung. Es ist ein hohes Glück, seine Mutter noch
zu besitzen. Durch liebevolle Pflege derselben soll man Gott dafür
den Dank bezahlen. Das ist die Krönung ihres Lebens, wenn sie lebens-
müde bei ihren Kindern sterben kann.
Wie lebte sie für dich? In Schmerzen hat sie dich geboren, vom
ersten Tage deines Lebens um dich gebangt und für dich gesorgt, abends
dich zur Ruhe gebracht, morgens dich mit einem Kuß geweckt, in Krank-
heit dich gepflegt, mit Wachen und mit Beten um dein Leben gerungen
und zuversichtlich ans deine Rettung gehofft. Doch nicht nur für dein
leibliches Wohl hat sie gesorgt, nein, ebenso treu für dein geistiges
Leben. Sie lehrte dir das Reden, die Muttersprache, faltete dir
die Hände zum Beten, erzählte dir biblische Geschichten und sagte dir
fromme Sprüche; durch Wort und Beispiel lenkte sie deinen kindlichen
Sinn ans das Gute und wachte darüber, daß dich böse Buben nicht zur
Sünde verführten. So hat sie dich aus Gottes Wegen, aus dem Pfade
der Tugend, und damit des Glückes erhalten.
Die rechte Kindesliebe und der rechte Kindesdank reicht über Tod
und Grab hinaus. Das Muttergrab ist jedem Kinde eine geheiligte
Stelle. Mit Blumen wird seine Liebe das Grab schmücken, mit Wehmut
und Dank der mütterlichen Wohltaten gedenken und in Treue ihrem Vor-
Kaulisch: Wenn du noch eine Mutter hast. 519
bilde auf dem Lebenswege folgen. In den Stürmen des Lebens, wenn
Haß und Neid, Unglück und Leid uns wie Meereswogen umtoben,
werden wir am Grabe der Mutter Ruhe und Frieden suchen und finden.
III. Gliederung. A. Str. 1. Ermahnung an uns, der Mutter
die Liebe zu vergelten. — B. Str. 2—3. Begründung dieser Mah-
nung: Die Mutter sorgte a) für unser leibliches (Str. 2), b) für unser
geistiges Wohl (Str. 3). — 0. Str. 4. Auch nach dem Tode der Mutter
sollen wir ihr unsere Liebe noch beweisen, indem wir a) ihr Grab
schmücken, b) es häufig besuchen.
IV. Verwertung. 1. Mahnungen für Herz und Leben. Was
besagt das: „Die Mutter pflegte dein in Krankheit"? Welche
Mühe, Sorge, Angst ist in diesen sechs Worten ausgedrückt! Tag und
Nacht, ohne eine Minute Ruhe, saß sie an deinem Bette- jede leise Be-
wegung, jeden Atemzug beobachtete sie, um zu erforschen, ob die Krank-
heit des Lieblings sich nicht wolle zum Besseren wenden. Alle ihre Sorge
vereinigte sich in dem einzigen Wunsche, das kranke Kind bald wieder
gesund zu sehen. Laß dir von deinen: Vater oder den älteren Geschwistern
nur erzählen, was die treue, gute Mutter erduldete, als du auf dem
Krankenbette lagst! Der Schlaf kam tagelang nicht in ihr Auge; Speise
und Trank rührte sie nicht an, — nur um das Bett des kranken Kindes
nicht verlassen zu müssen. Das heißt: „sie pflegte dein." Solcher Auf-
opferung. solcher Selbstverleugnung ist nur ein Mutterherz fähig.
„Und gaben alle dich schon auf,
die Mutter gab dich nicht verloren."
Ihre aufopfernde, rastlose Tätigkeit an deinen: Krankenbette gab ihr
den Mut zu hoffen, daß Gott dich ihr noch am Leben erhalten werde.
Und wenn selbst der verständige Arzt das Haupt schüttelte, zum Zeichen,
daß keine Hoffnung mehr da sei, den Tod fern zu halten, so hoffte noch
das liebeglühende Mutterherz, — und es wurde nicht betrogen, Gott
schenkte dich ihr wieder, und sie drückte dich in unsäglicher Freude an ihren
Busen, ihm, dem Vater aller Menschenkinder, dankend und ihn preisend.
„Wie lenkte die Mu'tter deinen Kindersinn?" Warst du
eigensinnig, warst du unartig, oder sprachst du eine Unwahrheit, da war
es wiederum die Mutter, die dich aufmerksam machte auf deine Fehler;
sie überzeugte dich durch Beispiel und Lehre, wie dein Eigensinn, deine
Unart, dein Hang zur Lüge dich ins Verderben führen würden, und
führte dir Besseres vor. Mancher Sohn und nmnche Tochter danken es
ihrer Mutter noch im späten Alter, daß dieselbe sie sowohl mit Milde wie
auch mit Strenge auf den Weg des Rechten geführt hat.
„Sie wachte über deine Jugend."
Nicht nur in leiblicher, sondern insbesondere auch in geistiger Hin-
sicht wachte sie über dich, daß du nicht durch böse Buben zum Bösen
verlockt würdest. Sie bat dich, solchen Umgang zu meiden, auf die Ver-
führer nicht zu hören und ihnen nicht zu folgen. Bist du in deiner
Jugend durch die Mutter so bewacht worden, und hast du ihren War-
520
III. Lyrische Gedichte.
nungen und Mahnungen ein williges Ohr geliehen, dann wirst du auch
ein guter Mensch werden, dann wirst du später den „Pfad der Tugend"
wandeln. Ist das aber der Fall, so hast du es einzig und allein deiner
treusorgenden Mutter zu danken.
„Wie gibt das Muttergrab einen Halt, wenn uns um-
tost des Lebens Welle?" Es kommt die Zeit, wo es dem Menschen
trüb' ergeht, wo ihm das Leben so schwer zu werden scheint, daß er gleich-
sam in dem Strome der Zeit unterzugehen fürchtet, wo alles sich gegen
ihn verschworen zu haben scheint. Kein Freund und kein liebendes Wesen
ist um ihn. Kalt tritt ihm die Welt entgegen, nur von Haß und Neid
erfüllt! Das sind des Lebens Wellen, die dich umtosen. Ist es so weit
gekommen, so wende dich zum Muttergrabc; da werden lieblichere Bilder
vor deine Seele treten, und du wirst mit leichterem Herzen und getröstet
von dannen gehen und erkennen, welch hohes Glück es ist, der Sohn
oder die Tochter einer guten Mutter gewesen zu sein.
2. V e r g l e i ch u n g des Gedichts mit dem unten stehenden von Rode.
(Beide Gedichte mahnen, die Mutter lieb zu haben. Sie geben für diese
heilige Pflicht gleichartige und verschiedene Gründe an.)
H O, hast du noch ein Müttercken-
Chr. Rode. Vgl. Colshorn, Des Mägdleins Tkchtcrwald. Hannover 1875. S. 198.
1. O, hast du nach ein Mütterchen,
so hab es lieb und halt es wert!
Und wenn dir hat der liebe Gott
ein schönes Erdenglück beschert:
sag's ihr, und du bist doppelt froh,
kein Herz teilt deine Freude so.
2. O, hast du nach ein Mütterchen,
so hab es lieb und halt es wert!
Und wenn die Liebe dich betrog,
wenn wilder Schmerz dein Leben
zehrt,
glaubst du, daß nirgends Treue sei,
das Mutterherz bleibt ewig treu!
3. O, hast du noch ein Mütterchen,
so halt es wert und hab es lieb!
Und wenn des Schicksals rauhe Hand
dich weit durch alle Lande trieb,
und fandest du nicht Rast und Ruh,
ans Mutterherz nur flüchte du!
4. O, hast du noch ein Mütterchen,
so hab es lieb und halt es wert!
Vergaßest du auch dein Gebet,
das sie dereinst dich hat gelehrt?
Dein Mütterchen ist doch so fromm,
drum bet' auch du — o komnl, o
komm!
5. O, hast du noch ein Mütterchen,
so hab es lieb und halt es wert!
Und wenn es schon gestorben ist
und ruhet still in kühler Erd' —
geh an ihr Grab und tröste dich
und denk: Sie lebt und siehet mich.
W. D.
197b. Der Mutter Heimgang.
Von Frieda Jung.
1. Ein seliger Sterben, mein Mütter-
lein,
als deins hab ich nie gesehn!
Es war, als ob Kinder im Äbendschein
vertrauend zum Vater gehn;
2. Als ob ein Vogel in stillem Flug
sich aufwärts zum Lichte schwingt;
eine Saite flüstert: Es ist genug!
und weich im Akkorde verklingt.
3 An der Wiege saßest du still und stumm,
darin deine Enkelin schlief,
und lasest das Evangelium,
wie der Herr seine Jünger berief.
4. Da nahte ein Engel mit leisem
Schritt:
„Wie die Jünger, so folge auch du!"
Ein Lächeln über dein Antlitz glitt —
und die Augen sielen dir zu.
Halm: Das taube Mütterlein.
521
0. Wir legten dich nieder und weinten
sehr,
wir küßten dir schluchzend die Hand
und fühlten, daß neben uns still
und hehr
der Engel des Todes stand. —
6. Dann haben wir knieend an deinem
Grab
den Tränen des Schmerzes ge-
wehrt:
die Mutter, die uns das Leben gab,
die hat uns auch sterben gelehrt.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der Tod ist nicht immer
ein König des Schreckens. Den Frommen ist er ein Bote des Friedens,
der die Seele heimführt in das himmlische Vaterhaus. Wie eine fromme
Mutter stirbt und ihren Kindern das rechte Sterben lehrt, das zeigt in
rührender Weise das Gedicht von Frieda Jung „Der Mutter Heim-
gang". (Vortrag.)
II. Lagebild: Wir treten in ein bescheidenes Stüblein. Neben einer
Wiege steht ein, Lehnstuhl. In der Wiege liegt ein schlafend Kindlein.
In dem Stuhle sitzt die Großmutter. Auf ihrem Schoße halten die
blassen Hände ein Evangelienbuch, in dem sie gelesen hat. Das Haupt
hat sie geneigt und die Augen geschlossen. Der Schein der untergehenden
Sonne fällt auf ihr Antlitz und verklärt es wie durch ein Lächeln. Von
dem Baume vor dem Fenster erhebt sich ein Vogel und schwingt sich in
die Lüste. Eine Saite der Harfe an der Wand scheint leise zu ver-
klingen. Tiefe Stille im Stüblein. Schläft die Großmutter wie das
Enkelkind? Ach ja, aber einen andern Schlaf, von dem es hienieden kein
Erwachen gibt. Sie ist heimgegangen zu ihrem himmlischen Vater
in die ewige Heimat. Neben der toten Mutter knien ihre Töchter, schluchzen
leise und küssen die treuen Mutterhände. Wie sie von der Mutter ein
tätiges Leben, so haben sie jetzt von ihr ein seliges Sterben gelernt.
III. Besondere Schönheiten der Dichtung. Der Tod hat in diesem
Sterbestüblein alle Schrecken verloren. Er ist ein Bote des Friedens,
der eine erlöste Seele in die rechte Heimat führt. Das Sterben gleicht
der verglühenden Abendsonne und dem verhallenden Saitenklange, die
befreite Seele aber dem zum Lichte ausschwebenden Vogel. Als Geleit
nahm sie nur das Gotteswort, wie der Herr seine Jünger, nun auch sie
berief. Was sie gelesen, wurde an ihr zur Wahrheit. Rührend ist der
Gegensatz zwischen dem schlafenden Enkelkinde in der Wiege, der toten
Großmutter im Lehnstuhle und den leise schluchzenden Töchtern an der
Leiche. Von besonderer Schönheit ist der Schluß, wie die am Grabe der
Mutter knieenden Töchter den Tränen des Schmerzes wehren aus heißer
Dankbarkeit, denn die Mutter, die ihnen das Leben gab, hat ihnen eben
die höchste Kunst gelehrt, die Kunst selig zu sterben. ?.
198». Das taube Mlütterlein.
Friedr. Halm. Gedichte. Wien 1857. S. 8.
1. Wer öffnet leise Schloß und Tür?
Wer schleicht ins Haus herein? —
Es ist der Sohn, der wiederkehrt
zum tauben Mütterlein.
2. Er tritt herein! Sie hört ihn nicht,
sie saß am Herd und spann.
Da tritt er grüßend vor sie hin
und spricht sie „Mutter" an.
522
III. Lyrische Gedichte.
3. Und wie er spricht, so blickt sie auf
und — wundervoll Geschick —
sie ist nicht taub dem milden Wort,
sie hört ihn mit dem Blick.
4. Sie tut die Arme weit ihm auf,
und er drückt sich hinein;
da hörte seines Herzens Schlag
das taube Mütterlein.
5. Und wie sie nun beim Sohne sitzt,
so selig, so verklärt —
ich wette, daß taub Mütterlein
die Englein singen hört.
1. Vertiefung. 1. Lagebild. Das kleine Gedicht führt uns in
eine niedrige Hütte. Die Stube ist zugleich Küche, der Herd zugleich Ofen.
Daneben sitzt eine Greisin in dürftigen Kleidern und spinnt unermüdlich.
Sie blickt nicht von dem Faden ans, als jemand leise auf die Klinke drückt
und die Tür öffnet; denn sie ist taub. Ein sauberer Handwerksbnrsche
mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem Stab in der Hand tritt mit
gespannten Blicker: ein, nähert sich mit leisen Schritten der Spinnerin
und spricht sanft: ,,Grüß Gott, liebe Mutter!" Sie hat es nicht gehört,
und doch blickt sie auf. Hat sie den Hauch gespürt, den Schatten gesehen
oder ein heimlich Gefühl von der Nähe eines Glückes gehabt? Mit ihrem
Blicke versteht sie im Nu den Liebesgruß, erkennt den Sohn, breitet
die Arme aus, drückt ihn ans Herz und fühlt den Schlag seines Herzens
mit dem ihren. Und wie sie dann mit verklärtem Antlitz und glück-
seligem Herzen neben ihm sitzt, da hört sie zwar seine Worte mit dem
Ohre nicht, aber sie liest sie mit den Angen, versteht sie mit dem Geiste,
fühlt sie mit dem Herzen und hört den Lobgesang der Engel in ihrem
Gemüte. Ihr ist's, als habe der Heiland auch zu ihr sein Hephata, d. i.
Tue dich auf! gesprochen.
2. Gedankengang. Str. 1. Der Sohn kehrt heim und will die
Mutter überraschen. Str. 2. Das taube Mütterlein spinnt und hört seinen
Gruß mit dem Ohre nicht; Str. 3. aber sie hört ihn mit dem Auge, Str. 4.
fühlt ihn mit dem Herzen, Str. 5. und hört in ihren: Glück Engelsgesang
vom Himmel.
Grundgedanke. Das taube M ü t t e r l e i n hört des Sohnes
Gruß, den Mntternainen, sein mildes Wort, seines Herzens Schlag und
Engelsgesang nur mit dem Blick und dem Herzen. — Was das Ohr
nicht hört, das sieht das Auge der Liebe und empfindet das Herz einer
Mutter.
3. Schönheiten. Der Sohn will die Mutter überraschen und tut
darum so leise; er hätte die Vorsicht nicht nötig, da sie taub ist. Die
Sprache der Liebe hört sie mit dem Blick und fühlt sie mit den: Herzen.
So komnit das Herz den stumpfen Sinnen zu Hilfe. Und Seele findet
zu Seele schon den Weg, wenn auch die Pforten der Sinne geschlossen
sind. Die Liebe hat das feinste Gehör und redet die vernehmlichste
Sprache. Sie öffnet weit die Arme, — er drückt sich hinein! O selige
Vereinigung von Mutter- und Sohnesliebe!
II. Verwertung. 1. Verwandtes. ,,Wenn du noch eine Mutter
hast —" (Nr. 197 a). „Beim Totengräber klopft es an —" (Nr. 114).
„Ein Wanderbursch mit den: Stab —" (Nr. 113). Jesus heilt Taub-
stun: me. — Die Engel sangen in der Weihnacht den himmlischen Lobgesang.
Trojan: Hauszauber.
523
2. Aufgaben, a) Welche verschiedene Sprache redet das Herz? (Der
Mund — Liebesworte; das Auge — liebvolle Blicke; das Gesicht —>
freundliche Mienen; die Hand — Liebkosungen, Blumen, Briese usw.; der
Fuß — allerlei Dienste und Wege; die Brust — lautes, freudiges Klopfen.)
— b) Suche Sprüche, Lieder und Geschichten, welche die Mutterliebe ver-
herrlichen! — e) Was hat wohl der Sohn vor seiner Heimkehr für Schick-
sale gehabt? (Der Vater starb und ließ Mutter und Sohn in Not. Ein
entfernter Verwandter nahm den Sohn in die Lehre. Später wanderte
er als Handwerksbursche weit in die Welt. Er hielt sich brav, war fleißig
und sparsam. Er wollte nicht mit leerer Hand zur Mutter heimkehren.
Gott segnete sein Streben. Die Sehnsucht zog ihn wieder zur Mutter.
Nach langer Wanderung kehrte er heim und fand sie noch lebend, aber
taub. Ihren Lebensabend wird seine Liebe freundlich gestalten.) P.
198b. Hauszauber.
Von Joh. Trojan. (Aus: Für gewöhnliche Leute.)
1. Es ist, als müßt' ein Zauber
dabei im Spiele sein,
daß alles ist so sauber
im Hause und so rein:
die Dielen und die Wände,
das Holzgerät und Glas —
und sind doch nur zwei Hände,
nur die bewirken das.
2. Betritt man nur die Schwelle,
so fühlt man schon sich froh;
es waltet eine Helle
im Haus, die schmückt es so.
Viel Pracht uicht würde taugen
dazu und Reichtum nicht —
es ist nur ein Paar Augen,
das spendet so viel Licht.
3. So ruhig ist es drinnen,
man hört kein hartes Wort:
wer Hader denkt zu spinnen,
bleibt von der Türe fort;
es ist so eine Stille
im Hause allerwärts —
und diese ganze Fülle
von Frieden schafft ein Herz.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Was versteht man unter
Zauber? Eine heimlich wirkende, übernatürliche, unwiderstehliche Ge-
walt! In unsern Märchen ist sie immer wirksam und schafft wunder-
bare Welten. Aber auch in Wirklichkeit gibt es eine solche geheimnis-
volle Zaubergewalt, die schier Wunderbares wirkt. Der Dichter Johannes
Trojan hat sie in einem Hause gespürt und besingt sie in dem Gedichte
„Hanszauber". (Vortrag.)
II. Lagebild: Ein schlichtes Haus. Drinnen alles sauber und ordent-
lich, Dielen und Wände, Geräte und Fenster. Nirgends Prunk und über-
ladener Putz, aber alles schön und licht und wohltuend für Auge und Herz.
Im Hause kein Wort des Haders, kein Schelten und Zürnen, alles still
und friedlich. So waltet ein Zauber geheimnisvoll und unwiderstehlich.
III. Woher kommt der Zauber? Von zwei geschäftigen Händen,
von zwei lichten, lieben Augen und von einem fried- und liebevollen
Herzen. Und wem gehören diese Zanbermittel? Der Mutter des Hanfes,
der sorglich waltenden Hausfrau!
IV. Verwertung in Aufgaben: Wie zaubern die Hände die Ord-
nung herbei? — Wie sorgen die Augen für den rechten Schmuck? —
Wie schafft das Herz Frieden und Behagen im Familienleben? v
P.
524
III. Lyrische Gedichte.
I98c. A. Der kleine Zimmermann.
Bon Julius Sturm.
und fechte mich durch Dorf und
Stadt
nach altem Haudwerlsbrauch.
1. Nichts Schönres gibt es auf der
Welt,
als wenn man wandern kann.
Drum kauft' ich mir ein Winkelmaß
und ward ein Zimmermann.
2. Nun geht es auf die Wanderschaft;
lieb Mütterlein, ade!
Und wein' dir nicht die Augen rot,
bis ich dich wiederseh'!
3. Ich schneid' mir einen Knotenstock
am Weg vom Holderstrauch
4. Bei allen Meistern klopf' ich an:
„Gibt's keine Arbeit hier?"
Und wenn ich erst den rechten fand,
dann, Mutter, schreib' ich dir.
ü. Hurra! und wenn ich Meister bin,
und wenn das Wandern aus,
dann bau ich hier für dich und mich
das allerschönste Haus.
ir. Wenn ich erst groß bin
Von Julius Sturm.
1. Was treibst du doch für Faxen,
du wirst ganz naß, mein Kind!
„Lieb Mütterlein, ich will wachsen,
will wachsen in Regen und Wind.
2. Und wuchs ich in Wind und Regen,
und bin ich stark und groß,
so sollst du die Hände legen
ganz still in deinen Schoß.
3. Ich schaff' in Küch' und Keller,
und alles ist mir kund;
es klirren Schüsseln und Teller,
es klingelt der Schlüsselbund.
4. So will ich dir beschicken
das ganze Haus allein,
will waschen, kochen, flicken;
das soll eine Lust mir sein!"
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Eine arme Witwe hat zwei
Kinder, eine kleine Tochter und einen größeren Sohn. Mit herzlicher
Liebe, aber unter viel Sorgen hat sie die Kinder erzogen. Die Kinder
lieben ihre Mutter und wollen sich ihr dankbar erweisen. Noch sind es
aber nur gute Vorsätze. Der Sohn will ihr als Zimmermann ein be-
hagliches Hans bauen, wenn er von der Wanderschaft heimgekehrt und
Meister geworden ist. Die Tochter will der Mutter alle Hausarbeit ab-
nehmen, wenn sic groß sein wird. Bis dahin gilt's, sich auf diese Pflichten
vorzubereiten. Der Sohn schwingt das Winkelmaß und will wandern.
Die Tochter stellt sich in den Sonnenregen, um nach dem Volksglauben
rasch zu wachsen. Voll Weh sieht die Mutter den Sohn scheiden, und
voll Rührung hört sie die Versprechungen des Töchterleins. Die Hoff-
nung tröstet sie. Nur noch eine kurze Prüfuugszeit, bis der Sohn heim-
kehrt und die Tochter größer ist, dann wird sie's gut haben in der Für-
sorge und Liebe ihrer Kinder.
II. Vergleichung der beiden Gedichte. In A haben wir die Hoff-
nungen und Versprechungen des Sohnes, in B der Tochter. Der Sohn
geht auf die Wanderschaft, um ein tüchtiger Zimmermann zu werden.
Die Tochter tritt in Regen und Wind, um rasch zu wachsen. Der Sohn
sagt der Mutter seine Wanderpläne, die Tochter ihre Arbeitsabsichten.
Der Sohn tröstet die Mutter mit dem Wiedersehen, die Tochter mit der
späteren behaglichen Ruhe. Der Sohn will ihr als Meister ein Haus
Hebel: Die Mutter am Christabend.
525
bauen, die Tochter alle häuslichen Arbeiten verrichten. Beider Worte
atmen frohen Mut, herzliche Kindesliebe und feste Zukunftshoffnung.
III. Verwertung in Aufgaben. Wie zeigt sich in A a) die Wander-
lust, b) das Abschiedsweh, c) die Reiseausrüstung, d) das Gesellenleben
und e) die Meisterarbeit? Wie will nach B die Tochter das Haus be-
schicken? Welche verwandten Stoffe kennst du? B.
199a. Die Mutter am Christabend.
Joh. Peter Hebel. Alemannische Gedichte.
1. „Er schläft, er schläft! Das ist ein-
mal ein Schlaf!
So recht, du lieber Engel du!
Tu'mir die Lieb'und lieg in Ruh',
Gott gönnt es meinem Kind im
Schlaf!
2. Erwach' mir nicht, ich bitt', ich
bitt'!"
Die Mutter geht mit stillem Tritt,
sie geht mit zartem Muttersinu
und holt den Baum zur Kammer
hin.
3. „Was häng' ich denn dir an?
'nen Pfefferkuchenmann,
ein Kätzelchen, ein Spätzelchen
und Blumen bunt und süß und
weich,
und alles ist von Zuckerteig."
4. Genug, du Mutterherz!
Viel Süßigkeit bringt Schmerz.
Gib sparsam wie der liebe Gott!
Tagtäglich nützt kein Zuckerbrot.
5. „Jetzt rote Äpfel her!
Die schönsten, die ich haben kaun!
Es ist auch nicht ein Fleckchen
dran:
Wer hat sie schöner? Wer?
6. 's ist wahr, es ist 'ne Pracht,
was so ein Apfel lacht!
Der Zuckerbäcker wär ein Mann,
der solchen Apfel machen kann!
Den hat nur Gott gemacht.
7. Was hab' ich denn noch mehr?
Ein Tüchelchen, hübsch weiß und
rot.
Es ist eins von den schönen;
o Kind, vor bittren Tränen
bewahr' dich Gott, bewahr' dich
Gott!
übertr. v. Rob. Reinick. Leipzig 1853. S. 71.
8. Was häng' ich sonst noch hin?
Dies Büchlein, Kind, ist auch noch
dein;
da leg' ich Bilder dir hinein,
Gebete sind von selber drin.
9. Jetzt wär' genug wohl da? —
Jetzt hast du alles Gute —
der tausend! Ja, 'ne Rute
die fehlte noch, da ist sie ja!
10. Vielleicht — sie freut dich nicht,
vielleicht — sie schlägt die Haut
dir wund;
so manchem war es schon gesund;
sei gut, so schlägt sie nicht.
11. Fängst du danach es an,
in Gottes Namen sei es drum!"
Die Mutterlieb' ist fromm und zart,
sie windet rote Bänder um
und macht ein Schleifchen dran. —
12. „Jetzt wär' er ausstaffiert,
wie'n Kirmeßbaum geziert!
Dann heißt es, wenn der Tag er-
wacht:
Das Christkind hat den Baum ge-
bracht.
13. Mir dankst du nicht dafür;
wer's gab, wer sagt es dir?
Doch'macht es dir nur frohen Mut,
und schmeckt es dir, so ist es gut.
14. Rief da der Wächter nicht
schon elf? Wie doch die Zeit ver-
rinnt !
Man merkt die Stunden nicht,
wenn's Herz an etwas Nahrung
find't.
15. Jetzt, Gott behüte dich!
Ein andermal denn mehr!
Heut'war es, wo der heil'ge Christ
ein Kind wie du geworden ist:
werd' auch so brav wie er!"
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Das Fest der Liebe und Frende,
das Fest der Kinder, Weihnachten kommt. Schon ist der heilige Abend,
526
III. Lyrische Gedichte.
sein Türhüter, da. In dieser geweihten, heiligen Nacht ward einst der
Sohn Gottes als Kind in Bethlehem geboren. Die Liebe des Vaters sandte
ihn aus der Herrlichkeit des Himmels in unsere Erdennacht, damit er
uns von der Finsternis zum Licht, aus dem Leide zur Freude führen
möchte. Das Licht der Weihenacht erhellte die Welt, und die Liebe be-
glückte sie. Und seitdem ist die Liebe der Menschen an jedem Weihnachts-
feste geschäftig, die Liebe Gottes nachzuahmen und überall Freude zu ver-
breiten, sonderlich unter den Kindern. Doch keine Liebe ist geschäftiger,
Freude zu verbreiten als die Mutterliebe. Gleicht sie doch am meisten
der Liebe Gottes; denn sie ist selbstlos, unermüdlich und unerschöpflich.
Die rechte Mutterliebe am Christabend hat uns der ale-
mannische Dichter Joh. Pet. Hebel ebenso schlicht wie wahr und er-
greifend in einem Gedichte gezeichnet. Das Kind schläft in seinem Bett-
chen, die Mutter aber eilt geschäftig hin und her und putzt den Weihnachts-
baum an. Ihr Herz geht in Sprüngen, aber nur ein Gefühl beherrscht
sie, die Liebe zu ihrem Kinde. Ihre Gedanken sorgen um allerlei, aber
nur um eins drehen sie sich, um ihr Kind. Ihr Mund fließt über in
glückseligem Geplauder, aber nur von einem redet sie, von ihrem Kinde.
Der letzte Wunsch, das letzte Gebet am Christabend, sie gelten ihrem
Söhnlein.
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Es ist am Abend vor dem Weih-
nachtsfeste. Wir schauen in eine trauliche Kammer. In einem Bettchen
liegt ein schlafendes Kind. Das Licht der Lampe ist gedämpft. Auf einem
Tischchen steht ein Tannenbaum; in einem Korbe liegen allerlei Zucker-
sachen, Äpfel u. dgl. Eine Mutter bückt sich über das schlafende Kind,
dann eilt sie geschäftig hin und her und schmückt den Christbaum. An
die Zweige hängt sie Zuckersachen, die sie selbst gebacken hat, rotbäckige;
Äpfel, ein buntes Tüchlein und viele Lichter. Unter den Baum legt sie
eiu Buch mit Bildern und eine Rute, die mit einer bunten Schleife ge-
ziert ist. Dabei führt sie ein Selbstgespräch über die Bedeutung der ein-
zelnen Gaben. Die Glocke schlägt elf, als ihr Werk beendet ist. Mit
einem Gebet und Segenswunsche für ihr Kind verlöscht sie das Licht und
sucht nun selbst die Ruhe.
2. Charakter der Mutter. Zeige, daß sie achtsam ist auf das
Kind, zärtlich gegen dasselbe, geschäftig im Dienste der Liebe, still
und vorsichtig, um das Kind nicht zu wecken, fürsorglich für die
Gegenwart und Zukunft des Kindes, ernst in ihrer Zucht, aber ihre
Strenge durch Liebe gemildert, erfreut über den stattlichen Baum,
allerlei mutmaßend über des Kindes Erstaunen, selbstlos auf Lob
und Lohn verzichtend, vertieft in ihre Liebesarbeit/fromm und
gottesfürchtig!
3. G e d a n k e n g a n g. Str. 1. Das Kind schläft ruhig und fest. Str. 2.
Die Mutter holt vorsichtig den Baum in die Kammer. Str. 3. Sie be-
hängt ihn mit Zuckersachen. Str. 4. Der Dichter mahnt sie, mit Süßig-
keiten so sparsam zu sein wie der liebe Gott. Str. 5. Sie hängt prächtige
Äpfel an die Zweige. Str. 6. Sie bewundert deren Schönheit. Str. 7.
Hebel: Die Mutter am Christabend.
527
Als sie ein Schnupftüchlein an den Baum knüpft, bittet sie Gott, ihr Sohn-
lein vor bittern Tränen zu bewahren. Str. 8. Ein Büchlein zur Lust und
Lehre legt sie unter den Baum. Str. 9. Fast hätte sie die Rute vergessen.
Str. 10. Sie ist zur rechten Kindererziehung nötig. Str. 11. Doch um-
wickelt sie die Mutterliebe mit roten Bändern und Schleifchen. Str. 12.
Der Baum ist geschniückt, und morgen früh wird ihn das Christkind ge-
bracht haben. Str. 13. Die Mutter will keinen andern Dank als die
Freude ihres Kindes. Str. 14. Im Dienste der Liebe hat sie die Flucht
der Zeit nicht gemerkt. Str. 15. Sie betet für ihr Kind und wünscht, daß
es dem Jesuskinde an Bravheit gleichen möge.
4. Grundgedanke: Die Mutterliebe sorgt und arbeitet unermüd-
lich für ihr Kind, vergißt darüber die eigene Bequemlichkeit und die Flucht
der Zeit, rechnet nicht auf Lob und Anerkennung und ist glücklich und
reich belohnt, wenn sich das Kind freut und.brav wird.
5. Eigentümlichkeiten. Das Gedicht ist ursprünglich in der ale-
mannischen Mundart geschrieben und klingt in dieser viel naiver und an-
heimelnder. So geschickt die Übertragung ins Hochdeutsche von R. Reinick
ist, so hat sie doch manche Schönheiten und Eigentümlichkeiten verwischt.
Im Original lauten z. B. Str. 1 und 10 folgendermaßen:
1. „Er schlaft, er schlaft! Do lit er
wie 'ne Gros!
Du liebe Engel, was i bitt,
bi Lib und Lebe verwach mer nit,
Gott gunnt's mi'm Chind im
Schlos!"
10. „'s cha sy, sie freut di nit,
's cha sy, sie haut dec's Vüdeli
wund;
doch Witt nit anderst, sen isch's
der g'sund;
's mueß nit sy, wenn d' nit Witt!"
„Kätzelchen" und „Spätzelchen" waren ursprünglich „Gitzeli" (Kitzchen
der Ziegen) und „Mummeli" (Lockname dev Rinder), das „Tüchelchen"
„ne Fazenetli" (Sack- oder Nastuch), der „Kirmeßbaum", der am Kirch-
weihfest aufgestellt uitd mit allerlei Gaben behängt wird, daniit die Buben
danach klettern, „ne Maibaum". Der Strophenbau ist nicht gleichmäßig,
da vier- und fünfzeilige Strophen wechseln. Auch die Versfüße wechseln
zwischen drei-, vier- und fünffüßigen Jamben, find aber meist treffend
denl Inhalte angepaßt. Die Form des Selbstgesprächs, die Atlsrufe,
Fragen, Einwendungen, Betrachtungen bringen Leben und Bewegung in
den Gang des Gedichts, ahmen sehr glücklich die geschäftige Tätigkeit der
Mutter nach und bringen ihre Weihnachtsstimmung zum Ausdruck. Denken
und Tun, Reden und Handeln sind ein Guß bei dieser Mutter. Die
Sprechweise ist durchaus kindlich, durchweht von der Liebe und Erziehungs-
weisheit der Mutter, die sich ganz in ihres Kindes Seele und Stimmung
gedacht hat. Wie natürlich und praktisch knüpft sich an jede neue Tätig-
keit, an jede neue kleine Gabe eine schöne, durchaus nicht aufdringliche
Moral! Der Knabe schläft! Gott gönnt (schenkt) ihm das Gute im
Schlafe, denn „seinen Freunden gibt er's schlafend". — Nicht zu viel
Süßigkeit! Gott ist bei der Erziehung seiner Menschenkinder auch spar-
sam mit dem Zuckerbrote, denn „nichts läßt sich schwerer ertragen als
eine Reihe von guten Tagen". — Wie schön sind die Äpfel! Wer
528
III. Lyrische Gedichte.
kam: die göttliche Schöpferkunst nachahmen? „Wunderbarlich sind seine
Werke, das erkennet meine Seele wohl." — Das rotweiße Taschen-
tüchlein! Wird's viel Tränen trocknen müssen? Gott bewahre mein
Kino vor bitteren Zähren! — Das Büchlein! Was wäre das Leben
ohne Lernen, ohne Freude an bunten Bildern, ohne Gebet?' — Die
R u t e f e h l t! Sie gehört zur ernsten Erziehung; sie schmerzt, aber bessert.
Wohl dir, wenn du ohne Rute folgst! Die Mutterliebe umwickelt sie
mit roten Bändern und ziert sie mit einer Schleife! Durch
die Strenge soll die Liebe leuchten, die bittere Arznei soll versüßt werden.
— Schon elf? Wie eilt die Zeit, wenn das Herz die rechte Nahrung
hat! „Den Glücklichen schlägt keine Stunde", und die Liebe zählt und
mißt ihre Arbeit nicht nach dem Stundenzeiger. — Heut' hat der
heiligeChristeinesKindes Fleisch und Blutangenommen!
Möchte mein Kind seinem Beispiele folgen und so brav wie er werden!
III. Verwertung, a) Winke für Herz und Leben. Das Beste
gibt uns der Herr im Schlafe, ohne unser Zutun und über Bitten und
Verstehen. — Wie zart weiß die Liebe mit andern umzugehen, um sie
nicht zu stören und ihre Freude nicht zu verderben! — Wie erfindungs-
reich ist die Mutterliebe! — Wie gibt sie dem Kleinsten Wert und weiß
überall das Schöne und Nützliche herauszufinden! — Tägliches Zucker-
brot verdirbt den Magen, und allzuviel gute Tage gefährden die Seele.
— Wie schön hat Gott alles gemacht und ausgeschmückt! — Zur Lust
kommt das Leid und die bittere Zähre ins bunte Tüchlein. — Das Leben
ist Lernen und Arbeit, ist Freude an schönen Bildern, ist Gebet! — Weigere
dich der Züchtigung des Allmächtigen nicht! Denn wen er liebt, den züch-
tig! er. — Wie du dich bettest, so schläfst du. — Bald mit Lieben, bald
mit Leiden ziehst du mich, mein Gott, zu dir. — Wenn das Herz beteiligt
ist, dann geht die Arbeit leicht und freudig von der Hand, und die Zeit
verrinnt, man weiß nicht wie. — Die Liebe wartet nicht auf Anerkennung
und Lohn, sie freut sich über das Glück anderer. — Gebet und Segens-
wunsch sei des Tages Schluß und jedes Kindes Wiegenlied!
b) Vergleichung von Hebels Gedicht mit „Des fremden Kin-
des heil'ger Christ" von Fr. Rück er t (Nr. 200).
1. Hauptinhalt. In A die Mutterliebe, in B die Heila nds -
liebe am Christabend.
2. Ort. In A das behagliche Stüblein eines Bauernhauses, in B
die kalten Straßen einer Stadt. In A ist die Kammer umschlossen von
schlichten Wänden, in B die Straße von reich ausgestatteten Läden und
strahlenden Fenstern. In A steht der angeputzte Weihnachtsbaum, in B
der angezündete Riesenbaum des Sternenhimmels. In A ruht das Kind
warm in seinem Bettchen, in B kauert es vor Frost erstarrt im Gäßlein,
kommt aber bald heim in die lichte Heimat des Himmels.
3. Zeit. A und B zeigen uns den Christabend, A, wie eine Mutter
die Christfreude vorbereitet, B, wie eine Stadt im Lichte der Weihnachts-
bäume erglänzt und die Bescherung vornimmt. (In der Stadt findet
Falke: Fromm. 529
sie meist am Weihnachtsabend, auf dem Dorfe früh am Christtage nach
der Christmette statt.)
4. Personen. In A ein süßschlafender Knabe in seinem warmen
Bettchen und eine geschäftige, sorgsame Mutter bei der Ausschmückung
des Weihnachtsbaumes für ihr Kind; in B ein armes Waisenkind ohne
Vater und Mutter, wohl ein Mägdlein, in einer fremden Stadt und auf
der kalten Straße, sodann der heilige Christ mit Vatersorge und Mutter-
liebe und den heiligen Engeln als Gehilfen.
5. Gedankengang. In ^: Dgs Kind schläft. Die Mutter schmückt
den Tannenbaum, gedenkt unablässig ihres Kindes, führt ein glückatmendes
Selbstgespräch, schaut hoffend in die Zukunft und sucht gegen Mitternacht
mit Gebet und Segenswunsch für ihr Kind ihr Lager. In B: Das fremde
Kind irrt durch die Straßen, sieht den Glanz der Lichter, die reichen
Gaben, die Liebe der Eltern und die Freude der Kinder, schaut voll Sehn-
sucht in eine vergangene schöne Zeit zurück und bittet den heiligen Christ
um Rat und Hilfe. Er erscheint als Hort (Schutz und Schatz) der Waise,
zündet ihm den Sternenhimmel als Christbaum an und läßt es von den
herabgeneigten Engeln hinaus in die ewige, himmlische Heimat ziehen.
6. Grundgedanke. In A bie Weihnachtshoffnung auf Erden, in
B die Weihnachtsfreude droben. In A sorgt die Mutter selbstlos, geschäftig
und unermüdlich für das eigene Kind, in B nimmt der große Kinder-
freund Jesus die verlassene und vergessene Waise in seine Obhut; er sieht
ihre Tränen, hört ihre Bitte und zieht sie zu sich.
7. Eigentümlichkeiten. In A führt der Schlaf zur Weih-
nachtsfreude hienieden, in B das Leid und der Tod zu der Weih-
nachtsherrlichkeit droben. B.
199 b. Fromm.
Von Gustav Falke.
Der Mond scheint auf mein Lager, Meine Seele ist still, sie kehrte
ich schlafe nicht, von Gott zurück,
meine gefalteten Hände ruhen und mein Herz hat nur einen Ge-
in seinem Licht. dich und dein Glück! (danken:
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Der Lärm des Tages ist
verklungen, seine Arbeit beendigt. Alles im Hause ist zur Ruhe ge-
gangen, zuletzt auch die allzeit geschäftige Mutter. Im Gebet erhebt sich
ihre Seele zu Gott, und Ihm befiehlt sie alle ihre Lieben, besonders
aber den fernen Sohn oder die ferne Tochter. Wie die rechte, fromme
Liebe im Gebet für ihre fernen Lieben und ihr Glück sorgt und wacht,
das sagt sinnig das Falksche Gedicht: „Fromm". Hört es, was die Mut-
ter spricht! (Vortrag.)
II. Lagebild. Ein Schlafkämmerlein. Der Mond scheint durch das
Fenster und beleuchtet ein Bett. Auf den Kissen ruht das Haupt der Mut-
ter. Ihre offenen Augen sind nach oben gerichtet. Auf der Decke liegen
ihre gefalteten Hände im Mondenlichte. Sie betet für ihre fernen Lieben
und besucht sie mit ihren Gedanken.
AdL. H 8. Aufl.
34
530
III. Lyrische Gedichte.
III. Aridere Vorbereitung: Der Dichter Gustav Falke kehrte auf einer
Wanderung in einem Gasthause ein. Ehe er in seinem Bette einschlief,
erhob er seine Seele zu Gott im Gebete und bat insonderheit für die
ferne Gattin und ihr Glück. Was er empfand, hat er in dem Gedichte
„Fromm" ausgesprochen.
IV. Verwandtes.
Sternentrost.
Von Martin Greif.
Es gab' noch mehr der Zähren wenn sie nicht niederschauten
in dieser trüben Welt, in jeder klaren Nacht
wenn nicht die Sterne wären und uns dabei vertrauten,
dort an dem Himmelszelt; daß Einer droben wacht.
Unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in Gott. Aus dem Lärm und
denr Leide der Welt erheben wir die Augen und die Herzen zum Himmel.
Dort leuchten die Sterne wie Gottesaugen. Sie verkünden uns den Frie-
den droben in des Vaters Hause und verheißen uns den Schutz unseres
himmlischen Vaters für unsere Erdenwanderung. Siehe, der Hüter Israels
schläft, noch schlummert nicht. Er behütet dich vor allem Übel. Er be-
hütet deine Seele und trocknet deine Tränen. Ihm vertraue bei Tag
und Nacht, in Glück und Leid! P.
200. Des fremden Kindes heiliger Christ.
Friedrich Rückert, Gedichte. 1844. S. 221.
1. Es lauft ein fremdes Kind die Lichter zu betrachten,
am Abend vor Weihnachten die angezündet sind. Usw.
durch eine Stadt geschwind,
(Das Gedicht findet sich in vielen Lesebüchern.)
I. Zur Erläuterung. Str. 2. Weshalb heißen die Weihnachtsbäume
„lampenvoll"? Str. 4: Rücke die Worte in die gebräuchliche Wortstel-
lung! Was hat dem Kinde gebrannt? Nach Str. 3 ein Bäumchen und ein
Licht (Wachsstock). Str. 7. Weshalb wird das Kind nicht gehört? Eltern
und Kinder sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt (Str. 8); die Fenster
waren zum Teil mit Läden geschlossen (Str. 7); vielleicht hat das Kind
auch aus Schüchternheit zu leise angeklopft. Str. 10: Was will der Dich-
ter mit dem Worte „harret" ausdrücken? Das Kind hat das feste Ver-
trauen, den festen Glauben, daß Christus ihm helfen wird. — Wohin
wendet es seinen Blick? Auf die Straße, von wo es ihn erwartet. Str. 12:
vordessen — früher, gebildet wie „indessen, währenddessen". Str. 13: Hort
= Schatz, hier die Weihnachtsbescherung. Str. 15: Erläutere das Bild!
Die dunkeln Zwischenräume zwischen den Sternen gleichen den Ästen und
Zweigen eines Riesenbaumes; auf ihnen leuchten die Sterne wie die Ker-
zen am Weihnachtsbaume. Str. 16: Weshalb wird es dem Kinde still
zu Herzen, im Herzen? Sein Sehnen ist gestillt: es ist nicht mehr ver-
lassen, es hat Liebe und die Gabe der Liebe gefunden. — da's — da es!
Str. 17: Die Englein bogen sich vom Himmel herab und langten,
faßten mit ihren Händen liebevoll nach dem Kinde. Str. 18: Es ist zur
Nückert: Des fremden Kindes heil'ger Christ. 5Z1
Heimat gekehret und ist bei seinem heil'gen Christ. — Wie fand man das
Kind am andern Morgen? Erstarrt, auf dem Antlitz, das dem Himmel zuge-
wandt war, ein seliges Lächeln schwebend. — Was bedeutet die Überschrift?
II. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Das verlassene, arme
Kind. Str. 1 und 2. Das fremde Kind am heiligen Abend in fremder
Stadt; Str. 3—6 des Kindes Klage; Str. 7 und 8 seine Verlassenheit:
Str. 9 und 10 sein Gebet und Harren. B. Das getröstete, selige
Kind. Str. 11—14 Christkindleins Erscheinen und Trost; Str. 15 und
16 des fremden Kindes Weihnachtsbescherung; Str. 17 und 18 seine Heim-
kehr in die himmlische Heimat.
2. Grundgedanke. Str. 12: „Ich will dich nicht vergessen, wenn
alles dich vergißt"; Str. 18: Und was hier (auf Erden) wird bescheret,
es dorten (im Himmel) leicht vergißt.
3. Des Kindes Charakter: Es war traurig über den Verlust von
Eltern, Geschwistern und Heinrat, bescheiden, demütig, neidlos, betrübt
über seine Verlassenheit, voll Vertrauen zum heil'gen Christe, getröstet,
selig in der himmlischen Heimat.
4. Zur Charakteristik des Dichters: Die Sprache des Ge-
dichtes ist nicht sorgfältig gefeilt, absichtlich wohl, weil der Dichter ihm
das Gepräge des Kindlichen und Volkstümlichen geben wollte: Str. 3
N u r b l o ß ich armes nicht— wie Str. 6 Ich will j a n u r am Schein ....
mich laben ganz allein; Str. 5 Fleckchen; Str. 12 vordessen; Str. 17
da langten hergebogen Englein herab; Str. 18 dorten. — In der Wort-
stellung zeigt sich große Freiheit z. B. Str. 4, 14, 16.
III. Verwertung. 1. Verwandtes. Lasset die Kindlein zu mir
kommen! Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich
auf. Joh. 14, 18: Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch.
— Andersen, Das Mädchen mit den Schweselhölzern (Märchen).
2. Rede-und Stilübungen. Erzähle die Geschichte des fremden
Kindes! Welche Leiden trafen das Kind? (Es verlor Eltern, Geschwister
und Heimat, war im fremden Lande verlassen, fand bei den Menschen
keine Liebe, war ohne Weihnachtsfreude und wurde vom Frost geplagt.)
Was siehst du am heiligen Abend beim Blick in die erleuchteten
Fenster? Vergleiche unser Gedicht mit dem Andersenschen Märchen!
Vergleiche Hebels „Die Mutter am Christabend" und Rückerts „Des
fremden Kindes heil'ger Christ"! (S. Nr. 199 a, III b.) Dr. P. Polack.
201. Nachbar Helm und seine Linde.
Friedrich Karl Honkamp, Gedichte. Soest 1844. S. 27.
1. Im Häuslein gegenüber, da wohnt ein Zimmermann;
heut' vor dem Haus die Linde fing er zu fällen an.
Ich sprach: „Gott grüß' euch, Nachbarl doch sagt, was ihr beginnt?
Der Baum beschützt das Häuslein vor Wetter doch und"Wind!"
2. Da hielt er ein und schaute von seiner Arbeit auf
und sah mich an und blickte zur Linde hoch hinauf!
Dann legt' er beide Hände still auf sein Arbeitszeugs),
lehnt' an den Baum und sagte: „Nachbar, ich danke euch!
34*
532
III. Lyrische Gedichte.
3. Die Linde pflanzt' mein Vater, als ich geboren war!3)
Sie grünt und blüht alljährlich schon über siebzig Jahr.
Mein Weib am Hochzeitstage — sie war ein junges Blut —
steckt' mir von diejem Baume ein Zweiglein an den Hut.3)
4. Viel Gäste tat ich laden, zu enge ward das Haus,
hier unter dieser Linde, da hielten wir den' Schmaus.4) —
Ein Sohn ward uns geboren, da gab sich's viel zu freun,
und seinen Namen grub ich in diese Linde ein.3)
5. Die Linde wuchs und prangte, der Knabe ward ein Mann;
bei Leipzig in der Ebene stand er im Heeresbann;
zum Kampfe ziehend, trug er zwei Lindenzweig' am Hut;3)
bei Leipzig an den Wällen verrann sein junges Blut.
6. Nun hängt in unsrer Kirche die Tafel an der Wand,
da steht: „Franz Helm, gestorben für König und Vaterland."
Mein Weib und ich, wir weinten viel um den guten Franz:
wir wanden um die Tafel frisch einen Lindenkranz.7)
7. Seht, unsre besten Tage, die-waren nun dahin;
der Franz lag meiner Alten zu sehr in Herz und Sinn.
Sie konnt' sich nicht mehr freuen, ich konnt' es auch nicht mehr:
Gott hat sie heut' erlöset von Jammer und Beschwer.
8. Seht, Nachbar, nun beginn' ich die Linde umzuhaun3);
ich will für meine Alte draus einen Sarg erbaun;
ich hab' den Baum gemessen: wohl hält er Holz zu zwein;
bald zimmr' ich auch den andern, und ihr — legt mich hinein."
I. Vorbereitung. Der Besitzer eines Bauernhofes in einem kleinen
westfälischen Dorfe bekam eines Tages Besuch von einem guten Freunde
aus der Stadt, der schon öfter bei ihm gewesen war und sich immer recht
herzinnig über die schöne Linde gefreut hatte, die gegenüber von dem
Bauernhöfe auf der anderen Seite der Dorsstraße stand. Auf den ersten
Blick vermißte der Städter die Linde und fragte seinen Freund nach ihr,
der aber sprach wehmütig: „O die Geschichte von der Linde, die will ich
dir gern erzählen, habe ich sie doch selbst heute morgen erst ausführlich
erfahren. Nun höre zu!" (Vorlesen der Erzählung.)
II. Vermittlung. 1. Er stellte seine lange Axt vor sich hin und legte
die Hände darauf. 2. In vielen Gegenden Deutschlands ist es Sitte, daß
die Landleute bei der Geburt eines Sohnes eine Linde pflanzen, die dann
sein Geburtsbaum ist. 3. Die Linde wuchs mit ihm zusammen auf. Als
er 24 Jahre alt war, schnitt seine Braut einen blühenden Zweig von
der Linde und steckte ihn ihrem Bräutigam, dem Zimmermann, an den
Hut. 4. Unter dem Schatten der Linde wurde im Juni die Hochzeit ge-
feiert. 5. In die Rinde der Linde schnitt er die Buchstaben Fr. H. hinein.
6. Wahrscheinlich folgte er als junger Mann 1813 dem Aufruf des Königs
an sein Volk. Die gesamten Heere der Verbündeten werden hierbei als
Heeresbann bezeichnet. Als er zum Heere ausrückte, schmückte abermals
ein Lindenzweig seinen Hut. 7. Alljährlich zweimal, zu seinem Geburts-
und zu seinem Todestage, wanden die Alten in der Kirche um die Ge-
dächtnistafel, die ihrem bei Leipzig gefallenen Sohne gestiftet worden
war, einen Kranz von Lindenzweigen. 8. Nun sollte die Linde seinem
Claudius: Bei dem Grabe meines Vaters.
533
Weibe und später auch ihm den letzten Ehren- und Liebesdienst erweisen.
In einem Sarge vom Holz dieser Linde wollten sie zur letzten Ruhe ge-
bettet sein.
III. Vertiefung. 1. Charakter des alten Zimmermannes. Er war
ein kräftiger und rüstiger Greis; er war höflich und mitteil-
sam; ein guter, treuer Familienvater (warum?). Auch war er
ein heiterer, fröhlicher, gastfreundlicher Mann; dazu ein guter
Patriot. Nach dem Tode seines Sohnes war er ein st i l l e r, s i n n i g e r
und trauriger Mann geworden. Er war ein guter,liebenderEhe-
gatte und dazu ein sparsamer Hauswirt, ein geschickter und
kluger Handwerker und endlich ein verlassener, aber fürsorg-
licher Greis. (Jede einzelne Eigenschaft oder Behauptung ist aus dem
Texte nachzuweisen.)
2. Grundgedanke. Wie die Linde mit mir gelebt und Freud' und
Leid geteilt hat, so soll sie mit mir nun auch sterben, mir ins Grab hinab-
folgen und mit mir verwesen.
IV. Verwertung. Rede- und Stilübungen. 1. Fasse den Be-
richt von den Schicksalen und Erlebnissen der Linde so ab, als
ob die Linde selbst sie erzählte! 2. Zu welchen wichtigen Le-
bensereignissen des alten Zimmermanns hatte die Linde
als Schmuck und Zierde oder als Ehrenbeweis gedient?
a) Sie war zum Angedenken an seine Geburt gepflanzt. Sie war sein
Lebens- und Ehrenbaum, b) Zu seiner Trauung brach seine Braut einen
blühenden Zweig von der Linde und steckte ihn zu Ehr' und Zierde auf
seinen Hut. o) Sein bescheidenes Hochzeitsfest wurde unter dem Schatten
des Lindenbaumes gefeiert, ck) In die Rinde der Linde wurden Namen
und Geburtstag seines einzigen Sohnes eingeschnitten, e) Zwei blühende
Zweige der Linde zierten den Hut des in den Krieg für Freiheit und!
Vaterland ausziehenden Sohnes. I) Ehrenkränze, geflochten von den
Zweigen der Linde, schmückten alljährlich die in der Kirche gestiftete Ge-
denktafel seines im Freiheitskampfe gefallenen Sohnes, g) Aus dem Holze
der gefällten Linde zimmerte er seiner entschlafenen Ehegattin einen Sarg.
h) In einem Sarge aus ihren Brettern sollte man auch ihm die letzte
Ehre erweisen, i) Wie die Linde ihm zu Ehren gepflanzt war, sollte
sie nun auch mit seinem Tode ihm ins Grab, in den dunkeln Schoß der
Erde, folgen und seine irdischen Überreste bergen. R. D.
202. Bei dem Grabe meines Vaters.
Matth. Claudius. Werke. Originalausgabe. Gotha. 9. Aufl. 1871. T. VI, S. 93.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Der Vater des Dichters Mat-
thias Claudius, des liebenswürdigen Wandsbecker Boten, war Pfarrer
in dem holsteinischen Orte Reinfeld, ein schlichter, kernfester, bibelkun-
diger und bibelgläubiger Mann, ein wackerer Seelsorger seiner Gemeinde
und ein trefflicher Erzieher seiner Kinder. Seinen Sohn Matthias be-
reitete er selbst für die höheren Gymnasialklassen vor und gab ihm bei
534
III. Lyrische Gedichte.
seinem Abgänge nach der Universität Jena eine schriftliche „Anweisung
zu fruchtbaren akademischen Studien" mit, die bis heute erhalten ist und
von der Einsicht des Vaters zeugt. Matthias hing mit zärtlicher Liebe
an seinem Vater und pries schon als Knabe dessen Verdienste in einem
Gedichte. Als er nach Jahren das Grab seines Vaters auf dem stillen
Friedhofe besuchte, da gestaltete sich seine Liebe und Wehmut, sein Dank
und seine Hoffnung zu dem nachstehenden ebenso einfachen wie rührenden
Gedichte:
1. Friede sei um diesen Grabstein her!
Sanfter Friede GottesI1) Ach, sie
haben
einen guten Mann begraben,
und mir war er mehr?)
2. Träufte mir von Segen, dieser
Mann,
wie ein milder Stern aus bessern
Welten,
und ich kann's ihm nicht vergelten,
was er mir getan?)
3. Er entschlieft); sie gruben ihn hier
ein.
Leiser, süßer Trost, von Gott ge-
geben,
und ein Ahnden von dem ew'gen Leben
düft' um sein Gebein?b)
4. Bis ihn Jesus Christus, groß und
hehr,
freundlich wird erwecken?) — Ach,
sie haben
einen guten Mann begraben,
und mir war er mehr!Z
II. Erläuterungen. 1. Der Heimgegangene hat hier nach des Lebens
Unruhe und Kampf Ruhe gefunden und ist zum Frieden gekommen. Dar-
um soll es auch still um seinen Grabstein sein. Hier ziemt sich's nicht,
in laute Klagen auszubrechen, sondern das Herz zu stillen und den Frie-
den zu suchen. 2. Der Gemeinde war er ein treuer Seelsorger, ein guter
und geliebter Mann, dessen Verlust alle beklagen. Dem Sohne aber war
er viel, viel mehr, ein Segensquell leiblicher und geistiger Güter, ein
himmlischer Stern, der seinen Weg erhellte und sein Herz erwärmte, eine
Himmelswolke, aus welcher irdischer und himmlischer Segen herabfloß in
Geist und Herz, wie der Regen aus der Wolke auf ein durstiges Land träust
(träufelt, trieft) und es fruchtbar macht- „Wie der Tau, der vom Hermon
herabfällt auf die Berge Zion." 3. Er hat mir zu viel gegeben, und ich
bin zu jung, arm und schwach, um es ihm wieder vergelten zu können.
4. Der Tod ist den Frommen nur ein Schlaf. „Das Mägdlein ist nicht
gestorben, sondern schläft nur." „Wenn ich einst von jenem Schlummer,
welcher Tod heißt, aufersteh' —." 5. Wie die Blumen auf dem Grabe
duften (düsten), so möge der süße Trost der Unsterblichkeit, den uns
das göttliche Wort gibt, und den der Entschlafene so oft an Gräbern
den Betrübten verkündigt hat, und die Ahnung, ja feste Hoffnung eines
seligen Wiedersehens um seine Gruft, in der seine Gebeine ruhen, wie ein
Duft der Ewigkeit wehen und unsere Herzen mit Zuversicht erfüllen. 6. So
wolle er in Frieden in seiner Kammer ruhen, der Sohn aber im Glauben
weiter durch das Land der Tränen wallen, bis Jesus Christus einst
wiederkommen, alle Toten erwecken und die Seinen, darunter den Heim-
gegangenen Vater, zur ewigen Freude in seines Vaters Reich führen
wird. 7. Mit dem schmerzlich-süßen Seufzer der ersten Strophe: „Ach,
sie haben —" scheidet der Sokm von dem Grabe des Vaters.
Claudius: Bei dem Grabe meines Vaters.
535
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild. Als das Gedicht 1774 zum
erstenmal erschien, da war es durch folgendes Bild illustriert: „Auf einem
Friedhofe mit Grabhügeln und Leichensteinen lehnt an einem hohen Grab-
steine ein Jüngling mit aufgelöstem Haar und mit Tränen in den Augen
und gießt aus einem Kruge Ol auf den Leichenstein, wie einst Jakob bei
Bethel auf den aufgerichteten Stein, der sein Kopfkissen gewesen war,
Ol träufelte."
2. Vater und Sohn. Der Vater entschlief, der Sohn lebt. Der
V. ruht im Grabe, der S. steht an seinem Leichensteine. Der V. hat
den Frieden gefunden, der S. klagt noch in sanfter Trauer. Der V.
unterwies den S. und war ihm eine Quelle von Wohltaten, der S. muß
den Dank lebenslang schuldig bleiben. Der V. hat seiner Gemeinde den
Trost der Ewigkeit verkündigt, der S. glaubt an diesen Trost und ahnt
ein seliges Wiederfinden. Der V. war der Gemeinde viel, dem S. alles.
3. Gedankengang. Str. 1. Sanfter Friede weht um den Grab-
stein eines guten Mannes, der dem Sohne alles war. Str. 2. Er war
ihm eine Quelle reichen, unvergeltbaren Segens. Str. 3. Der einzige
Trost am Grabe ist die Hoffnung eines seligen Wiedersehens. Str. 4.
Sie erfüllt sich am jüngsten Tage.
Grundgedanke, der das Gedicht einleitet und einschließt: „Ach,
sie haben einen guten Mann begraben, und mir war er mehr!" Oder:
Der einzige Trost an Gräbern ist der Glaube an das Wort des Herrn,
die Liebe, die gab und empfing, und die Hoffnung auf ein seliges
Wiedersehen.
4. Form der Dichtung. Die sanfte Wehmut, der feste Glaube,
die schlichte Sprache, die trochäischen Verse, der umarmende Reim, die
unl einen Fuß verkürzte vierte Verszeile: das alles zusammen wirkt er-
greifend und stillt doch wie sanfte Musik das Weh des Herzens.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes, a) Höltys „Elegie beim
Grabe meines Vaters". (Gedichte. Leipzig, Reklam. S. 108.)
1. Selig alle, die im Herrn ent-
schliefen,
selig, Vater, selig bist auch du!
Engel brachten dir den Kranz und
riesen,
und du gingst zu Gottes Ruh' usw.
2. Grün' indessen, Strauch der Rosen-
blume,
deinen Purpur auf sein Grab zu
streun!
Schlummre, wie iin stillen Heilig-
hingefäetes Gebein! stume,
d) Claudius' Gedicht auf seine Tochter Christiane, die als hoff-
nungsvolles Mädchen von zwanzig Jahren starb (T. IV, S. 65).
1. Es stand ein Sternlein am Himmel,
ein Sternlein guter Art;
das tät so lieblich scheinen,
so lieblich und so zart!
2. Ich wußte eine Stelle
am Himmel, wo es stand,
trat abends vor die Schwelle
und suchte, bis ich's fand,
3. und blieb dann lange stehen,
hatt' große Freud' in mir,
das Sternlein anzusehen,
und dankte Gott dafür.
4. Das Sternlein ist verschwunden,
ich suche hin und her,
wo ich es sonst gefunden,
und find' es nun nicht mehr.
536
III. Lyrische Gedichte.
c) Ad. Stöber: Der Dorfki
S. 11.)
1. Friedlich Dorf! nach alter Sitte
hast du noch dein Kirchlein stehn
in des stillen Hofes Mitte,
wo zur Ruh' die Toten gehn.
2. Sonntags wallet die Gemeine
beim Geläute da heraus;
zwischen Kreuz und Leichensteine
zieht die Schar ins Gotteshaus.
3. Wird'sie nicht, um Gräber lenkend,
schon zu tieferm Ernst gestimmt,
daß die Seel', ihr End' bedenkend,
besser Gottes Wort vernimmt?
4. Will sein Kind zur Taufe tragen
hier ein Vater wohlgemut,
sieht er erst die Hügel ragen,
wo so manches Kindlein ruht.
5. Flüstert nicht ein Hauch des Windes
aus der Kleinen Gruft herauf:
„Pflege doch des zarten Kindes,
zieh es früh zum Himmel auf!"
6. Wenn bei hellem Festgeläute
naht die muntre Hochzeitschar,
wandeln die geschmückten Bräute
zwischen Grüften zum Altar.
chhof. (Gedichte. Hannover 1845.
7. Vor der Jungfrau mit der Krone
bebt am Kreuz der Flitterkranz,
mahnt zum Ernst mit leisem Tone
mitten durch Musik und Tanz.
8. Aber wankt in tiefen Schmerzen
eine Schar zum Grabesrand,
dann für die gebrochnen Herzen
ist der Trost auch nah zur Hand.
9. Gleichwie sanfter ja die Kinder
weinen in der Mutter Schoß,
so vor Gottes Haus gelinder
ringen sich die Tränen los.
10. Sanfter selbst die Toten ruhen
in der Kirche Hut und Acht,
gleichwie Kinder in den Truhen,
wo die treue Mutter wacht.
11. Dörflein! deine Kirch' umkränzet
grün des Friedhofs ernst Geheg',
und der Totenacker grenzet
hart an deinen Lebensweg.
12. Wenn in deine Fest'und Freuden
oft ein Sterb'gedanke bricht,
so verklärt sich auch dein Leiden
in des ew'gen Glaubens Licht.
2. Rede- und Stil Übungen, a) Was haben Höltys Elegie
und Claudius' „Bei dem Grabe meines Vaters" gemeinsam und was
verschieden? — b) Claudius vergleicht seine zu früh verschiedene Tochter
Christiane mit einem Stern lein; wende die einzelnen Züge des Ge-
dichts auf das Mägdlein an! — c) Welchen Segen bringt (nach A. Stö-
bers Gedicht) der Friedhof bei der Kirche in der Mitte des Dorfes den
sonntägigen Kirchgängern, den Taufpaten und Vätern von
Täuflingen, den Brautleuten, dem Leichengefolge, den To-
ten, den Vorüberwandelnden? ?.
203». Der alte Landmann und sein Sohn.
Ludwig Heinrich Christoph Hölth. Gedichte. Leipzig 1869. S. 186. Gekürzt.
1. Üb' immer Treu und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab. Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lese- und Liederbüchern.)
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Im Augenblick des Scheidens
offenbart sich noch einmal alle Liebe und Sorgfalt für die Unsrigem
So versammelte der sterbende Erzvater Jakob seine Söhne um sein Sterbe-
lager und gab einem jeglichen seinen Segen und besondere Mahnungen.
So forderte der fromme Tobias vor seinem Tode seinen Sohn und dessen
Kinder an sein Bett und sprach zu ihnen (Tob. 14, 10): „Dienet dem
Hölty: Der alte Landmann und sein Sohn.
537
Herrn in der Wahrheit und haltet euch zu ihm rechtschaffen!" So tat
auch ein alter, frommer und ehrenfester Landmann, als er sein Ende
nahen fühlte. Er rief seinen Sohn an sein Bett und ermahnte ihn ein-
dringlich, immer auf Gottes Wegen zu wandeln, die Pfade des Lasters
aber zu meiden, dann würde er in dem Pilgerleben hienieden Zufrieden-
heit und Glück, endlich einen seligen Tod und ein ehrenvolles Grab finden.
II. Erläuterungsfragen. Von welchem Worte ist wohl Treue abge-
leitet? (Von trauen.) Wie hängt wohl das Wort Redlichkeit mit
Rede und Rechenschaft zusammen? (Der Redliche weiß über all sein
Handeln Rede zu stehen, Rechenschaft zu geben.) Wie übt man Treue
und Redlichkeit? (Wenn man so redet und handelt, wie man's innerlich
meint, im Guten ausharrt, so daß man uns fest trauen kann.) Das
Grab wird ein kühler Ort genannt; als was muß da der Dichter das
Leben ansehen? (Als Hitze, als Last und Plage.) Was wird das Grab
nach des Lebens Mühe, Not und Trübsalshitze sein? (Ein Ort des Frie-
dens und der Erquickung.) Wann gehen wir Gottes Wege? (Wenn
wir seine Gebote halten, seinen Willen tun.) Wann weichen wir nicht
fing er-, ja nicht Haarbreit davon ab? (Wenn wir's mit seinen Ge-
boten genau nehmen und nicht die kleinste Übertretung begehen.) Wie
gleicht das Leben einer Pilgerfahrt? (Wir wandern nach einer hei-
ligen Stätte, dem Himmel, und haben viele Entbehrungen zu ertragen.)
Was sind grüne Auen? (Schöne Wiesen.) Ein anderes Wort für son-
der! (Ohne.) Wie verhält sich G r a u e n z u F u r ch t? (Gesteigerte Furcht.
Mir graut vor dir!) Was sind Sichel und Pflug? (Ernte- und
Ackergeräte. Saat und Ernte.) Wie zeigt sich der zufriedene, frohe
Sinn? (Durch Gesang selbst beim Wasserkruge, beim bescheidensten
Tranke.) Wodurch wird dem Bösewicht alles schwer? Welche Macht
übt der böse Feind, der Teufel, über ihn aus? (Wer Sünde tut, der ist
der Sünde Knecht.) Wer ist Herr, wer Sklave? Wer befiehlt, und wer
gehorcht? Wie zeigte sich bei dem Brudermörder Kain die Ruhelosigkeit?
Wie unterscheiden sich L u g und Trug? (Falschheit in Worten und Taten.)
Wie lacht der Frühling und das Ährenfeld? Wie ist's, wenn man
auf etwas erpicht ist? (Man hängt daran wie Pech.) Wozu wünscht
sich der Bösewicht das Geld? Wie zeigt sich das böse Gewissen? Wie
wird die kurze Spanne Lebenszeit genannt? (Raum, nach andern:
Traum.) Warum gibt das Grab dem Gottlosen keine Ruhe? Warum
wird die erste Strophe wiederholt? Wie zeigt sich die Liebe und Dank-
barkeit der Kinder und Kindeskinder (Enkel)? Warum heißt das Grab
„Gruft"? (Es ist eine künstliche Höhlung, Grotte von Orvpta —
unterirdisches Totengewölbe; oder von graben.) Wie wird der Ursprung
der duftigen Sommerblumen auf dem Grabe erklärt? (Vgl. Ps.
126, 5. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.)
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. In dem Wohnzimmer eines
Bauernhauses steht zur Sommerszeit ein Bett. Darin liegt ein Greis
mit weißen Haaren, eingefallenen Backen und erloschenen Blicken. Vor
dem Bette steht sein rüstiger Sohn mit traurigem Gesichte und hat seine
538
ID. Lyrische Gedichte.
Hand gefaßt. Die Augen des Vaters ruhen voll Liebe und voll Ernst
auf dem Sohne. Auf dem Tische steht ein Krug mit Wasser. Durch das
Fenster fällt der Blick auf den Hof; da steht der Pflug, und da hängen
Sichel und Sense an der Wand. An die grünen Wiesen (Auen) am Bache
lehnen sich wogende Ährenfelder, die in der Ferne der dunkle Saum eines
kleinen Waldes (Haines) begrenzt. Am Abhange eines Hügels liegt der
Friedhof mit seinen Gräbern, Blumen und Kreuzen.
2. Gedankengang. Str. 1. Gottesfurcht, Treue und Redlichkeit
führen glücklich und sicher durch das Leben zu einem seligen Sterben.
Str. 2. Sie machen die Arbeit leicht und das Gemüt zufrieden, während
die Gottlosigkeit alles schwer und das Herz ruhelos macht. Str. 3. Die
Schönheir der Natur wird dem Bösewicht zum Schreckgespenst, das Grab
zur Stätte des Fluchs. Str. 4. Das Grab der Frommen wird gesegnet und
von Tränen der Liebe betaut sein.
3- Grundgedanken: Tob. 4, 6: Dein Leben lang habe Gott vor
Augen und im Herzen und hüte dich, daß du in keine Sünde willigest
und tuest wider Gottes Gebote! — Jes.57, 2: Die richtig vor sich (red-
lich) gewandelt sind, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern.
— 1. Tim. 4, 8: Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die
Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens. — Jes. 32, 17: Der Ge-
rechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Gerechtigkeit Nutz wird ewige
Stille und Sicherheit sein. —
4. Schönheiten in der Form. Die Wahrheit der Gedanken, die
schlichte, volkstümliche Sprache und der innige Ton haben das Gedicht
zu einem Volksliede gemacht, das viel gesungen wird. Der Gegensatz
zwischen dem Guten und dem Bösen, einem glücklichen und einem unglück-
lichen Leben, der Zufriedenheit und der unersättlichen Habgier, der Ruhe
des guten und der Qual des bösen Gewissens, einem ruhelosen Grabe
und einer gesegneten Gruft ist anschaulich hervorgehoben. Die gewählten
Bilder sind sehr treffend: Nach der Arbeits- und Trübsalshitze des Lebens
das kühle Grab gleichfalls als schattige Laube. Gottes Gebote sind Gottes
Wege. Die strenge Gewissenhaftigkeit weicht nicht finger-, ja nicht Haar-
breit von Gottes Wegen ab; denn reicht man dem Teufel einen Finger,
so nimmt er bald die ganze Hand. Das Leben ist eine entsagungsvolle
Pilgerfahrt nach heiligen Stätten. Sichel und Pflug sind die Vertreter
von Aussaat und Ernte, Wasserkrug und Wein die Bilder der Dürftigkeit
und des Wohllebens. Der Teufel hat als Herr den Bösewicht als Sklaven
am Strick, so daß er ihm willenlos folgen muß. Frühling und Ährenfeld
lachen wie fröhliche Kinder. Der Wind und das Laub sausen (blasen)
dem Bösewicht Entsetzen ins Herz. Das Leben ist eine Spanne Zeit,
ein schmaler Raum, ein kurzer Traum. Die schönen, duftigen Blumen
aus dem Grabe sind Kinder der Liebeszähren dankbarer Enkel. — Schöne
Wortmalerei liegt in den Ausdrücken: Furcht und Grauen, Sichel und
Pflug, Lug und Trug, Wasser und Wein, her und hin.
IV. Verwertung. 1. Mahnungen für Herz und Leben. Laß
dich durch das Beispiel des Guten locken, durch das des Bösen schrecken!
Enslin: Zu spät.
539
— Was der Mensch säet, das wird er ernten- — Ein gut Gewissen ist
ein sanftes Ruhekissen. — Bleibe fromm und halte dich recht, denn solchen
wird es zuletzt wohlgehen. — Wer Liebe säet, wird Liebe ernten. —
2. Verwandtes. Der alte Tobias. — Der sterbende Jakob. —
Kain und Abel, Saul und David- — „Was frag' ich viel nach Geld und
und Gut —". Besser arm in Ehren als reich in Schanden. — Was hülfe
es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch
Schaden an seiner Seele? — Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes
und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. — Ps.
23. Der Herr ist mein Hirte. — Hebels Wegweiser Str. 9 und 10:
Wo geht's zum frohen Alter, sprecht! — Sechzig Ernten. — Ps- 1.
3. Rede-und Stilübungen, a) Zeichne den Charakter des Red-
lichen (treu, rechtschaffen, fromm, fröhlich, furchtlos, arbeitsfreudig, ge-
nügsam und zufrieden, dankbar) und des Bösewichts (träge, ruhelos,
unempfänglich für Naturschönheiten, lügnerisch, trügerisch, ksabgierig,
furchtsam)! b) Weise an Kain und Abel, Saul und David einzelne Züge
dieser Charakteristik nach! o) Suche Sprüche, Sprichwörter, Lieder und
biblische Geschichten, die von dem Glück der Frommen und dem Unfrieden
der Gottlosen handeln! P.
203b. Zu spät.
Von Karl Enslin. (Aus: Lebensfrühling.)
1. Du wolltest dein Blümlein be-
gießen —
da lag's schon verwelkt dir zu
Füßen!
Du kamst zu spät, zu spät!
2. Dann wolltest du füttern dein Vög-
lein —
da lag's schon verhungert iinTrög-
lein!
Du kamst zu spät, zu spät!
3. Du wurdest zur Arbeit gesendet —
war längst schon von andern vollendet!
Du kamst zu spät, zu spät!
4. Geladen erschienst du zum Feste —
geschieden schon waren die Gäste!
Du kamst zu spät, zu spät!
5. Was Hilst nun dein Leid, dein Be-
dauern,
dein Weinen und Klagen und
Trauern!
Du kamst zu spät, zu spät!
6. Sie nützt nichts, verspätete Reue —
triff richtig in Zukunft das Neue!
Komm nicht zu spät, zu spät!
I. Einführung in Stoff und Stimmung. „Was du tun willst, das
tue bald!" So kommst du ans Ziel und sparst dir die Reue. Mit bloßen
Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert. Wer säumt und träumt, der
vertrödelt die Zeit und kommt nicht ans Ziel. Er gleicht dem Reisenden,
der den Zug verpaßt und ihm voll Verdruß nachsieht und nachruft: Zu
spät! Zu spät! Wie das „Zu spät!" das Lebensglück verstört, das zeigt
der Dichter Enslin in dem folgenden Gedichte. (Vortrag).
II. Gedankcngang. Es werden vier Pflichten aufgezählt und die Fol-
gen der Verspätung oder Versäumung gezeigt: 1. Weil du die Blume
nicht rechtzeitig begossest, ist sie verwelkt. 2. Weil du das Vöglein nicht
rechtzeitig gefüttert, ist es verhungert. 3. Weil du die Arbeit nicht zur
rechten Zeit angefangen, haben die andern den Verdienst weggenommen.
543
III. Lyrische Gedichte.
4. Weil du nicht pünktlich als Gast aus dem Feste erschienst, bist du um
alle Festfreude gekommen; als du endlich kamst, war alles vorüber.
Trauern und Klagen ändert nichts an dem Verluste. Die Reue kommt
zu spät und macht den Verlust nur bitterer und schmerzlicher. Vermeide
sie, indem du jede neue Pflicht pünktlich und ernstlich angreifst! Gelingen
und Glück folgt dem „Triff recht!", Mißlingen und Unglück dem „Zu
spät!"
III. Verwandtes. Sprichwörter: Wer nicht kommt zur rechten
Zeit, muß warten, bis was übrig bleibt. — Ordnung lerne, übe sie, sie
ersparet Zeit und Müh. — Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen
gepflastert. — Biblische Geschichte von den klugen und törichten
Jungfrauen: Die fünf törichten Jungfrauen säumten und träumten, kamen
zu spät und wurden vom Hochzeitsmahle ausgeschlossen. Gedicht vom
weißen pirsch: Die Jäger säumten und träumten, da schoß der weiße
Hirsch vorüber. P.
204. Der Wegweiser.
I. P. Hebel, übersetzt von Echtermeyer. Echtermeyers Auswahl der Gedichte. Halle 1877.
S. 23. Hebels Werke, Berlin 1869. I, 76.
1. Weißt, wo der Weg zum Mehlfaß geht,'
zum vollen Faß? Im Morgenrot
mit Pflug und Karst durchs Weizenfeld,
bis Stern an Stern am Himmel steht. Usw.
(Das Gedicht findet sich in allen Lesebüchern.)
I. Einführung. Wir Menschen gleichen in unserm Leben den Wvn-
derern. Wie diese kommen wir oft bei unserem Tun und Handeln an
Kreuzwege (wo sich die Wege kreuzen!) und fragen: „Wohin gehen
wir? Wie geht es weiter? Was ist hier zu tun? Welchen Weg soll
ich einschlagen, um zu meinem Ziele zu gelangen?" Dem Wanderer weist
der Wegweiser, der gewöhnlich an Kreuzwegen steht, die rechte Straße.
Er ist eine Säule aus Holz, Eisen oder Stein, oft mit Armen, die Ziel
und Richtung des Weges angeben. Auch auf unserem Lebenswege gibt
es für unser Tun und Handeln Wegweiser. Der beste ist das Wort
Gottes. „T>ein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem
Wege." Aber auch weise und fromme Männer haben solche Wegweiser
geschrieben. Ein solcher ist das inhaltreiche Gedicht von Hebel, das über-
schrieben ist: „Der Wegweiser". Es ist eine Predigt, aus welcher
jedermann, er sei jung oder alt, vornehm oder gering, wahre Lebensweis-
heit lernen kann. Es ist ein sicherer Wegweiser für alle Lagen des Lebens,
indem er uns zeigt, was wir tun und lassen müssen, um glücklich zu wer-
den. Ursprünglich ist das Gedicht in alemannischer Mundart geschrieben
und beginnt:
„Weisch, wo der Weg zuem Mehlfaß isch,
zuem volle Faß? Im Morgerot
mit Pslueg und Charst dur's Weizefeld,
bis Stern und Stern am Himmel stoht."
Hebel: Der Wegweiser.
541
Die uns vorliegende Übersetzung ist von Th. Echtermeyer und hält
sich ini ganzen ziemlich genau an das Original. (Vortrag.)
II. Erläuterungen. Die erste Frage (Str. 1 und 2), welche wir mit
dem Dichter an den Wegweiser stellen, ist die: „Weißt, wo der Weg
zum Mehlfaß geht" usw., d. h.: Weißt du, wie man zu Brot und
Nahrung gelangt- Antwort: „Im Morgenrot mit Pflug und Karst (eine
Hacke mit zwei Zinken) durchs Weizenfeld, bis Stern an Stern am Himmel
steht!" — also durch fleißiges Arbeiten vom frühen Morgen bis zum
späten Abend. Aber nicht nur das Notwendigste erwirbt man durch rast-
lose Arbeit, sondern man kommt auch zu einem gewissen Wohlstände („zum
vollen Faß"). Hat man also seine Schuldigkeit in der Arbeit vollständig
getan, so wird sich nicht nur Scheune und Tenne füllen, sondern auch der
Brotschrank in der Küche.
Str. 3. Auf die zweite Frage, die nach dem Gulden, lautet ent-
sprechend dem Sprichwort: „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Groschens
nicht wert" die Antwort: „Wer nicht um den Kreuzer sorgt, der bringt
es auch zum Gulden nie!" Also Sparsamkeit ist der Weg zum Wohlstände.
Str. 4 und 5. Die dritte Frage: „W o gehtderWegzurfrohen
Sonntagszeit?" hat abermals zunächst zur Antwort: Durch Arbeit-
samkeit an den sechs Werkeltagen in der Werkstatt und im Felde. Jeder
nach seinem Beruf. „Am Samstag ist er vollends nah!" Hier will uns der
Dichter erinnern, daß bei fleißiger Arbeit der Sonntag rasch genug heran-
kommt, daher heißt es auch im Urtexte: „Der Sunntig wird scho selber
cho." Diese rastlose Arbeit an den Werktagen verschafft uns aber nicht
nur das Notwendigste, sondern wir können an dem Sonntage auch
etwas besser leben als in der Woche: „Ich denk', ein Pfündchen Fleisch ins
Mus (Gemüse), wohl auch ein Schöppchen Wein ist da." In Norddeutsch-
land werden wir anstatt des Weines, der ja in der Heimat des Dichters
billiger ist, ein Gläschen Bier vorfinden. — „Was deckt er wohl im
Körbchen zu?" usw. Hier personifiziert der Dichter den Sonntag, wie er
es überhaupt in seinen Gedichten gern tut.
Mit der 6. Str-. beginnt ein besonderer Abschnitt. Hier zeigt uns
der Wegweiser Orte, die wir meiden sollen.
„Wo geht der Weg zur Armut hin?" Mit Spott führt er
den betreffenden Leuten die verschiedenen Wege an, auf welchen sie bis
zum Bettelstäbe gelangen. Zuerst schaut der Säufer nach den Wirts-
hausschildern, dann geht er hinein ins Wirtshaus, dort trinkt er sich
voll Wein und ergötzt sich am Kartenspiel. Von Stufe zu Stufe läßt
der Dichter den Liederlichen in seinem Elend immer tiefer sinken.
„Schau nach den Wirtshausschildern hin!" Die sind verlockend, und
es währt nicht lange, so sitzt der Unglückliche im Wirtshause — er wird.
ein Säufer; des wohlerworbenen Geldes wird bald genug weniger wer-
den, denn der Wein und ähnliche Getränke kosten Geld. Kommt nun
noch das zweite Laster, die Spielsucht, hinzu, so ist der Lump fertig;
die unausbleibliche Folge ist die Verarmung. Nichts mehr hat der Mensch,
der sich den Lastern des Trinkens, des Spiels und der Tagedieberei hin-
gibt, als einen Bettelsack, den er zum Sammeln des Brotes, nnd einen
hölzernen Becher, den er znm Wasserschöpfen gebrancht. Mit beißendem
Spott schildert der Dichter das fortschreitende Hernnterkommen eines
solchen Menschen, der an seinem Unglück selbst schnld ist. Mit Verachtung
nennt er ihn: „Du alter Lump!" —
Was nach den ersten 5 Strophen durch Arbeitsamkeit gewonnen wird,
das geht nach Str. 6—8 durch liederliches Leben wieder verloren. Ja,
das Elend wird für den Menschen um so größer, je bessere Tage er
zuvor erlebt hat.
Die 5. Frage ist eine doppelte: „W o geht' s znm frohen Alter?"
und „Wo ist der Weg zu Ehr' und Ruh'?" Beide Fragen sind im
Urtexte zu einer zusammengefaßt: „Wo isch der Weg zue Fried und Ehr,
der Weg znem gneten Alter echt (— etwa, wohl) ?" Mit andern Worten:
Aus welchem Wege gelangt der Mensch zu einem ehrenvollen,
ruhigen und frohen Alter? Um überhaupt alt zu werden, muß man
zunächst sich der Mäßigkeit befleißigen; um in Ehren alt zu werden,
muß man treu seine Pflicht erfüllen und streng den Weg des Rechts
wandeln, „grad vor dir hin", nicht auf krummen Schleichwegen, die nur
Menschen aufsuchen, die etwas zu verbergen haben. Allerdings können
auch ehrenhafte und pflichttreue Menschen in Verhältnisse geraten, in
denen sie nicht gleich beurteilen können, was das Rechte ist. Drum sagt
der Dichter: ^
„Und führt zum Kreuzweg dich dre Spur" usw.
Also das Gewissen ist es, welches uns den rechten Pfad zeigt.
Es kann ja Deutsch, d. h. es spricht eine Sprache, die jedem verständlich
ist, man muß es nur fragen. Das Gewissen ist einem Kompaß zu ver-
gleichen, der uns stets die Richtung nach dem Reiseziele angibt. Rudert
der Mensch auf seiner Lebensbahn ohne Hinblick auf diesen Kompaß, so
gerät er wie der ins Ungewisse hineinfahrende Schiffer auf Klippen und
Untiefen. Mit kurzen Worten können wir also den Inhalt dieser drei
Strophen so fassen: Ein ruhiges, frohes und ehrenvolles Alter erreicht
man durch Mäßigkeit in allen Genüssen, durch treue Pflichterfüllung,
durch rechtschaffenen Wandel und durch Gewissenhaftigkeit.
Str. 11 und 12. Die letzte und ernsteste Frage: „Wo ist der Weg
zum Leichenstein? (Wo mag der Weg zuem Chilchhof sy?)" richtet nun
der Dichter an alle Menschen; denn jeder Weg führt „zur stillen Gruft
im kühlen Grund". Hier brauchen wir also keinen Wegweiser, da ja der
Tod zu jedem Menschen kommt. Der Dichter beantwortet daher auch die
von ihm aufgestellte Frage nur mit dem Worte: „Geh, wo du willst!" Das
wäre aber ein nüchterner, des schönen Gedichts ganz unwürdiger Schluß.
Drum fügt er noch die letzte Strophe hinzu: „In Gottesfurcht nur wandle
hier," dann wirst du zu der heimlichen (geheimen) Pforte gelangen und
im Jenseits noch manches sehen, wovon du hier nichts gewahr wurdest.
Im alemannischen Texte heißen diese letzten Worte:
Sell (— solch) Plätzli het e gheimi Tür,
nnd's sin noch Sachen ehne (— jenseits) dra.
Chainisso: Die alte Waschfrau.
543
So schließt unser Lehrgedicht mit einer ernsten Mahnung: Willst
du ruhig dem Tode entgegen gehen, so wandle hier auf
Erden in der Gottesfurcht!
III. Gliederung. A. Durch angestrengte Arbeit erwerben wir uns
alles, was zur Leibes-Nahrung und -Notdurft gehört. B. Sparsamkeit
führt zum Wohlstände. 6. Rastlose Arbeit in den 6 Wochentagen bereitet
uns einen frohen Sonntag. D. Trunksucht, Spielsucht und Liederlichkeit
führen zur Armut. E. Durch Mäßigkeit, treue Pflichterfüllung und ein
gutes Gewissen erreicht mau ein frohes, ehrenvolles Alter. E. Der Wandel
in Gottesfurcht führt zu einem seligen Ende.
IV. Verwertung. 1. Vergleiche die 4. und 5. Strophe mit folgen-
den Versen von Goethe:
„Tages Arbeit, Abends Gäste;
saure Wochen, frohe Feste!"
2. Vergleiche Str. 1—3 mit folgendem Spruche:
„Ich habe gute Dienerschaft;
die Knechte heißen: Selbstgeschafft
und Spätzubett und Aufbeizeit,
die Mägde: Ordnung, Reinlichkeit;
Durst, Hunger heißen Schenk und Koch;
hab' auch zwei Edelknaben noch,
genannt Gebet und gut Gewissen,
die, bis ich schlaf', mich wiegen müssen."
W. D. und P.
2V3. A. Die alte Waschfrau.
Ad. v. Chamisso. Gedichte. Berlin 1874. S. 56.
1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen So hat sie stets mit saurem Schweiß
die Alte dort im weißen Haar, ihr Brot in Ehr' und Zucht ^gegessen
die rüstigste der Wäscherinnen und ausgefüllt mit treuem Fleiß
im sechsundsiebenzigsten Jahr. den Kreis, den Gott ihr zugemessen.
Usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
I. Vermittlung. Das Weib, welches der Dichter uns hier vorführt,
war des Dichters Waschfrau, deren frommen Sinn und musterhaftes Leben
er in einem „zweiten Liede von der alten Waschfrau" schildert, um da-
durch die Aufmerksamkeit seiner Freunde in Berlin auf sie zu richten, als
sie in ihren letzten Tagen nicht mehr arbeiten konnte und Not litt. In
jenem Liede (Gedichte. Berlin 1874. S.58) heißt es:
Solang' sie rüstig noch beim Wasch- Ihr Fran'n und Herr'«, Gott lohn'
trog stand, es euch zumal,
war für den Dürft'gen offen ihre er geb' euch dieses Weibes Jahre Zahl
Hand; und spät dereinst ein gleiches Sterbe-
da mochte sie nicht rechnen und nicht kissen!
sparen. Denn wohl vor allem, was man
Sie dachte bloß: „Ich weiß, wieHun- Güter heißt,
ger tut!" sind's diese beiden, die man billig
Vor eure Füße leg' ich meinen Hut, preist:
sie selber ist im Betteln unerfahren, ein hohes Alter und ein rein Gewissen.
Der Erfolg, welcher durch diese einfache und wahrheitsgetreue Schil-
derung hervorgebracht wurde, bestand darin, daß durch edle Menschen-
freunde dem armen Weibe eine namhafte Geld-Unterstützung zuteil wurde.
544
III. Lyrische Gedichte.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Str. 1: Die Persönlichkeit
der alten Waschfrau. B. Str. 2—5: Das Leben der alten Waschfrau.
0. Str. 6: Der Wunsch des Dichters.
2. Grundgedanke:
„E i n j e d e r w i r k e i n d e m d u r ch d i e V e r h ä l t n i s s e i h m a n -
gewiesenen Lebens - und Geschäftskreise mit ganzer Seele
und Kraft, mit stetem Gottvertrauen; dann verdient er
Achtung und kann allem, selbst den: Tode, ruhig entgegen-
gehen." (Kellner.) Der Schüler vergleiche damit Matth. 25, 21: „Ei,
du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen,
ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude!" Ferner
den Spruch von Rückert:
„Die wahre Tugend ist, daß jeder jede Frist
das tüchtig tut, wozu er taugt und tüchtig ist." —
Endlich das Sprichwort: „Bete und arbeite!"
3. Charakteristik. Die alte Waschfrau ist ein Vorbild der treue-
sten Pflichterfüllung und echten Frömmigkeit und bestätigt
die Erfahrung, daß wahre Tugend und wahrhaftes Glück in jeder, auch
der niedrigsten Sphäre, im engsten Wirkungskreise zu finden sind.
Der Dichter stellt uns zunächst (Str. 1) das Weib in ihrer äußeren
Erscheinung vor. Eine rüstige, sechsundsiebzigjährige Greisin
ist's, die wir vor uns sehen, und deren Fleiß wir bei der sauren Arbeit
bewundern müssen; dieser Fleiß ist aber nicht etwa nur ein zeitweiser,
sondern ein anhaltender, treuer uud emsiger; denn nach dem
Tode ihres Mannes mußte sie allein die drei unerzogenen Kinder er-
nähren; gewiß ein schweres Stück für eine Witwe, und wir wollen's
glauben, daß sie oft Tag und Nacht gesonnen und gearbeitet hat.
Bewundernswert ist sie ferner wegen ihres heitern Mutes, den
sie sich jederzeit bewahrt hat. Der Mann erkrankte; sie mußte ihn pflegen,
und der Verdienst war in dieser Zeit gewiß sehr knapp, aber „Glaub'
und Hoffnung" hat sie nicht verloren. Dieser heitere Mut war die Frucht
ihres christlichen Sinnes, ihrer echten Frömmigkeit, die sie sowohl
bei der Arbeit wie auch in allen anderen Lebenslagen bekundete. Ohne
diesen Mut und ohne diese Frömmigkeit hätte sie ihr Leben, das nur
selten von Freuden erheitert war, schwerlich ertragen können. Glaube
und Hoffnung ließen sie „das Los des Weibes" tragen, welches darin
bestand, daß sie bei den Mühen und Sorgen, die durch die Pflege des
kranken Mannes und die Erziehung der Kinder an sie herantraten, sich
im Entsagen und Dulden übte. Ihre Frömmigkeit äußert sich aber
auch ferner in der Art und Weise, wie sie die Kinder erzog:
„Sie zog sie auf in Zucht und Ehren; der^Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut."
Das war das beste Geschenk fürs Leben, welches die an irdischen Gütern
arme Witwe ihren „Lieben" mitgeben konnte. Fleiß und Ordnung
und der Segen Gottes sind bei frommem Sinne eine Mitgift, die besser
durchs Leben hilft als große Reichtümer.
Chainisso: Die alte Waschfrau.
545
Aber zu dem Fleiße und der Ordnung gesellte sich bei dem muster-
haften Weibe noch eine dritte Tugend, die Sparsamkeit:
„Sie hat gespart und hat gesonnen und Flachs gekauft und nachts gewacht."
Trotz aller Arbeit fand aber das Weib noch die gehörige Zeit, auch ihrem
Herrn zu dienen; denn den Sonntag widmete sie dem Worte
Gottes.
Der rührendste Zug aber ist in Strophe 4 und 5 ausgedrückt, wo
uns der Dichter in ausführlicher Weise ihre Sorge um das Sterbehemde
beschreibt. „Dieser neue Zug beweist schon, wie bedacht auf alles und
wie sorgsam in allem die Frau ihr ganzes Leben hindurch gewesen sein
muß. Und welch ein schönes, vertrauendes Aufblicken zu Gott spricht
sich zugleich in diesem einen Zuge aus! Der Tod hat für sie keine Schrecken,
darum hat es auch das Totenhemd, dessen Namen vielen Menschen schon
Grauen einflößt, nicht." (Gude.) Alle diese verehrungswürdigen Eigen-
schaften, welche der Dichter an seiner Waschfrau erblickt, lassen ihn zum
Schlüsse noch ausrufen: „Und ich, an meinem Abend, wollte" usw. Ge-
wiß stimmt in den Wunsch der letzten Strophe jeder ernste und fromme
Mensch mit ein.
4. Sprachliche und poetische Darstellung.
Neben der großen Einfachheit und schlagenden Kürze, mit welcher
der Dichter die Begebenheiten erzählt, ist das Gedicht auch nicht ohne
poetische Schönheiten. So wird schon dadurch, daß der Dichter in der
ersten Strophe gewissermaßen den Leser anredet, die Phantasie lebhaft er-
griffen, und die Darstellung gewinnt an Lebendigkeit und Interesse. Eine
treffliche Wirkung bringt der Dichter in Strophe 4 durch die öftere
Wiederholung des Bindewortes „und" hervor: „Sie hat ge-
spart und hat gesonnen und Flachs gekauft und nachts gewacht." Durch
diese Redefigur, Polysynthese (Häufung der Bindewörter) genannt, wird
jede einzelne Vorstellung noch besonders hervorgehoben. Ebenso wirksam
ist die in der 5. Strophe angewandte Steigerung: „Ihr Hemd, ihr Sterbe-
hemd, sie schätzt es." Durch Anwendung dieser Redefigur erscheint der
Begriff Sterbehemd als ganz besonders wichtig. — In den Worten
von Str. 6: „Ich wollt', ich hätte so gewußt, am Kelch des Lebens
mich zu laben" hat der Dichter eine Vergleichung angebracht, die uns
das Leben des Weibes gleichsam nochmals in einem kurzen Zuge vor-
führt. Wie der Kelch den erquickenden Wein und die bittere Medizin
enthalten kann, so wechseln auch im Leben gute und böse Tage, Leid
und Freud- Das Weib nimmt beides mit „heiterm Mut" aus der Hand
Gottes. So konnte der Dichter sagen: Sie labte (d. h. erquickte) sich
an dem Kelche des Lebens! —
Nach Inhalt und Form gehört das Gedicht zu den besten poeti-
schen Erzählungen, deren Inhalt eine der Wirklichkeit des Lebens
entsprechende Begebenheit ist, die einfach und ohne besondere Aus-
schmückung zur Darstellung kommt.
546
III. Lyrische Gedichte.
III. Vergleichung mit dem Gedichte:
B. Am Sarge eines Tagelöhners.
Berthold Sigismund. Echtermeyer, Auswahl usw. Halle 1857. S. 567.
1. Du altes, ehrliches Gesicht,
da liegst du nun und kennst mich
nicht;
du faltest deine rauhen Hände
zur süßen Ruhe ahne Ende.
2. Behaglich, Alter, liegest du
wie bei der kurzen Ernteruh',
wenn hinter einem Garbenhaufen
du dich gelagert, zu verschnaufen;
3. behaglich, wie am Nachmittag
des Sonntags du am grünen Hag
verspottetest die jungen Leute,
die statt der Ruh' der Tanz er-
freute;
4. behaglich, wie — Gott wird's ver-
zechn —
du in der Kirche schliefest ein,
trotz deines Straußes, der den Alten
zur Predigt sollte munter halten.
5. Du treuer Knecht, im Weinberg hast
getragen saurer Jahre Last,
getagelohnt dein langes Leben:
nun wird zunl Lohn dir Ruh' ge-
geben!
6. Einen Rosenstrauß ich für dich band,
den will ich dir in deine Hand
mit aller Vorsicht heimlich stecken,
um dich nicht aus der Ruh' zu wecken.
Ähnlichkeiten: Beide Personen gehören dein Arbeiterstande
an. Beide haben ihr Lebtag gearbeitet und ihre Pflicht getan. Beide sind
zu hohem, ehrenvollem Alter gelangt. Beide haben in ihrer Armut die
Freuden des Lebens genossen. Beiden ist die Himmelsruhe beschieden.
Beide Personen geben uns die Lehre, daß zum Glück des Lebens nicht
Reichtum, sondern Zufriedenheit mit seinem Lose und Treue in der Pflicht-
erfüllung gehören.
Verschiedenheiten: In A wird ein Weib, in L ein Mann uns
vorgeführt. A spricht von dem Weibe bei Lebzeiten, B vom Manne nach
dem Tode. Daher führt der Dichter die Waschfrau in ihrer Lebenstätig-
keit vor, während in B nur vom Tagelöhner gesagt wird, was er war
(ein treuer Knecht usw.). W. D.
206. A. Lob der Freundschaft.
Simon Dach. Bibl. deutscher Klassiker. Hildburghausen 1863. Bd. III, S. 89.
1. Der Mensch hat nichts so eigen,
so wohl steht ihm nichts an,
als daß er Treu' erzeugen
und Freundschaft halten kann,
wann er mit seinesgleichen
soll treten in ein Band H,
verspricht sich 2 * * *), nicht zu weichen8 *),
mit Herzen, Mund und Hand.
2. Die Red'^) ist uns gegeben,
damit wir nicht allein
für uns nur sollen leben
und fern von Leuten sein;
wir sollen uns befragen
und sehn auf guten Rat,
das Leid einander klagen,
so uns betreten'') hat.
3. Was kann die Freude machen,
die Einsamkeit verhehlt?6 *)
Das gibt ein doppelt Lachen H,
was Freunden wird erzählt.
Der kann sein Leid vergessen,
der es von Herzen sagt8);
der muß sich selbst auffressen8),
der insgeheim sich nagt.
4. Gott stehet mir vor allen,
die meine Seele liebt;
dann soll mir auch gefallen,
der mir sich herzlich giebt, 10)
Mit diesen Bundsgesellen
verlach' ich Pein und Not,
geh' auf den Grund der Höllen
und breche durch den Tod.")
33 oben steht: Freundschaft.
547
5. Ich hab', ich habe Herzen
so treue, wie gebührt12),
die Heuchelei und Scherzen
nie wissentlich berührt!13)
Ich bin auch ihnen wieder
von Grund der Seele ijosb14);
ich lieb' euch mehr, ihr Brüder,
als alles Erdengold.15)
I. Erläuterungen. 1. Band — Bund, Verbindung, hier Freund-
schaftsbündnis. 2. Er verspricht (gelobt) sich dem Freunde mit dem
Herzen (der Liebe), dem Munde (dem Worte) und der Hand (dem
deutschen Handschlag). Z. Nicht zu weichen, abzulassen von dem Freunde,
die Freundschaft nicht zu brechen. 4. Die Rede oder menschliche Sprache
ist uns als Brücke zivischen den Seelen, als Verkehrsmittel der Herzen
in Freud und Leid gegeben. 5. Das uns betreten oder getroffen hat.
6. Freude, die von der Einsamkeit verhehlt, d. h. verborgen oder
versteckt wird, also allein ist, kann uns nicht glücklich machen. 7. Dop-
pelt Lachen ist erhöhte Freude. Geteilte Freude ist doppelte Freude,
geteiltes Leid halbes Leid- 8. Mitteilung erleichtert das Herz. 9. Der
muß sich selbst auffressen, d. h. in Gram langsam verzehren, dem
ein geheimer Kummer am Leben nagt. 10. Gott ist der höchste Gegenstand
meiner Liebe; aber nach ihm kommt der Freund, der sich mit ganzem
Herzen mir ergibt. 11. In treuer Gemeinschaft mit Gott und einem
rechten Freunde werde ich Meister über die Not des Lebens, die Schmerzen
der Seele, die Pein des Todes und das Toben der Hölle. Solche Bun-
desgenossenschaft lehrt die Feinde dieses und jenes Leben besiegen. 12. Wie
sich's gebührt, wie sie sein müssen. 13. Sie heucheln keine Liebe,
sondern sind wahr und nehmen es nicht leichtfertig (als Scherz) mit
der Freundschaft und ihren Pflichten. 14. Ich erwidere ihre Freund-
schaft mit ganzer Seele. 15. Diese Freunde und Brüder (die den Königs-
berger Sängerbund zur Zeit des Großen Kurfürsten bildeten) liebte der
Dichter mehr als alle Güter der Erde.
8. Freundschaft
Friedr Badenstedt. Aus der Heimat und Fremde. Berlin 1856. S. 73.
1 Wenn jemand schlecht von deinem Freunde spricht,
und scheint er noch so ehrlich, glaub ihm nicht!
Spricht alle Welt von deinem Freunde schlecht:
mißtrau der Welt, gib deinem Freunde recht P)
5 Nur wer so standhaft seine Freunde liebt,
ist wert, daß ihm der Himmel Freunde giebt.2)
Ein Frenndesherz ist ein so seltner Schatz,
die ganze Welt beut nicht dafür Ersatz^);
ein Kleinod ist's voll heil'ger Wunderkraft,
10 das nur bei festem Glauben Wunder schafft. Z
Doch jedes Zweifels Hauch trübt seinen Glanz;
einmal zerbrochen, wird's nie wieder ganz. 5)
Drum, wird ein solches Kleinod dir beschert,
o, trübe seinen Glanz nicht; halt es wert;
15 zerbrich es nicht!6) Betrachte alle Welt
als einen Ring nur, der dies Kleinod hält,
dem dieses Kleinod selbst erst Wert verleiht!
8-*
548
III. Lyrische Gedichte.
Denn, wo es fehlt, da ist die Welt entweiht. Z
Doch würdest du dem ärmsten Bettler gleich,
20 bleibt dir ein Freundesherz, so bist du reich;
und wer den höchsten Königsthron gewann
und keinen Freund hat, ist ein armer Mann.8)
1. Erläuterungen. 1. Den Freund kennst du besser als die Welt
(andere Menschen), die das Strahlende zu schwärzen liebt. 2. Wer nicht
fest vertrauen kann, ist keinen Freund wert und wird auch keinen finden.
3. Rechte Freundschaft ist fortwährender Glücksgenuß, wie ihn nichts wei-
ter in der Welt bieten kann. Verlieren wir ihn, so ist er durch nichts zu
ersetzen. 4. Die rechte Freundesliebe begeistert zu ungewöhnlicher Tat.
„Der Glaube, das unerschütterliche Vertrauen, kann Berge versetzen."
5. Als Petrus auf dem Meere zweifelte, da hob -er an zu sinken. Der
Zweifel nimmt dem Herzen die freudige, mutige Tatkraft. 6. Vertrauen
baut, aber Zweifel zerbricht die Freundschaft. 7. Freundschaft ist ein köst-
licher Edelstein, den die Welt (Natur und Menschen) wie ein Ring einfaßt.
Die Welt erscheint in schönerem Lichte, wenn die Freundschaft ihre Strah-
len darauf wirft. Sie erscheint uns farblos, fade und entweiht, wenn wir
sie ohne Freund durchwandern. 8. Der ärmste Mensch, der einen rechten
Freund hat, ist reich; denn er entbehrt nichts. Und der reichste und mäch-
tigste Fürst, der keinen Freund fand, ist arm, denn er wird seiner Schätze
und seiner Macht nicht froh, da er sie allein genießen muß. „Vieles kann
der Mensch entbehren, nur den Menschen (den Freund) nicht!"
II. Vergleichung. 1. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte enthalten ein
warmes Lob der Freundschaft. Rechte Freundschaft ist ein Herzens- und
Lebensbedürfnis. Sie muß wahr, treu und gegenseitig sein. Sie erhöht
den Wert des Lebens, stärkt die Kraft zum Tun und zum Dulden und
gibt den übrigen Dingen der Welt erst Glanz und Licht. Sie ist ein Ivert-
vollerer Schatz als Gold, ja als ein Königsthron.
2. Verschiedenheiten. A ist im schlichten, herzlichen Tone des
Volksliedes gehalten, B hat die Form eines Lehrgedichts. A preist mehr
den reichen Segen der Freundschaft in den verschiedenen Lagen des Lebens,
B warnt vor dem Verluste. A zeigt die Notwendigkeit der Freundschaft
selbst, B fordert unerschütterliches Vertrauen als unentbehrliche Grundlage
der Freundschaft. A behandelt die Freundschaft als beglückendes Band,
B als wertvolles Klemod. In A preist sich der Dichter selbst glücklich
im Besitze seiner Freunde, B läßt den Dichter zurücktreten und hält sich
allgemein. A hat eigentümlich: die Freundschaft als schönstes und
eigenstes Band zwischen den Menschen, den Segen der Rede, der Mit-
teilung von Freud und Leid, der Bundesgenossenschaft mit Gott und
einem Freunde, das eigene Glück in der Freundschaft. B hat eigentüm-
lich: Vertrau dem Freunde, und mißtrau der Welt! Die Freundschaft
ist ein Kleinod voll Wunderkraft, dessen man sich nur durch Vertrauen
wert macht. Zweifel trübt den Glanz und zerbricht das Kleinod. Die
Welt ist nur die ringförmige Einfassung dieses Kleinods und erhält von
letzteren! erst die rechte Beleuchtung. Den Bettler macht die Freundschaft
reich, den König der Mangel derselben arm. P.
Fleming: Das getreue Herz.
549
207. Das getreue Herz?)
Paul Fleming. Nach: Deutsche
1. Ein getreues Herze wissen,
hat des höchsten Schatzes Preis?)
Der ist selig zu begrüßen 3),
der ein treues Herze weiß.
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze,
denn ich weiß ein treues Herze?)
2. Läuft das Glücke gleich zu Zeiten
anders, als man will und meint5),
ein getreues Herz hilft streiten
wider alles, was ist feind?)
Mir ist wohl usw.
3. Sein Vergnügen steht alleine
in des andern Redlichkeit?),
hält des andern Not für seines),
weicht nicht auch bei böser Zeit?)
Mir ist wohl usw.
Poemata. Lübeck 1642. S. 532.
4. Gunst, die kehrt sich nach dem Glücke"),
Geld und Reichtum, das zerstäubtu);
Schönheit läßt uns bald zurücke"),
ein getreues Herze bleibt.
Mir ist wohl usw.
5. Eins ist da sein und geschieden13),
ein getreues Herze hält,
gibt sich allezeit zufrieden,
steht auf, wenn es niederfällt.")
Ich bin froh") bei höchstem
Schmerze usw.
6. Nichts ist Süßers als zwei Treue,
wenn sie eines worden fein.16)
Dies ist's, des ich mich erfreue"),
und sie gibt ihr Ja auch drein").
Mir'ist wohl bei höchstem Schmerze,
denn ich weiß ein treues Herze.
I. Erläuterungen. 1. Die Treue (von trauen) ist das Ausharren
im Guten, die Stetigkeit und Festigkeit der Gesinnung. 2. Ein getreues
Herz gilt so viel wie der höchste Schatz. 3. Wer ein treues Herz sein eigen
weiß, der ist selig (glücklich) zu preisen. 4. Der Dichter kennt ein solches
Herz als sein Eigentum, und das macht ihn so glücklich, daß selbst der
höchste Schmerz seinen Stachel verliert. Liebe und Treue lindern jeden
Schmerz und lassen das Gefühl des Glückes nie verschwinden. 5. Das
Glück (Fortuna) wird mit einem launischen, eigensinnigen Weibe ver-
glichen, das gern die Wünsche vereitelt und alle Pläne und Berechnungen
kreuzt. 6. Die Stetigkeit aber siegt immer im Streite wider das wetter-
wendische und feindliche Glück und Geschick und zwingt es endlich zum
Gehorsam. Die Bundesgenossenschaft mit einem treuen Herzen macht ge-
duldig, zäh und froh und dadurch sieghaft. 7. Das treue Herz findet
sein höchstes Glück in der Redlichkeit ---- der Rede gemäß, oder in der
aufrichtigen Erwiderung des anderen Teiles. 8. „Einer trage des andern
Last." Geteiltes Leid ist halbes Leid. 9. Es verläßt ihn nicht in der
Not. Das auch kann einen doppelten Sinn haben: Das getreue Herz
weicht nicht, wie falsche Freunde tun; oder es weicht nicht, auch wenn
die Zeiten böse sind. 10. Gunst (von gönnen) oder Wohlwollen oder
Zuneigung wendet sich meist denen zu, die im Glücke sind. 11. Die Herr-
lichkeit der"Erden muß Staub und Asche werden. Motten und Rost fressen
diese Schätze. 12. Die Schönheit ist ein flüchtiges Gut, das wir nicht
festzuhalten vermögen. 13. Dem treuen Herzen ist es eins (gleich), ob
der geliebte Gegenstand da ist, bei ihm weilt oder von ihm geschieden
ist. ES hält in jedem Falle fest an Glauben, Lieben und Hoffen. 14. Irrt
cs einmal, wird es getäuscht, gekränkt, ja mit Füßen zu Boden getreten,
immer wieder erhebt es sich zum Glauben, Lieben und Hoffen. 15. Der
Kehrreim „Mir ist wohl —" ändert sich hier in „Ich bin froh —
DaS Wohlgefühl steigert sich zur Freude beim Hinblick auf die höchste
550
III. Lyrische Gedichte.
Leistung des getreuen Herzens. 16. Kein schöner Bild und kein süßer
Glück gibt es auf Erden, als wenn zwei Treugesinnte (Freunde, Braut-
leute, Gatten) in der Liebe eins geworden sind. „Zwei Seelen und ein
Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag." 17. Dieses Glückes erfreut sich
der Dichter; denn er hat die gesunden, mit der sein Herz in treuer Liebe
vereint, eins ist. 18. Und sie, die Geliebte des Herzens; spricht ihr
Ja zu dem Bunde der Herzen, der am Altar seine Weihe und Be-
siegelung findet.
II. Vertiefung. 1. Die Eigenschaften des treuen Herzens:
Es übertrifft an Wert alle Schätze, beseligt den Besitzer und lin-
dert den Schmerz. Es bleibt standhaft im Ungemach und entwaff-
net endlich alle Feinde. Anspruchslos will es nur aufrichtige Er-
widerung, teilt und trägt frentbe Not wie eigene und verlüßck auch
in böser Zeit den Geliebten nicht. Es ist nicht wandelbar und läuft
nicht dem Glücke, dem Reichtum und der Schönheit nach. Auch bei der
Trennung hält es aus, bleibt zufrieden bei Entbehrungen, erholt
sich von jedem Schlage, erhebt sich von jedem Fall und verwindet
die schmerzlichsten Enttäuschungen. Die höchste Seligkeit auf Erden ist es,
wenn zwei getreue Herzen völlig eins geworden sind.
2. Gedankengang. Str. 1. Ein treues Herz ist der höchste und
beglückendste Schatz auf Erden. Str. 2. Es ist der beste Bundesgenosse
in den Widerwärtigkeiten des Lebens. Str. 3. Es findet in schranken-
loser Hingabe und im Tragen fremder Lasten sein Glück. Str. 4. Im
Wandel und Wechsel von Glück, Reichtum und Schönheit bleibt es be-
ständig. Str. 5. Auch Trennung, Schlag und Fall wirft es nicht nieder.
Str. 6. In voller Gemeinschaft der Herzen erblüht das süßeste Glück.
Grundgedanke ist der Kehrreim: Mir ist wohl bei höchstem
Schmerze, denn ich weiß ein treues Herze.
3- Schönheiten der Form. Der schlichte Vers- und Strophen-
bau in der Weise des Volksliedes, ein warmer Hauch der Innigkeit, der
Gegensatz zwischen der Unbeständigkeit alles Irdischen und der Beständig-
keit eines treuen Herzens, zwischen den Schmerzen des Lebens und der
beglückenden Macht der Treue, und endlich der schöne Kehrreim wie das
jubelnde Ausklingen in einem Preisgesang des eigenen Glückds ergreifen
wunderbar in dein Gedichte.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung und Verwandtes. Si-
mon Dachs Lob der Freundschaft (II, Nr. 206). — „Des Christen Herz
auf Rosen geht, und wenn's auch unterm Kreuze steht." — Wo euer
Schatz ist, da ist auch euer Herz. — „Sei getreu bis in den Tod —."
Einer trage des andern Last (Gal. 6, 2). — Die Welt vergehet mit
ihrer Lust (1. Joh. 2, 17). — 1. Mos. 2, 24: Darum ivird ein Mann
seinen Vater und seine Mutter verlassen —. „Wo zwei Herzen eins ge->
worden, blaut der Himmel allerorten."
2. Aufgaben, a) Wie zeigt sich ein treues Herz in den verschie-
denen Lagen des Lebens? b) Suche Beispiele treuer Herzen aus Lesebuch
oder Bibel! e) Vergleiche: Lob der Freundschaft lNr. 206) und „Das
getreue Herz"! ?.
Lenau: Der Po stillan.
551
208. Der Postillon.
Nikolaus Lenau. Werke. Leipzig, Bibliogr. Institut. Bd. l, S. 102.
1. Lieblich war die Maiennacht, ob der holden Frühlingspracht
Silberwölklein flogen, freudig hingezogen. Usw.
(Das Gedicht findet sich in vielen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung. Der Dichter Lenau suchte in Amerika das Glück,
das er in Deutschland nicht gefunden hatte. Aber auch dort floh es ihn,
und nichts als schmerzliche Enttäuschung fand er in der Neuen Welt. Ans
seinen widerlichen Verhältnissen auf seiner Farm am Missouri flogen seine
sehnenden Gedanken zurück nach Deutschland und malten ihm die Bilder
der Heimat in den schönsten Farben. So gestaltete sich eine nächtliche
Reiseerinnerung aus Schwaben zu dem köstlichen Gedichte „Der Postillon".
Er legte das Lied einem Briefe an seine Freundin, Frau Hofrat Emilie
Reinbeck in Stuttgart, datiert vom 5. März 1833 aus Lisbon, bei. In
einer mondhellen Mainacht fuhr Lenau im Postwagen von Stuttgart
über Tübingen und Hechingen nach Balingen durch eine schöne schwäbische
Landschaft, ein blühendes Revier. Vier flinke Rosse zogen den Wagen;
auf dem einen saß ein gewandter Postillon, d. h. Postkutscher, den
die Reisenden scherzhaft auch Schwager („im verblaßten Sinne einer
vertraulichen Anrede" — Grimm, Deutsches Wörterbuch) nennen. Er
schwang die Geißel (Peitsche) und blies auf seinem Posthorn muntere
Wanderlieder. Die Fahrt ging über Berg und Tal, durch Wiesen und
Haine (Wälder), durch schlafende Dörfer und blühende Hage (Ge-
hege, Gebüsche, Zäune) im Fluge davon (dahin, fort). Unter einem
Berghange, an den sich ein Friedhof lehnte, machte der Postillon Halt und
entschuldigte sich bei seinem Passagier wegen der Säumnis, die aber die
Erreichung des Reiseziels nicht gefährden (in Gefahr bringen, in Frage
stellen) sollte. Im bleichen Mondenschimmer ragte aus den Kreuzen und
Leichensteinen das „Kreuzbild Gottes", d- h. ein hohes Kreuz mit
dem gekreuzigten Gottessöhne. Hier am Ruheplatze der Toten übte der
Postillon als treuer Freund einen rührenden Kultus der Liebe, der dcni
Dichter unvergeßlich blieb. (Vortrag des Gedichts.)
II. Erläuterungsfragen. Was ist ein Postillon? Wann und wo trug
sich das Ereignis zu? Warum heißen die leichten Wolken am Himmel
Silberwölkchen? (Der blaue Himmel schimmert durch sie, und das
bleiche Mondlicht färbt sie silbergrau.) Wie deutet der Dichter ihre lieb-
liche Färbung und ihr behagliches Dahinziehen? (Als ob der Frühling
sie in freudige Bewegung gesetzt und gleich einem Schleier über die Pracht
gebreitet habe.) Welches Wörtchen kann in Str. 1 für „ob" gesetzt wer-
den? (Über.) Woran sieht man den Schlummer von Wiese und
Hain? Wovon sind sonst die Pfade (Wege, Straßen) belebt? Wer ist
jetzt der einzige Wächter? Wie wacht er? (Er scheint überall hin, so
daß sich die Bösen nicht ins Dunkel verstecken können.) Warum heißen
die Blumen Frühlingskinder? Welches ist ihr Sch lafgemach oder
Schlafzimmer? W i e s p r a ch das Lüftchen? (Es säuselte in den Blättern.)
552
III. Lyrische Gedichte.
Warum leiser und gelinder, wärmer und milder, als gewöhnlich?
(Um die lieblichen Schläfer nicht zu stören.) Wie schlich das Bächlein
heimlich? (Sein Wasser verbarg sich unter Gebüsch, Gras, Blumen
und floß geräuschlos.) Warum schlich es nur langsam,gleichsam zögernd?
(Als ob es sich nicht von dem Blütenduste trennen könnte.) Womit ver-
gleicht der Dichter den Duft der Blüten? (Mit Träumen.) Wie zeigt
sich in der zarten Frühlingsschönheit die Rauheit des Postillons? Wo-
hin ging die Fahrt? Warum hörte man so deutlich und fernhin den Hus-
schlag der vier Rosse? (Alles still; der Weg fest; der Tritt sicher und
rasch.) Was ist das blühende Revier? Warum trabten die Pferde
(liefen in kurzen Schritten) mit Behagen? (Die Last war nicht schwer,
der Weg gut, die milde Luft angenehm, die Hitze nicht drückend, der
Posthornton ermunternd.) Wie wurden Wald und Flur gegrüßt und
dann gemieden? Wie zeigte sich der Dörfer Frieden? Wie schwand
er? (Es wurde rasch hindurchgefahren.) Wie zeigte sich das Maien-
glück? Was ist der rasche Wanderblick? (Der nach Schönheit und
Abwechselung umherschweifende Blick eines Wanderers.) Warum wird er
festgehalten und veranlaßt ernstes Sinnen? Womit war der Gottes-
acker umgeben? Was ist das Kreuzbild Gottes? Warum stand es in
Trauer? Wer ist der Schwager? Warum wird er still, sieht trübe
aus und hält an? Wer lag auf dem Friedhofe begraben? (Ein Kamerad,
auch ein Postillon, sein Freund, den er wie einen Bruder geliebt.) Wie
hält Roß und Rad? Wie konnte der Aufenthalt den Reisenden gefähr-
den? Was rühmte der Postillon an seinem toten Kameraden? (Sein
fröhliches Gemüt und sein kunstvolles Blasen.) Was ist das Leiblied?
(Das Lieblingslied.) Was sind Wandersänge? (Die Melodien von Reise-
liedern.) Welchen treuherzigen Glauben hatte der Postillon? (Sein
Freund und Bruder höre die Lieder im Grabe.) Was tat das Echo vom
Berge? (Es antwortete.) Wie war da dem Postillon? (Als ob der tote
Kamerad in seine Lieder einstimme.) Warum ging's weiter mit ver-
hängtem Zügel, also in großer Eile? (Um die versäumte Zeit wieder
einzuholen.) Was glaubte der Reisende noch lange zu hören? (Das wun-
derbare Echo vom Friedhof, das wie eine Stimme aus jener Welt ge-
klungen hatte.)
III. Vertiefung. 1. Gesamtbild. Es ist eine stille, milde Maien-
nacht in einer Hügellandschaft. Leichte, silberfarbige Wölkchen ziehen über
den blauen Himmel; der Mond wandert schweigend über die schlafende
Erde und überflutet sie mit seinem Lichte. In dem Laube des Haines
flüstert der warme Nachtwind. Durch die Wiesen eilt zwischen einer Ein-
fassung von Gebüsch das Büchlein. Überall duften die Blumen. Über den
Berg und durch das Tal zieht sich die Landstraße wie ein weißes Ordens-
band. Die Häuser eines Dorfes sind schier begraben zwischen Obstbäumen.
Alles schläft in Frieden. Am Fuße eines Hügels hält auf der Land-
straße der Postillon. Hufschlag und Räderrollen, das weithin durch die
stille Nacht scholl, ist plötzlich verstummt. Die vier Rosse stehen schnaubend
still. Der Postillon legt die Peitsche beiseite und greift zum Posthorn an
Lenau: Der Postillon.
553
seiner Seite. Vor ihm am Bergeshang liegt ein Friedhof, den eine bleiche
Mauer umfaßt. Inmitten der Gräber, Kreuze und Leichensteine erhebt
sich ein hohes Kruzifix. Der Postillon bläst auf seinem Horn ein er-
greifendes Lied, und vom Friedhofsberge antwortet das Echo wie eine
Stimme von oben. Gerührt, ja erschüttert lauscht ein Passagier im Wagen
den ergreifenden Klängen.
2. Gedanken gang. Abschn. I. Die schöne Frühlingsnacht
(Str. 1—4): a) Himmel, b) Erde, c) Blumen, d) Bächlein. Abschn. II.
Die nächtliche Postfahrt (Str. 5—7): a) Peitschenschall und Post-
hornklang, b) die trabenden Rosse und der rollende Wagen, c) der flüch-
tige Flug durch Wälder, Fluren und Dörfer. Abschn. III. Der ernste
Friedhof (Str. 8—9): a) wie er den Blick fesselte, b) wie er aussah.
Abschn. IV. Das Werk der Liebe (Str. 10—15): a) Halt, b) Ent-
schuldigung, c) Lob des Freundes, 6) Grund des Haltens, e) Liebesgruß,
f) Antwort. Abschn. V. (Str. 16): Die Weiterfahrt.
Grundgedanke. In der Frühlingspracht — ein Friedhof, auf
rascher Fahrt — ein plötzlicher Halt, in treuer Pflichterfüllung — der
Dienst der Liebe: das sind die wechselnden Bilder des Erdenlebens!
Oder: Die Liebe höret nimmer auf; am Grabe ist ihre heilige
Opferstätte.
3. Schönheiten. Das Gedicht ist reich an herrlichen Bildern.
Str. 1. Silberwölkchen sind wie ein zarter Schleier über die Frühlings-
pracht hingezogen. Str. 2. Wiese und Hain schlummern. Auf den ver-
lassenen Straßen ist der Mondenschein der einzige Wächter. Str. 3. Das
Lüftchen flüstert leiser und zieht gelinder über die stille Erde, um dis
schlafenden Blumen nicht zu wecken. Str. 4. Das Bächlein fließt nur
widerwillig weiter, weil die Dustträumc der Blüten ihm gar zu gut ge-
fallen. Str. 5. Peitschenknall und Hörnertöne fallen rauh in diese Schön-
heit, eilen aber mit dem rollenden Wagen rasch über Berg und Tal dahin.
Str. 6. Die Natur ein blühendes Revier, Husschlag in der stillen Nacht
das einzige Lebenszeichen. Str. 7. Die schnelle Fahrt ist Traumesflug,
ein flüchtiger Gruß, dem sofortiges Scheiden und Meiden folgt. Str. 8.
Der trunkene Blick haftet erschrocken auf dem Kirchhof mitten in der
Frühlingsherrlichkeit. Str. 9. Die hingelehntc bleiche Mauer und das
Kreuzbild in stummer Trauer. Str. 10. Wie sich die Schnelligkeit der
Fahrt mindert, so schwindet die Freudigkeit aus dem Antlitz des Postillons.
Str. 11. Roß und Rad, statt Pferde und Wagen. Str. 13. Das Leiblied
als Brudergruß. Str. 14. Die Hornklänge als Liebesboten. Str. 15.
Das Echo vom Berge als Antwort des toten Freundes. Str. 16. Der
verhallte Klang lag als Erinnerung im Ohre und klang als fortwirkende
Mahnung im Herzen weiter.
IV. Verwertung. 1. Für Herz und Leben. Laß deine Taten in
deiner Liebe weiterleben! — Die Liebe reicht als Treue über das Grab
hinaus. — Wenn dich Gott grüßt bei stiller Nacht oder am hellen Tage,
in Freud oder Leid, durch Blumen oder Gräber, durch Kirchhof oder
554
III. Lyrische Gedichte.
Kirche, — so danke ihm und geh nicht stumm und empfindungslos vor-
über; Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt.
2. Verwandtes. „Ich hab' mein Roß verloren" — (I, Nr. 227)
— „Ich hatt' einen Kameraden" — (I, Nr. 223) — Ein Grab — (I,
Nr. 223) — „Wir zogen miteinander" (II, Nr. 235) — Der Trompeter
an der Katzbach (II, Nr. 234) — „Beim Totengräber pocht es an" (II,
Nr. 114). '
3. Aufgabe. Wie zeigte sich der Postillon rauh und doch höf-
lich, kräftig und rasch, von tiefem Gemüt, als ein gewandter
Rosfelenker und geschickter Hornbläser, als treuer Freund und guter
Kamerad? P.
2V9. A. Beschreibung einer frommen Magd.
Bartholomäus Ringwaldt. Die Lauter-Wahrheit. Erfurt 1595. S. 307.
(In heutiger
Ein' fromme Magd von gutem
Stand x)
geht ihrer Frauen?) feinI. * 3) zur Haud,
hält Schüssel, Tisch und Teller weiß
zu ihrem und der Frauen Preis.
Sie trägt und bringt kein' neue Mär4 5),
geht still in ihrer Arbeit her,
ist treu und eines keuschen Muts
und tut den Kindern alles Guts.
Schreibweise.)
Sie ist auch munter, hurtig3), frisch,
verbringet ihr Geschäfte risch3)
und hält's der Frauen wohl zu gut,
wenn sie um Schaden reden tut?)
Sie hat dazu ein' fein' Gebärd,
hält alles sauber3) an dem Herd,
verwahrt das Feuer und das Licht
und schlummert in der Kirchen nicht.
I. Vermittlung. 1. — von gutem Stand' von gutem Ruse, die
streng auf Zucht, Ehre und guten Namen hält. 2. „Frauen "ist die ältere,
im 18. und 19. Jahrhundert nur noch dichterisch gebrauchte Form des
Genetivs und Dativs Sing, der schwachen Biegung; vgl. Liebfrauen-
kirche, in der Erden, auf der Straßen. 3. Das Wort „fein" hatte früher
die Bedeutung von wohl, gut, brav. 4. Sie ist nicht klatschhaft.
5. hurtig — Synonyme: fleißig, emsig, hastig, geschwind, rasch, risch,
behende, flink, schnell. 6. risch, verwandt und gleichbedeutend mit rasch.
Bürger: rischrasch. 7. Sie zürnt ihrer Herrin nicht, wenn diese über
angerichteten Schaden schilt. 8. sauber — Synon. fein, schön, schmuck,
blank, rein, (militärisch) proper.
II. Vertiefung. Das Gedicht ist eine treffliche Charakteristik einer
braven Magd und schildert uns l. wie sie ist. n) Sie ist behilflich,
zuvorkommend (Str. 1, V. 2); b) reinlich und ordentlich
(V. 3); o) nicht schwatz- und klatschsüchtig (Str. 2), sondern
ä) still, ehrsam und arbeitsam; e) treu, keusch und züchtig,
liebreich und freundlich mit den Kindern. I) Sie ist heiter, flei-
ßig, flink und rasch (Str. 3); g) sie ist nicht mürrisch oder gar
widerspenstig, sondern demütig und bescheiden, h) Sie ist
wohlgesittet und artig (Str. 4), vorsichtig mit dem Feuer,
fromm und a n d ä ch t i g in der Kirche. 2. W a s s i e tut. Siehe den Text!
(In Str. 2, V. 3 und Str. 3, B. 1 ist die eigenschaftswörtliche Aussage
Sturm: Jungfer Margaret. — Pfeffel: Die Tabakspfeife.
555
in eine durch ein Tätigkeitswort ausgedrückte zu verwandeln, z. B. sie
übt Treue und beweist einen keuschen Sinn.)
III. Verwertung. Rede-und Stilübungen. 1. Übertragung des
Inhalts*). Der brave Knecht. Ein braver Knecht geht seinem Herrn
fein zur Hand, ist willig und dienstfertig in allen Stücken. Er'hält Hof,
Stall, Geschirr und Vieh rein zu seinem und seines Herrn Preis. Er redet
die Wahrheit und verleumdet andere nicht, sondern er beweist Treue
und Ehrlichkeit, ist nicht roh und unkeusch in Worten und Taten und
gegen das Vieh nicht unbarmherzig, sondern liebreich. Er ist heiter und
fleißig, verrichtet unverdrossen seine Arbeit, ist nicht mürrisch und wider-
spenstig, wenn sein Herr schilt. Er ist endlich ordnungsliebend und hält
alles sauber und rein, was ihm übergeben ist; dazu bewahrt er auch das
Feuer und das Licht, geht Sonntags zur Kirche und ist dort fromm und
andächtig.
2. Vergleiche: I*. Jungfer Margaret.
Jul. Sturm. Harfe u. Leper. Hannover 1854. <&. 120. Neue Gedichte. Leipzig 1856. S. 136
1. Das war die träge Margaret,
die wollte die Hand nicht regen;
da mußte die alte Mutter allein
wischen, waschen und fegen.
2. Das war die eitle Margaret,
die putzte sich schon am Morgen;
da mußte die alte Mutter allein
Keller und Küche besorgen.
3. Das war die schöne Margaret,
die tät den Burschen gefallen;
die tanzten und kosten gern mit ihr,
doch nahin sie feiner von allen.
4. Das war die verlassene Mar-
garet,
es kamen und gingen die Jahre;
vorbei war Puy und Spiel und Tanz,
die Mutter lag auf der Bahre.
5. Das ist die hungrige Margaret,
sie mochte die Hand nicht rühren;
dort kommt sie mit dein Bettelsack
und bettelt vor den Türen. R. I).
210. Die Tabakspfeife.
K. Pfeffel. Poetische Versuche. Frankfurt 1796. 4. Auflage. 1,24.
1. „Gott grüß' euch, Alter! — Schmeckt das Pfeifchen? —
Weist her! — Ein Blumentopf
von rotem Ton mit goldnen Reifchen!
Was ivollt ihr für den Kopf?" Usw.
(Das Gedicht findet sich in den meisten Lesebüchern.)
I. Geschichtliches. Die in Str. 2 und 3 erzählte Begebenheit ereignete
sich wahrscheinlich, als Belgrad, das früher türkisch-serbische Handels-
stadt nnd Grenzfestung am Einfluß der Save in die Donall war, im
Jahre 1717 von ben Österreichern unter dem Prinzen Eugen belagert
wurde. —- Der Prinz Engen von Savoyen war 1663 in Paris geboren.
Er ging in österreichische Dienste, weil ihn der König Ludwig XIV. von
*) In Oberklassen der gemischten Volksschulen empfiehlt es sich sehr,
Dichtungen, die für oie Mädchen geschrieben sind, auch auf die Knaben, und
umgekehrt, die für die Knaben bestimmten auch auf die Mädchen mit den
notwendigen Änderungen anzuwenden.
556
IIL Lyrische Gedichte.
Frankreich wegen seiner unansehnlichen Figur und augenscheinlich ge-
ringen Körperkraft nicht annehmen wollte. Im Jahre 1793 wurde er
schon österreichischer Feldmarschall. Ganz besonders zeichnete er sich als
Sieger bei Belgrad am 16. August 1717 aus. Er starb, geliebt von seinen
Soldaten und gefeiert als Held, im Jahre 1736 und lebt noch heute
in dem Volksliede fort: „Prinz Eugen, der edle Ritter" usw..
II. Erläuterungen. Str. 1. Der kostbare Pseifenkopf, aus Meerschaum
gemacht, hatte die Form eines Blumentopfes. Str. 2. Basse oder Bassa,
Pascha, ist der Statthalter einer türkischen Provinz, der gewöhnlich auch
im Kriege General der Soldaten seiner Provinz war. Das Wort ent-
stammt der persischen Sprache und bedeutet so viel als Fuß des Schahs
oder Sultans (Kaisers). Str. 3. „Wie Grummet sah man unsere Leute
der Türken Glieder mühn", d. h. die Türken fielen so massenhaft und
widerstandslos wie das Grummet (Grüngemähte), wenn es gemäht wird.
„Türkenglieder", kann heißen: die Glieder der einzelnen Türken, soll
aber wohl heißen die Glieder oder Reihen der Heeresabteilungen. Str. 4.
Tropf^törichter, wunderlicher, einfältiger, verstandesschwacher Mensch.
Str. 5. Gnadensold —die Pension oder das Geld, welches die abge-
dankten und nicht mehr kampffähigen (invaliden) Soldaten von ihren
Fürsten erhielten. Warum aus Gnade? Str. 6. Janitscharen waren
in früheren Zeiten die besten türkischen Fußsoldaten. Das Wort bedeutet
so viel wie neue Krieger. Ursprünglich rekrutierten sie sich aus klugen
und kräftigen Christenknaben, die alle fünf Jahre im ganzen Reiche aus-
gehoben und streng im Islam und in steten Waffenübungen erzogen wur-
den. Str. 11. Auf der Streife bei Prag (1757), beim Umher-
streifen, auf dem Streifzuge. Str. 12. Zähren, d. h. Tränen. Str. 13.
Ah ne^-Vorfahr, mindestens Großvater. Str. 15. Nun topp, d. h.
nun wohlan! eingeschlagen! es sei! es gilt! usw.
III. Gliederung. A. Str. 1—5. DerHandel um den Pfeifen-
kopf. Str. 1. Ein alter Invalide und ein junger Edelmann treffen zu-
sammen; der letztere fordert den Alten aus, ihm seinen Pfeifenkopf zu
verkaufen. Str. 2. Der Alte weigert sich und sagt, woher er den Kopf
erhalten habe. Str. 3. Der Alte erzählt einige Züge aus der Schlacht
vor Belgrad. Str. 4. Der Edelmann will davon nichts hören und bietet
dem Alten einen hohen Preis (nach unserm Gelde etwa 20 Mark).
Str. 5. Auch dieses Anerbieten weist der Alte zurück. — B. Str. 6—11.
Die Geschichte des Pfeifenkopfs. Str. 6. Bei einer Verfolgung,
erzählt der Alte, wurde sein Hauptmann verwundet. Str. 7 und 8. Der
Alte schildert die Samariterdienste, welche er dem Hauptmann erwiesen,
und die Dankbarkeit des Hauptmanns. Str. 9. Die Verwendung der
Erbschaft. Str. 10 und 11. Der Alte teilt mit, wie wert ihm die Pfeife
ist. — C. Str. 12—14. Der Erfolg der Erzählung des Alten.
Str. 12. Der Edelmann ist durch die Erzählung des Alten gerührt und
wünscht den Namen des Hauptmanns zu wissen. Str. 13. So unbe-
stimmt auch der Alte den Namen bezeichnet, so erkennt der Edelmann in
dem Hauptmanne seinen Vorfahren. Str. 14. Aus Dankbarkeit erbietet
Pfeffel: Die Tabakspfeife.
557
sich der Edelmann, den Alten mit auf sein Schloß zu nehmen. — D.
Str. 15. Das Vermächtnis. Str. 16. Der Alte geht mit und ver-
macht dem Edelmanne die Pfeife.
IV. Charakter der beiden Personen. So verschieden die beiden Per-
sonen nach Alter, Stand und Vermögen sind, so schnell werden sie Freunde
und gewinnen unser Interesse.
Der Alte ist ein Invalide mit einem Stelzfüße. Er erscheint als
ein ruhiger und bedächtiger Mann, der behaglich sein Pfeifchen
schmaucht. Zu dieser Ruhe und Bedächtigkeit paßt seine Bescheiden-
heit, mit welcher er, ohne auf die Frage direkt zu antworten, dem jungen
Edelmanne seine Erlebnisse zu erzählen beginnt. Dem Alten eigentüm-
lich ist auch seine Redseligkeit, mit der er seine Erinnerungen aus
dem Türkenkriege in ausführlicher Breite erzählt- Er gibt seiner Freude
darüber Ausdruck, daß er selbst bei dem Kampfe gewesen ist, erkennt aber
auch in großer Bescheidenheit die Verdienste anderer an, be-
sonders seines Vorgesetzten, des Prinzen Eugen, und seiner tapferen Kame-
raden. Seine Weigerung, den Kopf selbst um einen hohen Preis abzu-
lassen, beruht wiederum auf einer edlen Eigenschaft, nämlich auf der L i e b e
und innigen Zuneigung zu seinem Hauptmann. Der Pfeifenkops ist
ihm für G o l d nicht feil- Darin bekundet der Invalide auch seine Treue
und Anhänglichkeit an seinen Hauptmann: seine Tapferkeit,Tüch-
tigkeit und Treue belohnte der Hauptmann durch seine Liebe und
sein Vertrauen. Mehr aber als alle andern Eigenschaften leuchtet bei
dem Alten ein hochherziger, edelmütiger Sinn hervor, welcher sich
des vom Unglück Heimgesuchten erbarmt. Diese erbarmende Liebe,
welche der Alte in seiner Erzählung insoungeschminkterWahrheit,
ohne jegliche Selbstgefälligkeit vorträgt, gefällt dem Leser ebensosehr wie
dem reichen Edelmanne; auch wir möchten dem braven Stelzfüße die
Hand herzlich drücken. Endlich müssen wir auch noch die große U n ei gen-
nütz i g k e i t und den s e lb st l o s e n S i n n des Invaliden bewundern, der
bei seiner Armut — er lebt von einem kleinen Gnadensolde — um so
bewundernswerter erscheint.
Der junge Edelmann beweist durch seinen ersten Gruß eine gewisse
Freundlichkeit, die allerdings durch das „Weist her!" sowie durch
die plötzliche Forderung, ihm den Preis für den Kopf zu stellen und ihm
den letzteren käuflich abzulassen, etwas beeinträchtigt wird. Im Gegen-
satze zu der Ruhe und Bedächtigkeit des Alten zeigt sich der Edelmann
ungestüm und rasch, was seinem jugendlichen Charakter ganz und
gar gemäß ist. Allein dieses ungestüme Wesen und diese scheinbare Rau-
heit, die sich in den Worten „Hier, Alter, seid kein Tropf!" kund gibt,
schlägt durch die ergreifende Erzählung des Alten in große Milde und
Freundlichkeit um. Seine frühere Gleichgültigkeit gegen diese
Mitteilungen („Ein andermal von euren Taten!") wird nicht nur in
Interesse für dieselben verwandelt, sondern in seinem Herzen werden
dadurch auch die edelsten Gesinnungen wach: die Hochherzigkeit und
wahrhafte Menschenliebe und zugleich auch die Ach t u n g u u d L i e b e
558 III. Lyrische Gedichte.
gegen seine Vorfahren. So ehrt er sowohl sich selbst wie den alten Sol-
daten nnd seinen Ahnen.
V- Schriftliche Arbeiten. 1. Erzähle die Geschichte, als wärest dn der
Edelmann! 2. Welche Eigenschaften a) des Invaliden, b) des jungen
Mannes sind nachahmenswert? 3. Entwirf nach dem Gedicht ein Lage-
bild ! (Dorf — Hütte — Bank davor — Invalide mit Stelzsnß — Krücke
— Pfeife — Reiter ans der Straße nsw.) W. D.
211. Lorelei.
©eint. ©eine. Buch der Lieder. Hamburg 1874. S. 129.
1. Ich weiß nicht, was soll es be- ein Märchen aus alten Zeiten,
deuten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.
daß ich so traurig bin; Usw.
(Das Gedicht ist allgemein bekannt.)
I. Vorbereitung. Über St. Goarshausen steigt dicht am rechten Ufer
des Rheins senkrecht und steil ein Felsen 132 m hoch ans. Es ist der
Lorelei- oder Lnrlei-Felsen (die Lei, rheinisch — der Fels; so auch Kirchlei,
Rabenlei nsw.). Er war früher den Schiffern durch seine Riffe, d. h.
Sand- oder Klippenbänke, und Strudel im Wasser sehr gefährlich. Heute
sausen die Bahnzüge durch seinen 400 m langen Tunnel und gleiten die
Schiffe ungefährdet an ihm vorüber. Die Augen aller derer aber, die
auf der unvergleichlich schönen Rheinfahrt von Koblenz nach Bingen hier
vorbeikommen, richten sich nach der sonnbeglänzten Höhe des Berges und
wähnen dort, besonders im Glanze der Abendsonne, eine strahlende Jung-
frau sitzen zu sehen. Alle Ohren lauschen dem wunderbaren Echo, das
die Felswände als Antwort geben auf die Töne eines Hornes oder einer
lauten Menschenstimme vom gegenseitigen Ufer oder auf den Donner
einer Kanone vom Schiffe. Sie meinen den wehmütigen, ergreifenden
Gesang der Jungfrau aus der Höhe zu hören. Unwillkürlich stimmen
sie H. Heines herrliches Lied von der „Lorelei" an.
Schon der mittelhochdeutsche Dichter Marner erwähnt den „Lurlen-
berg" als den Ort, wo der Nibelungenhort versenkt läge. Um 1800 dich-
tete Klemens Brentano die Ballade:
„Zu Bacherach am Rheine
wohnt' eine Zauberin;
sie war so schön und feine
und riß viel Herzen hin."
Er erzählt weiter: Von ihrem Geliebten treulos verlassen, irrte die
Unglückliche seitdem fried- und freudlos umher. Ohne daß sie wollte,
schlug ihre Schönheit alle Männerherzen in Fesseln, ja selbst das des
Bischofs, der sie wegen Zauberei verurteilen sollte. Sie war des Lebens
müde, beklagte ihr Geschick und bat dringend um einen christlichen Tod
in den Flammen. Der Bischof aber verdammte sie nicht, sondern ließ
sie von drei Rittern in ein Kloster bringen. Auf dem Wege dahin bat
sie, vyn der Höhe eines steilen Felsen noch einmal nach dem Schloß des
Heine: Lorelei.
559
treulosen Geliebten und in den tiefen Rhein sehen zu dürfen, dann wollte
sie willig in das Kloster gehen und „Gottes Jungfrau" werden. Sie
erklomm den steilen Felsen, sah ein Schifslein auf dem Rhein daherfahren,
meinte in dem Schiffer den Geliebten zu erkennen, jubelte laut auf und
stürzte sich hinab in den Rhein- Die nachgekletterten Ritter konnten nicht
wieder hinab vom Felsen und kamen „ohne Priester und ohne Grab"
dort um. Seitdem ruft das Echo den vorüberfahrenden Schiffern vom
„Dreirittersteine" dreimal „Lorelei" zu.
Diesen Balladenstoff hatte der phantasievolle Brentano frei erfunden.
Nikolaus Vogt aber nahm ihn als „Rheinsage" in seine Sammlungen
auf; er ging als Sage ins Volk über und wurde von vielen für uralt
gehalten, bis die Kritik seinen eigentlichen Ursprung nachwies. Nach
Brentano haben noch viele Dichter den dankbaren Stoff verarbeitet und
umgestaltet (z. B. Eichendorsf, Wolfgang Müller von Königswinter, Sim-
rock usw.). Der nächste war wohl der Graf von Loeben mit feiner „Lore-
lei, eine Sage vom Rhein". (Erzählungen. Dresden 1824. Bd. II,
Nr. 197.)
t. Da, wo der Mondschein blitzet 4. Sie schaut wohl nach dem Rheine,
ums höchste Felsgestein, als schaute sie nach dir.
das Zauberfräulein sitzet Glanb's nicht, daß sie dich meine!
und schauet auf den Rhein. Sieh nicht, horch nicht nach ihr!
2. Es schauet herüber, hinüber,
es schauet hinab, hinaus,
die Schifflein ziehen vorüber, —
lieb Knabe, sieh nicht auf!
3. Sie singt dir hold zum Ohre,
sie blickt dich töricht an,
sie ist die schöne Lore,
sie hat dir's angetan.
5. So blickt sie wohl nach allen
mit ihrer Augen Glanz,
läßt her die Locken wallen
im wilden, goldnen Tanz.
6. Doch wogt in ihrem Blicke
nur blauer Wellen Spiel;
drum scheu die Wassertücke!
Denn Flut bleibt falsch und kühl.
Der Meisterguß der Sage in die poetische Form gelang dem Dichter
Heinrich Heine. Er hat das vorstehende Lied von Loeben zweifel-
los gekannt und benutzt, die einzelnen Züge desselben aber so wesentlich
umgestaltet und das Ganze in eine so reine, schöne Höhe der poetischen
Kunst gehoben, daß sein Lied ein völlig neues und viel, viel schöneres
als das Loebensche geworden ist.
II. Erläuterungen zu dem Heiueschen Gedichte. Str. 1. Im fremden
Lande erinnert sich der Dichter seiner Heimat, des schönen Rhcinlandes,
und einer unglücklichen Liebe, die früher sein Lebensschiff fast zum Schei-
tern gebracht hatte und die noch immer sein Leben zu vergiften drohte. Da
kommt eine tiefe Traurigkeit über ihn, er weiß selbst nicht, wie ihm ge-
schehen ist, und was das bedeuten soll. Die süßen, glänzenden Erinne-
rungen an seine Heimat und die schmerzlich-wehmütigen an seine unglück-
liche Liebe fließen zusammen und gewinnen sichtbare und faßbare Gestalt
in einem rheinischen Märchen, d. h. hier in einer früher gehörten Sage,
der Sage von der bezaubernden Lorelei auf dem Loreleifelsen am Rhein.
Str. 2. Wie zeichnet der Dichter so schlicht und meisterhaft den „Abend
auf dem Rheine"! Str. 3. Das Geschmeide-— von schmieden —
560
III. Lyrische Gedichte.
ist ein kostbarer, vom Goldschmied gefertigter Schmuck, der in funkelnden,
zuckenden Blitzen das Abendlicht widerstrahlt- Str. 4. Die Dichter brau-
chen in dem Worte Melodie nicht selten statt „ie" „ei", die alte Form
der Endsilbe, wegen des Reimes und Wohlklanges oder wegen des An-
klanges an die alte Zeit- Str. 5. Unten die gefährlichen Risse (Sand-
bänke und Felsklippen mit Strudeln und Wirbeln dazwischen) und oben
der verlockende Gesang und die bezaubernde Schönheit der Jungfrau!
Gefahren oben und unten, oben lockend, unten unbeachtet! Eine unbe-
zwingliche Sehnsucht nach dem Besitze der Jungfrau, die bei ihrer Aus-
sichtslosigkeit zu wildem Weh wird, läßt den Schiffer alle Gefahren und
seine Pflicht vergessen. Str. 6. Nicht untergehen sehen wir den Schiffer
— die Dissonanz würde zu grell sein! —, aber wir glauben (ahnen,
fürchten), daß er diesem Geschick nicht entfliehen wird. Und das stimmt
uns tief traurig. Nicht wenig trägt zu dieser Wirkung des Liedes die
ergreifende Silchersche Melodie bei.
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Ein Sommerabend auf dem Rheine.
Im Tale dunkelt der Abend; kühl weht der Wind; ruhig fluten die grün-
blauen Wasser des Rheines dahin. Der hohe Gipfel des Loreleifelsens
funkelt noch im Abendgolde. Die spielenden Lichter auf den wunderbaren
Felsformen gleichen einer Jungfrau, die ihr goldgelbes Haar kämmt. Am
Fuße des Felsens, nahe den Riffen und Wirbeln, schwimmt ein Nachen.
Ein Schiffer sitzt darin, schaut mit verzückten Blicken in die Höhe und
läßt die Ruder müßig und machtlos ins Wasser hängen. Geheimnisvolle
Töne lassen sich wie Gesang aus der Höhe vernehmen.
2. Gedankengang. Str. 1. Eine Erinnerung stimmt den Dichter
traurig. Str. 2. Im Geiste sieht er den Rhein an einem schönen Abend.
Str. 3. Auf dem Gipfel des Berges sitzt die schönste Jungfrau in herr-
lichem Schmucke. Str. 4. Sie kämmt ihr goldhelles Haar und singt ein
wunderbares Lied. Str. 5. Der Schiffer im Nachen am Fuße des Felsens
vergißt die Gefahr zwischen den Riffen und lauscht mit schmerzlicher Sehn-
sucht empor. Str. 6. Der zauberische Gesang wird wohl seinen Unter-
gang herbeiführen.
Grundgedanke: Das Sehnen und Verlangen einer unglücklichen
Liebe, die gegen Gefahren blind und taub macht, den Willen und die Kraft
erschlafft, führt ins Verderben. Oder allgemeiner: Sehnst du dich nach
einem unerreichbaren Gute, legst dabei die Hände in den Schoß, bist
blind gegen die Gefahren und vergissest deine Pflichten, so wird dein
Lebensschiff zugrunde gehen.
3. Schönheiten der Dichtung. Die schlichte, natürliche und doch
so treffende Sprache zeigt in der höchsten Einfachheit die höchste Schön-
heit. Die deutschen Akzentverse sind ein besonders kleidsames Gewand
für den Inhalt. Die berückende Schönheit der Jungfrau oben und der
schlichte Schiffer im kleinen Kahne unten, das bestrickende Lied oben und
das Brausen des Rheines zwischen den Riffen unten, die Unerreichbarkeit
des herzlosen Weibes oben und das wilde Weh und sehnende Verlangen
des Schiffers unten, Lust und Schönheit oben, Nacht und Verderben unten,
u h land: Freie Kunst.
561
der friedliche Abend in der Natur und die wilde Katastrophe in einem
Menschenherzen und Menschengeschick sind erschütternde Gegensätze in denk
Gedichte.
Eine Dreiheit von Tatsachen: eine Naturszene, eine Sage und ein
Erlebnis des Dichters fließen in dem Gedichte zu poetischer Einheit zu-
sammen. Die Na tursz ene ist der Loreleifelsen am Rheine, dessen Gipfel
golden in der Abendsonne glänzt, während an seinem Fuße der Rhein
sich in Dunkel hüllt und dem Schisser die gefährlichen Klippen verbirgt.
Die Sage berichtet, daß die schöne, aber herzlose Lorelei abends und
im Mondenscheine auf dem Felsen sitzt und durch ihre Schönheit und ihren
Gesang den Schisser im Nachen berückt, so daß er Pflicht und Gefahr ver-
gißt und von den Wellen verschlungen wird. Das Erlebnis des Dich-
ters: Ein schönes, aber liebloses Weib hatte seine Augen gefesselt und sein
Herz gebunden; sie erwiderte seine Liebe nicht, und doch konnte er sie nicht
vergessen und seine Gedanken nicht von ihr wenden. Er fürchtete, daß
an dieser unglücklichen, hoffnungslosen Liebe sein Lebensglück scheitern
würde. • ;
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Simrocks „Warnung vor
dem Rhein", Str. 5:
„Und im Strome, da tauchet die Nix' ans dem Grund,
und hast du ihr Lächeln gesehn,
und grüßt dich die Lurlei mit bleichem Mund,
mein Sohn, so ist es geschehn."
Eichendorffs „Lorelei" (Gedichte, Leipzig 1874. S. 414).
1. „Es ist schon spät, es wird schon
kalt;
was reitst du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
du schöne Braut, ich führ' dich heim!"
2. „„Groß ist der Männer Trug
und List,
vor Schmerz mein Herz gebrochen ist.
Wohl irrt das Waldhorn her und
hin,
o flieh! du weißt nicht, wer ich bin!""
3. „So reich geschmückt ist Roß und
Weib,
so wunderschön der junge Leib;
jetzt kenn' ich dich — Gott steh mir bei!
Du bist die Hexe Loreley."
4. „„Du kennst mich wohl! — von
hohem Stein
schaut still mein Schloß tief in den Rhein.
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
kommst nimmermehr aus diesem
Wald!""
2. Rede-und Stilübungen a) Vergleiche Heines Lied mit dem
Loebens! — b) mit dem Eichendorffs! — c) Wie hat die Sage den
sonnigen Felsgipfel, die spielenden Lichter, das Rauschen und
Klingen des Rheines und das Echo der Felsen, die Felsen-
riffe im Wasser, den gespannten Aufblick der Reisenden zur Höhe,
die Gefahr des Schiffleins poetisch umgestaltet? ?.
212. Freie Kunst.
L. Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. T. I, S. 47.
I. Vorbereitung. Die Dichtkunst ist ein freies Geschenk des Himmels,
eine göttliche Gabe. Wem dieser himmlische Funke, dies göttliche Samen-
korn in die Seele sank, der hat ein Recht, zu singen und zu sagen von
562
III. Lyrische Gedichte.
dem, was sein Herz bewegt. Einen Zunftbrief kann ihn: niemand darüber
ausstellen.
Die Dichtkunst ist kein Handwerk, das nachgeahmt und nach Re-
geln gelernt werden kann, keine geheime Kunst wie die Nekromantik,
die abgeschiedene Seelen zurückrief und über die Zukunft befragte, oder
wie die Alchimie, d- h. Scheidekunst, die durch geheimnisvolle Formeln
und Schmelzprozesse den Stein der Weisen erfinden und aus schlechten
Metallen Gold machen wollte. Die Dichtkunst läßt sich nicht in tote Re-
geln und geheime Formeln zwängen, sonst entartet sie und sinkt zum
zünftigen Handwerk herab.
So verstieg sich im Mittelalter der Minnesang oder die Ritter-
poesie an den Höfen und auf den Ritterburgen zu immer größerer Künst-
lichkeit und stellte ein System von Regeln auf, das jede freie Bewegung
und jeden geistigen Schwung unterdrückte. So artete der Meistersang
der Handwerker in ihren Singschulen durch den Regelkram in lächerliche
Künstelei und inhaltslose Spielerei aus und übte auf seine Mitglieder
einen zunftmäßigen Zwang aus.
Die Poesie ist die freie Kunst des dichterischen Schaffens. Die Be-
rechtigung zum Dichten (Singen) kann kein Fürst im Marmorpalast, kein
Priester im Tempel und kein berühmter Name verleihen. Sie folgt der
freien Begeisterung, dem Drange und Triebe des Herzens. „Ich singe,
wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet," spricht der Goethische
Sänger. Und auch Uhland fordert das Recht zur freien Übung der Dicht-
kunst und muntert jeden zum Singen auf, dem Gott des Gesanges Gabe
und einen liedersüßen Mund geschenkt hat.
II. Unmittelbarkeit. Vortrag des Gedichts.
1. Singe, wem Gesang gegeben
in dem deutschen Dichterwald!
Das ist Freude, das ist Leben,
wenn's von allen Zweigen schallt.
2. Nicht an wenig stolze Namen
ist die Liederkunst gebannt;
ausgestreuet ist der Samen
über alles deutsche Land.
3. Deines vollen Herzens Triebe,
gib sie keck im Klange frei!
Säuselnd wandle deine Liebe,
donnernd uns dein Zorn vorbei!
4. Singst du nicht dein ganzes Leben,
sing doch in der Jugend Drang!
Nur im Blütenmond erheben
Nachtigallen ihren Sang.
5. Kann man's nicht in Bücher binden,
was die Stunden dir verleihn:
gib ein fliegend Blatt den Winden!
Muntre Jugend hascht es ein.
6. Fahret wohl, geheime Kunden,
Nekromantik, Alchimie!
Formel hält uns nicht gebunden,
unsre Kunst heißt Poesie.
7. Heilig achten wir die Geister,
aber Namen sind uns Dunst;
würdig ehren wir die Meister,
aber frei ist uns die Kunst.
8. Nicht in kalten Marmorsteinen,
nicht in Tempeln dumpf und tot,
in den frischen Eichenhainen
webt und rauscht der deutsche Gott.
III. Vertiefung. 1. Erläuterungsfragen. Str. 1. Wie wird
der Gesang gegeben? Warum gleichen die deutschen Dichter einem
Walde? (Es sind ihrer so viele von mannigfacher Begabung und Größe.
Sie stellen das Grünen und Blühen, das Singen und Klingen des deut-
Uhland: Freie ànsi. 5tzZ
scher: Geistes und Lebens dar.) Womit ist ihr Singen verglichen, da es
von allen Zweigen (ans allen Orten und Ständen) schallt?
Str. 2. Nenne einige stolze (hochberührnte) Namen, mit denen der
Begrifs dichterischer Meisterschaft untrennbar verbunden ist! (Goethe und
Schiller.) Wie ist der göttliche Same der Dichtkunst über alles deutsche
Land ausgestreut? (Es finden sich überall sangeslustige und sangeskun-
dige Deutsche.)
Str. 3. Wie gibt man die Triebe des vollen Herzens keck
(mutig) im Klange frei? (Wenn man das, wasmns innerlich nagt
und Plagt, drängt und treibt, getrost dichtet, singt und sagt.) Wie wan-
deltdieLiebesäuselnd vorbei? (Wenn die Liebesgedichte zart, sanft
und süß wie milde Lüfte sind.) Wie wandeltderZorn (der Unmut über
Schlechtes) donnernd an uns vorbei? (Wenn die Gedichte, welche das
Unrecht geißeln, laut und stark, herb und derb — gleich einem Gewitter
oder tosenden Waldstrom — die Wahrheit sagen.)
Str. 4. Warum ist die Jugend besonders gesanglustig? (Sie ist voll
Lebenskraft, voll Begeisterung und voll Hoffnung. Wes das Herz voll
ist, des gehet der Mund über.) Wem gleichen sie darin? (Den Nachti-
gallen, die im Blütenmonat Mai am schönsten singen.)
Str. 5. Welche Stunden sind gemeint? (Der dichterischen Be-
geisterung.) Was verleihen sie? (Glückliche Gedanken, Lust zum Dich-
ten.) Warum kann man die dichterischen Erzeugnisse solch angeregter
Stunden nicht in Bücher binden? (Das sind nur einzelne Lieder und
oft nicht wertvoll genug zum Aufbewahren.) Was stand auf den flie-
genden Blättern? (Einzelne Gedichte, Kinder des Augenblicks, zu
besonderen Zeiten und für besondere Gelegenheiten gedichtet.) Wie gab
man sie den Winden? (Man bot sie auf Märkten, in Wirtshäusern und
auf den Straßen feil, ja warf sie als lustiges Spiel der Winde in die Luft
und unter die Haufen der Kinder, die munter hinterher jagten und eins
zu erhaschen strebten.) Wie erfüllte ein so erhaschtes Blatt oft seine
Aufgabe? (Es wurde daheim gelesen, ging von Hand zu Hand, und das
Lied bürgerte sich in Familien und Gesellschaftskreisen ein, — wurde
zum Volksliede.)
Str. 6. Welche Geheimkünste (gsheime Kunden) sollen verab-
schiedet werden? (Nekromantik und Alchimie.) Warum hat die Poesie
nichts mit ihnen zu tun? (Sie ist eine freie Kunst und weiß nichts von
geheimen Kunststücken.) Wodurch läßt sie sich nicht einengen und fesseln?
(Durch Regeln und Formeln.)
Str. 7. Welche Geister sind heilig geachtet? (Denen Gott die
Gabe der Dichtkunst verliehen hat, und die Großes geschaffen haben.)
Wann sind berühmte Namen Dunst, d. h. wesenlose Luft, lästige Auf-
blähung? (Wenn sie den Geist der Poesie in Regeln schlagen und zur
sklavischen Nachahmung zwingen wollen.) Wie ehren wir die Meister
würdig? (Wir erkennen ihre Verdienste an, stellen sie hoch über uns
und suchen von ihnen zu lernen.) Wozu darf aber die Verehrung
36*
564
III. Lyrische Gedichte.
nicht werden? (Znr blinden Nachahmung. — Wie er sich räuspert, und
wie er spuckt, das habt ihr ihm glücklich abgeguckt.)
Str. 8. Wo ist die Wohnung und Werkstätte des deutschen Dichter-
geistes? (In der freien Natur, in den frischen Eichenhainen.) Wo nicht?
(In Marmorpalästen, wo ein kaltes, steifes, herkömmliches Zere-
moniell den frischen, freien Geist in Fesseln legt. Auch nicht in dumpfen,
toten Tempeln, wo Formendienst die Seele ermattet und stumpf macht,
statt daß lebendige, freudige Frömmigkeit die Flügel des Geistes regt.)
2. Charakter der Poesie. Sie ist eine himmlische Gabe, kein
Vorrecht einzelner, sondern verbreitet im ganzen deutschen Lande. Sie
schafft Freude und Leben, findet den zarten Ausdruck der Liebe und den
zerschmetternden des Zorns. Sie ist insonderheit die Sprache der Jugend,
der klangvolle Ausdruck ihres heißer: Dranges. Sie läßt sich nicht herbei-
zwängen, sondern kommt zur glücklichen Stunde. Sie weiß nichts von
geheimen Künsten und entringt sich den Fesseln der Formen und Regeln.
Sie erniedrigt sich nicht zur Nachahmung, flieht kalte Paläste und dumpfe
Tempel, hat aber in den frischen Wäldern, den stolzen deutschen Eichen-
hainen, ihre wahre Heimat.
3. Gedankengang. Str. 1. Wer kann, der singe im deutschen
Dichterwalde. Str. 2. Die Liederkunst ist Recht und Eigentum der ganzen
deutschen Nation. Str. 3. Sie ist die Sprache des Herzens, Str. 4 der
Nachtigallenschlag der Jugend. Str. 5. Ein einziges Lied auf fliegendem
Blatt kann Freude und Segen bringen. Str. 6. Die Poesie darf nicht
wie eine Geheimkunst dnrch Formeln gefesselt sein. Str. 7. Sie muß
die Meister ehren, aber ihre Freiheit wahren. Str. 8. Nicht in der Für-
sten- und Herrengunst, sondern im lebendigen, freien Verkehr mit der
Natur gedeiht sie.
Grundgedanke. Die deutsche Dichtkunst ist kein Privilegium ein-
zelner, sondern ein allgemeines Recht. Nur in der Freiheit und im innigen
Verkehr mit der Natur treibt sie ihre schönsten Blüten.
IV. Verwertung. Zeige an Uhlands Morgenlied (Gedichte und
Dramen. Stuttgart 1876. I., S. 72), wie „in den frischen Eichenhainen
webt und rauscht der deutsche Gott"!
1. Noch ahnt man kaum der Sonne 2. Wie still des Waldes weiter Raum!
Licht, * Die Vöglein zwitschern nur im
noch sind die Morgenglocken nicht Traum,
im finstern Tal erklungen. kein Sang hat sich erschwungen.
3. Ich hab' mich längst ins Feld gemacht
und habe schon dies Lied erdacht
und hab' es laut gesungen.
a) Entstehung des Liedes. Die Dunkelheit liegt noch wie ein
Schleier auf der Frühlingserde. Kein Strahl des goldnen Morgenlichts
säumt den östlichen Himmel. Keine Glocke im Dorfe summt den frühen
Morgengruß. Still und schweigend ruht der weite, grüne Wald. Kein
Vogelfang schwingt sich zum Morgenhimmel auf. Nur zuweilen läßt sich
leises Zwitschern wie ein klingender Hauch von den träumenden Vögeln
Uhland: Das Schifflein.
565
auf den Zweigen hören. Nur der Dichter ist wach. Es hat ihn aufge-
weckt und Hinausgetrieben in Feld und Wald. Die heilige Stille, die Un-
endlichkeit des Waldes, die schlafenden Lieder der Vögel ergreifen und er-
heben seine Seele. Seine Gedanken und Empfindungen weben sich zum
Gedichte und rauschen und klingen als lautes Lied aus dem übervollen
Herzen in die heilige Waldeinsamkeit.
b) Gedankengang. Schlaf im Dorfe, Stille im Walde, Leben
und Erhebung im Gemüte. Es schweigt die Glocke, die Zunge des Dorfes;
es schweigt der Vogelfang, die Sprache des Waldes; aber es erklingt das
Lied, die Sprache des Herzens. — Der Dichter ist der erste und berufenste
Dolmetscher der Natur. Sein Fuß steht auf der Erde, sein Gedanke dringt
ein in das geheime Leben und Weben der Natur, und seine Seele schwingt
sich auf zum Himmel. P.
213. Das Scbifflein.
Ludwiii Uhland, Gedichte und Dramen. Stuttgart 1876. II, 62.
1. Ein Schifflein ziehet leise
den Strom hin seine Gleise *);
es schweigen, die drin wandern,
denn keiner kennt den andern.I. 2 * * * 6 * * *)
2. Was zieht hier aus dem Felle2)
der braune Weidgeselle?Z
Ein Horn, das sanft erschallet;
das Ufer widerhallet?)
3. Von seinem Wanderstabe
schraubt jener Stift und Habe2)
und mischt mit Flötentönen
sich in des Hornes Dröhnen?)
4. Das Mädchen saß so blöde,
als fehlt' ihr gar die Rede2);
jetzt stimmt sie mit Gesänge
zu Horn und Flötenklange?)
5. Die Rudrer auch sich regen
mit taktgemäßen Schlägen 10);
das Schiff hinunter flieget,
von Melodie gewieget.")
6. Hart stößt es auf am Strande^2);
man trennt sich in die Lande"):
„Wann treffen wir uns, Brüder,
auf einem Schifflein wieder?"")
I. Erläuterungen. 1. Das Schisflein, ein Kahn oder Nachen, zieht
in die silberhelle Flut des Flusses dunkle Furchen, die mit Geleisen oder
Wagenspuren verglichen sind. 2. Die Fahrt hat eben begonnen. Die
Reisegefährten sind von allen Seiten an der Landestelle zusammengekom-
men und in das Schifflein getreten. Sie kennen sich nicht. Nun sitzen und
stehen sie umher, reden aber nicht miteinander, weil sich jeder scheut, zuerst
das Schweigen zu brechen. Man fürchtet sich vor dem Klange der eigenen
Stimme und vor einer kühlen Abweisung. 3. Eine Jagdtasche, die mit
Dachs- oder Hundefell überzogen ist. 4. Ein Jägerbursche (Weidmann
----Jäger, WeidwerkJagd), dessen Gesicht und Hände von der Sonne,
von Wind und Wetter gebräunt sind- 5. Die sanften Töne des Jagd- oder
Waldhorns werden von den Hügeln des Ufers als Echo zurückgeworfen.
6. Ein Wanderbursche schraubt von seinem Reisestocke oben die H a b e, d. h.
den Handgriff, und unten den Stift, d. h. die Spitze oder den Stachel,
und siehe! es ist eine Flöte, d. h. eine Querpfeife mit Löchern und Klappen,
daraus geworden. 7. Die Hellen Flötentöne verbinden sich mit den dump-
fen und ergreifenden Horntönen. 8. Das schüchterne Mädchen, das unter
den fremden Menschen scheu- und schweigsam vor sich niederschaute, wird
566
III. Lyrische Gedichte.
durch die bekannte Melodie, ihre Gesangeslust und die sichtbare Teilnahme
der Reisegefährten zum Gesänge des Liedes ermutigt. 9. Ein Terzett aus
einem musikalischen Blechinstrumente, einem Holzinstrumente und einer
Menschenstimme! Wald, Landstraße und Haus vereinigen sich in einem
Volksliede. 10. Die Musik belebt und regelt mit ihrem Rhythmus die
Arbeit der Ruderer, die nun nach dem Takte ihre Ruder in das Wasser
niederschlagen und emporheben. 11. Dadurch wird die Bewegung des
Schiffes regelmäßig, sanft und rasch. Die Musik schaukelt und wiegt es
gleichsam wie eine Wiege. 12. Am Landungsplätze des Users stößt es mit
einem Ruck an. Das Ende der schönen Fahrt ist auch ein Ruck und Stoß an
die Herzen. 13. Die Reisegefährten eilen in verschiedenen Richtungen
auseinander und gehen verschiedenen Berusszielen nach. 14. Sie sind
bekannt geworden, haben sich lieb gewonnen und müssen sich nun trennen.
Da erhebt sich die Frage und Klage der Wehmut: „Wann kommen wir
je wieder so schön zusammen?
II. Vertiefung. 1. Schauplatz. An einem schönen Sommertage
gleitet ein Ruderschifs auf einem wasserreichen Strome, es sei der Rhein,
dahin und zieht dunkle Furchen in die helle Flut, die um das Schiff
leicht schäumt und sich kräuselt. Die Ufer sind mit Weinbergen eingefaßt,
die Hügel mit Burgen gekrönt. Viele Reisende sitzen auf Bänken umher.
Ein gebräunter Jägerbursche bläst auf dem Waldhorn, ein bestäubter
Wanderbursch auf einer Flöte. Ein Mädchen singt ein Lied dazu. Die
übrigen Wandergenossen hören teilnahmvoll zu oder summen mit. Von
den Ufern antwortet das Echo. Die Ruderleute heben und senken die
Ruder nach dem Takte der Musik.
2. Gedankengang. Str. 1. Die Wanderer schweigen im dahin-
gleitenden Schiffe. Str. 2. Ein mutiger Jägerbursche zieht ein Horn
aus der Jagdtasche und bläst darauf. Str. 3. Ein Wanderbursch ver-
wandelt seinen Stock in eine Flöte und begleitet das Horn. Str. 4.
Das schüchterne Mädchen fällt ermutigt mit Gesang ein. Str. 5. Die
Ruderer bewegen das Schiff nach dem Takte der Musik rasch und sanft.
Str. 6. Man trennt sich mit Wehmut und wünscht ein Wiedersehn.
Grundgedanke. „Finden und verlieren, vereinigen und trennen,"
so geht's auf Reisen, so im Leben! — Scheiden ist unser Los, Wieder-
sehen unsere Hoffnung. — Kaum hat man sich genähert, so wird man
getrennt; kaum ist die Zuneigung geweckt, so muß sie verwelken; kaum
hat sich der Mund zutraulich geöffnet, so muß er Lebewohl sagen. —
Es gibt eine Sprache, die alle verstehen, welche die Fremden bekannt
und vertraut macht, die das Gemüt erfreut, den Mund öffnet und die
Herzen nähert: das ist die Musik, das ist jede Kunst.
III. Verwertung. Rede-und Stilübungen, a) Suche Gedichte,
Geschichten und Sprüche, die vom Finden und Verlieren, von: Scheiden
und Wiedersehn handeln! — b) Vergleiche unser Leben mit einer Strom-
fahrt! ' P.
Kerner: Wanderlied.
567
214. Wanderlied.
Justinus Kerner, Lyrische Gedichte. Stuttgart 1854. S. 105.
1. Wohlauf, noch getrunken Ade nun, ihr Berge,
den funkelnden Wein! du väterlich Haus!
Ade nun, ihr Lieben, Es treibt in die Ferne
geschieden muß sein. mich mächtig hinaus. Usw.
(Das Lied ist ganz bekannt.)
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Ein frischer, stattlicher
Bursche sitzt zum letztenmal im Kreise seiner Lieben und trinkt mit ihnen
den Abschieds- oder Valettrunk. Ein unwiderstehlicher Drang zieht ihn
in die Weite. Er will die Welt sehen, die Städte der Menschen bewun- ,
dern, die Wälder durchschweifen und die Meere durchschiffen. Jetzt erhebt
er sich mit den Worten: „Wohlauf denn, es muß geschieden sein!" Noch
einmal klingen die Gläser mit dem funkelnden Wein zusammen. „Auf
glückliche Reise und frohe Heimkehr!" ruft man ihm zu. Dann wirst er
das Ränzel auf den Rücken, greift zum Wanderstabe und sagt den lieben
Menschen und der lieben Heimat Lebewohl. (Ade oder Adieu heißt:
mit Gott!)
Woher diese Wanderlust? Die Sonne am Himmel umzieht
unermüdlich Länder und Meere mit ihrem Strahlenkreise; die Wogen
kommen und gehen am einsamen Meeresstrande; die Stürme brausen
mächtig über die Lande dahin; die Wolken eilen über das blaue Himmels-
zelt, und mit ihnen um die Wette fliegen die Wandervögel dem schönen
Süden zu: alles auf der Mutter Erde ist in Bewegung und wandert rast-
los hin und her. Warum sollte der Bursche den Beispielen, die ihn rings
umgeben, nicht folgen, der wanderlustigen Mutter „Welt", d. h. Erde,
nicht zu gleichen suchen?
Was findet er Heimatliches in der Fremde? Die bekann-
ten Zugvögel aus der Heimat, vom väterlichen Hause und Hofe, begrüßen
ihn mit heimatlichen Liedern in der Ferne. Bekannte Blumen blühen
und duften am fremden Strande. Wie sind die hierhergekommen? Vor
Jahren pflanzte der Jüngling Blumen dieser Art in den Garten seiner
Eltern, um diesen oder der lieben Braut dann einen Strauß daraus zu
binden. Die Lüfte trugen den reifen Samen ins Meer; die Wogen aber
spülten ihn an den fremden Strand; hier ging er aus; und nun begrüßen
die bekannten Blumen wie Boten der Liebe aus der Heimat den Wander-
burschen. So folgt ihm die Liebe, gibt ihm Mut und Freudigkeit in der
Fremde, schafft sie zur Heimat um und zieht ihn immer wieder dahin
zurück, wo ihr Urquell ist. Die „Sehnsucht in die Ferne" steckt bei aller
Liebe zur Heimat jedem deutschen Jüngling im Blute. „Wohlauf zum
Wandern!" heißt die Losung. Den schönsten, sangbarsten Ausdruck hat
diese Wanderlust in dem Kernerschen Wanderliede gefunden. Hört es!
(Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Ges amtbild. Im Zimmer steht ein frischer Jüng-
ling in knapper Reisekleidung. Auf dem Rücken hängt das Ränzel, an
der Seite die umstrickte Flasche. Die linke Hand hält einen derben Knoten-
568
III. Lyrische Gedichte.
stock, die erhobene Rechte ein Glas mit funkelndem Wein. Seine Freunde,
die zur Abschiedsfeier gekommen sind, haben sich am Tische erhoben und
stoßen mit ihm an ans „glückliche Reise und frohe Heimkehr". Die Eltern
des Burschen trocknen sich die Tränen, welche das Weh der Trennung aus
ihren Augen preßt. Draußen lacht blauer Himmel und goldener Sonnen-
schein. Leichte Wolken wandern über den Himmel; Vögel fliegen durch
die Luft; ein frischer Wind bewegt die Blätter und Zweige und trägt
den Duft der Blumen ins Zimmer. Am väterlichen Dache zwitschern die
Schwalben. Unfern stehen die blauen Berge mit der Wälderkrone auf dem
Haupte und den Weinbergen an den Seiten. — Schildere als zweite
Szene: Der Jüngling am fremden Strande (z. B. in Ägypten, Algier
usw.) sieht heimatliche Zugvögel, wandernde Wogen und ziehende Wol-
ken von Norden kommen, bemerkt bekannte Blumen und sangt ihren Duft
ein. Die Macht liebender Erinnerung umfängt ihn.
2. Gedankengang. Str. 1. Der Wandertrieb reißt den Jüngling
ans der Heimat und von den Lieben hinaus in die Ferne. Str. 2 und 3.
Er folgt dem Beispiele der Sonne, der Wogen, der Stürme, der Wolken
und der Zugvögel. Str. 4 und 5. In der Fremde findet er als Grüße
der Liebe aus der Heimat bekannte Zugvögel und duftige Blumen, die
ihm die Heimat in das fremde Land zaubern.
3. Grundgedanke: Die Wanderlust zieht uns hinaus in die
Fremde, aber die Erinnerung begleitet und die Liebe hält uns; sie macht
die Fremde zur Heimat und führt uns endlich wieder zurück.
4. Schönheit in der Form. Die wellenartig bewegten Daktylen
(mit Auftakt), der Wohllaut der Sprache, die schönen Bilder, der Hauch
von Liebe und Leben, die Versöhnung von Wanderlust und Heimatliebe,
vom unruhigen Schweifen in der Ferne und vom ruhigen Haften an
der heimatlichen Scholle, und endlich nicht zum geringsten die schöne Me-
lodie haben das Lied zu einem Liebling von jung und alt, zum beliebtesten
Scheidehymnus bei Trennungen gemacht.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. „Wem Gott will rechte
Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt." — Willst du wandern,
dann nimm die Erinnerung an und die Liebe aus der Heimat mit! —
„Wo meine Liebe, da ist meine Heimat."
2. Verwandtes. „Das Wandern ist des Müllers Lust" —
(I, Nr. 147). „O wunderbares, tiefes Schweigen" — (II, Nr. 179). Suche
andere Reiselieder!
3. Vergleiche von Ludw. Tieck: „Zuversicht". (Bibl. deutsch.
Klass. Hildburghausen 1864. Bd. XIV, S. 244.)
1. Wohlauf, es ruft der Sonnenschein
hinaus in Gottes freie Welt!
Geht munter in das Land hinein
und wandelt über Berg und Feld!
2. Es bleibt der Strom nicht ruhig
stehn,
gar lustig rauscht er fort.
Hörst du des Windes muntres
Wehn?
Er braust von Ort zu Ort.
3. Es reist der Mond wohl hin und her.
Die Sonne ab und auf
guckt über'n Berg und geht ins Meer,
nie matt in ihrem Laus.
Eichendorff: Der Jäger Abschied.
569
4. Und, Mensch, du sitzest stets daheim
und sehnst dich nach der Fern'?
Sei frisch und wandle durch den
Hain
und sieh die Fremde gern!
5. Wer weiß, wo dir dein Glücke blüht,
so geh und such' es nur!
Der Abend kommt, der Morgen flieht,
betrete bald die Spur!
6. Laß Sorge sein und Bangigkeit,
ist doch der Himmel blau!
Es wechselt Freude stets mit Leid:
dem Glücke nur vertrau'!
7. Soweit dich schließt der Himmel
ein,
gerät der Liebe Frucht,
und jedes Herz wird glücklich sein
und finden, was es sucht.
1. Ä h n l i ch k e i t e n. Beide Gedichte sind Wanderlieder, die mit Wohl-
auf! beginnen. In beiden locken die rastlose Sonne, das rauschende Wasser
und der brausende Wind hinaus in die weite Welt, in Feld und Wald,
über Berge, Felder und Meere. In beiden ist die Liebe der Ring, der
die Wanderer hält und zur Heimat des Glückes wird.
2. Verschiedenheiten. A ist der Abschiedsgruß eines Scheiden-
den, B die Aufforderung zum Wandern an solche, die sich zwar hinaus-
sehnen, aber doch zaghaft daheim hocken bleiben. In A haftet die Woge
des Meeres nicht am Strande, in B rauscht der Strom lustig fort. In A
eilen die Wolken, in B reist der Mond hin und her. In A wandern die
Zugvögel, in B kommt der Abend und flieht der Morgen. In A reißt
sich der Wanderer frohgemut los, in B muß er getrieben und geschoben
werden. In A wandert er ziellos hinaus, in B soll er draußen sein
Glück suchen. In A wird dem Wanderer die Fremde zur vertrauten Heimat
durch bekannte Vögel, Blumen und liebende Erinnerungen, in B muß
ihm erst Sorgen und Bangen ausgeredet und das Glück der Liebe in
der Ferne verheißen werden. P.
215. Der Jäger Abschied.
Joseph v. Eichendorff, Gedichte. Leipzig 1874. S. 149.
1. Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?
Wohl, den Meister will ich loben
solang' noch mein' Stimm' erschallt.
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
2. Tief die Welt verworren schallt,
oben einsam Rehe grasen;
und wir ziehen fort und blasen,
daß es tausendfach verhallt:
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
3. Banner, der so kühle wallt,
unter deinen grünen Wogen
hast du treu uns aufgezogen,
frommer Sagen Aufenthalt!
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
4. Was wir still gelobt im Wald,
wollen's draußen ehrlich halten,
ewig bleiben treu die Alten.
Deutsch Panier,dasrauschend wallt,
lebe wohl,
schirm dich Gott, du schöner Wald!
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Am 3. Februar 1813 erließ
Friedrich Wilhelm III. von Preußen einen Aufruf an die gebildete Jugend
seines Volkes, sich freiwillig zu bewaffnen und in den Dienst des Vater-
landes gegen den fremden Unterdrücker Napoleon zu stellen. Tausende
folgten dem Rufe, strömten von allen Seiten des Vaterlandes zusammen
und bildeten die freiwilligen Jäger, von denen besonders die
Lützower berühmt wurden. Auch der 24jährige Freiherr Joseph von
570
III. Lyrische Gedichte.
Eichendorff auf Lubowitz in Schlesien trat freiwillig ein und machte die
Befreiungskriege mit. Seinen und seiner Kameraden Abschied von dem
geliebten Walde hat er nach der Meinung mancher Ausleger ergreifend
in dem obigen Liede dargestellt. Dasselbe wäre danach ein Wald- und
Jägerlied mit patriotischem Unter- und Hintergründe. Durch die herrliche
Komposition Mendelsohns ist es zu einem Lieblinge der deutschen Sänger
geworden. Nur hat der Komponist Strophe 3 weggelassen und die 4. Zeile
der vierten Strophe geändert in: „Bis das letzte Lied erschallt." —
Dr. K. Reifert in Würzburg hat in den „Blättern für das Gymnasial-
schulwesen", XXXI. Jahrg., S. 401—410, überzeugend nachgewiesen, daß
das Lied nicht als „gewaltige patriotische Dichtung" 1813 entstanden,
mit den Jägern nicht die L ü tz o w e r, mit dem Walde nicht Deutsch-
land gemeint sei; das Lied sei 1810 entstanden, als Joseph von Eichen-
dorff mit seinem Bruder Wilhelm von Lubowitz nach Wien abreiste,
uni in österreichische Staatsdienste zu treten. Mit dieser Abreise könne
man das Lied in Beziehung setzen. Die Brüder wären dann die scheidenden
Jäger.
II. Erläuterungsfragen. Str. 1. Wie ist der Wald aufge-
baut? (Er steigt gleichsam in Stockwerken immer höher hinauf.) Wie
lange soll das Lob des Baumeisters erschallen? (Solange die Stimme
einen Klang, das Herz einen Schlag hat.) Warum muß der schönen Heimat
Lebewohl gesagt werden, und warum wiederholt sich der Kehrreim? (Der
Abschied ist gar zu schwer, aber die Umstände fordern ihn.) — Str. 2.
Wie liegt die Welt (d. h. die Stätten des regen Menschenverkehrs) zu
dem einsamen Walde? (Ties, in der Tiefe.) Was schallt verworren
(wirr, bunt) durcheinander? (Waffenlärm, Krieg und Kriegsgeschrei.)
Welch friedlichen schönen Gegensatz bietet der Wald oben zu der Unruhe
unten? (Grasende Rehe.) Wie verlassen die Jäger den Wald? (Mit
Hörnerklang.) Wie verhallt es tausendfach? (Das Echo antwortet von
Bäumen und Felsen.) — Str. 3. Wie wallt das Banner (d. i. die
Heerfahne — vom Dichter hier mit männlichem Geschlechte gebraucht)
kühle und hat grüne Wogen? (Ein kühler Luftzug setzt das Blätter-
meer in wallende Bewegung.) Welche frommen Sagen knüpfen sich an
den Wald? (Von der hl. Genoveva, Dornröschen, dem Marienkinde und
andere.) Wie hat der Wald die Jäger treu ausgezogen? — Str.4.
Was haben sie im Walde gelobt? (Dem Vaterlande Kraft, Liebe und
Leben zu widmen.) Wie wollen sie's ehrlich halten? (Indem sie tapfer
kämpfen, bluten, ja sterben.) Was wollen sie als heiliges Erbe der Väter,
der Alten oder Altvordern, bewahren? (Die deutsche Treue.) An welche
deutsche Paniere (Banner), die rauschend im Winde wallen, denkt der
Dichter? (An die bewegten Blätter des Waldes.) Warum wird der Wald
zuletzt dem Schutz und Schirme Gottes empfohlen? (Weil seine bestellten
Wächter und Hüter fortziehen müssen.)
III. Vertiefung. 1. Zeichne nach dem Gedichte ein Lagebild, wie
eben ein Trupp bewaffneter Jäger oder das Eichendorsfsche Brüderpaar
den Wald verläßt!
Eichendorff: Der Jäger Abschied.
571
2. Gedankengang. Str. 1. Der allmächtige Baumeister des herr-
lichen Waldes sei immerdar gepriesen — auch beim Abschiede. Str. 2.
Mit Hörnerklang, dem das verhallende Echo antwortet, verlassen wir den
einsamen Wald droben und steigen nieder in den Lärm der Welt. Str. 3.
Bisher lebten und wirkten wir unter dem grünen, kühlen Banner des
Waldes. Str. 4. Nun ziehen wir hinaus, stellen uns unter das deutsche
Panier und wollen ehrlich und treu unser Waldgelübde erfüllen.
3. Hauptgedanke: Lebe wohl, lebe wohl, du schönen Wald, die
Pflicht ruft uns hinaus! Gott schirme dich!
4. Schönheiten. Recht wirkungsvoll sind die Gegensätze zwischen
dem Frieden des Waldes und dem verworrenen Lärm der Welt, den
grasenden Rehen und den gerüsteten Jägern, der Neigung zum Bleiben
und der Pflicht zum Marschieren, dem Gelübde im Walde und der Er-
füllung draußen. Der Kehrreim spiegelt den Schmerz des Abschiedes
wieder. Das letztemal fließt eine Bitte um den göttlichen Schutz hinein.
IV. Verwertung. Vergleiche Eichendorffs Abschied (im Walde bei
Lubowitz), (Gedichte. Leipzig 1874. S. 151) a) nach seinen verwandten
und b) nach seinen eigentümlichen Zügen!
1. O Täler weit, o Höhen,
o schöner, grüner Wald,
du meiner Lust und Wehen H
andächt'ger Aufenthalt!1 2)
Da draußen, stets betrogen,
saust die geschäftige Welt2);
schlag noch einmal die Bogen
um mich, du grünes Zelt!^)
2. Wenn es beginnt zu tagen,
die Erde dampft und blinkt2 * *),
die Vögel lustig schlagen,
daß dir dein Herz erklingt 6 7):
da mag vergehn, verwehen
das trübe Erdenleid,
da sollst du auferstehen
in junger Herrlichkeit?)
3. Da steht im Wald geschrieben
ein stilles, ernstes Wort
von rechtem Tun und Lieben
und was des Menschen Hort?)
Ich habe treu gelesen
die Worte, schlicht und wahr,
und durch mein ganzes Wesen
ward's unaussprechlich klar?)
4. Bald werd' ich dich verlassen,
fremd in der Fremde gehn^),
auf bunt bewegten Gassen
des Lebens Schauspiel sehn");
und mitten in dem Leben
wird deines Ernst's Gewalt
mich Einsamen erheben,
so wird mein Herz nicht alt. *2)
1. Erläuterungen. 1. Der Dichter nimmt Abschied von dem
Walde, der ihm wie eine Heimat lieb geworden ist. 2. Der schöne, ein-
same Wald war ihm ein Tempel, dem er andachtsvoll sein Weh und
seine Lust anvertraute. 3. Draußen rauscht und saust die Welt in ihrer
geschäftigen Erwerbslust und Genußsucht; alles rennt nach Glück nnd
Genuß; einer betrügt den anderen; das Leben gleicht dem bunten Gewirre
der Webstühle in einer Webefabrik. 4. Welch herrlichen Gegensatz bildet
das weite, stille, grüne Zelt des Waldes mit seinen Laubbogen und Baum-
hallen! 5. Morgens steigen die Nebel wie weißer Rauch auf, und der
Tau blinkt wie Perlen am Grase. 6. Im Herzen klingen frohe Lieder.
7. Jeder neue Morgen soll mit der Nacht das alte Leid begraben und
neue Kraft erstehen lassen. 8. „Der Wald steht schwarz und schweiget",
ein einziges, großes, stilles/ ernstes Gotteswort: „Tu' still und treu
deine Pflicht; liebe selbstlos Gott unb deine Brüder ; vertraue unerschütter-
57 2
III. Lyrische Gedichte.
lich Gott als deinem Hort (Schatz und Schutz)!" 9. Wer Gottes Wort
und Willen versteht, der versteht sich selbst, seine Aufgaben und die Rätsel
des Lebens. 10. Er ist der Welt und ihrem Treiben fremd, wie sie ihm
fremd und unverständlich ist. 11. Die auf den Gassen und Straßen sich
bunt durcheinander drängende Menschenmenge ist ein Schauspiel für ernste
Zuschauer, die innerlich zur Klarheit gekommen sind. 12. Die Erinnerung
an das ernste, reine Leben im Walde wird eine Quelle ewiger Jugend,
steter Frische und Freudigkeit für den im Menschengewühl Einsamen wer-
den. Seine Seele wird sich zu Gott erheben, sein Herz in Erinnerung
glücklich sein, und einsam wird er nicht allein, wird nicht unglücklich sein.
2. Beweise nach Strophe 1, daß unter dem grünen Laubdach des
Waldes Friede und Schönheit, in der Welt aber Unruhe und Betrug
herrscht; nach Str. 2, daß die Schönheit des Waldes in der Morgen-
frühe das Leid vertreibt und die Kraft verjüngt; nach Str. 3, daß das
Leben im Walde, seine stille, ernste Schönheit, das Herz über sich und
seine Pflicht klärt; nach Str. 4, daß ich fremd und einsam durch das
Getümmel des Lebens gehen, aber in den tiefen Eindrücken des Wald-
aufenthalts einen Quell ewiger Jugend in mir haben werde!
?.
216. Lieb Heimatland, ade!
A. Disselhof. (Volkslied.)
1. Nun ade, du mein lieb Heimatland,
lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fernen Strand,
lieb Heimatland, ade!
Und so fing' ich denn mit frohem
Mut,
wie man singet, wenn man wan-
dern tut,
lieb Heimatland, ade!
2. Wie du lachst mit deines Himmels
Blau,
lieb Heimatland, ade!
Wie du grüßest mich auf Feld und
Au,
lieb Heimatland, ade!
Gott weiß, zu dir steht stets mein
Sinn;
doch jetzt zur Ferne zieht's mich hin,
lieb Heimatland, ade!
3. Begleitest mich, du lieber Fluß?
Lieb Heimatland, ade!
Bist traurig, daß ich wandern
muß?
Lieb Heimatland, äde!
Vom moos'genStein am wald'gen
Tal,
da grüß' ich dich zum letztenmal,
mein Heimatland, ade!
I. Vorbereitung. Ein Jüngling fühlt in sich den unwiderstehlichen
Drang nach der Ferne und Fremde. Er geht darum auf die Wanderschaft.
Kaum aus seinem Heimatsorte herausgetreten, beginnt er auf der Straße
ein Abschiedslied zu singen, in welchem er der Heimat ein „Lebewohl"
zuruft, sein Wanderziel angibt (zum fernen, weiten Strand des Meeres
treibt es ihn), und in welchem er es ausspricht, daß er mit Freudigkeit
und frohem Mute auf die Wanderung sich begibt. Das Wetter ist heiter,
die Sonne lacht von dem blauen Himmel hernieder, sein Heimatland ist
schön, und ihm ist's, als ob die traute Heimat — die grünen Wiesen,
die fruchtbaren Felder, das freundliche Himmelsblau und der muntere
Fluß — ihm noch einen herzlichen Gruß zurufen und sagen wollten:
„Bleibe doch hier!" Dem entgegnet er, daß er seine Heimat — Gott
Unsere Lieder": Sehnen und Scheiden.
573
weis; es — treulich und inniglich liebt, daß aber jetzt seine Sehnsucht nach
der Ferne und Fremde noch größer ist. Den heimischen Fluß, der ihm
seit seinen Knabenjahren ein lieber Freund war, fragt er, ob er ihm das
Geleit geben wolle, und ob er über seinen Abschied trauere. Nachdem er
einen Berg erstiegen, wendet er sich noch einmal um und setzt sich auf
den großen, mit Moos bewachsenen Stein am Waldessäume. Da liegt sie
vor ihm, die schöne Heimat, durchzogen von dem Silberbande des Flusses,
der traute Heimatsort (Dorf oder Stadt) und das liebe Vaterhaus, und
er ruft wehmütig aus: Euch alle grüß' ich jetzt zum letztenmal, ade! lebt
wohl und Gott befohlen!
II. Zur Erläuterung. 1. Ade aus dem Französischen ä dieu = mit
Gott! Gott befohlen! im weitesten Sinne: leb wohl! 2. Strand — Ufer
des Meeres, Küste, Gestade. 3. Gott weiß — Beteurung der Wahr-
heit. 4. Zu dir steht stets mein Sinn — dich lieb' ich, du bist
mir ewig wert, teuer und lieb. 5. Zur Ferne zieht's mich hin, das
will sagen: In mir lebt ein unwiderstehlicher Zug nach der Ferne und
Fremde. 6. Fluß, du b e g l e i t e st mich; denn auch du willst wie ich zum
fernen Meeresstrande, auch dich drängt es, wie mich, dorthin.
III. Vertiefung. 1. G r u n d g e d a n k e: In der Brust eines jeden Deut-
schen herrscht namentlich während der Jünglingszeit ein heftiger Wider-
streit zwischen der innigen Liebe zur Heimat und zwischen dem starken
Zuge des Herzens nach der Ferne und Fremde, nach Erweiterung des
Wissens und nach einem größeren Wirkungskreise.
2. Verwandtes: Siehe die Scheidelieder Nr. 217 und 218!
R. I).
217. A. Sehnen und Scheiden.*)
„Unsere Lieder". 3. Ausl. Hamburg 1861. S. 182.
1. Da drunten im tiefen Tale, 2. Das Mühlrad ist nun zerbrochen,
da treibt das Wasser ein Rad; das Sehnen hat nimmer ein End',
mich aber, mich treibet das Sehnen Und wenn sich zwei Freunde tun
vom Morgen bis Abend spat. scheiden,
so reichen's einander die Hand'.
3. Ach Scheiden, ach Scheiden, ach Scheiden!
Wer hat doch das Scheiden erdacht?
Das hat solch unsägliches Leiden
manch jungem Herzen gebracht.
I. Vorbereitung. Ein junger Wanderbursch, im Banne des Heim-
wehs stehend, kommt auf seiner Wanderung in ein tiefes Tal, wo im
Schatten dunkler Erlen einsam eine Wassermühle liegt. In das Anschauen
derselben vertieft, bricht er unwillkürlich in die Worte der Str. 1 aus. —
*) Aus der großen Anzahl von Scheide- und Abschiedsliedern, an denen
unsere vaterländische Literatur so reich ist, und von welchen nicht wenige auch
in die Lesebücher aufgenommen find, haben wir hier zur Erläuterung zwei
Volkslieder ausgewählt, eins eines Längstgeschiedenen und eins eines Schei-
denwollenden. Ähnlich der Erläuterung dieser Lieder wird sich auch die Be-
handlung der übrigen Scheidelieder zu gestalten haben.
574
III. Lyrische Gedichte.
Nach Jahresfrist kehrt er hierher zurück und stimmt in die Klage ein,
die in Str. 2 und 3 ausgesprochen ist.
II. Vermittlung und Vertiefung. Gliederung des Inhalts,
a) Wie das Wasser das Mühlrad, so treibt den Wanderburschen die Sehn-
sucht wieder nach der Heimat, b) Das Mühlrad ist zerbrochen, die Mühle
steht still, aber die Sehnsucht im Herzen des Wanderers hat nimmer ein
Ende. e) Grund: Er hat seinem Freunde die Hand darauf gereicht,
zu ihm zurückzukehren, ck) Klage über den Ursprung des Scheidens und
Meidens. Die allein richtige Antwort hierauf gibt der Dichter Ernst
von Feuchtersleben:
„Es ist bestimmt in Gottes Rat,
daß man, was man am liebsten hat,
muß meiden."
6) Klage über die traurigen Folgen und d a s E n d e des Scheidens.
Treffend ausgesprochen von E. Geibel (Gedichte, Stuttgart 1876. 81 Ausl
S. 275):
Wenn sich zwei Herzen scheiden,
die sich dereinst geliebt,
das ist ein großes Leiden,
wie's größer nimmer giebt.
Es klingt das Wort so traurig gar;
fahrwohl, fahrwohl auf immerdar!
Wenn sich zwei Herzen scheiden,
die sich dereinst geliebt.
III. Vergleiche: II. Lebewohl.
Vgl. Arnim und Bretano. Des Knaben Wunderhorn. 2. Aufl. Berlin 1876. Bd. II.
S. 273 und G. Scherers Jungbrunnen. 3. Aufl. Berlin 1875. S. 179.
1. Morgen muß ich weg von hier
und muß Abschied nehmen;
o du allerschönste Zier,
Scheiden das bringt Grämen!
Scheiden macht mich so betrübt,
da ich dich so treu geliebt
über alle Maßen,
soll ich dich verlassen.
2. Wenn zwei gute Freunde sind,
die einander kennen: —
Sonn' und Mond bewegen sich,
ehe sie sich trennen.
Noch viel größer ist der Schmerz,
wenn ein treulich liebend Herz
muß von seinesgleichen
eine Zeitlang weichen.
3. Dort auf jener grünen Au
steht mein jung frisch Leben.
Soll ich denn mein Leben lang
in der Fremde schweben? —
Hab' ich dir was Leid's getan,
halt ich um Verzeihung an;
reich mir Mund und Hände,
denn es geht zum Ende!
4. Denk zuzeiten noch an mich,
wenn ich nun werd' scheiden;
du wirst mir auf ewiglich
im Gedächtnis bleiben.
Hörst du oftmals Vögelein,
wisse, daß es Boten sei'n,
die mit ihrem Singen
einen Gruß dir bringen!
5. Küsset dir ein Lüftelein
Wangen oder Hände,
denke, daß es Seufzer sei'n,
die ich zu dir sende!
Tausend schick' ich täglich aus,
die da wehen um dein Haus,
weil ich dein gedenke,
weil ich dein gedenke.
A. Ähnlichkeiten. Beide Volkslieder klagen über die Bitterkeit
des Scheidens und sagen, daß sich die Scheidenden zum Abschiede Mund
nnd Hände reichen.
B. Verschiedenheiten. In A ist von einem Geschiedenen die
Rede, der schon lange Zeit der Heimat und den Lieben fern ist, in 8
Feuchtersleben: Scheiden.
575
hingegen von einem Scheidenden, der erst morgen die Heimat verlassen
will. In A wird danach gefragt, wer nur das Scheiden erdacht hat,
in B wird die Größe des Schmerzes beim Abschiednehmen der Freunde
dadurch angedeutet, daß sogar die Natur Anteil daran nimmt, Sonne und
Mond sich bewegen, d. h. aus ihrem gewohnten Geleise geraten.
Eigentümliches von A: Hier wird das Sehnen des Herzens
nach der Heimat und den Lieben mit dem Wasser verglichen, das jahraus,
jahrein das Mühlrad treibt. Das Mühlrad steht still, weil es zerbrochen
ist, das Sehnen des Herzens hat kein Ende, weil die Liebe ewig währt.
Eigentümliches von B: Der Scheidende bittet seine Lieben, ihm
zu verzeihen und seiner zu gedenken. Er verspricht, sie treu im Gedächtnis
zu behalten, die Vöglein als Boten seiner Liebe und die Lüfte als Seufzer
mit) Grüße zu senden. R. I).
218. A. Scheiden.
E> v. Feuchtersleben. Gedichte. Stuttgart und Tübingen 1836. S. 5.
1. Es ist bestimmt in Gottes Nat^),
daß man, was man am liebsten hat,
muß meiden;
wiewohl nichts in dem Lauf der
Welt 2)
dem Herzen, ach! so sauer fällt
als Scheiden, ja Scheiden!
2. So dir geschenkt ein Knösplein was "),
so tu' es in ein Wasserglas!
Doch wisse:
Blüht morgen dir ein Röslein auf,
es welkt wohl noch die Nacht darauf;
das wisse, ja wisse!
3. Und hat dir Gott ein Lieb be-
schert,
und hältst du sie recht innig wert,
die Deine:
es werden wohl acht Bretter sein,
da legst du sie, wie bald! hinein;
dann weine, ja weine!4)
4. Nur mußt du mich auch recht ver-
stehn,
ja, recht verstehn:
Wenn Menschen auseinander gehn,
so sagen sie: „Auf Wiedersehn!
Ja, Wiedersehn!"
1. Rat = Ratschluß, Wille Gottes. 2. Lauf der Welt — Art und
Weise, wie es in der Welt zu gehen pflegt. 3. was = war. 4. In Mendel-
sohns bekannter Komposition hat Str. 3 folgenden Wortlaut:
Und hat dir Gott ein Lieb beschert, es wird nur wenig Zeit wohl sein,
und hältst du sie recht innig wert, da läßt sie dich so gar allein;
die Deine: dann weine, ja weine!
I. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1: Nach „Gottes Rat" muß
man das meiden, „was man am liebsten hat". Gottes Ratschluß ist
es, daß man nicht für immer mit dem Liebsten, was man hat, zusammen
sein kann. Ein frommer Mensch findet darin schon einen Trost, denn
der Wille Gottes ist für ihn heilig; bittet er doch in der dritten Bittei
„Dein Wille geschehe." Das „Liebste" muß man meiden, d. i. verlassen.
Was ist denn das „Liebste"? Dem Kinde sind's die Eltern, den Eltern
sind's die Kinder, dem Freunde ist's der Freund, dem Manne das Weib,
dem Bräutigam die Braut: kurz, jeder muß von dem, was er in der
Welt am meisten liebt, früher oder später scheiden. Das Liebste von allem
irdischen Besitze sind uns liebe Personen. Für sie opfert man alles übrige.
Welche Opfer legt sich ein liebender Vater auf wegen seines Sohnes!
576
III. Lyrische Gedichte.
Welche unsäglichen Leiden, Mühen und Entbehrungen duldet eine treue
Mutter für ihr geliebtes Kind! Wie treu halten im Unglück liebende
Gatten und Brautleute zusammen!
Darum fällt uns auf dieser Welt nichts so sauer, d. h. drückt unser
Herz so schwer, als Scheiden und Meiden. Nur wer Herzensverluste er-
litten hat, weiß, wie wahr das Dichterwort ist. Was drückt schwerer als
die Träne, welche wir am Grabe unserer Lieben weinen? Dem Men-,
schen ist von Gott die Liebe ins Herz gepflanzt. Mit dem Scheiden unserer
Lieben ist gleichsam die Liebe zu Ende; wir können sie nicht mehr durch
Wort und Tat beweisen, wie wir es bisher so gerne taten. Wir können
nicht mehr mit unseren Lieben uns freuen; wir können nicht mehr mit
ihnen den Schmerz und den Kummer teilen. O, das ist schwerer als
alles andere auf der Welt! Nicht umsonst hat der Dichter das „ach!"
mitten in den fünften Vers eingefügt, denn dadurch wird der herbe Schmerz
noch nachdrücklicher bezeichnet; ebenso wirkungsvoll ist hier, wie bei allen
anderen Strophen, die Wiederholung des Wortes „Scheiden", welches
die Grundidee andeutet.
Str. 2: Den Hauptgedanken vom Scheiden veranschaulicht
nun der Dichter durch ein besonderes Beispiel. Es ist eine Rose, das
Sinnbild der Liebe, welche wir als Knospe zum Geschenk von einer lieben
Person empfangen haben. Dadurch ist sie uns lieber und werter als
jede andere Rosenknospe, und sie wird uns in noch höherem Grade lieb,
wenn wir sie durch unsere Pflege („so tu' es in ein Wasserglas") zum
Aufblühen bringen. Dadurch vereinigt sich gleichsam unser Herz mit dem
Herzen dessen, der die Knospe uns geschenkt hat. Aber der Dichter ruft
uns schon, ehe wir den vollen Genuß der Rose haben, zu: „Doch wisse!"
Diese beiden Worte bereiten uns auf den Verlust vor; morgen blüht
die Rose auf, und die Nacht darauf verwelkt sie! Eine kurze Freude!
Das wisse, ja wisse!
So ist die Rose ein Bild der Vergänglichkeit. Wie mit der Rose,
so ist's auch mit geliebten Menschen. Sagt doch schon der Psalmist: „Du
lässest sie dahinfahren wie einen Strom und sind wie ein Schlaf, gleich
wie ein Gras, das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends
abgehauen wird und verdorret."
Str. 3. Wie dir die Rose von lieber Hand geschenkt wird, so be-
schert Gott der Herr dem Manne „ein Lieb", eine geliebte Braut oder
Frau. Aber, was Gott dir gibt, das kann er dir auch nehmen, und
gar bald mag es geschehen, daß du dein Lieb in den Sarg legen mußt.
Bei dem Verluste der Rose fordert uns der Dichter durch das Wort
„wisse!" zum Nachdenken über den baldigen, immerhin leichten Verlust
auf. Anders ist's bei dem Verluste der Liebsten. Da ist der Schmerz
ein so tiefer, ein so gewaltiger, daß wir uns nicht mit dem Gedanken
an das Gesetz der Natur, daß alles Irdische vergänglich ist, trösten lassen.
Da ist es nicht nur erlaubt, sondern auch recht, unseren Schmerz durch
Tränen zu erleichtern: „Dann weine, ja weine!" Wenn die Tränen
fließen, wird das Herz leichter, und wir sind dem Troste zugänglicher.
Freiligrath: O lieb', solang du lieben kannst.
577
(In dem Texte der Komposition Mendelsohns wird der Grund zu dem
großen Schmerze näher angegeben mit den Worten: „Da läßt sie dich
so gar (d. i. ganz) allein." Gerade diese Einsamkeit ist es, welche dem
Herzen so schwer oder sauer fällt. „Wer wird mich nach dem Verluste
des Liebsten noch lieben und Anteil an meinen Freuden und Leiden neh-
men?" So fragt der „einsam" Zurückbleibende. Und dieses Gefühl der
Verlassenheit und des Alleinseins preßt ihm schmerzliche Tränen aus.
Str. 4 bringt den besten, einzigen Trost: die Hoffnung auf ein
Wiedersehen! Diesen Trost beim Scheiden hat Gott von Ewigkeit her
in die Herzen der Menschen gepflanzt und durch sein Wort verheißen.
Weine und lindere so den Trennungsschmerz durch Tränen, aber hoffe
und freue dich auf eine ewige Wiedervereinigung im Lande des Lichts
und der Seligkeit! Diese Zuversicht wird jedes Scheiden leichter machen.
II. Gliederung und Grundgedanke. Das Gedicht spricht in der ersten
Strophe den bekannten Satz aus: Scheiden tut weh; in der zweiten
weist es an der Rose nach, wie schnell alles Irdische vergeht; in der
dritten führt es den Nachweis, daß auch das Liebste, was wir besitzen,
einst von uns scheiden wird; in der vierten tröstet es uns mit der
Zuversicht des Wiedersehens. Diese kurze Inhaltsangabe läßt sich als
Grundidee des Liedes in die wenigen Worte fassen: Beider nach
GottesRatschluß unvermeidlichenTrennung vonunseren
Lieben tröstet uns der Gedanke an das einstige Wieder-
sehen.
B. O lieb, solang du lieben kannst.
F. Freiligrath. Zwischen Garben. Stuttgart 1849. S. 69.
1. O lieb', solang du lieben kannst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
O lieb', solang du lieben magst! wo du an Gräbern stehst und klagst. Usw.
(Das Gedicht findet sich in allen Lesebüchern.)
1. Wovon wird in beiden Gedichten gesprochen? (Vom Scheiden.)
2. Als was wird in beiden Gedichten das Scheiden dargestellt? (Als
etwas Schmerzliches.) 3. Womit tröstet uns Feuchtersleben, wenn wir
scheiden müssen? (Mit dem Wiedersehen.) 4. Was tut dagegen Freilig-
rath? (Er benutzt den Gedanken an das Scheiden nur dazu, um eine
Mahnung an uns zu richten.) 5. Wozu werden wir von Freiligrath
aufgefordert? 6. Was ist überhaupt in Freiligraths Gedichte die Haupt-
sache? (Die dauernde Liebe.) 7. Was heißt in 6: „Wer dir seine Brust
erschließt"? (Wer dir seine innersten, tiefsten, geheimsten Gedanken als
Freund und Bruder offenbart.) 8. Welche Absicht haben beide Gedichte?
(Sie wollen uns trösten und beglücken, das eine dadurch, daß wir uns
den Trennungsschmerz durch den Gedanken an das Wiedersehen erleichtern,
das andere dadurch, daß wir uns durch eine dauernde, treue und herz-
liche Liebe beim Tode unserer Mitmenschen bittere Vorwürfe ersparen.)
9. Welcher Gedanke kehrt in beiden Gedichten mehrmals wieder? (Der
Gedanke ans Scheiden.) 10. Wie kehrt er in „Scheiden" und wie in
„O lieb —" wieder? (Dort in veränderter Form und hier dreimal in
AdL n. 8. Ausl. 37
578
III. Lyrische Gedichte.
denselben Worten: „O lieb, solang du lieben" usw.) 11. Wie oft spricht
Freiligrath seine Ermahnung und Feuchtersleben seinen Trost aus?
12. Welches der beiden Gedichte spricht den Hauptgedanken kurz aus,
und welches führt ihn weitläufig durch?
2. Vergleiche „Scheiden" und
C. Gottes Zucht.-
Fr. de la Motte-Fouquo. Frauentaschenbuch. Nürnberg 1816. S. 187.
1. Wenn alles eben käme,
wie du gewollt es hast,
und Gott dir gar nichts nähme
und gäb' dir keine Last:
wie wär's da um dein Sterben,
du Menschenkind, bestellt?
Du müßtest fast verderben,
so lieb' wär dir die Welt.
2. Nun fällt — eins nach dem andern
manch süßes Band dir ab,
und heiter kannst du wandern
gen Himmel durch das Grab.
Dein Zagen ist gebrochen,
und deine Seele hofft. —
Dies ward schon oft gesprochen,
doch spricht man's nie zu oft.
1. Welchen gleichen Gedanken sprechen beide Gedichte zunächst aus?
(Daß es nach dem Tode ein glückliches Wiedersehen gibt.) 2. Welches
Urteil fällen beide über das Scheiden? (Es tut weh.) 3. Welche Not-
wendigkeit sprechen beide Gedichte aus? (Daß wir uns nach Gottes Willen
von unseren Lieben trennen müssen.) 4. Wodurch unterscheidet sich der
Trost, den uns beide Gedichte geben? (Feuchtersleben tröstet uns mit
dem Wiedersehen im Jenseits; Fouqus tröstet uns damit, daß uns das
Scheiden hier auf Erden leichter wird, wenn uns erst liebe Personen ins
Jenseits vorangegangen sind.)
3. Vergleiche „Scheiden" und
D. Wiedersehen.
Hugo Göring. Colshorn, Dichterwald. Hannover. 7. Aufl. S. 62.
Wenn wir am Totenbette stehn,
so sagen wir: „Auf Wiedersehn!"
Drum weine nicht!
3. Weine nicht,
und sank auch in das kalte Grab
ein Herz, das du geliebt, hinab!
Hörst du's durch Trauerweiden wehn ?
Da rauscht es süß: „Auf Wiedersehn!"
Drum weine nicht!
1. Weine nicht,
wenn aus dem stillen Vaterhaus
das Kind zieht in die Welt hinaus!
Du rufst als letzten Gruß beim Gehn:
„Lieb Kind, lieb Kind, auf Wieder-
Drum weine nicht! ssehn!"
2. Weine nicht,
wenn sanft ein liebes Auge bricht,
das Auge war die Seele nicht!
1. Was sagen beide Gedichte vom Scheiden? (Es tut dem Herzen
weh.) 2. Wovon scheidet der Mensch nach Feuchtersleben, Str. 1? (Von
dem, was er am liebsten hat: das kann Vater, Mutter, Kind, Mann,
Weib, Braut, Bräutigam, Freund usw. sein.) 3. Wer scheidet in Görings
Gedichte? (Das Kind aus dem Vaterhause. Dort ist also die Person
unbestimmt gelassen und hier bestimmt bezeichnet.) 4. Von welchem
Scheiden spricht Görings Lied in der ersten Strophe im Gegensatz zu
Feuchtersleben? (Vom Scheiden für einige Zeit.) 5. In welchen Strophen
ist vom Wiedersehen nach dem Tode die Rede? (In A in Str. 1 und 3,
in D in Str. 2 und 3.) 6. Wie oft wiederholt jeder Dichter das Trost-
Scherer: Der unerbittliche Hauptmann.
579
wort: „Auf Wiedersehen"? (Feuchtersleben nur einmal in der letzten
Strophe, Göring in jeder der drei Strophen seines Gedichts.) 7. Wie
rechtfertigen wir das „Weine nicht!" in Görings Gedichte und das
„Dann weine!" in „Scheiden"? (Wenn uns Göring stets das „Weine
nicht!" zuruft, so meint er, daß wir nicht unnütz klagen sollen. Feuchters-
leben dagegen sagt, daß es ganz recht ist, bei großem Trennungsschmerze
zu weinen, denn Tränen erleichtern das Herz; nur sollen die Tränen
auch zur rechten Zeit gestillt werden. Und das wird geschehen, wenn
wir uns durch den Gedanken an das Wiedersehen trösten lassen.)
W. D.
219. Der unerbittliche Hauptmann.
Volkslied. G. Scherers Jungbrunnen. 3. Aufl. Berlin 1875. S. 278.
1. O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt, darinnen liegt
begraben so mannicher Soldat.
2. So mancher und schöner und tapferer Soldat, der Vater und lieb
Mutter böslich verlassen hat.
Z. Verlassen, verlassen, es kann nicht anders sein! Zu Straßburg, ja
zu Straßburg, Soldaten müssen sein.
4. Der Vater, die Mutter, die gingen vor Hauptmanns Haus: „Ach
Hauptmann, lieber Herr Hauptmann, gebt mir meinen Sohn heraus!"
5. „Euren Sohn kann ich nicht geben für noch so vieles Geld; euer
Sohn, der muß marschieren ins weit' und breite Feld.
6. Ins weite und breite und auch noch vor den Feind, wenn gleich sein
schwarzbrauns Mädchen so bitter um ihn weint."
7. Sie weinet, sie greinet, sie klaget also sehr: „Ade, Herzallerliebster!
Wir sehn uns nimmermehr."
I. Erläuterungsfragen. Warum heißt Straßburg eine wunder-
schöne Stadt? (Lage in der Nähe des Rheins zwischen Schwarzwald
und Vogesen; reger Verkehr, tüchtige Bewohner, altertümliche Häuser,
das herrliche Münster.) Warum hat der Soldat böslich seine Eltern
verlassen? (Aus Lust am Soldatenleben oder infolge eines Streites mit
seinen Eltern usw. hat er sich anwerben lassen.) Warum müssen gerade
in Straßburg viele Soldaten sein? (Starke Grenzfeste zwischen Deutsch-
land und Frankreich.) Warum liegen viele schöne und tapfere Soldaten
dort begraben? (Sie sind bei der Verteidigung der Festung gefallen in
den vielen Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich. Einzelne sind
auch erschossen worden, weil sie desertieren, d. h. von der Fahne fliehen
wollten.) Wer bemüht sich vergeblich, den Soldaten vom Hauptmann
wieder losznbitten? (Eltern.) Warum finden sie keine Erhörung? (Der
Soldat hat zur Fahne geschworen, und ein Krieg ist vor der Tür.) Warum
heißt die Braut schwarzbraunes Mädchen? (Sie hat schwarze Haare
und braune Augen, auch wohl leichtgebräunte Gesichtsfarbe.) Wie unter-
scheiden sich weinen, greinen und klagen? (Tränen vergießen, da-
bei den Mund verziehen, den Schmerz in Worten ausdrücken.) Wie drückt
die Braut ihre Liebe und wie ihre Hoffnungslosigkeit aus?
37*
580
III. Lyrische Gedichte.
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Der Sohn hat sich in Straß-
burg, der Stadt voll Soldaten, dem Bollwerk zwischen Deutschland und
Frankreich, als Soldat anwerben lassen. Die unglücklichen Eltern suchen
ihn bei dem Hauptmann loszubitten. Die Bitte wird abgeschlagen, weil
der Krieg ansbricht und jeder Soldat nötig ist. Mit der hoffnungslosen
Klage der Braut des Soldaten schließt das Lied.
2. Eigentümliches. Das Lied wirkt ergreifend durch den rüh-
renderr Inhalt und die einfache, aber packende Melodie. Nach der Weise
des Volksliedes springt es mit seinen Gedanken und läßt dies und das
erraten, z. B.: Warum hat der Soldat seine Eltern verlassen? Ist die
Braut mit den Eltern gekommen, oder weint sie daheim ihre Tränen?
Der Soldat, um den es sich handelt, bleibt gleichsam hinter dem Vorhänge
verborgen usw. Das Lied stellt neben das Lob der wunderschönen Stadt
die Erinnerung an die Tränen des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit,
die dort geflossen sind. Es versetzt uns nach Straßburg, der alten Liebe
Deutschlands, und in den alten Kampf zwischen Deutschland und Frank-
reich. Gleichsam dramatisch (handelnd) führt es uns vor: die schöne Stadt
voll Soldatengräber, die angeworbenen Soldaten, die weither gekommenen
flehenden Eltern, den unerbittlichen Hauptmann und die ferne Braut in
Tränen. In manchen Sammlungen ist das Lied überschrieben: „Die
Fremdenlegion". Sein schlichter, wahrheitsgetreuer Inhalt hat sich in
jener Zeit der geworbenen Söldnerheere unzähligemal abgespielt. Weil
das Lied bekannte, sich oft wiederholende Tatsachen und Empfindungen
in schlichter, ergreifender Weise aussprach, darum wurde es von Mund
zu Mund getragen und in fliegenden Blättern verbreitet, wurde — Volks-
lied ! Einen Dichter und Komponisten kennt niemand. — Der Form des
Liedes ist eigentümlich die kettengliederartige Verbindung der Strophen
untereinander (vgl. Ps. 121): Str. 1 so mannicher Soldat, Str. 2 So
mancher . . . Soldat; Str. 2 verlassen hat, Str. 3 Verlassen usw. Diese
Verbindung fehlt zwischen Str. 3 und 4, weil mit Str. 4 ein neuer Ab-
schnitt beginnt. P.
220. Der Schweizer. (Zu Straßburg auf der Schanz.)
Volkslied. G. Scherers Jungbrunnen. 3. Aufl. Berlin 1875. S. 280.
I. Vorbereitung und dann Gedichtsvortrag. Ein Schweizer
hat sich in Straßburg bei den Franzosen als Soldat anwerben lassen.
Eines Tages steht er als Schildwache auf einer Schanze (einem Erdauf-
wurf oder Erdwall) der Festung und blickt nach den fernen Bergen seiner
Heimat. Da hört er von dem gegenüberliegenden Schwarzwalde (oder
glaubt zu hören) die Töne eines Alpenhorns, wie sie in der Schweiz so
oft von den Hirten geblasen werden und von den Bergen in die Täler
niederschallen. Da zieht Trauer über sein Geschick in sein Herz. Eine
unwiderstehliche Sehnsucht nach den Bergen und Freuden seiner Heimat
faßt ihn. Er verläßt den Posten, flieht nach dem Ufer des Rheines,
stürzt sich in die Fluten und will sich schwimmend an das deutsche Ufer
Scherer: Der Schweizer.
581
retten. Aber plötzlich donnern die Kanonen als Signal (Zeichen), daß ein
Soldat desertiert (der Fahne und Soldatenpflicht entflohen) ist. Alles
gerät in Bewegung, um den Deserteur zu suchen und zu ergreifen. Bald
hat man seine Spur gefunden. Kähne werden vom Ufer gelöst, rudern
dem Flüchtling nach, holen ihn ein und fischen ihn aus dem Strome. In-
zwischen ist der Abend hereingebrochen. Der Flüchtling wird vor das
Haus de§ Hauptmanns geführt. Dieser läßt ihn fesseln und von drei
Soldaten abführen und bewachen. Morgen soll er vor dem ganzen Regi-
ment um Pardon (Gnade) bitten und dann — er weiß sein Schicksal
im voraus — als Deserteur erschossen werden. Seine rührende Klage
auf dem Todeswege spricht das folgende Volkslied aus:
1. Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an; das Alp-
horn hört' ich drüben wohl anstimmen, ins Vaterland mußt' ich hinüber-
schwimmen: das ging nicht an.
2. Ein' Stund' in der Nacht sie haben mich gebracht; sie führten mich
gleich vor des Hauptmanns Haus, ach Gott! sie fischten mich im Strome auf!
Mit mir ist's aus!
3. Früh Morgens um zehn Uhr stellt man mich vor das Regiment; ich
soll da bitten um Pardon, und ich bekomm' gewiß doch meinen Lohn: das
weiß ich schon.
4. Ihr Brüder allzurnal, heut' seht ihr mich zuin letztenmal. Der Hirten-
bub' ist doch nur schuld daran, das Alphorn hat mir solches angetan: das
klag' ich an.
5. Ihr Brüder alle tzrei, was ich euch bitt', erschießt mich gleich; ver-
schont inein junges Leben nicht; schießt zu, auf daß das Blut 'raus spritzt!
Das bitt' ich euch.
6. O Himmelskönig, Herr, nimm du mein' arme Seel' dahin; nimm sie
zu dir in den Himmel ein; laß sie ewig bei dir sein und vergiß nicht mein!
II. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Das Ereignis fällt in das 18.
Jahrhundert, da Straßburg noch französisch war und die Schweizer sich
als Söldner anwerben ließen. Die Festungswerke zu Straßburg sind der
Schauplatz der Handlung. Schildere den Soldaten a) auf der Wacht,
b) auf der Flucht, e) auf dem Gange zur Hinrichtung! (a) Auf den
Wällen der Stadt geht gegen Abend ein Soldat mit dem Gewehr auf
und ab. Sehnsüchtig schaut er nach der dunklen Kette des Schwarzwaldes
ini Osten und nach den Vogesen im Westen, hinter denen die Sonne
untergehen will. Da glaubt er in der Ferne den Ton eines Alpenhorns
zu hören, mit dem ein Hirtenbub seine Herde gegen Abend zusammenruft.
Er schaut sich um, ob er unbeobachtet ist, wirft das Gewehr weg und
eilt gegen den Rhein usw.
2. Gedanken gang. Str. 1. Der Klang des Alphorns lockt den
Soldaten zur Flucht über den Rhein. Str. 2. Er wird aus dem Strome
aufgefischt und eine Stunde nach Einbruch der Nacht zum Hauptmanu
gebracht. Str. 3. Er soll vor dem Regiment um Gnade bitten, weiß aber,
daß ihn der Tod durch die Kugel erwartet. Str. 4. Er klagt den Kameraden
die Ursache seiner Flucht. Str. 5. Er bittet sie um einen raschen Tod.
Str. 6. Er ruft den Himmelskönig um eine selige Heimfahrt an.
582
III. Lyrische Gedichte.
Grundgedanke. Die Sehnsucht nach der irdischen Heimat ver-
leitet den Soldaten zur Fahnenflucht. Im Angesicht des Todes richtet
sich seine Sehnsucht nach der himmlischen Heimat.
3. Eigentümliches. Die ursprüngliche Form dieses Volksliedes
(Simrock, Die deutschen Volkslieder. Franks. 1851, S. 483) weiß nichts
davon, daß der Deserteur ein Schweizer war und durch den Klang des
Alphorns zur Fahnenflucht bewogen wurde. Diese Ausschmückung er-
scheint erst in „Des Knaben Wunderhorn" von Brentano und Arnim
(Berlin 1876. 1,158). Sie gibt dem Liede einen besonders rührenden Ton.
Die ursprüngliche Form heißt:
1. Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Unglück an; da wollt'
ich den Franzosen desertieren und wollt' es bei den Preußen probieren, das
ging nicht an.
2. Eine Stund' in der Nacht haben sie mich gefangen eingebracht. Man
führt' mich gleich vors Hauptmanns Haus; der Hauptmann schaut zum Fenster
heraus: Mit dir ist's aus.
3. Des Morgens um halb zehn Uhr, da stellt man mich dem Regimenté
vor. Da wollt' ich bitten um Pardon, doch werd' ich kriegen meinen Lohn, das
weiß ich schon.
4. Ihr Bruder allzumal, heut sehn wir uns zum letztenmal; schont
meines jungen Lebens nicht, schießt, daß das rote Blut 'rausspritzt; schießt
alle zugleich, das bitt' ich euch!
5. O Himmelskönigin, nimm du meine arme Seele dahin! Nimm sie zu
dir in den Himmel hinein zu dem allerbesten Vater mein; vergiß nicht mein!
III. Verwertung. 1. Nutzanwendungen. Wer den Regungen
des Herzens allzurasch nachgibt, der bricht leicht die Pflicht. — Das Herz
sei empfänglich und weich, aber der Wille stark und fest! — Hast du ge-
sündigt, so erdulde willig die Strafe! — über der irdischen glänzt die
himmlische Heimat! — Wohl uns, daß wir einen Trost in Sterbens-
not haben!
2. Verwandtes. Die Schlange lockte Eva; letztere folgte und verlor
das Paradies. — Die Sirenen lockten Odysseus und seine Mannen mit
süßen Tönen in den Abgrund; er aber verstopfte den Schiffsleuten die
Ohren mit Wachs und ließ sich selbst fest an den Mast binden. — Fern
von Gottes Herzen — (Bd. II, Nr. 177). — Die Loreley von Heine.
— Erlkönig und Fischer von Goethe. — Hofers Todesgang (Bd. II,
Nr. 86).
3. Aufgaben, a) Vergleiche die beiden Formen des Volksliedes! —
d) Schildere die Flucht, die Wiederergreisung und die Hinrichtung des
Deserteurs! — c) Suche in Geschichte, Leben und Lied Beispiele von ge-
heimnisvollen Stimmen, die ins Verderben gelockt haben! I\
221. Der Soldat.
Adelb. v. Charnisso. (Nach d. Dänischen v. Andersen.) Werke, Bd.I. Berlin 1864. S. 183.
I. Vorbereitung und Vortrag. Ein Soldat erzählt, wie sein liebster
Kamerad zum Tode geführt worden ist, wie er selbst die Hinrichtung
mit vollzogen und was er dabei gelitten hat.
Chamisso: Der Soldat.
583
1. Es geht bei gedämpfter Trommel Klangt). — Wie weit noch die
Stätte! Der Weg wie lang«)! O wär' er zur Ruh und alles vorbei !3) Ich
glaub', es bricht mir das Herz entzwei!^)
2. Ich hab' in der Welt nur ihn geliebt, — nur ihn, dem jetzt man den
Tod doch giebt b). Bei klingendem Spiele wird paradiert6), dazu bin auch
ich kommandiert?).
3. Nun schaut er auf zum letztenmal in Gottes Sonne freudigen Strahl;
— nun binden sie ihm die Augen zu; — dir schenke Gott die ewige Ruh'!«)
4. Es haben die neun wohl angelegt; acht Kugeln haben vorbeigefegt;
— sie zitterten alle vor Jammer und Schmerz«); — ich aber traf ihn mitten
ins Herz").
II. Erläuterungen. 1. „Dem Tambour will der Wirbel nicht unterm -
Schlegel vor." Sein Herz ist voll Weh, und seine Hände zittern, darum
gibt die Trommel nur einen gedämpften, dumpfen und leisen Klang.
Es ist gleichsam die Totenglocke des Soldaten. 2. In den Gliedern liegt
es wie Blei, auf dem Herzen wie ein Berg; darum erscheint die Stätte
der Hinrichtung so weit, der Weg dahin so lang. 3. Vorbei die Unruhe
und Angst, der Schmerz und die Hoffnung! 4. Den schwersten Schmerz
nennt man herzbrechend. 5. Warum gibt man ihm wohl den Tod? (Er
hat zu seinen unglücklichen Eltern entfliehen wollen oder sich an seinem
Vorgesetzten vergriffen, der ihn mißhandelte.) 6. Das Regiment zieht
in Parade auf; die Soldaten tragen den besten Anzug und volle Aus-
rüstung; dazu klingt die volle Regimentsmusik. Es ist die letzte Ehre
für den Unglücklichen und ein Beweis, daß er sich sonst trefflich geführt
hat. 7. Unter dem Exekutions-Kommando von 9 Mann ist auch der liebste
Freund des Delinquenten. 8. Ergreifende Gegensätze: Wie ein strah-
lendes Gottesauge leuchtet die Sonne und spendet allen Freude, ihm aber
bindet man die Augen zu, und für ihn lacht keine Freude! Unruhig
drängt's und treibt's ringsum, ihm winkt die ewige Ruhe. 9. Alle lieben
den Unglücklichen, zittern vor Schmerz und fehlen ihn deshalb. 10. Sein
Herz blutete, aber das Auge wax ohne Tränen, — der größte Schmerz
hat ja keine Tränen, er wirkt versteinernd! — und die Hand zittert nicht.
So traf er den Freund mitten ins Herz. Das war der letzte Liebesdienst,
daß er die Qual seines unglücklichen Freundes abkürzte, daß die Liebe
dem Geliebten den Tod gab.
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Der „freudige Strahl von
Gottes Sonne" läßt auf die Frühlings- oder Sommerzeit schließen. Bon
der Stadt zieht der Zug nach der Bastei (den Festungswällen). Das
Regiment ist im Paradeaufzug mit klingendem Spiel und Trommelklang.
Der Unglückliche schaut noch einmal betend zum Himmel auf, dann werden
ihni die Augen verbunden. Eine Strecke davon liegen neun Mann mit
ihren Gewehren im Anschlage; neun Schüsse krachen; acht Kugeln fliegen
vorbei; eine trifft ihn ins Herz; tot sinkt er nieder.
2. Gedanken gang. Str. 1. Der schwere Gang zur Richtstätte.
Str. 2. Der Aufmarsch des Regiments. Str. 3. Der letzte Blick zum
Himmel. Str. 4. Der Tod.
584
in. Lyrische Gedichte.
Grundgedanke: Wenn auch das Herz blutet und bricht, die Pflicht
muß erfüllt werden. Das weiß am besten der Soldat.
3. Eigentümliches. Das kleine Gedicht ist eine erschütternde Schil-
derung der Liebe und des Schmerzes, des Kampfes und des Sieges der
Pflicht über die Neigung. Jede Zeile ist ein Pinselstrich von ergreifen-
der Wahrheit auf dem düsteren Bilde, auf dem nur die Liebe und die
Pflicht, der Schmerz der Kameraden und die Hoffnung auf Gottes Er-
barmen Lichtpunkte sind. Nicht die Gefühle des Delinquenten, der mit
der Erde abgeschlossen hat und zur ewigen Ruhe eingeht, sondern der
Schmerz des überlebenden Freundes, der seine Erinnerung weiter durchs
Leben tragen soll, wird geschildert. Das unbestimmte „Es geht" — aiu
Anfange erfüllt mit banger Ahnung eines Unglücks, wie ein heranziehen-
des Gewitter, wie das „ihn hat es weggerissen" in Uhlands „gutem
Kameraden". Der Schluß scheint herbe und verletzend, und doch ist er
versöhnend. Die Liebe aller Kameraden wirft das schönste Licht auf den
Charakter des Unglücklichen. Von der Hand der Liebe — die den Schmerz
bändigt — stirbt er rasch und ohne Qual, nicht wie Hofer mit der Klage:
„Ach, wie schießt ihr schlecht!"
IV- Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Die Liebe decket auch der Sünden Menge. (1. Petr. 4,8.) Wir müssen
durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen. (Apostelg. 14, 22.) Die
Liebe ist stärker als der Tod, der Himmel schöner als die Erde. — In
der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
(Joh. 16, 33.)
2. Verwandtes. „Hofers Tod" von Mosen. — „Der gute Kame-
rad" von Uhland. — „Die Exekution" von Scherenberg: Wer da wieder-
bringt den Deserteur —.
3. Rede- und Stil Übungen. Vergleiche I: „O Straßburg"
— II: „Zu Straßburg auf der Schanz" — und III: „Es geht bei ge-
dämpfter Trommel Klang"!
Ähnlichkeiten. Alle drei Gedichte sind im Tone des Volksliedes
gehalten und singbar. Sie führen uns in eine Festung und zeigen uns
das Soldatenleben einer früheren Zeit, die unerbittlich strenge Disziplin,
einen unglücklichen Soldaten, die Teilnahme und Liebe seiner Kameraden
und Angehörigen und den Schmerz der Trennung ohne Hoffnung auf
ein Wiedersehen hienieden.
Verschiedenheiten. I wird dem Dichter, II dem Deserteur, III
dem Freunde in den Mund gelegt. I und II führen uns nach Straß-
burg, III in eine ungenannte Garnison. I schildert die Anwerbung, II
die Desertion, III die Exekution eines Soldaten. Der Soldat in I er-
wartet seinen Tod im Schlachtgewühl, der in II soll wegen Desertion
erschossen werden, der in III wird aus unbekannter Ursache erschossen.
Der in I soll von den Kugeln der Feinde sterben, der in II durch drei
Kameraden, der in III stirbt durch den liebsten Freund. In I und II
wird der Hauptmann, in III das ganze Regiment erwähnt. In I jam-
mern Eltern und Braut, in II der Deserteur, in III der Freund. In I
Zur Charakteristik Chamissos.
585
suchen die Eltern vergeblich den Sohn loszubitten, in II hören wir den
Deserteur auf dem Todesgange die Geschichte seines Unglücks erzählen,
in III fühlen wir das ungeheure Opfer mit, das ein Freund dem andern
durch eine Kugel ins Herz bringt. I klingt in einem Wehlaut — ohne
Hoffnung auf Wiedersehn —, II in einem gläubigen Gebete, III in dem
Wunsche der ewigen Ruhe aus. P.
Zur Charakteristik Chamissos.
1. Adelbert von Chamisso gehört in gewissem Sinne zu dem
Kreise der Romantiker. Dies bezeugen sein freundschaftlicher Verkehr
mit Romantikern wie Varnhagen von Ense, de la Motte-Fouquo und
diejenigen seiner Dichtungen, die romantische Stoffe behandeln, wie: die
„wundersame Geschichte Peter Schlemihls", die „deutschen Volkssagen",
zu denen das „Riesenfpielzeug" und die „Weiber von Winsperg" gehören,
endlich auch „Schloß Boncourt" in seinem ersten Teile (Str. 1—6), in
dem er uns mit verhaltenem Schmerze das Schloß seiner ritterlichen
Ahnen lebendig vor die Seele malt.
2. Aber Chamissos Eigenart geht über die Grenzen der Romantik
hinaus; er ist mit einem starken Sinn für das wirkliche Leben be-
gabt und eilt damit der Entwicklung unserer Literatur zum Realismus
voraus. Hier weiß er mit dem Spürsinn des entdeckenden Dichters das
„Menschlich-Edle auch in unscheinbarer Hülle" (Ad. Stern, Neuere
Literatur V 465) zu finden und durch sein Lied warme Teilnahme dafür
zu erwecken. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht der 2. Teil von „Schloß
B.": der Dichter hätte schließen können mit einer Klage darüber, daß
an die Stelle des stolzen Schlosses — Ackerfeld, der vornehmen, glän-
zenden Ritter — der schlichte Bauer, der ritterlichen Streitrosse — das
gemeine Ackerpserd getreten seien; statt dessen ein herzlicher Segens-
wunsch für den, der hier im Schweiße seines Angesichts pflügt, der das
Recht der Wirklichkeit für sich hat! Das gleiche Thema vom Wechsel
zwischen Vornehmem und Geringem behandelt „Das Riesenspielzeng"
(vgl. Uh land, Das Singental, Nr. 104). In der „alten Waschfrau"
treten wir in das schlichte, ja kümmerliche Leben des bescheidensten Bürger-
standes ein; wie hat er es aber verstanden, uns für dies mühen- und
sorgenreiche, aber freudenarme Leben zu interessieren, es uns in dem, was
eL an Edlem unter unscheinbarer Hülle birgt, sogar als vorbildlich dar-
zustellen! Noch tiefer führt uns der Dichter in „Der Bettler und sein
Hund": ein zum Bettler herabgesunkener, alter Soldat und sein Köter —
das sind die Helden, der Fluß, in dem der Bettler ein Ende seiner
Not sucht, und die Begräbnisstätte der Selbstmörder — das sind die
Schauplätze dieses Gedichts! Aber auch für diesen Ärmsten, der viel
ärmer als die alte Waschfrau ist, weiß Ch. noch menschliches und künst-
lerisches Interesse zu erwecken; der Realismus der Schilderung ist ihm
nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck.
3. Eigentümlich ist dem Dichter eine „Vorliebe für das Grelle,
Düstere" (Stern a. a. O.), ja Furchtbare im Menschenleben. Da
586
III. Lyrische Gedichte.
haben wir einen Soldaten, der zur Exekution an seinem liebsten Freunde
kommandiert wird, der den bittersten Zwiespalt zwischen Liebe und
Pflicht durchkämpft, der endlich aus Liebe die fürchterliche Pflicht
erfüllt, bei deren Erfüllung den andern, innerlich weniger Beteiligten
die Hand zittert („Der Soldat"). In der „Löwenbraut" malt uns Eh.
die Todesnot der Braut und die grausige Totenwacht des Löwen am
zerrissenen Leichnam des geliebten Mädchens; in „Salas y Gomez" den
Gegensatz zwischen den Träumen von Zukunftsglück und dem Elend der
Wirklichkeit, das entsetzliche Leben in Dürftigkeit und Einsamkeit. End-
lich in „Die Sonne bringt es an den Tag" ein gemeiner Mord, in „Der
Bettler und sein Hund" ein Selbstmord! Aber — ohne die Wirkung des
Furchtbaren, das es nun einmal in der Welt gibt, abzuschwächen, immer
weis; Eh. seine Dichtung mit einer versöhnenden Wendung abzuschließen:
diese Wirkung hat in „Der Bettler und sein Hund" die Liebe des Bett-
lers zu seinem einziger: Gefährten, für den er schließlich in den Tod geht,
um nicht ihn töten zu müssen, und anderseits des Hundes Treue bis in
den Tod; in „Die Sonne bringt es an den Tag" der Gedanke an das
strenge und notwendige Walten göttlicher Gerechtigkeit; in „Salas p
Gomez" das Vertrauen des Greises auf Gott allein, seine Erziehung zu
Geduld und Gottvertrauen; in der „Löwenbraut" der finstere, stumme
Schmerz des Löwen nach der Tat und sein klagloser Tod, anderseits die
Worte des Mädchens von dem „fremden Mann"; in „Der Soldat" das
Bewußtsein des Soldaten, dem Freunde die letzte Liebe erwiesen zu haben.
4. Neben dieser Vorliebe für das Düstere im Menschenleben geht
in eigentümlicher Weise der Humor Eh.'s her. Freilich haben wir hier
nicht den harmlosen, sonnigen Humor Hebels (vgl. S. 76), — die Eigene
art dieses Humors beruht darin, daß er meist einen ernsten oder düsteren
Hintergrund hat. In „Hans Jürgen und sein Kind" ist es der Mangel
an Selbstbeherrschung, der den Mann, seine Familie und das junge
Familienglück zu vernichten droht; das Gedicht könnte seiner Anlage nach
ebensogut einen tragischen Ausgang nehmen, wie es in Wirklichkeit humo-
ristisch endet, und tatsächlich tritt erst in der 9. Str. (von 15 Str.) das
erste Anzeichen des humoristischen Charakters auf. Für den Humor im
„Szekler Landtag" bildet den Hintergrund die Vernichtung der Ernte
und damit die Aussicht aus Hungersnot für eine ganze Landschaft. Die
„tragische Geschichte" ist eine bittere Satire auf das Unvermögen, den
überflüssig und lästig gewordenen Zopf abzuschneiden.
5. Eh. ist ein sittlich-religiöser Charakter, der mit großem
Ernste und starker Männlichkeit zarteste, tiefste Innigkeit verbindet. Das
erstere tritt besonders in „Salas p Gomez" hervor: am Ende erscheint
den: Greise sein Leben auf dem Jnselfelsen als eine Erziehungsschule, in
die ihn Gott genommen, um ihn von seiner Ungeduld, dem unruhigen
Tatendrange und der heftigen Gewinnsucht der Jugend durch die Ver-
zweiflung hindurch zu Geduld und vertrauensvoller Ergebung in Gottes
Willen zu führen; den inneren Feinden zum Trotz läßt Eh. den Alten sich
selbst behaupten, nicht aber sich verlieren in selbstmörderischem Tun
Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen.
587
oder seelisch untergehen in der Nacht des Wahnsinns. Gläubige Hingabe
an Gottes guten, gnädigen Willen lehrt auch „Die Kreuzschau", den Segen
der Treue im gottgewollten Berufe „Die alte Waschfrau". Das Walten
der göttlichen Gerechtigkeit im Weltenlaufe zeigt „Die Sonne bringt es
an den Tag". — Die zarte, weiche Seite seines Charakters Prägt sich
am deutlichsten aus in seinem Liederzyklus „Frauen-Liebe und Leben":
dieser Lobpreis der Braut-, Frauen- und Mutterliebe predigt neben seiner
Heimatliebe („Du meine liebe deutsche Heimat" — „Berlin") am lau-
testen, wie sehr der geborene Franzose in seinem Denken, Fühlen und
Dichten Deutscher geworden ist. Als deutschen Mann und deutschen Dich-
ter dürfen wir ihn ganz für uns in Anspruch nehmen.
Dr. P. Polack.
3. Vaterlandslrrder.
222. A. Das Lied der Deutschen.
Heinr. Aug. Hoffmann von Fallersleben. Gedichte. Berlin 1874. S 374.
1. Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt. Usw.
(Das Lied ist allgemein bekannt.)
I. Vorbereitung. Was wir sind, und was wir haben, das verdanken
wir dem Vaterlande. In ihm liegen die Wurzeln unserer Kraft; an
ihni haftet unsere Liebe; zu ihm zieht uns die Sehnsucht, wenn wir in
der Fremde sind. Es ist die treue Nährmutter unseres Leibes, Geistes
und Gemütes. Die Liebe zu ihm ist so natürlich wie die Liebe zu Vater
und Mutter. Diese Liebe beglückt uns und begeistert uns zu rechtem
Tun. Von Geschlecht zu Geschlecht pflanzt sie sich fort, besonders auch
durch die Vaterlandslieder. Dieselben sind wie ein ewiges heiliges Feuer,
an dem das junge Geschlecht immer und immer wieder die Fackeln der
Begeisterung entzündet.
Zll den schönsten Vaterlandsliedern gehören die von Hoffmann
von Fallersleben. Als Student besuchte er Jakob Grimm, den Alt-
meister deutscher Sprache und Volksart, und sprach ihm seine Absicht
aus, in Italien und Griechenland seine lateinischen und griechischen Sprach-
studien fortzusetzen. „Liegt Ihnen Ihr Vaterland nicht näher?" meinte
der deutsche Mann. Diese Frage schlug bei Hoffmann wie ein Blitz ein.
Er widmete sich hinfort dem Studium der deutschen Literatur. Zu Hofs-
manns schönsten und bekanntesten Vaterlandsliedern gehört „Das Lied
der Deutschen: Deutschland, Deutschland über alles!" Es wird in allen
Schulen nach der österreichischen Nationalhymne von Joseph Haydn: „Gott
erhalte Franz den Kaiser!" gesungen.
Das Lied preist die Größe, die Schönheit und das Glück des
Vaterlandes. Groß ist das deutsche Vaterland: es reicht von dem Flusse
Maas an der belgischen, bis zur Memel an der russischen, von der Meer-
straße des kleinen Belt an der dänischen, bis zu dem Alpenflusse Etsch
588
III. Lyrische Gedichte.
an der italienischen Grenze. Wenn seine Fürsten und Völker treu zu-
sammenhalten, können sie sich vor allen Angriffen schützen und allen
Feinden Trotz bieten.
Schön ist das Vaterland: im Hause und in der Familie waltet die
deutsche Frau gleich einer Priesterin; die Männer sind treu ihrer
Pflicht und zuverlässig im Verkehr; deutscher Wein spendet Kraft und
Freude; deutsche Lieder begeistern zu rechtem Tun und Lieben.
Glücklich ist das Vaterland durch die Einigkeit, wenn alle ein
Volk von Brüdern sind, durch das Recht, wenn nicht Willkür, sondern
das Gesetz regiert, durch die Freiheit von Druck und Gewalt. Einig-
keit, Gerechtigkeit und Freiheit sind die Unterpfänder oder Bürgen des
Glückes und der Blüte des Vaterlandes.
II. Vortrag des Gedichts.
III. Vertiefung. 1. Charakter eines echten Deutschen. Der
rechte Deutsche liebt sein Vaterland über alles, ehrt das Weib, weilt gern
in der Familie, übt die Treue gegen Fürst und Obrigkeit wie im Ver-
kehr, begeistert sich an Wein und Lied zu edlen Taten, lebt nach Gesetz
und Recht, strebt nach Befreiung von Knechtschaft und unwürdigem Drucke,
vergißt und läßt Hader und Zwietracht, hält brüderlich mit den Stammes-
genossen zusammen und verteidigt das Vaterland gegen alle Feinde.
2. Gedankengang. Str. 1. Deutschlands Größe in seiner weiten
Ausdehnung und in der Einigkeit seiner Kinder. Str. 2. Deutschlands
Schönheit in seinen Frauen und seinem innigen Familienleben, in der
Treue seiner Männer, in Wein und Lied. Str. 3. Deutschlands Unter-
pfänder (sichere Bürgen) des Glückes in der Einigkeit, dem Recht
und der Freiheit.
3. Eigentümlichkeiten. Macht, Schönheit und Glück des Vater-
landes sind in kurzen Strichen meisterhaft gezeichnet. Die ersten beiden
Zeilen jeder Strophe wiederholen sich gegen das Ende, um den Inhalt
recht nachdrücklich wirken zu lassen. Bei der 3. Strophe kehren sie früher
wieder, um in den beiden letzten Zeilen mit einem innigen Wunsche für
die Blüte und das Glück des Vaterlandes zu enden.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Zersplitterung und Unglück
Deutschlands zur Zeit Ludwigs XIV. und Napoleons I. von Frankreich.
Einigung und Glück des Vaterlandes in den Befreiungskriegen und in
dem französischen Kriege 1870 und 1871. Deutsche Frauen: die
Königin Luise usw. Deutsche Treue: „Ein Wort — ein Wort, ein
Mann — ein Mann!" Friedrich der Schöne und Ludwig der Bayer.
Deutscher Wein: Weinlieder! ,,Daß der Wein erfreue des Menschen
Herz —". Deutscher Sang: „Es braust ein Ruf wie —". Die Sänger
der Befreiungskriege. Minnesänger und Meistersänger. Volkslieder.
Einigkeit: Kaiser und Reich 1871! Recht: einheitliche Gesetze durch
den Reichstag! Freiheit: die Verfassung! Dem Dichter ist auf Helgo-
land ein Denkmal errichtet; dort hat er das Lied gedichtet.
589
Arndt: Des Deutschen Baterland.
Verwandte Vaterlandslieder.
B. Mein Lieben.
Hoffmann von Fallersleben. Gedichte.
1. Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist,
wenn auch die Welt ihr Liebstes
und Bestes bald vergißt.
Ich sing' es hell' und ruf' es laut:
Mein Vaterland ist meine Braut!
Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
2. Wie könnt' ich dein vergessen!
Dein denk' ich allezeit;
ich bin mit dir verbunden,
mit dir in Freud und Leid.
8. Aufl. Berlin 1874. S. 377.
Ich will für dich im Kampfe stehn
und, sollt' es sein, mit dir vergehn.
Wie könnt' ich dein vergessen!
Dein denk' ich allezeit.
3. Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist,
solang ein Hauch von Liebe
und Leben in mir ist.
Ich suche nichts als dich allein,
als deiner Liebe wert zu sein.
Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
C. Deutschlands Ghre.
Walter von der Vogelweide. Wolffs poetischer Hausschatz. 27. Aufl. S. 19.
1. Lande hab' ich viel gesehen, nach den besten blickt' ich allerwärts:
Übel möge mir geschehn, wenn sich je bereden ließ mein Herz,
daß ihm wohlgefalle fremder Lande Brauch.
Wenn ich lügen wollte, lohnte es mir auch? Deutsche Zucht geht über alle.
2. Von der Elbe bis zum Rhein und zurück bis an der Ungarn Land,
da mögen wohl die besten sein, die ich irgend auf der Erde fand.
Weiß ich recht zu schauen Schönheit, Huld und Zier,
hilf mir Gott, so schwör' ich, daß sie besser sind hier als andrer Länder Frauen.
3. Züchtig ist der deutsche Mann, deutsche Frau'u sind engelschön und rein,
töricht, wer sie schelten kann, anders wahrlich mag es nimmer sein:
Zucht und reine Minne, wer sie sucht und liebt,
komm' in unser Land, wo es noch beide giebt: lebt' ich lange nur darinne!
2. Rede- und Stilübungen, a) Worin besteht die Macht, die
Schönheit und das Glück des Vaterlandes? b) Wann ist man des Vater-
landes wert? (Vgl. III, 1!) o) Was findet sich in „Deutschlands Ehre"
von Walter von der Vogelweide ähnlich wie in Hoffmanns „Lied der
Deutschen"? ck) Worin zeigt sich die Trefflichkeit der deutschen Frauen
und die Treue der deutschen Männer? ?.
223. A. Des Deutschen Vaterland.
Von E. M. Arndt, Gedichte. Berlin 1865. S. 223.
1. Was ist des Deutschen Vater-
land?
Jst's Preußenland? Jst's Schwaben-
land?
Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht?
Jst's, wo am Belt die Möve zieht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
2. Was ist des Deutschen Vater-
land?
Jst's Bayernland? Jst's Steierland?
Jst's, wo des Marsen Rind sich
streckt?
Jst's, wo der Märker Eisen reckt?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein.
(Das Lied ist allgemein bekannt.)
590
III. Lyrische Gedichte.
I. Entstehung des Liedes. „Das Illustrierte Sonntagsblatt
von Ruppius" 1881, Nr. 34 erzählt über den Ursprung des berühmten
Liedes folgendes: „Desselben Weges, den der flüchtige Franzosen-Kaiser
(im Dezember 1812) durch die unwirtbaren Steppen des weiten Zaren-
gebietes genommen hatte, fuhr vier Wochen später, in dem ersten Monate
des neuen Jahres 1813, wiederum ein elendes Schneeschiffchen, und ebenso
saßen darin zwei bis über den Scheitel in Pelz gehüllte Männer. So
eisig auch der Schneesturm Bahn und Blick verwehte, der gute Humor,
die Hoffnung eines guten Gewissens und Siegesfreude gaben dem Fahr-
zeug das Geleit, Freiheitsgedanken flogen vorauf, Heldenmut und Gott-
vertrauen, die keinen Deutschen verlassen, hielten das Gefährt in jeder
Gefahr aufrecht und, um auch der Wirklichkeit die Ehre zu geben: auf
dem Bocke saß neben dem unverwüstlichen russischen Rosselenker ein fast
beständig betrunkener ausgedienter Österreicher als Kammerdiener. — Im
Innern saß der deutsche FreiherrvomStein und der deutsche Dich-
ter Ernst Moritz Arndt, die folgendes Gespräch führten: „Exzellenz
sehen heute recht unternehmend aus", bemerkt Arndt; „wir atmen heute
zum erstenmal wieder deutsche Luft." „Wie sollte mir auch", entgegnete
der Freiherr, „nicht unternehmend zumute sein? wenn man in der Tasche
eine respektable Vollmacht des Selbstherrschers aller Reußen hat, in dem
Kopfe eine preußische Ständeversammlung —." „Und ganz Deutschland
im Herzen", fiel der nur allzu rasche Arndt dem Freunde ins Wort, „da
möcht' ich wohl den sehen, der sein Glück dem unsern gleichstellen könnte!"
„Die Herzensangelegenheiten", bemerkte Stein, „überlass' ich dem Poeten;
mich erwartet zunächst die Prosa des Lebens; des Praktischen viel und
mehr noch vielleicht des Unpraktischen." Die beiden Reisegefährten hatten
wiederum eine Zeitlang schweigend nebeneinander gesessen, als Stein mit
entschieden sicherer Betonung sagte: „So soll es sein; so muß es sein. Die
preußischen Stände werden einberufen, Landwehr, Landsturm aufgeboten,
Jork muß auf Berlin losmarschieren, Preußen vorne, Österreich, Sachfeu,
Westfalen, Bayern, Schwaben, Tirol und so das ganze Deutschland hinter-
drein!" „Ja, das ganze Deutschland soll es sein!" rief Arndt mit so
hellem Jubel, daß der schlaf- und schnapsbetrunkene Österreicher auf dem
Bocke davon wach wurde. — „Exzellenz", fügte Arndt hinzu, „halten
für Deutschland die Bundesverfassung und ich das Bundeslied bereit;
Sie teilten mir gestern Ihren Verfassungsplan mit, dafür sollen Sie heut'
mein Lied hören. Noch hab' ich's nicht ganz beisammen, aber Anfang
und Schluß lassen merken, worauf es abgesehen ist." Und nun sang er
nach einer eigen erfundenen Weise mit etwas frostbelegter Stimme: „Was
ist des Deutschen Vaterland?" „Und wenn ich nun in zehn oder zwanzig
Strophen alle die lieben Deutschländer werde aufgezählt haben und immer
der Chor mit „Nein! nein!" geantwortet, dann kommen wir zum Schluß:
„Das ganze Deutschland soll es sein!" Unter vertraulichem Ge-
spräche über die „neue und große Zeit", welche für Deutschland kommen
werde, wenn jenes Sollen zur Wirklichkeit und Wahrheit geworden,
war der Schlitten in das litauische Städtchen Gumbinnen eingefahren,
Arndt: Des Deutschen Vaterland.
591
wo Präsident Schön, von der Ankunft Steins in Kenntnis gesetzt, für
den besten Empfang seiner Insassen gesorgt hatte." (Vortrag des Ge-
dichts.) '
II. Aufbau des Gedichts. Str. 1. „Was ist des Deutschen Vaterland?"
So beginnt nicht nur die erste, sondern auch jede der fünf folgenden
Strophen. Damit soll die Wichtigkeit der Frage hervorgehoben werden.
Zunächst beantwortet der Dichter diese Frage noch nicht, sondern er
führt nur einzelne wichtige Teile des Reiches an, um uns auf diese
Weise die Größe und Schönheit des Landes recht tief zum Bewußtsein
zu bringen.
Ist's Preußenland? Damit ist nicht das ganze Königreich
Preußen gemeint, sondern die Provinzen rechts der Elbe, die ja von
1807 bis 1813 der ganze Besitz des Königs von Preußen waren. Die
westlichen Provinzen waren zur Zeit der Entstehung des Gedichtes 1813
unter französischer Herrschaft; denn sonst hätte der Dichter nicht nachher
in Str. 3 noch andere preußische Provinzen genannt. Daß er aber
Preußenland zuerst nennt, tut der Dichter nicht etwa nur deshalb, um
die Preußen als die ersten zu rühmen, sondern um anzudeuten, wie gerade
in Preußen die Erhebung-vor den Freiheitskriegen zuerst begann.
Ist's Schwabenland? Daß der Dichter hier dies Land neben
das Preußenland (von politischen Grenzen ist hier wie im ganzen Gedicht
nicht die Rede) stellt, soll uns teils daran erinnern, daß das preußische
Fürstenhaus, die Hohenzollern, und das berühmte Kaisergeschlecht der
Hohenstaufen aus Schwaben stammen, teils daran, daß die Völker
Preußens und Schwabens in ihrem Charakter Gegensätze sind: diese, die
Schwaben, poetisch und gemütvoll, jene, die Preußen, nüchtern und ver-
ständig.
„Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht?"*) Hier wechselt der
Dichter mit der Frageform ab, indem er nicht den Volksstamm, sondern
das schönste und charakteristische Erzeugnis des Landesteiles nennt und
dadurch zugleich auch an den leicht erregbaren, lebendigen Rheinländer
erinnert, der stets zur schnellen Tat bereit ist.
„Jst's, wo am Belt die Möwe zieht?" Jetzt versetzt uns der
Dichter an die Küsten der Ostsee in Jütland und Schleswig. Auch da
wohnt ein braver Stamm von Deutschen, der trotz langjähriger Unter-
drückung durch die Dänen mit Zähigkeit an seiner Sprache und Sitte
festgehalten hat.
So schön und echt deutsch diese Länder auch sind, so läßt der Dichter
den Chor doch dreimal antworten: „O nein! Denn des Deutschen Vater-
land muß größer sein!"
Str. 2. Zum zweitenmal fragt nun der Dichter: „Was ist des Deut-
schen Vaterland?" Er hat aus dem dreifachen Nein erfahren, daß es
noch nicht das richtige ist. Wiederum werden zwei echt deutsche Länder
*) In einer früheren Ausgabe hat Arndt geschrieben: „Die Rebe glüht,"
ähnlich wie Goethe: „Die Goldorange glüht," d. h. die Frucht wird von
der Sonnenglut zur Reife gebracht.
592
III. Lyrische Gedichte.
„Bayerland und Steierl and" genannt, und wiederum werden von
zwei andern deutschen Länderteilen nur die charakteristischen Merkmale
angeführt: „Jst's, wo des Marsen" usw. Die Marsen oder Dithmarsen
sind die Bewohner der fruchtbaren Marschgegenden an der Nordsee in
Holstein.
Neben dieses reiche, Viehzucht und Ackerbau treibende Volk stellt der
Dichter einen durch seine Gewerbtätigkeit und Industrie ausgezeichneten
deutschen Stamm, die Bewohner der Grafschaft Mark, die heute zu
Westfalen gehört. Das Recken des Eisens, d. h. die Bearbeitung des
Stabeisens, ist gleichsam die Hauptarbeit der gesamten Eisenfabrikation.
Aber auch diese vier herrlichen Landschaften mit ihren trefflichen
Völkerstämmen sind noch zu klein, um als das deutsche Vaterland gelten
zu können. Darum ruft der Kehrreim wiederum: „O nein usw. sein
Vaterland muß größer sein."
Str. 3. Zum drittenmal wird gefragt: „Was ist des Deutschen
Vaterland?" und zum drittenmal nennt der Dichter zuerst wieder zwei
echt deutsche Länder, Pommern und Westfalen, sowie deren Be-
wohner in ihren Sitten und Charakter-Eigenschaften, und dann gibt er
wiederum die charakteristischen Merkmale von zwei anderen Landschaften
an, in denen deutsche Stämme wohnen. „Jst's, wo der Sand der Dünen
weht?" d. i. die Küste der Nordsee und die davorliegenden Inseln.
„Jst's, wo die Donau brausend geht?" Hier kann nicht der Ober-
lauf des Flusses verstanden sein, denn an dem wohnen die schon in der
zweiten Strophe erwähnten Bayern und Schwaben, sondern der mittlere
Teil, wo die ehemaligen freien deutschen Reichsstädte Passau und Regens-
burg mit ihren Gebieten liegen. An Österreich hat der Dichter wohl auch
nicht gedacht, denn das wird in Str. 5 besonders erwähnt. Auch hier
erfolgt das noch wiederholte: „O nein!"
Str. 4. Nach der abermaligen Frage: „Was ist" usw. folgt nun eine
ungeduldige Aufforderung, das Land zu nennen: „So nenne mir das
große Land!"
Aber der Dichter will auch jetzt noch nicht die vollständige Antwort
geben. Er nennt wiederum zwei Länder, die einst auch zum Reiche ge-
hörten, und deren Bewohner sich durch Treue, Tapferkeit und Freiheits-
liebe ausgezeichnet haben, auch heute noch nach Sprache und Sitte echt
deutsch sind: die deutsche Schweiz und Tirol.
Aber auch diesmal erfolgt das wiederholte: „Nein!"
Str. 5. Nun nennt der Dichter nur noch ein einziges, aber großes,
ja lange Zeit das größte deutsche Land: das Österreich, das reich ist
an „Ehren". Die Geschichte erzählt ja, wie dieses Land durch die Kaiser-
würde Jahrhunderte lang geehrt wurde. Das „an Siegen reich" er-
innert an die ruhmvollen Kämpfe Österreichs gegen die Türken und
andere Feinde.
Da Österreich und Preußen die größten und wichtigsten deutschen
Länder sind, so hat der Dichter das eine an den Anfang, das andere
Arndt: Des Deutschen Vaterland.
an das Ende seiner Frage gestellt, um damit gleichsam alle deutschen'
Länder, auch diejenigen, welche er nicht aufgeführt hat, zu umschließen.
Aber auch hier bei dem ehren- und siegreichen Österreich antwortet
der Dichter nochmals: „O nein!"
Str. 6. Nachdem also keins der genannten Länder dem Dichter groß
genug erscheint, um als des Deutschen Vaterland zu gelten, ruft er zum
letztenmal aus:
„So nenne mir das große Land!"
Nun endlich erfolgt die Antwort auf die fünfmal ausgesprochene,
immer dringlicher gewordene Frage. Aber auch jetzt antwortet er nicht
vollständig. Zuerst sagt der Dichter: „Des Deutschen Vaterland geht so
weit, als die deutsche Zunge, d. i. Sprache, erklingt". Das sind die Gren-
zen in Nord und Süd, in Ost und West. Und wie erklingt diese deutsche
Zunge? Sie singt Gott im Himmel Lieder! Denn kein anderes Volk
hat so schöne, fromme geistliche und Volkslieder aufzuweisen wie das
deutsche. Also, wo die deutsche Sprache und das fromme Lied gesprochen
und gesungen werden, da ist des Deutschen Vaterland. Das ist gewiß
ein schönes und herrliches Zeichen für dasselbe:
„Das soll es sein, das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!"
Der wackre Deutsche, d. i. der echte, der wahre Deutsche, der kann
sich nur da heimisch fühlen, der kann nur das Land sein Vaterland nennen,
wo Sprache und Lied echt deutsch sind.
Str. 7. Aber des Deutschen Vaterland ist noch an anderen Dingen
zu erkennen:
„Wo Eide schwört der Druck der Hand."
Ein altes deutsches Sprichwort sagt: „Ein Mann ein Wort." Was
ein echter, frommer Deutscher verspricht, das hält er; wenn er aber seine
Hand darauf gibt, so ist das einem Schwure gleich zu achten.
„Wo Treue hell vom Auge blitzt."
Auch die T r e u e (das Festhalten einer auf Erkenntnis beruhenden,
vollen Hingabe des Herzens) ist seit alten Zeiten als eine echt deutsche
Tugend gerühmt worden. Sie „blitzt vom Auge hell", d. h. man nimmt
sie im raschen, sprühenden Glanze leuchtender Blicke des Auges wahr,
wie jedes andere lebhafte Gefühl im Auge erkannt wird. So blitzt aus
dem Auge des einen Bosheit, aus dem des anderen Milde, aus dem des
dritten List, aus dem des vierten Falschheit, aus dem des fünften Mut
und Kühnheit usw.
„Und Liebe warm im Herzen sitzt."
Die Liebe eines deutschen Mannes zu seinem Weibe, zu seiner Braut,
die Liebe der Frau und der Braut zum Manne, die Liebe der Mutter
zu den Kindern, besonders auch die Liebe zum Baterlande ist nicht
nur eines Deutschen würdig, sondern sie ist das Kennzeichen des
AdL u. 8. Aufl. 38
594
III. Lyrische Gedichte.
echten Deutschen. Die Innigkeit in der Liebe, wie besonders auch die
Treue findet man bei keinem Volke tiefer als bei dem deutschen.
Str. 8. Unser Dichter, selbst ein echter Deutscher wie wenige, hat
aber noch andere Kennzeichen für das deutsche Vaterland:
„Wo Zorn vertilgt den welschen Tand."
D- h. wo der Deutsche in Anbetracht des großen Unheils, das die
Franzosen über unser Vaterland brachten, mit Zorn (aufbrausendem Un-
willen) den „welschen Tand" (alles Eitle, Wertlose, alle Torheiten, alle
Possen der Franzosen) im Gegensatze zur deutschen Treue und Biederkeit,
vertilgt und vernichtet: da ist des Deutschen Vaterland.
„Wo jeder Franzmann*) heißet Feind";
d. h. wo jeder, der wie die Franzosen an deutscher Freiheit, deutscher
Frömmigkeit und überhaupt an jeder deutschen Tugend sich vergreift, als
Feind behandelt wird.
„Da ist des Deutschen Vaterland!"
Str. 9. „Das ganze Deutschland soll es sein", so schließt der Dichter
die vorige, und so beginnt und schließt er die letzte Strophe. Das g a i^z e
Deutschland, d. h. das Deutschland, welches alle jene Länder umfaßt,
das Deutschland, wo jene Tugenden geübt und wo die schöne deutsche
Sprache gesprochen wird, dieses Deutschland soll es sein; nicht das aus
vielen einzelnen selbständigen Staaten und Vaterländern bestehende, son-
dern das ganze, das einheitliche, ungeteilte, unter einem ge-
meinschaftlichen Oberhaupte stehende Deutschland soll es sein.
So hat der Dichter das Ziel der Sehnsucht, welches alle echten Deut-
schen schon zur Zeit der Entstehung des Liedes im Jahre 1813 vergeblich
anstrebten, dem deutschen Volke hingestellt und auch zuletzt den rechten
Weg gezeigt, auf welchem das Ziel zu erreichen ist, nämlich durch das
„O Gott, vom Himmel sieh darein,
und gib uns echten deutschen Mut,
daß wir es lieben treu und gut!"
Nun kommen wir zum Schluß. Der Dichter hat die Morgenröte
des einigen und geeinten Deutschlands bei seinem Leben wohl manchmal
erscheinen sehen, aber immer wurde sie wieder verdunkelt, so daß er sich
ins Grab legen mußte, ehe der helle Tag dieser Morgenröte folgte; denn
er starb am 29. Januar 1860.
Was er aber als Dichter im prophetischen Geiste gesehen und ge-
wünscht, das ist elf Jahre nach seinem Tode in Erfüllung gegangen, indem
am 18- Jan. 1871 der König Wilhelm I. auf Wunsch der deutschen Fürsten
und Völker die deutsche Kaiserkrone als Oberhaupt des ganzen Reiches
annahm. Nun liegt es an jedem einzelnen aus dem deutschen Volke, zur
*) In einer früheren Ausgabe von Arndts Werken steht: „Frevler". Der
Ausdruck ist allgemeiner und darum hier besser und richtiger, denn auch ge-
borene Deutsche können Feinde des Vaterlandes sein.
Wächter: Unser Vaterland 595
Erfüllung des Gebetes seine Schuldigkeit ebenfalls zu tun und sich vor
allem die Tugenden eines echten Deutschen anzueignen.
III. Gliederung des Inhalts. 1. Was ist desDeutschenVater-
land nicht? Str. 1—6. a) Nicht Preußen, Schwaben, Rheinland,
Schleswig (Str. 1); t>) nicht Bayern, Steiermark, Holstein, die Mark
(Str. 2); c) nicht Pommern, Westfalen, Friesland, die Nordsee-Küsten-
länder und die Donauländer (Str. 3); ä) nicht die Schweiz und Tirol
(Str. 4); e) auch nicht Österreich (Str. 5).
2. Was ist des Deutschen Vaterland? Str. 6—8. a) Das
Land, wo deutsch gesprochen und deutsch gesungen wird (Str. 6); b) das
Land, wo das deutsche Manneswort und deutscher Handschlag noch gelten,
deutsche Treue und deutsche Liebe noch im Herzen sitzen (Str. 7), o) das
Land, wo deutscher Zorn alles Eitle und Wertlose (welschen Tand) ver-
nichtet (Str. 8).
3. Schluß: Gebet zu Gott, uns echten deutschen Mut und Vater-
landsliebe zu geben (Str. 9).
IV. Poetische und sprachliche Form der Darstellung. Der Dichter
hat, wie wir bereits gesehen haben, am Ende der Strophen jedesmal die-
selbe Zeile wiederholt: „Das ganze Deutschland soll es sein." Diese
Wiederkehr derselben Zeile und dieselben Worte nennt man Kehrreim
(Refrain). Der Zweck des Kehrreims ist hier ein doppelter: zunächst will
der Dichter den Hauptgedanken des Gedichts ganz besonders her-
vorheben, sodann gibt der Refrain aber auch äußerlich dem Gedichte eine
größere Abrundung und Einheit. Wir finden den Kehrreim besonders in
Liedern, die gesungen werden. Auch unsere Lesebücher haben eine große
Anzahl solcher Lieder und Gedichte. Zwar erscheint der Kehrreim in den
meisten Gedichten gewöhnlich am Ende jeder Strophe, doch kommt er
auch manchmal am Anfange und am Ende zugleich vor, z. B. in dem
Liede: „Ich bin vom Berg der Hirtenknab'" und in: „Das ist der Tag
des Herrn." Einen eigentümlichen Kehrreini finden wir in dem Gedichte
von I. Mosen „Andreas Hofer". Daselbst wird der Kehrreim in jeder
Strophe mit anderen Worten wiedergeben, und nur die beiden letzten
Worte jedes letzten Verses „Land Tirol" sind gleich! Diese Art des Kehr-
reims nennt man den flüssigen. Ein schönes Beispiel des flüssigen Kehr-
reims findet man in dem Gedichte „Johanna Sebus" von Goethe. —
In vielen Liedern wird gewöhnlich der Kehrreim als Chorgesang
benutzt, während das Gedicht selbst von einem einzelnen gesungen wird.
V. Vergleichung von „Des Deutschen Vaterland" mit „Unser Vater-
land".
II. Unser Vaterland.
Bernhard Wächter. Trösteinsamkeit von Ph. Wackernagel. 3. Ausl. Erlangen 1858. S. 219.
1. Kennt ihr das Land so wunder- die Traube reift im Sonnenglanz?
schön Das schöne Land ist uns bekannt;
in seiner Eichen grünem Kranz? es ist das deutsche Vaterland.
Das Land, wo auf den sanften Höh'n
(Das Lied ist bekannt.)
»
38
596
III. Lyrische Gedichte.
1. Mit welcher Frage beginnen beide Gedichte? 2. Was besingen
beide Gedichte? 3. Welche Eigenschaften des Vaterlandes heben beide Ge-
dichte hervor? 4. Welche deutschen Tugenden rühmen beide Gedichte?
5. Als was für ein Land bezeichnen beide Gedichte das deutsche Vater-
land? (Land der Freiheit.) 6. Wozu fordern beide Gedichte den Leser
auf? (Zur Vaterlandsliebe.) 7. Wann beantwortet Arndt die Frage (in
Str. 6) und wann Wächter? (In jeder Strophe.) 8. Was gibt Arndt
in den fünf ersten Versen an? (Die wichtigsten Teile Deutschlands.)
9. Weshalb tut das Arndt? (Um die Größe Deutschlands recht anschau-
lich zu machen.) 10. Welche hauptsächlichsten Eigenschaften gibt dagegen
Wächter nur an? 11. Aus welchem Grunde? (Um es uns lieb zu machen.)
12. Wo ist nach Arndt das deutsche Vaterland zu finden? (Wo die deutsche
Sprache gesprochen wird, wo deutsche Treue wohnt, wo in deutscher Weise
das gegebene Wort gehalten wird, wo man mit echt deutscher Innigkeit
lieben kann, wo man allen welschen Tand vertilgt, wo man jeden, der
sich an deutscher Freiheit, Tugend und Sitte vergreift, als Feind be-
handelt.) 13. Welche dieser Tugenden rühmt auch Wächter, wenn auch
nur im allgemeinen? (Treue, Liebe, Sitte, Freiheit und Frömmigkeit.)
14. Welche Eigenschaften schildert Wächter noch außerdem? (Die äußere
Schönheit des Landes, seine Wälder, Berge, seinen Wein.) 15. Auf welche
Weise schildert Arndt die Schönheiten und Vorzüge des Landes und die
Trefflichkeit der Bewohner desselben? 16. Wodurch unterscheidet sich der
Schluß in beiden Liedern? (A. schließt mit Gebet, W. mit einem Wunsche
und Vorsatze.) W. D.
224. A. Muttersprache.
Max v. Schenkendorf. Gedichte. Stuttgart 1871. S. 152.
1. Muttersprache, Mutterlaut,
wie so wonnesam, so traut usw.
*(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1. Wir nennen die Sprache
Muttersprache, weil sie die Sprache der Mutter ist, weil uns von
der Mutter darin zuerst Liebesworte gesprochen wurden, weil sie uns
darin die ersten Töne hat lallen gelehrt. „Mutterlaut" ist der bedeu-
tungsvolle Klang oder Ton der menschlichen Stimme. Der Dichter nennt
die Muttersprache wonnesam, d- i. voller Wonne und Freude, wonne-
bringend, und traut, d. h. sie ist uns über alles lieb, durch inniges
Liebesband verbunden.
„Erster Ton, den ich gelallet,
klingest ewig in mir fort."
Dieser erste Laut erinnert uns an die Liebe und Sorgsamkeit der Mutter,
an die Mühe, die es ihr gekostet, ehe wir im Sprechen zur Fertigkeit
gelangten. Und welcher dankbarer Sohn, welche dankbare Tochter er-
innert sich nicht stets der treuen Mutter, unserer ersten Sprachlehrerin!
Aber der Dichter nennt unser erstes Wort auch ein „süßes, erstes Lie-
beswort". Alle Liebe, deren der Mensch fähig ist, legt die Mutter in
Schenkendorf: Muttersprache.
597
ihre ersten Worte, die sie zu dem Kinde spricht, und darum ist auch schon
der bloße Klang, der Mutterlaut, so „wonnesam und traut".
Str. 2. „Ach wie trüb ist meinem Sinn,
wenn ich in der Fremde bin!"
„Trüb ist mein Sinn", d. h. mein Herz ist mit Kummer erfüllt. Das
können zwar die Kinder noch nicht verstehen; aber jeder, der schon im
Auslande war, kann uns erzählen, welche große Freude es ihm bereitet,
wenn. er auf einmal seine Muttersprache wieder hört:
„Und jeden möcht' er in die Arme schließen,
von dessen Lippen ihre Töne fließen."
Besonders „trüb' aber ist meinem Sinn", sagt der Dichter, wenn
ich fremde Zungen üben und fremde Worte brauchen, d. h. fremde
Sprachen sprechen muß. Da spricht nicht mein Herz, sondern nur ineine
Zunge; da muß ich erst gleichsam die fremden Wörter in meine Mutter-
sprache übersetzen und sie so zu meinem Herzen führen.
Darum kann ich die fremde Sprache auch nimmermehr so lieb haben
wie die Muttersprache, die mir, besonders in der Fremde, stets wie ein
herzlicher Gruß von der Mutter und von der Heimat klingt.
Str. 3. In dieser Strophe führt uns der Dichter die schönen und
herrlichen Eigenschaften der Muttersprache vor:
„Sprache, schön und wunderbar,
ach, wie klingest du so klar!"
Also schön und w u n d e r b a r ist unsere Muttersprache und zwar zunächst
durch den Klang. Was kann z. B. eine Mutter schon in den Ton
legen, in welchem sie mit dem kleinen Kinde spricht! Versteht das Kind
auch den Inhalt nicht ganz, so dringt doch der Ton zu seinem Herzen,
und es fühlt gar leicht heraus, ob er freundlich oder liebevoll, ob ernst
oder traurig ist.
Aber nicht allein hinsichtlich des Klanges ist die Sprache schön
und wunderbar, sondern auch in bezug auf den Reichtum an Worten
und aus die Pracht an Ausdrücken. Nur muß man in die Sprache
noch „tiefer sich vertiefen", d- h. ihre geistigen Schätze, Formen und Schön-
heiten immer mehr kennen lernen. Dann wird es mir auch sein,
„als ob mich riefen
Väter aus des Grabes Nacht."
Gewiß, die Geschichten und Taten unserer Väter, welche in der Mutter-
sprache in Prosa und Poesie uns erzählt sind, erinnern uns erst recht an
den Reichtum und an die Pracht und sind ein mahnender Zuruf unserer
Väter aus vergangenen Jahrhunderten.
Str. 4. Während der Dichter in der vorigen Strophe uns in die
Vergangenheit führte, beginnt er die 4. Strophe mit einem Hinblick
auf die Zukunft:
„Klinge, klinge fort und fort,
Heldensprache, Liebeswort!"
598
III. Lyrische Gedichte.
Die Sprache soll nicht nur von allen Kindern des Vaterlandes ge-
sprochen werden, sondern es sollen darin auch die Helden gepriesen werden,
die sich selber dieser Sprache bedienten. Sie ist aber auch dazu da, um
unsere Liebe zu äußern („Liebeswort").
Werden wir uns noch tiefer in die Sprache „vertiefen", wie es der
Dichter in Str. 3 verlangt, so worden die längst „verschollenen" (ver-
klungenen, aus dem Gedächtnis verschwundenen) Lieder unserer Väter
wieder erwachen, sie werden emporsteigen aus tiefen „Schlüften" (ver-
borgenen Orten) und aufs neue fortleben „in heiligen Schriften". Damit
sind neben der Bibel besonders die religiösen Lieder gemeint, die schon vor
Jahrhunderten gedichtet wurden und noch heute ein Schatz für unser Volk
sind, z. B. die von Luther und P. Gerhardt.
„Daß dir jedes Herz erglüht."
Wenn wir also die Heldensprache und das Liebeswort kennen, wenn
die alten, längst verschollenen schönen Lieder unseres Volkes bei uns
wieder neu aufleben, wenn wir diese Lieder mit rechtem Verständnis
hören und lesen, dann wird unser Herz auch immer mehr für die Mutter-
sprache erglühen (in Begeisterung geraten). Wir werden sie hoch und
heilig halten und uns nicht etwa gar ihrer schämen, wie es einmal leider
der Fall war, als Deutschland nach dem 30 jährigen Kriege unter welschem
Einflüsse stand.
„überall weht Gottes Hauch,
heilig ist wohl mancher Brauch."
Hiermit führt uns der Dichter nochmals in die Fremde und meint,
daß wir dort Gott auch finden, und daß auch dort heilige Sitten und
Gebräuche herrschen;
„aber soll ich beten, danken,
geb' ich meine Liebe kund,
meine seligsten Gedanken:
sprech' ich wie der Mutter Muud."
Diese Worte bedürfen kaum der Erklärung, so eindringlich und wahr
sind sie gesprochen: Will ich mit meinem Gotte sprechen, will ich die
seligsten Gedanken meines Herzens ausdrücken, dann kann ich es nur in
der Muttersprache tun.
II. Vertiefung. Inhaltsangabe. Dieses Lied ist eine Verherr-
lichung der Muttersprache. — Str. 1 gibt an, weshalb wir die
Sprache Muttersprache nenilen. Str. 2 preist die Muttersprache als
Sprache der Heimat gegenüber den fremden Sprachen- Str. 3 ermuntert
uns zum weitern Vertiefen in die Schönheiten der Muttersprache und
nennt uns die Gründe dazu. Str. 4 erinnert uns an alles das Schöne,
was in der Muttersprache ausgedrückt ist, und wünscht, daß sie auch ferner
das schöne, gute Alte immer wieder von neuem zu Ehren bringen möge.
Str. 5 sagt, daß wir alles, was unser Herz bewegt, z. B. beten, loben,
danken usw., am besten in der Muttersprache ausdrücken können.
III. Vergleichung: „Muttersprache" und „An unsere Sprache".
5R üdcrt: An unsere Sprache.
599
B. An unsere Sprache.
Friedrich Rückert, Gedichte. Frankfurt a. M. 17. Aufl. S. 428.
1. Reine Jungfrau, ewig schöne,
geist'ge Mutter deiner Söhne,
Mächtige von Zauberbann,
du, in der ich leb' und brenne,
meine Brüder kenn' und nenne
und dich selber preisen kann!
2. Da ich aus dem Schlaf erwachte,
noch nicht wußte, daß ich dachte,
gäbest du mich selber mir,
ließest mich die Welt erbeuten,
lehrtest mich die Rätsel deuten
und mich spielen selbst mit dir.
3. Spenderin aus reichem Hörne,
Schöpferin aus reichem Borne,
Wohnerin im Sternenzelt!
Alle Höhn hast du erslügelt,
alle Tiefen du entsiegelt
und durchwandelt alle Welt.
4. Durch der Eichenwälder Bogen
bist du brausend hingezogen,
bis der letzte Wipfel barst;
durch der Fürstenschlösser Prangen
bist du klingend hergegangen,
und noch bist du, die du warst.
5. Stürme, rausche, lispl' und säusle!
Zimmre, glätte, hau und meißle,
schasse fort mit Schöpfergeist!
Dir läßt gern der Stoff sich zwingen,
und dir muß der Bau gelingen,
den kein Zeitstrom niederreißt.
6. Mach' uns stark an Geisteshänden,
daß wir sie zum Rechten wenden,
einzugreifen in die Reihn!
Viel Gesellen sind gesetzet,
keiner wird gering geschähet,
und wer kann, soll Meister sein.
1. Welche Verwandtschaft haben beide Gedichte hinsichtlich der äußeren
Form? (Beide Gedichte bestehen aus sechszeiligen Strophen, das von
Schenkendorf aus fünf, das von Rückert aus sechs.) 2. Wodurch unter--
scheiden sich die Gedichte äußerlich? (In Schenkendorfs Gedichte wech-!
fein doppelt so viel männliche als weibliche und in Rückerts Liede ebenso-
viel weibliche wie männliche Reime.) 3. Welcher poetischen Gattung ge-
hören beide Gedichte an? (Beide Gedichte gehören, weil sie Gefühle schil-
dern, der lyrischen Poesie an und sind Lieder.) 4. Welches ist der Haupt-
gedanke beider Gedichte? (Beide Gedichte sind schöne Preislieder auf die
Muttersprache.) 5. Welcher Unterschied findet sich in der Ausführung
des Hauptgedankens? a) Schenkendorf preist die deutsche Sprache zu-
nächst deshalb, weil sie die Sprache der Mutter ist, und weil wir in
ihr zuerst unsere Gedanken ausdrücken lernten. Rückert preist die deutsche
Sprache zuerst deshalb, weil sie so rein ist wie eine keusche, schöne Jung-
frau, und weil sie unsere geistige Mutter ist, sodann aber sagt auch Rückert,
daß sie uns deshalb so lieb ist, weil wir sie von Jugend auf gesprochen
haben. Während Schenkendorf diesen Gedanken nur in vier Zeilen (von
„Erstes Wort" bis „gelallet") ausspricht, führt ihn Rückert in der ganzen
zweiten Strophe durch, b) In der zweiten Strophe des Schenkendorf-
schen Liedes wird die Muttersprache im Gegensatz zu den fremden Sprachen
als die Sprache der Heimat gepriesen. In Rückerts Gedichte ist davon
nicht die Rede. 6. Welche Unterschiede machen die Dichter'in bezug auf
die hauptsächlichsten Eigenschaften der deutschen Sprache? a) Die schönen
Eigenschaften der Muttersprache sind nach Schenkendorf, Str. 3, folgende:
Klarheit im Klange, Reichtum und Pracht in den Worten, Formen und
Wortbildungen. Auch Rückert preist die Klarheit und den Reichtum, aber
er findet noch andere Schönheiten: sie ist ihm eine Spenderin schöner
Gaben, eine Deuterin dunkler Rätsel, eine Erschließerin aller Ge-
600
III. Lyrische Gedichte.
Heimnisse, eine Schöpferin, die stürmen, rauschen, lispeln, säuseln, zim-
mern, glätten, hauen und meißeln kann; endlich ist sie ihm auch eine«
Baumeisterin, die jeden Stoff zu verarbeiten vermag, b) Schenken-
dorf hat die Sprache ferner lieb, weil sie uns an unsere Vorfahren er-
innert, teils durch die alten Geschichten und Lieder, die wir von den
Vätern geerbt haben, teils weil wir noch in denselben Lauten und Worten
sprechen, deren sich unsere alten Helden bedienten, teils weil die schönsten
weltlichen und religiösen Lieder in unserer Sprache geschrieben sind, und
endlich weil wir, wenn wir unsere tiefsten und heiligsten Gedanken vom
Grunde unseres Herzens aussprechen wollen, uns der Muttersprache be-
dienen. Rückert dagegen liebt sie besonders auch deshalb, weil wir in
ihr leben, weil wir in ihr unsere Brüder kennen und nennen und weil
wir durch ihre Worte sie selber preisen können, c) Beide Lieder fordern
uns auf, die Sprache immer noch mehr kennen zu lernen, damit wir sie
immer lieber gewinnen und immer besser gebrauchen lernen. W. D.
223. Gelübde.
Ferdinand Maßmann, Lieder für Knaben und Mädchen. München 1832. S. 57.
I- Vorbereitung. Alles Gute, was unser Herz erfreut und unser
Leben glücklich macht, finden wir in unserem lieben deutschen Vater-
lande. Es wird Hermannsland genannt, weil der Cheruskersürst
Hermann es im Jahre 9 n. Chr. durch die gewaltige Schlacht im Teuto-
burger Walde von dem Joche der Fremden, der eingedrungenen Römer,
frei gemacht hat. Es ist ein Land voll Liebe, weil hier die Bewohner
noch Gott und ihre Brüder lieben. Es ist ein Land voll Leben, weil
sich hier noch fröhlich rüstige Kraft zur Arbeit und znm Weiterstreben
regt. Es ist ein Land der Freien, weil hier nicht die Willkür der Fürsten
und Gewaltigen die Menschen zu willenlosen Knechten macht, sondern das
Gesetz jeden schützt und ihm zu seinem Rechte verhilft. Es ist ein Land
der Frommen, weil hier noch die Menschen an Gott glauben und an
ihm festhalten. Diesem herrlichen Vaterlande müssen schon die Herzen
der Jugend zugewandt sein. Die Liebe muß wie ein heiliges Feuer ent-
glommen (in Fünkchen angebrannt) sein. Das Herzblut muß frisch,
freudig und fromm klopfen und den Mut zu rechten Taten der Liebe
erheben. Jeder Knabe und jedes Mädchen muß geloben (das Gelübde
ablegen), dem Vaterlande die Liebe des Herzens zu ergeben und die Kraft
der Hand zu widmen, würdig für dasselbe zu leben und, wenn es sein
muß, in der Verteidigung seiner heiligen Güter zu sterben. Das folgende
Gedicht enthält ein solches Gelübde eines deutschen Knaben.
II- Vorlesen und Einlesen.
1. Ich hab' mich ergeben dir, Land voll Lieb' und Leben,
mit Herz und mit Hand mein deutsches Vaterland! Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Die Kinder werden nach ihrer
Konfirmation von dem Lehrer aus der Schule entlassen. Sie sind zum
Maßmann.- Gelübde.
601
letztenmal um den treuen Führer ihrer Jugend versammelt. Er ermahnt
sie zuni letztenmal mit bewegter Stimme und mit Tränen in den Augen,
beit Glauben an Gott und die Liebe zum Vaterlande fest und treu zu be-
wahren. Sie geloben es tief bewegt durch Wort und Handschlag.
2. Charakter Deutschlands und des Deutschen. Warum
heißt Deutschland unser Vaterland, ein herrliches, heiliges
Land, voll Lieb' und Leben, ein Land der Freien und Frommen,
das herrliche Hermannsland? Wie muß ich sein, und was muß
ich tun fürs Vaterland? (Ich muß sein gläubig, fromm, frei,
fest, treu, frisch, mutig, opferwillig. Ich muß mich dem Vater-
lande ergeben, ihm das Herz zuwenden, in Liebe entglimmen,
an Gott halten und glauben, treu bleiben, das Herzblut mutig
erheben, Kraft erwerben (im Herzen die Liebe, im Arme die Stärke)
und für die heiligen Güter des Vaterlandes leben und sterben.)
3. Gedankengang. Str. 1. Mit Herz und Hand ergebe ich mich
dem Vaterlande. Str. 2. Mein Herz ist ihm in brennender Liebe zu-
getan. Str. 3. Den Glauben an Gott und die Liebe zum Vaterlande
will ich bewahren. Str. 4. Gott bitte ich um mutige Herzenserhebung
und, Str. 5, um Kraft zur Verteidigung des Vaterlandes. — Ähnlichen
Inhalt hat das Gedicht: „Mein Vaterland" von Hoffmann von
Fallersleben. (Gedichte. 8. Aufl. Berlin. S. 383.)
1. Treue Liebe bis zum Grabe
schwör' ich dir mit Herz und Hand. Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
IV. Verwertung. 1. Nutzan Wendung und Verwandtes. „Ans
Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest mit deinem ganzen
Herzen! Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft." (Schillers Wilh.
Dell.)
Uhlands „D a s V a t e r l a n d" (Gedichte u. Dramen. Stuttgart 1876.
I. 7. S. 92): „Dir möcht' ich diese Lieder weihen, geliebtes deutsches
Vaterland! denn dir, dem neuerstandnen, freien, ist all mein Sinnen zu-
gewandt. Doch Heldenblut ist dir geflossen, dir sank der Jugend schönste
Zier. Nach solchen Opfern, heilig großen, was gälten diese Lieder dir?"
E. Moritz Arndt: „Was ist des Deutschen Vaterland?" u. v. a.
Vaterlandslieder. „Wo dir, o Mensch, zuerst — da ist deine Liebe, da
ist dein Vaterland." Theodor Körners und Max v. Schenkendorfs Bater-
landslieder.
R. Reinick: „Der Lieder Lust ist mir erwacht! Wer hat mir solchen
Lenz gebracht? Das Vaterland! Ich schweifte in der Welt umher zum
schönen Süden übers Meer; doch was ich nirgends wieder fand: dein
Odent war's, o Vaterland!"
Jul. Sturm: „Dem Land, wo meine Wiege stand, ist doch kein
andres gleich! (Bd. I, Nr. 330.) — Die Befreiungskriege. Der Krieg
1870 und 71. —
2. Rede-und Stilübungen, a) Vergleiche „Gelübde" und Uh-
lands „Das Vaterland"! b) Wie können die Knaben und wie die Mädchen
602
III. Lyrische Gedichte.
dem Vaterlande dienen? c) Nenne berühmte Männer und Frauen, die
ihre ganze Kraft und Liebe dem Wähle des Vaterlandes gewidmet haben!
ä) Vergleiche „Ich hab' mich ergeben —" mit „Treue Liebe bis zum
Grabe —"! P.
226. Deutscher Rat.
R. Reinick. Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch. Bielefeld 1876. S. 10.
1. Vor allem eins, mein Kind: Sei treu und wahr!
Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!
Bon alters her im deutschen Volke war
der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein.
2. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran!
Noch bist du jung, noch ist es nicht so schwer,
aus einem Knaben aber wird ein Mann;
das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.
3. Sprich „Ja" und „Nein", und dreh' und deutle nicht!
Was du berichtest, sage kurz und schlicht!
Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht;
dein Wort sei heilig, drum verschwend' es nicht!
4. Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
zuerst ein Zwerg, ein Riese Hinternach;
doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an,
und eine Stimme ruft in dir: ,,Sei wach!"
5. Dann wach' und kämpf'! Es ist ein Feind bereit;
die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr.
Kind! Deutsche kämpften tapfer allezeit;
du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr!
Vermittlung und Vertiefung. Ein Knabe verläßt das elterliche
Haus und tritt zum letztenmal vor den Vater und bittet um seinen Segen.
Dieser wird ihm zuteil und mit dem Segen zugleich eine eindringliche
gute Lehre: „Borallemeins, mein Kind: Seitreuundwahr!"
Die Worte „vor allem" erinnern daran, daß mir noch manche Pflicht zu
erfüllen und manche Tugend zu üben haben, aber kein anderer Rat ist
so wichtig als dieser: „Sei treu und wahr!" Unser Gedicht beant-
wortet nun folgende 3 Fragen: 1. Was heißt: Sei treu und wahr?
2. Warum sollen wir treu und wahr sein? 3. Wie fangen wir es an,
treu und wahr zu sein?
1. Was heißt: Sei treu und wahr? Die Erklärung gibt
uns die 3. Strophe. „Sprich Ja und Nein, und dreh' und deutle nicht!"
Was „Ja" ist, soll „Ja" sein und nicht in „Nein" umgedreht werden.
„Ja" soll ein ganzes „Ja" sein, ohne daran zu „deuteln", d. h. hast
du ein Versprechen gegeben, so muß dein „Ja" bis ins kleinste gültig
sein, ohne daß du etwa eine kleinliche, spitzfindige Auslegung oder
Deutung des Versprechens versuchst, nach welcher du das Ja wieder
zurücknehmen könntest. (Beispiele!) „Was du b erichtest, sag e kurz
und schlicht!" Wer viele Worte macht, der setzt leicht etwas hinzu
oder verdunkelt den Inhalt dessen, was er berichtet oder mitteilt.
„Was du gelobest, sei dir höchste Pflicht." „Geloben" heißt
Schneckenburger: Die Wacht am Rhein.
603
heilig versprechen, sein Wort zu halten. Wenn aber das „Wort" oder
Versprechen heilig ist, so soll man es nicht „verschwenden", d. h. ohne
Überlegung, in der Übereilung oder leichtsinnig geben. — Treu und
wahr ist also der, w e l ch e r d a, w o e r „I a" s a g e n m u ß, n u r „I a"
sagt, ferner der, welcher das, was er zu sagen und zu berichtert
hat, kurz und schlicht ausspricht, ohne etwas hinzuzufügen, endlich
der, welcher das, was er gelobt, d. h. aufs heiligste versprochen
hat, mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte auch zu erfüllen sucht.
2. Warum sollen wir treu und wahr sein? a) Es war von
alters her der größte Ruhm des deutschen Volkes, getreu und wahr
zu sein. Willst du also deinen Vorfahren Ehre machen, so sei treu und
wahr wie sie! (Beispiele aus der Geschichte!) Str. 1. b) Das Wort
Gottes befiehlt es uns, treu und wahr zu sein, wie Str. 3 andeutet:
Eure Rede sei ja, ja, nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.
3. Wie fangen wir es an, stets treu und wahr zu sein?
a) Wir sollen bedenken, daß wir deutsche Kinder sind (Str. 2). d) Wir
müssen schon in der Jugend uns der Wahrheit befleißigen; denn im Alter
lernt sich's schwer (Str. 2). c) Wir müssen auf unsere Worte achten,
nichts deuteln und drehen und nicht zuviel sagen (Str. 3). ä) Wir
müssen uns vor der ersten Lüge hüten; sie ist auch zuerst ein Zwerg,
d. h. noch sehr klein, sie wächst zum Riesen empor, denn eine Lüge er-
zeugt mehrere e) Wir müssen auf die Stimme unseres Gewissens
hören, denn wenn wir von der Wahrheit weichen, ruft es uns zu: „Sei
wach!" d. h. merke auf deine Worte, damit keine Lüge unterläuft (Str. 4)!
f) Wir müssen endlich auch kämpfen, denn die Lüge in uns, unser
größter Feind, ist immer bereit zu erscheinen (Str. 5). g) In diesem
Kampfe sollen wiederum unsere Vorfahren unser Vorbild sein. Auch
sie kämpften allezeit tapfer gegen die Lüge und waren „treu und
wahr" (Str. 5). W. D.
227. A. Die Wacht am Nhein.
M. Schneckenburger. Lieder zu Schuh und Trutz. Berlin 1871. S. 220.
1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht am Rhein. Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
I. Geschichtliches. Keine Stadt, kein Dorf im deutschen Vaterlande
dürfte wohl zu finden sein, wohin im Laufe des Krieges gegen Frankreich
die Klänge dieses Liedes nicht gedrungen wären. Tausendstimmig er-
scholl der Gesang, als unsere tapferen Heere gen Welschland zogen; tauseni>-
stimmig klang es an unser Ohr, wenn wir im lieben Vaterlande die
Siege feierten, welche unsere Truppen jenseits des deutschen Stromes
erfochten. So vernahmen wir das Lied in seiner schwungvollen Weise
604
III. Lyrische Gedichte.
auf den Bergen nrrd in den Tälern unseres Vaterlandes, am Rhein wie
an der Ostsee, an der Donau wie an der Nordsee, überall, wo ein fröh-
liches Häuflein Menschen sich zusammengefunden,
„hub einer wohl zu singen an,
und alle stimmten ein!
Gesegnet, der dies Lied ersann,
gesegnet sei der Rhein."
So wurde im Jahre 1870 „die Wacht am Rhein" zu einem Volks-
liede, wie selten ein anderes in so kurzer Zeit. Lange Jahre wußte nie-
mand, wer dies Lied „ersann", d. h. wer es gedichtet hatte. Erst in dem
für Deutschland so ruhmvollen Jahre 1870 hat man es erfahren.
Als im Jahre 1840 der frühere Präsident von Frankreich, Thiers,
es wiederholt öffentlich aussprach, daß der Rhein die Grenze zwischen
Deutschland und Frankreich sein müßte, da sang Max Schnecken-
bürg er, ein geborener Württemberger, seine „Wacht am Rhein". Aber
lange Jahre war das Lied nur einzelnen im Volke bekannt, und leider
sollte der treue, deutsche Mann den großartigen Einfluß und die er-
hebende Begeisterung, welche sein treffliches Lied aus unser ganzes Volk
ausübte, nicht mehr erleben; denn er starb schon im Jahre 1851, kaum
einige dreißig Jahre alt, zu Burgdorf im Kantou Bern, wo er sich als
Kaufmann niedergelassen hatte.
Glücklicher war in dieser Hinsicht Karl Wilhelm, der Komponist
der Melodie! Er wurde 1815 geboren und lebte 25 Jahre lang als
Musikdirektor in Krefeld. Schon im Jahre 1854 hatte er seine schöne
Melodie komponiert, aber erst im Jahre 1870 brauste das Lied „wie
ein hunderttausendstimmiger Völkerchoral" durch die Welt. Krank an
einem unheilbaren Leiden, lebte er zu jener Zeit amtlos und dürftig
in der kleinen, alten Stadt Schmalkalden in Thüringen. Da ging ein
rührender Zug der Dankbarkeit durch das ganze deutsche Volk. Briefe
und Ehrengaben flössen ihm reichlich zu. Der König und Kaiser Wilhelm I.
ehrte ihn mit der großen goldenen Medaille und der Reichskanzler Fürst
Bismarck durch ein herzliches Schreiben vom 23. Juni 1871, in welchem
es u. a. heißt: „Sie haben durch die Komposition von Max Schnecken-
burgers Gedicht „Die Wacht am Rhein" dem deutschen Volke ein Lied
gegeben, welches mit der Geschichte des eben beendigten großen Krieges
untrennbar verwachsen ist........Ihr Verdienst ist es, unserer letzten
großen Erhebung die Volksweise geboten zu haben, welche daheim wie
im Felde dem nationalen Gemeingefühle zum Ausdruck gedient hat. Ich
folge mit Vergnügen einer mir vom geschäftsführenden Ausschuß des
deutschen Sängerbundes gewordenen Anregung, indem ich der Anerken-
nung, welche Ihnen von allen Seiten zuteil geworden ist, auch dadurch
Ausdruck gebe, daß ich Sie bitte, die Summe von eintausend Talern aus
dem Dispositionsfonds des Reichskanzleramtes anzunehmen. Ich hoffe,
daß es mir möglich sein wird, Ihnen alljährlich den gleichen Betrag an-
bieten zu können."
Diese Verheißung des Fürsten ward auch erfüllt, aber schon im
Schneckenburger: Die Wacht am Rhein.
605
Jahre 1873 am 26. August schloß sich die Gruft über des Sängers
Leben und Leiden. Das deutsche Volk aber wird des Mannes nimmer
vergessen; denn unsere Väter, Brüder und Söhne, die den Krieg in
Frankreich so glücklich zu Ende geführt haben, fühlten ihre Herzen stolzer
und mutiger schlagen, wenn in den Feierstunden, auf dem Marsche oder
im Biwak das Lied angestimmt wurde und von Regiment zu Regiment
weiter brauste.
II. Vermittlung des Verständnisses. 1. Erläuterung der ein-
zelnen Strophen. Str. 1, Vers 1 bis 3. Mit diesen Worten, die
schon durch ihren äußeren Klang etwas Gewaltiges und Festes ausdrücken,
redet der Dichter das deutsche Volk an. In prophetischem Geiste sieht er,
wie 30 Jahre später jenseits der Grenze der Feind Init Wafsengeklirr und
mit Geschützdonner in großen Heereswogen herangezogen kommt, um
uns den Rhein, den echten deutschen Strom, zu entreißen. Aber sein
Ruf übertönt das Toben des Feindes. Er schallt wie der Donner eines
starken Wetters, er braust wie die an die Felsen prallenden Wogen des
Meeres an das Ohr des deutschen Volkes. Und dreimal wiederholt er
seinen Ruf immer stärker:
„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!"
So ist das Volk schon mächtig aufgeregt, besonders durch den letzten
Ruf: zum deutschen Rhein. Da ist alles gespannt und aufmerksam,
und deshalb läßt der Dichter auch gleich die Frage folgen:
„Wer will des Stromes Hüter sein?"
Ebenso schnell ist er aber auch mit der Antwort da:
„Lieb Vaterland, magst ruhig sein" usw.
Der Dichter vertraut seinem Volke, daß es sofort den Rhein be-
schützen wird, wenn der Ruf erschallt.
Wer aber ist die feste und treue Wacht am Rhein? Das hören wir
in der folgenden Strophe.
Str. 2, Vers 1—4.
„Durch Hunderttausend" usw.
Damit führt uns der Dichter die „Wacht" vor. Kaum hören die
Hunderttausend, daß der Welsche mit Heeresmacht heranzieht, da blitzen
die Augen vor Erregung, Mut und Begeisterung hell. Diese Hundert-
tausend wollen ihren Rhein beschützen. Hier hat der Dichter 30 Jahre
vorher gesungen, was sich 1870 und 71 erfüllte. Nicht nur Hundert-
tausend, sondern mehr als eine Million Krieger aus allen deutschen Gauen,
ja sogar Landsleute, die in fernen Ländern wohnten, zogen kampfesmutig
und begeistert über den Rhein, um die heilige Landesmark jenseits des
freien, deutschen Rheins zu schützen. Fromm und stark nennt Schnecken-
burger die deutschen Männer mit Recht, denn die Blätter der Geschichte
geben uns viele Beispiele dieser Frömmigkeit und Stärke.
Str. 3. Ohne Aufblick zum Himmel geht kein echter Deutscher an
sein Werk, am allerwenigsten an ein solches Werk, wie der Krieg es ist.
MM
wmmmm
606
III. Lyrische Gedichte.
So beugten denn auch vor dem Kriege nicht nur die deutschen Krieger
und ihr Heerführer, der ruhmgekrönte König Wilhelm I., ihre Kniee vor
dem Lenker der Schlachten, sondern das ganze deutsche Volk strömte in
die Gotteshäuser, um vom Herrn der Heerscharen den Sieg zu erflehen.
— Ferner soll aber der Aufblick in des „Himmels Blaun" die Krieger
auch daran erinnern, daß die toten Helden, welche schon früher für das
Vaterland gestorben sind, und diejenigen, welche für dasselbe gekämpft,
aber die schöne Zeit der Jahre 1870 und 1871 nicht mehr erlebt haben,
auf sie aus dem Himmel herabschauen. Ähnliches sang der Dichter der
Freiheitskriege, Theodor Körner, in seinem Aufrufe:
Und all ihr deutschen freien Heldenschatten,
mit uns, mit uns und unsrer Fahnen Flug!"
Diese Helden der Befreiungskriege, die nach einem schönen, kindlichen
Glauben als Schatten, d. i. Geister, auf ihre tapfern Söhne und Enkel
vom Himmelszelt herabschauen, wie sehr werden sie sich freuen, wenn diese
mit derselben deutschen Tapferkeit und deutschen Frömmigkeit sich im
Schlachtgetümmel zeigen, und mit Stolz dürfen wir es aussprechen:
Unsere Heldenväter brauchen sich der Heldensöhne aus dem Kriege 1870
und 1871 nicht zu schämen. Diese haben sich in allen Kriegstngenden
jener würdig gezeigt.
Hat aber der deutsche Krieger sich seinem Gott befohlen und seiner
ruhmreichen Väter gedacht, dann wird es ihm leichter, den Schwur aus-"
zusprechen: 1 •
„Du, Rhein, bleibst deutsch wie meine Brust!"
Die Worte „Du bleibst deutsch" deuten uns aber auch zugleich
an, daß der Rhein von jeher deutsch gewesen ist, denn es wohnten
seit undenklichen Zeiten deutsche Völker an seinen Ufern; er hörte nur die
deutsche Sprache reden; in seinen Wellen spiegelten sich nur deutsche Bau-
werke; auf beiden Seiten herrschten nur deutsche Sitten und Gebräuche
usw. Daher hat das Wort E. M. Arndts: „Der Rhein ist Deutschlands
Strom, nicht Deutschlands Grenze" die vollste Berechtigung. Das alles
drängt den Dichter, im Namen der deutschen Kämpfer auch am Ende dieser
Strophe wie bei jeder andern auszurufen: „Lieb Vaterland, magst" usw.
Str. 4. Allein so gar leicht ist es nicht, den Schwur zu halten^
denn die Kämpfe mit dem Nachbar sind schwer; mancher deutsche Held
muß den Besitz mit seinem Blute erkaufen; aber das hält die Kämpfer
nicht zurück. Wenn denen, welche heute um das herrliche Kleinod kämpfen,
auch „das Herz im Tode bricht", so fürchten sie doch noch nicht, daß
der deutsche Strom „ein welscher" wird, denn
„Reich, wie an Wasser deine Flut,
ist Deutschland ja an Heldenblut."
Wer erinnert sich bei diesen Worten des Dichters nicht wiederum
an die Helden in den Befreiungskriegen? Wie strömten da die Jünglinge,
Männer, ja sogar Greise herbei, als der König von Preußen rief! Jeder
wollte sein Heldenblut hingeben, um das Vaterland zu retten und die.
Schneckenburger: Die Wacht am Rhein. 607
Welschen weit über den Rhein zu drängen. So wurde jeder wahre
Deutsche zum Helden für sein Vaterland, und da dies also war und, wie
wir in dem letzten Franzosenkriege gesehen, noch heute so ist, so kann der
Dichter auch am Ende dieser Strophe das Trostwort sprechen: „Lieb
Vaterland" usw.
Str. 5. Der Gedanke der vorigen Strophe wird in dieser noch
weiter ausgeführt:
„Solang ein Tropfen Blut noch glüht" usw.
Also die deutschen Männer wollen alle Kraft, die ihnen zu Gebote
steht, für den Rhein einsetzen, und wenn das geschieht — und gewiß
wird's geschehet:, dafür bürgt uns die Vergangenheit —, so kann der
Dichter, und wir mit ihm, wieder ausrufen: „Lieb Vaterland" usw. Wir
wissen ja, daß Tausende unserer Väter und Vorfahren ihr Herzblut haben
fließen lassen fürs Vaterland; wir wissen, daß viele noch gefochten und
gekämpft haben, als ihnen die Faust erlahmte und der Arm ermüdete.
Aber der Schwur, treue Wacht zu halten, bis der letzte Blutstropfen
dahinfließt, feuerte sie immer wieder von neuem an, so daß das Un-
möglichscheinende möglich wurde.
Str. 6. Der Schwur ist gesprochen. Die Woge des Rheins rinnt
ungefesselt, nicht wie ehemals in französische Fesseln geschlagen zum
Meere. So soll es bleiben, das geloben wir eidlich als treue Wacht an:
Rheine.
In übertragenem Sinne könnte es auch heißen: Der Schwur ist
gesprochen; da beginnt die Woge zu rinnen, d. h. die deutsche Heeresmacht
zieht an den Rhein mit wehenden, flatternden Fahnen. Und nochmals
kehrt der Gedanke zurück, daß nicht bloß die Männer, die von Beruf
Soldaten sind, die Wacht bilden sollen, sondern
„Wir alle wollen Hüter sein."
Jeder also muß und wird das Seine tun nach seiner Kraft und
seinen Gaben. Das ganze Volk nimmt teil an der Hütcrschaft. Die
kampfesfähigen Männer mit der Waffe, die Dichter mit dem begeisternden
Liede, der Geistliche mit den: tröstenden Worte Gottes, der Reiche mit
seinem Gelde, die Frauen und Jungfrauen, indem sie betend „vor den
Altar treten" und die Verwundeten pflegen, und sogar die Kinder, indem
sie an der Bereitung von Verbandsachen sich beteiligen usw. Und wahr-
lich! dieser Schwur ist im letzten Kriege nach allen Seiten feierlich ge-
halten worden. Jede Seite der Geschichte beweist uns das.
Einem Volke, das solche Wacht hält, kann der deutsche Rhein nie-
n:als genommen werden, und wir stimmen deshalb am Schlüsse nochmals
von ganzem Herzen mit dem Dichter ein:
„Lieb Vaterland, mag st ruhig sein,
fest steht und treu die Wacht an: Rhein!"
2. Sprachliche Darstellung. Die Wirkung des Liedes Ivird
nicht nur durch den Inhalt und die schöne Melodie, sondern auch noch
durch die äußere Form und durch die Sprache hervorgebracht. Die
608
III. Lyrische Gedichte.
Kraft und Fülle der männlichen Reime (Hall — Prall, stark — Mark/
Lust — Brust, Flut und Blut usw.), die volltönenden zusammengesetzten
Hauptwörter (Donnerhall, Wogenprall, Landesmark, Kampfeslust, Vater-
land, Heldenblut usw.) und endlich der jede Strophe schließende, und den
Hauptgedanken so schön zusammenfassende Kehrreim (Refrain) lassen das
Gedicht auch in künstlerischer Hinsicht als ein vortreffliches Produkt deut-
scher Poesie erscheinen.
3. Gedankengang. Str. 1. Aufforderung an die Deutschen, des
Rheines Hüter zu sein. Str. 2. Die Deutschen kommen der Aufforde-
rung nach. Str. 3. Das Volk blickt auf zum Himmel und schwört, die
Landesmark zu beschützen. Str. 4. Die jetzigen Kämpfer trösten das Vater-
land mit dem Versprechen, daß, wenn sie fallen, viele andere an ihre
Stelle treten werden. Str. 5. Die Helden versprechen, bis auf den letzten
Blutstropfen den Feind zu bekämpfen. Str. 6. Das ganze deutsche Volk
beteiligt sich an dem Kampfe.
4. Vergleichung: „Die Wacht am Rhein" und „Vaterlandslied".,
1. Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
der wollte keine Knechte;
drum gab er Säbel, Schwert und
Spieß
dem Mann in seine Rechte,
drum gab er ihm den kühnen Mut,
den Zorn der freien Rede,
daß er bestände bis aufs Blut,
bis in den Tod die Fehde.
2. So wollen wir, was Gott gewollt,
mit rechter Treue halten
und nimmer im Tyrannensold
die Menschenschädel spalten.
Doch wer für Tand und Schande
ficht,
den hauen wir zu Scherben,
der soll im deutschen Lande nicht
mit deutschen Männern erben.
3. O Deutschland, heil'ges Vaterland!
O deutsche Lieb' und Treue!
Du hohes Land! Du schönes Land!
Dir schwören wir aufs neue!
Dem Buben und dem Knecht die
Acht!
Der füttre Kräh'n und Raben!
So ziehn wir aus zur Hermanns-
schlacht
und wollen Rache haben.
was nur brausen
kann,
in hellen, lichten Flammen!
Ihr Deutschen alle, Mann für
Mann,
fürs Vaterland zusammen!
Und hebt die Herzen himmelan
und himmelan die Hände!
Und rufet alle, Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!
5. Laßt klingen, was nur klingen
kann,
die Trommeln und die Flöten!
Wir wollen heute, Mann für
Mann,
mit Blut das Eisen röten,
mit Henkerblut, Franzosenblut —
o süßer Tag der Rache!
Das klinget allen Deutschen gut,
das ist die große Sache.
6. Laßt wehen, was nur wehen kaun,
Standarten wehn und Fahnen!
Wir wollen heut' uns, Mann für
Mann,
zum Heldentode mahnen.
Aus! fliege, stolzes Siegspanier,
voran den kühnen Reihen!
Wir siegen oder sterben hier
den süßen Tod der Freien.
8. Vaterlandslied. (1812.)
E- M. Arndt, Gedichte. Berlin 1871. S. 212.
4. Laßt brausen,
1. Beide Lieder sind feurige und erhabene Kampflieder, die einem
echten Patriotismus entsprossen sind; sie sind also Vaterlandslieder.
Becker: Der freie deutsche Rhein.
609
Das Arndtsche Lied entstand 1812 vor Beginn der Freiheitskriege
und feuerte Tausende von Kriegern zum mutigen Kampfe an; die „Wacht
am Rhein" wurde gedichtet, als die Franzosen 1840 Miene machten,
den deutschen Rhein als Grenzfluß zu verlangen. In beiden Gedichten
schwören die Krieger feierlich, das Vaterland zu schützen bis auf den
letzten Tropfen Blut. Während die „Wacht am Rhein" die Krieger nur
zur Verteidigung des Vaterlandes auffordert, feuert das „Vaterlands-
lied" zum Angriff an. Beide sind gegen die Franzosen gerichtet; in dem
einen (Wacht am Rhein) soll der Feind von der Grenze abgehalten wer-
den, m dem andern dagegen soll der Feind aus dem Lande vertrieben
werden. Durch beide Gedichte werden die Krieger von dem einen großen
Gedanken und von dem einen großen Willen erfüllt: das Leben für
das Vaterland einzusetzen, zu siegen oder zu sterben. In
beiden Liedern schildert die letzte Strophe, wie die Heere mit flatternden
Fahnen in den Krieg ziehen. 2. Welcher Unterschied findet sich in der
äußeren Form der Gedichte? a) Während das Schneckenburgersche Lied
in lauter kräftigen männlichen Reimen endigt, benutzt Arndt abwechselnd
männliche und weibliche Reime, b) Die Strophen in Arndts Gedichte
bestehen aus acht und die Schneckenburgerschen aus sechs Verseu. c) Die
„Wacht am Rhein" schließt jedesmal mit einem Kehrreim, das „Vater-
landslied" ist ohne einen solchen. W. D.
228. Der freie deutsche Nhein.
Nikolaus Becker, Gesammelte Gedichte. Köln 1841. S. 214.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Um das Jahr 1840 erneuerte
sich in Frankreich das alte Gelüst nach der Rheingrenze. Der schöne,
stolze Rhein sollte nicht Deutschlands Strom, sondern Deutschlands Grenze
sein, das linke Rheinufer also französisch werden. Hauptsächlich war es
der französische Minister Thiers, der durch Zurücksührung der Leiche
Napoleons von St. Helena, durch die Befestigung von Paris und seine
zündenden Reden die alte Raublust der Franzosen nach dem linken Rhein-
ufer neu belebte. Da rührte sich aber der deutsche Patriotismus und
schlug frische, hohe Wellen. Den treffendsten Ausdruck fand das vater-
ländische Gefühl 1840 in dem „Rheinliede" des Gerichts-Auskultators
Nikolaus Becker zu Köln: „Sie sollen ihn nicht haben —". Das Lied
fand ungemessenen Beifall und machte den Dichter mit einem Schlage
zum berühmten Manne. Wer im rechten Moment das rechte Wort trifft,
das allen ungesprochen auf den Lippen liegt, das Gefühl ausspricht, das
allen im Herzen brennt, der darf als Dolmetscher der Volksstimmung
sicher auf Beifall und Anerkennung rechnen. Becker erhielt von dem
Könige Friedrich Wilhelm IV. einen Ehreniold von 3000 Mark und von
dem Könige Ludwig von Bayern einen Ehrenpokal. Von den vielen Kom-
positionen des Liedes hat leider keine recht durchschlagen wollen, darum
ist das Lied mehr und mehr hinter die „Wacht am Rhein", die in der-
selben Zeit von Schneckenburger gedichtet wurde, zurückgetreten.
AdL. II. 8. Aufl. 39
610
III. Lyrische Gedichte.
1. Sie0 sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein,
ob sie wie gier'ge Raben sich heiser darnach schrein?),
2. Solang er, ruhig wallend3), sein grünes Kleid noch trägt,
solang ein Ruder schallend in seine Woge schlägt!4)
3. Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein,
solang sich Herzen laben an seinem Feuerwein, —5)
4. Solang in seinem Strome noch fest die Felsen stehn °),
solang sich hohe Dome in seinem Spiegel sehnig
5. Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein,
solang dort kühne Knaben um schlanke Dirnen frein8),
6. Solang die Flosse hebet ein Fisch auf seinem Grund,
solang ein Lied noch lebet in seiner Sänger Mund!9)
7. Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein,
bis seine Flut begraben des letzten Manns Gebein!10)
II. Erläuterungen, 1. Die Franzosen; der Dichter nennt sie gar
nicht, weil sie als Erbfeinde Deutschlands und als lüstern nach dem linken
Rheinufer bekannt sind. 2. Ein grelles, aber treffendes Bild, um das
ungemessene und unverschämte Verlangen und die endlosen, lauten Rufe
der Franzosen nach der „Rheingrenze" auszudrücken. 3. Dort im Westen
wildes Schreien, — hier die ruhig und stetig dahin wallende, grüne
Wasserflut. 4. Der Rhein ist durch Fahrzeuge aller Art belebt. 5. Zu
beiden Seiten des Rheines wächst edler, feuriger Wein. 6. Besonders auf
der Strecke von Bingen bis Koblenz finden sich mächtige Felsen am und
viele Klippen im Strome, z. B. die sieben Jungfrauen bei dem Lorelei-
felsen. 7. Z. B. die herrlichen Dome zu Köln, Speier usw. 8. Frische,
mutige Jünglinge werben um schlanke Jungfrauen und führen sie als
Gattinnen heim. 9. Kein Strom ist so viel wie der Rhein besungen
worden, und nirgends weilen die Dichter lieber. Sein edler Feuerwein,
seine Schönheit und die fröhlichen Menschen begeistern zum Singen.
IO. Solange noch ein deutscher Mann lebt, so lange wird Deutschland den
Rhein gegen Frankreich verteidigen.
III. Vertiefung. 1. Schauplatz. Ruhig und majestätisch wallt
die breite, grüne Flut des Rheines dahin. Zahlreiche Fische, z. B. die
schönen Rheinlachse, beleben das Wasser und schießen oft wie Silberpfeile
in die Höhe. Große und kleine Boote beleben den Wasserspiegel, und
schallend schlägt der Schiffer das Ruder ins Wasser. Die schönen Ufer-
hänge sind mit Weinbergen bedeckt, in denen edler Wein gezogen und
von dem fröhlichen Volke der Winzer gekeltert wird. Felsen erheben sich
am Ufer und Klippen im Wasser. Zum Teil sind sie weggesprengt, um
der Schiffahrt eine freiere Bahn zu öffnen. Saubere, helle Dörfer und
Städte liegen an beiden Ufern, und fröhliche, tätige Menschen leben und
streben darin. Deutsche Lieder erklingen in den Weinbergen und auf
dem Strome.
2. Gedankengang. Str. 1. Trotz des gierigen Geschreis sollen
die Franzosen niemals den deutschen Rhein bekommen. Str. 2. In
majestätischer Ruhe und Sicherheit wälzt der Strom seine Fluten dahin.
Lenau: An mein Vaterland.
611
Str. 3. Sein feuriger Wein ersreut und begeistert die Herzen. Str.>4.
Seine Felsen stehen fest, und seine Dome spiegeln sich stolz im Wasser.
Str. 5. Seine Bewohner rühren sich frohgemut. Str. 6. Seine Fische
regen frei die Flossen, seine Sänger rühren begeistert die Harfe. Str. 7.
Solange noch ein deutscher Mann lebt, so lange wird den Franzosen der
Rhein streitig gemacht werden.
Der Grundgedanke ist viermal wiederholt: „Sie sollen ihn nicht
haben, den freien deutschen Rhein!"
3. Eigentümliches. Die mächtige Wirkung des Liedes erklärt sich
aus der patriotischen Stimmung, die feurig hindurch klingt, aus der kur-
zen, treffenden Schilderung der Schönheiten des Rheines, ans der hypo-
thetischen (bedingten) Form: „Solange" —, die aber ein „Niemals!"
bedeutet, und aus den frischen, flüssigen Versen der neuen Nibelungen-
strophe mit lauter männlichen Reimen.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. Ganz dieselben Gedanken und
Empfindungen sprach 1840 Max Schneckenburger in der „Wacht am
Rhein" aus. (Siehe Nr. 227!) Der alte Ernst Moritz Arndt sang sein
Lied „Als Thiers die Welschen aufgerührt hatte":
1. Und brauset der Sturmwind des Krieges heran,
und wollen die Welschen ihn haben,
so sammle, mein Deutschland, dich stark wie ein Mann
und bringe die blutigen Gaben,
und bringe das Schrecken und trage das Grauen
von all deinen Bergen, aus all deinen Gauen
und klinge die Losung: „Zum Rhein! übern Rhein!
All Deutschland in Frankreich hinein!" Usw.
Georg Herwegh dichtete in derselben Zeit das „Nheinweinlied":
Str. 1. Wo solch ein Feuer noch gedeiht
und solch ein Wein noch Flammen speit,
da lassen wir in Ewigkeit
uns nimmermehr vertreiben.
Stoßt an! Stoßt an! Der Rhein,
und wär's nur um den Wein,
der Rhein soll deutsch verbleiben! Usw.
2. Aufgaben, a) Vergleiche Beckers „Rheinlied" mit der „Wacht
am Rhein"! b) Gib eine Schilderung des Rheines nach den beiden Ge-
dichten! c) Unter welchen Bedingungen werden die Franzosen den Rhein
erhalten? (Wenn seine Flut vertrocknet, kein Ruder mehr in die Wogen
schlägt, kein Wein mehr an seinen Ufern wächst, seine Felsen versinken,
seine Dome zerfallen, seine Anwohner verschwinden, kein Fisch mehr die
Flossen regt, kein Lied mehr ertönt und des letzten deutschen Mannes Leiche
im Strom begraben ist!) ?.
229/A. 3lit mein Vaterland.
Nikolaus Lenau, Gedichte. Stuttgart 1877. S. 103.
I. Vorbereitung und Vortrag. Der in Ungarn geborene Dichter Nik.
Lenau (eigentlich Nik. Niembsch Edler v. Strehlenau) hatte nach vielen
Irrfahrten und Enttäuschungen in Schwaben eine liebe Heimat und an
612 III. Lyrische Gedichte.
Uhland, Schwab, Kerner n. a. Dichtern liebe Freunde gefunden. Aber
ein dunkler, unruhiger Drang ließ ihn nirgends weilen. Er verließ 1832,
30 Jahre alt, Deutschland, die Heimat seines Geistes und seiner Liebe,
und suchte in Amerika das Glück, das er niemals fand- In Amsterdam
wollte er sich einschiffen, und dahin reiste er. Als er am Saum (der
Grenze) des Vaterlandes, an dem Grenzfluß (dem Rhein oder der
Maas) ankam, da übermannte ihn das Weh der Trennung. Er umfaßte
den letzten Baum aus der Heimaterde, preßte sein Gesicht dagegen und
weinte heiße Tränen, die an der Rinde herab rieselten. — Er langte im
Hasen an, bestieg ein Schiff und fuhr hinaus in die unendliche Wasser-
wüste. Die Küste wich immer mehr zurück in nebelgraue Ferne wie ein
liebes Antlitz, das dem Fortziehenden stumm und traurig nachschaut. Bald
war sie verschwunden wie das Jugendglück des Dichters. Die Nacht kam.
Auf deni Verdeck des Schisses stand der Auswanderer, schaute hinaus in
das weite Meer, horchte auf das Spiel des Windes und der Flut und
träumte sich zurück in die verlassene Heimat und ihr Glück. Was er in
jener Nacht empfunden und gedacht, das spricht sein Lied „An mein
Vaterland" ergreifend aus.
1. Wie fern, wie fern, o Vaterland, bist dremir nun zurück! Dein liebes
Angesicht verschwand mir wie mein Jugendglück!
2. Ich steh' allein und denk' an dich; ich schau' ins Meer hinaus, und
meine Träume mengen sich ins nächtliche Gebraus. *)
3. Und lausch' ich recht hinab zur Flut, ergreift mich Freude schier: da
wird so heimisch mir zu Mut, als hört' ich was von dir.2)
4. Mir ist, ich hör' im Winde gehn dein heilig Eichenlaub, wo die Ge-
danken still verwehn den süßen Stundenraub. 2)
5. Im ungestümen Wogendrang braust mir dein Felsenbach;4) mit
dumpfem, vorwurfsvollem Klang ruft er dem Freunde nach.b)
6. Und deiner Herden Glockenschall zu mir herüberzieht und leise der
verlorne Hall von deinem Alpenlied.
7. Der Vogel im Gezweige singt, wehmütig rauscht der Hain, und jedes
Blatt ani Baume klingt und ruft: Gedenke mein! —
8. Als ich am fremden Grenzefluß still stand auf deinem Saum, als ich
zum trüben Scheidegruß umfing den letzten Baum,
9. und meine Zähre trennungsscheu6) in feine Rinde lief: gelobt' ich
dir die ew'ge Treu' in meinem Herzen tief.
10. Nun denk' ich dein so sehnsuchtschwer, wo manches Herz mir hold,
und ströme dir ins dunkle Meer den warmen Tränensold.7)
11. Erläuterungen. 1. Wie entsteht das Gebrause? 2. Woran er-
innert ihn das nächtliche Brausen der Wogen, und warum erfüllt es
ihn mit Freude und Heimatglück? (Es erinnert ihn an das nächtliche
Rauschen der deutschen Eichenwälder, an den Wellensturz des heimatlichen
Felsenbaches, an den Glockenklang der Herden und den Widerhall der
Alpenlieder, an den Gesang der Vögel und das Rauschen der Blätter.)
3. Wie der Wind die Blätter verwehet, so tragen die stillen Gedanken
des Spaziergängers die Stunden, welche der Arbeit entzogen oder geraubt
sind, angenehm oder süß davon. 4. Warum heißt der Bach „Felsen-
Lenau: An mein Vaterland.
613
b a ch", der Lauf seines Wassers ungestüm er Wogendrang? 5. Wel-
chen Vorwurf ruft er dem Freunde nach? 6. Zähre trennungs-
scheu würde wörtlich heißen: die Zähre scheut die Trennung vom Auge,
weil sich der Mann zu weinen schämt und darum sein Gesicht verbirgt.
(In der Werbung von Lenau: Still die«scheue Männerzähre flüchtet in
den Bart hinab.) Der Mann weint die bittere Abschiedsträne, weil er die
Trennung vom Vaterlande scheut. 7. Die heißen Tränen des Schmerzes
und der Liebe sind die letzte Zahlung oder Abgabe an das Vaterland.
III. Vertiefung.
1. Charakteristik. Beweise aus dem Gedichte den Schmerz des
Abschieds, das Gelöbnis der Treue, die Sehnsucht nach den fernen
Lieben, die Klage über das verlorene Vaterland und Jugendglück, die
aufmerksame Betrachtung von Wind und Meer, das gedankenreiche
Träumen in Gegenwart und Vergangenheit und das schmerzliche Glück
der Erinnerung!
2. Gedanken gang. Str. 1: Das Vaterland ist wie das Jugend-
glück verschwunden. Str. 2: Der Dichter träumt bei Nacht aus dem
Schiffsverdeck ins Meer hinaus. Str. 3: Das geheimnisvolle Rauschen
und Brausen des Meeres weckt die Erinnerung an die Heimat. Str. 4:
Er hört wieder das Rauschen der Eichenhaine, in denen er manche Stunde
in Gedanken süß verträumt hat. Str. 5: Aus dem stürzenden Felsenbache
hört er die Vorwürfe eines Freundes, den er verlassen hat. Str. 6: Der
Glockenklang der Herden und der Hall der Alpenlieder zieht ihm in ver-
lornen Klängen nach. Str. 7: Vogelfang und Blättergesäusel mahnen
ihn: Gedenke mein! Str. 8 und 9: Er gedenkt des bittern Scheidegrußes
an der Grenze und des Gelöbnisses der Treue. Str. 10: Dem Vaterlande
und den Freunden weint er heiße Tränen der Liebe und Sehnsucht nach.
Grundgedanke: Erst in der Fremde empfindet man ganz die
Schönheit, den Wert, den Besitz an Liebe und das Glück des verlornen
Vaterlandes. Der Verlust erst zeigt uns seinen vollen Wert: aber die
Erinnerung hält es treu und fest, und die Sehnsucht zieht uns dahin zurück.
IV. Verwertung. 1. Vergleiche von I. G. v. Salis-Seewis
(Gedichte Leipzig o. I. S. 28):
1.
3.
B. Lied eines Landmannes in dev fremde.
Traute Heimat meiner Lieben,
sinn' ich still an dich zurück,
wird mir wohl, und dennoch
trüben
Sehnsuchtstränen meinen Blick.
Stiller Weiler, grün umfangen
von beschirmendem Gesträuch,
kleine Hütte, voll Verlangen
denk' ich immer noch an euch!
An die Fenster, die mit Reben
einst mein Vater selbst umzog:
an den Birnbaum, der daneben
auf das niedre Dach sich bog!
4. An die Stunden, wo ich Meisen
im Holnnderkasten fing:
an des stillen Weibers Schleusen,
wo ich Sonntags fischen ging!
5. Was mich hier als Kind erfreute,
kommt mir wieder leibhaft vor!
Das bekannte Dorfgeläute
widerhallt in meinem Ohr.
6. Selbst des Nachts in meinen
Träumen
schiff' ich auf der Heimat See,
schüttle Äpfel von den Bäumen,
wässre ihrer Wiesen Klee,
614
III. Lyrische Gedichte.
7. lösch' aus ihres Brunnens Röhren
meinen Durst am schwülen Tag,
pflück' im Walde Heidelbeeren,
wo ich einst im Schatten lag. —
8. Wann erblick' ich selbst die Linde,
auf den Kirchenplatz gepflanzt,
wo, gekühlt im Abendwinde,
unsre frohe Jugend tanzt?
9. Wann des Kirchturms Giebelspitze,
halb im Obstbaumwald versteckt,
wo der Storch auf hohem Sitze
friedlich seine Jungen heckt?
10. Traute Heimat meiner Väter,
wird bei deines Friedhofs Tür
nur einst, früher oder später,
auch ein Ruheplätzchen mir!
Der Dichter Salts war ein geborner Schweizer, aber nach der Sitte
seiner Zeit in französische Kriegsdienste getreten und in Versailles bis zum
Hauptmann der Schweizergarde aufgerückt. Aus der Pracht und Unnatur
des Hofes und dem Getümmel einer großen Stadt sehnte er sich nach der
stillen, verlornen Heimat (Seewis in Graubünden) zurück und wünschte
sich wenigstens ein Grab auf dem Dorfkirchhofe bei seinen Vätern.
A. Ähnlichkeiten. Beide Dichter haben in dem Drange nach einem
Glück in der Weite die Heinrat verlassen, denken in der Ferne voll Liebe
an ihre Freuden und Schönheiten zurück und bewahren ihr die Treue.
Beide erinnern sich wehmütig und doch freudig des geschwundenen Jugend-
glückes. Beiden trüben Sehnsuchtstränen den Blick. Beide werden von
stillen Träumen zurückgeführt. Beide denken an die schönen Waldgänge,
an das Geläute heimatlicher Glocken und an die Gewässer der Heimat.
L. Verschiedenheiten. Lenau verließ eben, Salis schon früher
die Heimat. L. stand auf dem Verdeck des Auswandrerschiffes, S. lebte
i« seiner französischen Garnison. L. dachte an das weite Vaterland, S.
an das enge Heimatdörfchen (Weiler). L. hörte aus dem Rauschen der
Eichen, dem Brausen des Baches und den Klängen der Glocken und Lieder
Stimmen aus dem Vaterlande, die ihm Vorwürfe machten, ihn zurück-
riefen und zum treuen Gedenken mahnten. S. sah im Geiste alle Schön-
heiten seiner Heimat, freute sich daran und wurde von Sehnsucht danach
erfaßt. L. schildert den bitteren Trennungsschmerz. S. fragt: Wann sehe
ich dich, du trauliche und vertraute Heimat meiner Lieben, wieder? L. weint
den Tränenzoll des Schmerzes und der Liebe ins Meer, S. wünscht sich
ein Grab bei seinen Vätern.
2. Vergleiche von I n l i u s M o s e n (Gedichte. Sämtl. Werke. Olden-
burg 1863):
C. Aus der Fremde.
1. Wo auf hohen Tannenspihen. die so dunkel und so grün, Drosseln
aern verstohlen sitzen, weih und rot die Moose blühn: zu der Heimat in die
Ferne zog' ich heute noch so gerne.
2. Wo ins Silber frischer Wellen sckiant die Sonne hoch hinein, spielen
heimliche Forellen in der Erlen grünem Schein: zu der Heimat usw.
3. Wo tief unten in der Erde Eisenerz der Bergmann bricht und die
Zither spielt am Herde in der kurzen Tagesschicht: zu der Heimat usw.
4. Wo die Hirtenfeuer brennen, durch den Wald die Herde zieht, wo
mich alle Berge kennen, drüberhin die Wolke flieht: zu der Heimat usw.
5. Wo so hell die Glocken schallen Sonntag früh ins Land hinaus, alle in
die Kirche wallen, in der Hand den Blumenstrauß: zu der Heimat usw.
Freiligrath: Die Auswanderer.
615
6. Doch mein Leid ist nicht zu ändern: zieht das Heimweh mich zurück,
treibt mich doch nach fremden Ländern unerbittlich das Geschick. Zu der Heimat
in die Ferne zög' ich heute noch so gerne.
3. Schildere Salis' Heimatdörfchen! 4. Worin bestanden die Freu-
den des Knaben? 5. Schildere Mosens Heimat (Marianey im sächsischen
Voigtlande) nach seinen Wäldern (Str. 1), Bächen (Str. 2), Bergwerken
(Str. 3), Herden ans den Bergen (Str. 4) und seiner Sonntagsfeier
(Str. 5) ? ‘ P.
230. Die Auswanderer.
Ferdinand Freiligrath, Gedichte. Stuttgart 1873. S. 10.
1. Ich kann den Blick nicht von euch wenden;
ich muß euch anschaun immerdar.
Wie reicht ihr mit geschäst'gen Händen
dem Schiffer eure Habe dar! Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
I. Vorbereitung. Im Anfange der dreißiger Jahre machte sich in
Deutschland ein starker Zug zur Auswanderung nach Amerika bemerk-
lich. Eine Gesellschaft hatte am Flusse Missouri in Nordamerika weite
Länderstrecken angekauft und lockte nun durch die Verheißung goldener
Berge viele Auswanderer nach dem Lande der Freiheit. Besonders folgten
viele Schwaben (aus dem Neckartale und dem Schwarzwalde) und Franken
aus der Umgegend des Spessart dem lockenden Rufe. Die Reise ging
den Rhein hinab nach Amsterdam, wo große Auswandrerschifse sie auf-
nahmen und durch den Atlantischen Ozean nach dein fernen Westen führten.
In jener Zeit lebte der junge Dichter Ferdinand Freiligrath aus Detmold
in der holländischen Hauptstadt als Kaufmann. Oft ging er nach dem
Hafen und sah der Einschiffung der Auswanderer zu. Er sah, wie sie
geschäftig ihre Habe in die Schaluppe (ein Ruderboot) luden, die sie
vom Lande nach dem vor Anker liegenden Schiffe führen sollte, sah, wie
sie es gar so eilig hatten, dem Vaterlande den Rücken zu kehren, wie sie
den Wert dessen, was sie verließen, nicht zu fühlen schienen, und wie sie
sorglos, ja hoffnungsfrcudig der fremden Welt zustrebten. Die Wehmut
über das ungewisse Geschick seiner Landsleute und die eigene Sehnsucht
nach der schönen deutschen Heimat gestalteten sich in ihm zu dem rührenden
Gedichte „Die Auswanderer", in welchen! er die europamüden deutschen
Landsleute voll warmer Teilnahme anredet. (Bortrag.)
II. Erläuterungsfragen. Warum rühren die Auswanderer so ge-
schäftig Hände und Füße? Warum kann der Dichter die Augen nicht
von ihnen wenden? Welcher Schiffer ist in Str. 1 gemeint? Wie
langen (reichen) die Männer nach den Körben? Warum ist das Brot
vor der Reise nochmals geröstet? Wie sehen die Schwarzwald-
mädchen aus? Warum gehen sie sorgsam mit den Geschirren um?
Was ist die Schaluppe? Warum heißt die Bank grün? Wodurch wird
das Bild der Heimat treu bewahrt werden? Wie malen die Krüge?
Was ist der Missouri? Was könnte dort im Drange der Arbeit alles
schweigen? (Lieder, Erinnerungen, Bücher usw.) Wie muß die Quelle,
616
III. Lyrische Gedichte.
wie die Küche, wie die Stube gedacht werden? Wie das Wasser-
tz ölen? Was ist der ferne Westen? Wie wohnen die Ansiedler?
Wer sind die müden kupferbraunenGäste? Wer sind dieTschero -
kesen? (Ein indianischer Volksstamm in Nordamerika.) Wie wurden
die Krüge bei der W e i n - oder R e b e n l e s e gebraucht? Wie wird Schön-
heit und Wohlhabenheit der Heimat kurz geschildert? Wie werden die
Hirten auf den schönen Weiden des Spessartgebirges genannt? Warum
wohl? (Ihr Leben hat Ähnlichkeit mit dem der Alpenbewohner.) Was
wird die Sehnsucht besonders reizen? (Str. 9.) Was wird im Wachen
und Träumen wie eine sromme Sage vor ihrer Seele stehen? (Das Leben
in der alten Heimat.) Warum winkt der Bootsmann? Was wünscht
ihnen der Dichter? (Eine friedliche und geschützte Reise, freudigen Mut
und gesegnete Arbeit.)
III. Vertiefung. 1. Lagebilder, u) Der Hafen. Ein Ruderboot
liegt an der Landestelle. Ein Schiffer sitzt darin und wartet. Am Lande
rennen geschäftig Männer und Weiber hin und her und reichen ihre Hab-
seligkeiten dem Schiffer ins Boot. Die Männer tragen auf dem Nacken
Körbe mit Brot, das aus dem Korn der Heimat gebacken und dann zu
Schifsszwieback geröstet worden ist, damit es sich als Mundvorrat für die
lange Seereise besser halte. Schlanke Mädchen aus dem Schwarzwalde
mit lang herabhängenden Zöpfen, braunen Augen und dunkler Haut-
farbe reichen Töpfe und Krüge, den Stolz und das Glück der Hausfrauen,
in das Boot und stellen sie sorgfältig auf den grün angestrichenen Seiten-
bänken in Reih und Glied. Nicht weit von dem Boote liegt ein großes
Auswandererschiff vor Anker. Die Matrosen säubern das Verdeck und
bringen das Segelwerk in Ordnung. Der Schiffer im Boote greift zu
den Rudern, winkt und mahnt zur Eile, damit er das Schiff noch zur
rechteil Zeit erreicht. Vom Lande ruft und winkt inan den Abfahrenden
Grüße zu.
b) Das Heimatdorf. Von Wäldern mit hohen, finstern Tannen,
von Feldern mit gelben Korn- und Weizenähren und von Hügeln mit
Weinbergen umgeben, liegt das Dorf wunderschön in einem Tale des
Schwarzwaldes oder Spessart. In der Mitte sprudelt eine Quelle, die
mit einer steinernen Einfassung umgeben ist, ihr klares Wasser. Frauen
und Mädchen kommen dahin, plaudern traulich miteinander, bücken sich
dann nieder zum Born (Brunnen), schöpfen mit ihren Krügen das Wasser
und tragen es auf dem Kopfe nach Hause. Durch die offenen Türen
sieht man das Herdfeuer lodern und fröhliche Menschen in vertraulichem
Geplauder daneben. Durch die offenen Fenster sieht man in die saubere
Stube und bemerkt auf einem Brettersims an der Wand die Krüge und
Töpfe, die als schönster Schmuck Stube und Küche zieren. Von der Höhe
des Berges, wo die Herden weiden und die Hirten wie in den Alpen
Milchwirtschaft treiben (daher Älvler), schallt der Kuhreigen ans dem
Alpenhorn von Rinde hernieder. In den Weinbergen herrscht der Jubel
der Weinlese, und die mit grünem Laube geschmückten Krüge werden hin-
und hergetragen.
Freiligrath: Die Auswanderer.
617
e) Die neue Heimat am Missouri. Eine gleichförmige Ebene
dehnt sich weithin aus. Von endlosen Wäldern sind weite Strecken nieder-
gebrannt und urbar gemacht. Große Flächen sind mit hohem Mais
(Welschkorn) bestanden, andere in sumpfigen Niederungen mit Reis bestellt.
Zerstreut umher liegen einzelne Blockhäuser, die aus unbehauenen Baum-
stämmen und Brettern gebaut sind, während man die Fugen mit Moos
verstopft hat. Die innere Einrichtung ist sehr einfach und ungemütlich.
Auf Wandgesimsen stehen die Gefäße aus der Heimat und wecken die Er-
innerung an die verlassene schöne Heimat und die Sehnsucht danach. Neben
dem Blockhause fließt eine Quelle. Ein eingeborener rotbrauner Tschero-
kese mit Pfeil und Bogen ruht hier müde und bestäubt von der Jagd
und erfrischt sich durch einen Wassertrunk aus dem Kruge. Unsere Lands-
leute sind in regster Tätigkeit auf den Feldern, aber der Schimmer der
Freude ist von ihrem Antlitz gewichen. Allein, ohne häusliches Behagen,
in harter Arbeit von früh bis spät: das ist ihr Leben in der neuen
Heimat!
2. Charakter der Auswanderer. Leichtherzig haben sie
sich von ihrer schönen Heimat getrennt, in der sie behaglich und fröh-
lich, besonders zur Zeit der Weinlese, am Dorfbrunnen und am häus-
lichen Herde lebten, und hoffnungsreich eilen sie dem fernen Westen
zu. Vorsorglich haben sie sich mit den Bedürfnissen einer weiten Reise
versehen, und geschäftig verladen sie ihre Habseligkeiten in das Boot.
Die Mädchen sind schlank von Wuchs, braun von Auge und bräun-
lich von Hautfarbe, geschmückt mit langen Zöpfen und sorgsam im
Aufstellen der zerbrechlichen Töpfe und Krüge. Im fremden Lande er-
wartet sie harte Arbeit, wenig häusliches Behagen und noch weniger Ge-
selligkeit. Nur selten werden halbwilde Gäste bei ihnen einsprechen und
ihre Gastfreundschaft genießen. Die Erinnerung an Deutschland wird ihr
Glück und Schmerz, die Sehnsucht nach dem Leben und den Freunden
dort unauslöschlich sein.
3. Gedankengang. Die Auswanderer im Hafen lGegen-
wart): Str. 1. Den Dichter fesselt und rührt die treuherzige Geschäftig-
keit und Eile der Auswanderer. Str. 2. Die Vorsorge der Männer für
Nahrungsmittel. Str. 3. Die Schönheit der Mädchen und ihre Sorgfalt
beim Aufstellen der Geschirre. Str. 8. Er fragt sie wehmütig, warum
sie ihre schöne Heimat verlassen. Str. 11. Er wünscht ihnen Friede,
Freude und Segen.
8. DieAuswandererinderaltenHeimat (Vergangenheit):
Str. 4. Die Töpfe und Krüge, so oft am Born der Heimat gefüllt,
malen das Bild des heimatlichen Dorfes ab. Str. 5. Sie erinnern an
den Dorsbrunnen, den häuslichen Herd und die geschmückte Stube.
C. Die Auswanderer in der neuen Heimat (Zukunft):
Str. 6. Im Blockhause des Westens wird müden, halbwilden Gästen ein
Labetrunk aus den Krügen gereicht, Str. 7 auch der indianische Jäger er-
frischt; doch gehen diese nie wieder laubgeschmückt zur Weinlese. Str. 9.
Sie werden die Sehnsucht nach dem schönen Vaterlande wecken. Str. 10.
618 III. Lyrische Gedichte.
Wie ein schöner Traum wird das Bild der alten Zeit durch die Seele
ziehen.
Grundgedanken: „O sprecht, warum zogt ihr von dannen?" —
Warum schweift ihr in die Ferne und sucht das Glück, während das Gute
so nahe liegt? — Wer dem äußern Glück nachjagt, verliert oft das innere.
— In der Fremde wird es klar, wie so schön die Heimat war.
4. Schönheiten. Ein ergreifender Ton der Wehmut klingt durch
das Lied und weckt etwas wie Heimweh in uns. Die Schönheit der Hei-
mat kann nicht treffender, die Heimatliebe nicht rührender besungeir, dem
aus dem Vaterlande Scheidenden kein unvergeßlicherer Scheidegruß zu-
gerufen werden. Von besonderer Kraft sind die Gegensätze zwischen der
alten und neuen Heimat. Von mächtiger Wirkung ist es auch, daß die
zerbrechlichen Krüge zu Trägern der alten Heimat in die neue, zu
Malern der heimatlichen Schönheit, zu Gedenktafeln des heimat-
lichen Glückes, zu Dienern der deutschen Gastlichkeit und zu Weck-
stimmen der Sehnsucht gemacht sind.
IV. Verwertung. 1. Mahnungen. Bleibe im Lande und nähre
dich redlich! — Die Welt wird alt und wieder jung, doch der Mensch hofft
immer Verbesserung. — Was du in Liebe besessen, verlierst du nie ganz,
es bleibt dir wenigstens in Erinnerung. — Die Sehnsucht ist das Zu-
rückschauen der Liebe auf ein besseres oder verlornes Glück.
2 .Verwandtes. Jul. Sturm: „Auf der überfahrt." — Gottfr.
Kinkel: „Die Auswanderer aus dem Ahrtale." — Vaterlandslieder. —
Israels Wegführung in die Gefangenschaft. Pf. 137.
3. Aufgaben, a) Welche Ursachen hatten die Auswanderung ver-
anlaßt? — b) Suche die Vorzüge der alten und der neuen Heimat! —
c) Welche Rolle spielen die Krüge im Gedicht? P.
231. Heimkehr aus Frankreich.
Aug. Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Gedichte. 8. Aufl. Berlin 1874. S. 386.
I. Vorbereitung und Vortrag. Der Dichter Hoffmann aus Fallers-
leben weilte auf seinem unsteten Wanderleben auch längere Zeit in Frank-
reich, um dort die Volksart zu studieren und nach vergrabenen Bücher-
schätzen in den Bibliotheken zu suchen. Auf einer Wanderung zwischen
den Flüssen Saône und Rhone erfaßte ihn eine tiefe Sehnsucht nach dem
lieben deutschen Vaterlande. Er sprach sie aus in dem Gedichte:
Heimweh in Frankreich. (1839.)
1. Wie sehn' ich mich nach deinen Bergen wieder, nach deinen: Schatten,
deinem Sonnenschein! Nach deutschen Herzen voller Sang und Lieder, nach
deutscher Freud' und Lust, nach deutschem Wein!
2. Könnt' ich den Wolken meine Hände reichen, ich flöge windesschnell
zu dir hinein. Könnt' ich dem Adler und dem Lichtstrahl folgen, wie ein Ge-
danke wollt' ich bei dir sein!
3. Die Fremde macht mich still und ernst und traurig; verkümmern muß
mem frisches, junges Herz. Das Leben hier, wie ist es bang und schaurig,
und was es beut, ist nur der Sehnsucht Schmerz.
Hoffmann von Fallersleben: Heimkehr aus Frankreich.
619
4. O Vaterland, und wenn ich nichts mehr habe, begleitet treu noch diese
Sehnsucht mich, und würde selbst die Fremde mir zum Grabe, geru sterb' ich,
denn ich lebe nur für dich!
Nicht länger duldete es den Dichter in der Fremde; heimwärts zog
es ihn unwiderstehlich. Als er die Grenze überschritt, wieder deutsche
Worte und deutsche Lieder hörte, in deutsche Augen blickte und deutsche
Hände drückte, da strömte seine Freude und sein Glück aus in dem nach-
stehenden Gruße an das Vaterland:
1. Deutsche Worte hör' ich wieder —H
sei gegrüßt mit Herz und Hand!2)
Land der Freude, Land der Lieder,
schönes, heitres Vaterland !3)
Fröhlich kehr' ich nun zurück,
Deutschland, du mein Trost, mein
. Glück!H
2. O wie sehnt' ich mich so lange
doch nach dir, du meine Braut/1
und wie ward mir freudebange/)
als ich wieder dich erschaut!
Weg mit welschem Lug und Tand/)
Deutschland ist mein Vaterland!
3. Alles Guten, alles Schönen
reiche, sel'ge Heimat du!
Fluch den Fremden, die dich
höhnen,
Fluch den Feinden deiner Ruh'!3)
Sei gegrüßt mit Herz und Hand,
Deutschland, du mein Vaterland!
II. Erläuterungen. 1. Aus der Völkerscheide zwischen Frankreich und
Deutschland, wo man wieder deutsch grüßt und spricht; voll Entzücken
hört er die lang entbehrten Laute. 2. Das Herz ist voll Freude; die-
Hand streckt sich den Volksgenossen zu kräftigem Handschlag entgegen. 3. Zur
deutschen Volksart gehört die Freude an allem Guten und Schönen, am
Gesänge, an Naturschönheit und an heitern Festen. 4. In der Einsam-
keit und Öde der Fremde war die Erinnerung an die Heimat ein Trost
und ein Glück. 5. Durch Liebe innig verbunden, wie einer Braut. 6. Voll
Freude, aber doch bange, nicht alles mehr nach Wunsch zu finden. 7. Wel-
scher Lug —Unwahrheit; die gerühmte französische Höflichkeit ohne Herz-
lichkeit, und ihre Verleumdungen Deutschlands. Welscher Tand —leich-
tes Spielzeug; das leichtfertige Wesen der Franzosen in Sitten und Mo-
den. 8. Deutschland ist reich an allen: Guten und Schönen und das Volk
selig (glücklich) im Genuß desselben. Seine schlichte Treue wird oft von
Fremden (besonders von Franzosen) als Einfalt verhöhnt, seine Ruhe
oft durch ländergierige Eroberer zerstört. Der Dichter spricht den Fluch
(eine Verwünschung) über sie aus.
III. Aufgaben. 1. Was sieht und hört der heimkehrende Wanderer
an der Grenze Deutschlands? — 2. Was hat die Fremde nicht? — 3. Gib
den Inhalt der einzelnen Strophen an! (Str. 1. Fröhliche Heimkehr
und herzlicher Gruß an der Grenze des Vaterlandes- Str. 2. Wehmütiger
Rückblick auf das Leben in der Fremde. Str. 3. Gruß und Segenswunsch
der Heimat, Fluch ihren Feinden.) — 4. Wie und wann haben Fremde
das Vaterland gehöhnt und seine Ruhe gestört? — Wie zeigt sich der
welsche Lug und Tand? — 5. Vergleiche Max v. Schenkendorss
„Frühlingsgruß an das Vaterland 1814"! (Gedichte. Stuttg.
und Tübingen 1815. S. 87.)
620
III. Lyrische Gedichte.
Str. 1. Wie mir deine Freuden winken nach der Knechtschaft, nach dem Streit!
Vaterland, ich muß versinken hier in deiner Herrlichkeit.
Wo die hohen Eichen sausen, himmelan das Haupt gewandt,
wo die starken Ströme brausen, alles das ist deutsches Land. —
Str. 7. Segen Gottes auf den Feldern, in des Weinstocks heil'ger Frucht,
Manneslust in grünen Wäldern, in den Hütten frohe Zucht,
in der Brust ein frommes Sehnen, ew'ger Freiheit Unterpfand,
Liebe spricht in zarten Tönen nirgends wie im deutschen Land. —
6. Vergleiche R. Reinicks „Im Vaterland"! (Lieder. Berlin 1844.
S. 244.)
Str. 1. Der Lieder Lust ist mir er-
wacht!
Wer hat mir solchen Lenz gebracht?
Das Vaterland!
Ich schweifte in der Welt umher
zum schönen Süden übers Meer;
doch was ich nirgends wiederfand:
dein Odem war's, o Vaterland!
Str. 6. Da kehrt' ich um und ward gesund
und freu' mich nun aus Herzensgrund
im Vaterland.
Gleich wie die Lerche schwingt mein
Herz
sich wieder jubelnd himmelwärts
und grüßet rings das grüne Land,
das liebe deutsche Vaterland!
P.
232. A. Soldaten-Morgenlied.
Max v. Schenkendorf. Gedichte. Stuttgart 1871. S. 91.
1. Erhebt euch von der Erde,
ihr Schläfer, aus der Ruh'!
Schon wiehern uns die Pferde
den guten Morgen zu.
Die lieben Waffen glänzen
so hell im Morgenrot;
man träumt von Siegeskränzen,
man denkt auch an deN Tod.
2. Du reicher Gott, in Gnaden
schau her vom blauen Zelt,
du hast uns selbst geladen
in dieses Waffenfeld.
Laß uns vor dir bestehen,
und gib uns heute Sieg!
Die Christenbanner wehen,
dein ist, o Herr, der Krieg.
3. Ein Morgen soll noch kommen,
ein Morgen mild und klar!
Sein harren alle Frommen,
ihn schaut der Engel Schar.
Bald scheint er sonder Hülle
auf jeden deutschen Mann.
O brich, du Tag der Fülle,
du Freiheitstag, brich an!
4. Dann Klang von allen Türmen
und Klang aus jeder Brust
und Ruhe nach den Stürmen
und Lieb' und Lebenslust!
Es schall' auf allen Wegen
dann frohes Siegsgeschrei! —
Und wir, ihr wackern Degen,
wir waren auch dabei.
I. Vermittlung. Str. 1. versetzt uns in das Biwak der Soldaten.
Die Schläfer haben während der Nacht aus der kalten Erde geruht, nur
von ihren Kleidern und dem schützenden Mantel zugedeckt. Als der Morgen
anbricht, da erwachen zuerst die Pferde, die treuen Begleiter der Sol-
daten in die blutige Schlacht; froh rufen sie durch ihr Wiehern den er-
wachenden Soldaten ihren Morgengruß zu. Auch die blanken, „lieben
Waffen", den Soldaten das Wichtigste im Felde, strahlen im Morgenrot,
gleichsam als wollten sie die Krieger erinnern, daß es nun wieder Zeit
zunl blutigen Streite sei. Sie erinnern an die Siege und Ehren, welche
durch sie erfochten werden können. „Man träumt von Siegeskränzen",
d. h. stellt sich im Geiste vor, wie die Sieger nach vollendetem Kampfe
mit Ehren- und Siegeszeichen geschmückt werden; aber auch an den Tod
denkt man, der so vielen Kriegern durch die Waffeu bereitet wird.
Schenkendorf: Soldaten-Morgenlied.
621
Str. 2. Der Gedanke an den Tod stimmt den Krieger ernst; in from-
mem Gebete wendet er sich an den Herrn der Heerscharen und bittet ihn,
daß er sein Antlitz ihm und seinen Kameraden gnädig zuwenden möge.
Sein Gebet erscheint uns nach den beiden Zeilen „Du selbst hast uns usw."
in hohem Grade zuversichtlich; denn wenn Gott selbst die Krieger auf
das Schlachtfeld ruft, so muß der Krieg ein heiliger Krieg sein, und Gott
muß denen beistehen, die seiner Einladung gefolgt sind. Darum sagt der
Krieger weiter:
„Laß uns vor dir bestehen, und gib uns heute Sieg!"
Wenn aber die Krieger vor Gott bestehen und den Sieg erringen
wollen, so müssen sie mit kühnem Mute in die Schlacht gehen. Und
dieser Mut wird jeden Krieger erfüllen, wenn er bedenkt, daß der Krieg
ein „heiliger Krieg" ist. Welcher Krieg gemeint ist, läßt sich leicht er-
kennen: es waren die Freiheitskriege 1813—1815, wo es galt, dem
welschen Bedrücker die geraubten deutschen Lande wieder zu entreißen.
Damit wir aber noch mehr daran erinnert werden, daß jener Krieg ein
heiliger Krieg war, sagte er:
„Die Christenbanner wehen, dein ist, o Herr, der Krieg."
Als die Preußen auszogen, trugen sie das Zeichen des Kreuzes an
ihrer Kopfbedeckung; um dieses Kreuz waren die Worte geschrieben: „Mit
Gott für König und Vaterland". Die Franzosen dagegen hatten ihre
Banner nach römischer, also heidnischer Weise mit einem Adler geziert.
So durfte der Dichter sagen: „Dein ist, o Herr, der Krieg" (vgl. 1. Sam.
17, 47). Und wie Schenkendorf diesen Krieg als einen von Gott be-
fohlenen ansieht, so haben es auch andere Dichter jener Zeit ausgesprochen;
wir erwähnen nur Th. Körner, welcher in seinem „Aufruf" sagt:
„Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen,
es ist ein Kreuzzug, 's ist ein heil'ger Krieg.
Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen
hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen;
errette sie mit deiner Freiheit Sieg!"
Str. 3. Ein Krieg, der unter dem Beistände, aus den Befehl, also
gleichsam im Namen Gottes geführt wird, der muß auch zu einem
glücklichen Ende führen. Darum läßt der Dichter seinen Krieger auch
schon in die Zukunft schauen, die ihm glücklicher scheint:
„Ein Morgen soll uns kommen" usw.
Von dem Morgen, an welchem der brave Soldat sein Gebet ver-
richtet, schweifen seine Gedanken hinüber zu jenem Morgen, der nach
glücklich vollendetem Kriege anbrechen wird. Dieser Morgen wird „mild"
sein, denn der Gedanke an den Tod wird in dieser Weise, wie er ihn heute
fühlt, nicht vor seinem geistigen Auge stehen, und er wird „klar" sein,
weil dann der Druck der Fremdherrschaft nicht mehr auf dem Vaterlande
lastet, sondern weil die Deutschen dann einer glücklicheren und ruhigeren
Zeit entgegensehen können. Zwar ist dieser Morgen noch fern, aber alle
«
wmmmmmmmm
622
III. Lyrische Gedichte.
Frommen hoffen mit Zuversicht aus ihn, und die Engel sehen ihn schon.
Diese Zuversicht ermutigt auch unsern Krieger so, daß er über die noch
kommenden Kämpfe hinwegschaut nach dem wonnevollen Friedens- und
Freiheitstage und diesen sehnsüchtig herbeiwünscht. „Einen Tag der Fülle"
nennt ihn der Dichter, weil dann das volle Glück: „Recht, Sitte, Tugend,
Glauben und Gewissen" in Deutschland wiederkehren wird, und einen
Freiheitstag, weil dann die Tyrannei vernichtet, die alte deutsche
Freiheit wieder hergestellt sein wird.
Str. 4. Der Krieger wird durch den Gedanken an den Freiheits-
tag ganz entzückt und malt sich ihn als ein Siegesfest in seiner ganzen
Herrlichkeit aus. Der Klang der Glocken von den Türmen findet einen
Widerhall in dem Klange der menschlichen Stimme und des Herzens, und
nach den Stürmen des Krieges wird heilige Ruhe des Friedens und Liebe
(anstatt Haß) und Lebenslust (anstatt der Todesgedanken) in Deutschland
einkehren. Und wenn dann der Siegesjubel ertönt und die Helden-
taten der Tapfern gepriesen werden, dann kann auch unser Kriegs-
mann sagen: „Und wir, ihr wackern Degen (Kämpfer), wir waren auch
dabei."
II. Gliederung. Str. 1. Das Erwachen des Kriegers am Morgen.
Str. 2. Das Gebet des Kriegers. Str. 3. Der Krieger hofft auf
einen Freiheitstag und sieht (Str. 4) im Geiste den Jubeltag des
Friedens.
III. Hauptgedanke. Die Hoffnung auf Sieg wird bei einem Kriegs-
marine fast zur Gewißheit, wenn er auf Gottes Beistand bauet und die
Überzeugung gewonnen hat, daß er für eine gerechte Sache kämpft. —
IV. Sprachliche und poetische Darstellung. Die Sprache in unserm
Liede ist einfach und leicht verständlich, entbehrt aber auch des Schmuckes
nicht. Zunächst fallen dem Leser einige schöne, wohlklingende Wort-
verbindungen auf, die zugleich sehr bezeichnend sind, wie z. B. Sieges-
kränze, Waffenfeld, Christenbanner, Freiheitstag, Siegesgeschrei. Ebenso
bezeichnend sind einige bildliche Ausdrücke wie „vom blauen Zelt":
der Himmel ist hier mit einem Zeltdache verglichen, wie solche im Biwak
ebenfalls benutzt werden. Von eigentümlicher Schönheit sind auch die
schmückenden Beiwörter in „Ein Morgen mild und klar": mild
ist im Gegensatze zu dem blutigen Schlachtgetümmel hier gebraucht und
bezeichnet die Lindigkeit, Sanftheit und Freundlichkeit; klar steht im
Gegensatz zu dem Trüben und Unsichern und bezeichnet das Reine, Ge-
wisse, Leuchtende, Strahlende. Der attributive Genetiv in „Tag der Fülle"
ist ebenfalls sehr wirkungsvoll und bezeichnend; „Fülle" erinnert an
Güter wie Freiheit, Tugend, Glück, Frieden, welche nach dem Siege in
reichstem Maße dem deutschen Volke zuteil werden sollen. Der Freiheits-
tag scheint sonder Hülle wie die strahlende Sonne ohne Wolkendecks
auf jeden deutschen Mann. Auch das Versmaß ist vortrefflich für den
Inhalt geeignet, denn der jambische Vers ist der „Vers des sehnsüchtigen
Gefühls, des kämpfenden Willens".
Arndt: Gotteskrieger. — Hauff:.Reiters Morgenlied.
623
Vergleiche: LZ. Gotteskrieger.
E. M. Arndt. Gedichte. Berlin 1865. S. 228.
1. Frisch auf, ihr deutschen Scharen,
frisch auf zum heil'gen Krieg!
Gott wird sich offenbaren
im Tode und im Sieg;
mit Gott, dem frommen, starken,
seid fröhlich und geschwind,
kämpft für des Landes Marke»,
für Eltern, Weib und Kind!
2. Frisch aus! ihr tragt das Zeichen
des Heils an eurem Hut:
dem muß die Hölle weichen
und Satans Frevelmut,
wenn ihr mit treuem Herzen
und rechtem Glauben denkt,
für wieviel bittre Schmerzen
sich Gottes Sohn geschenkt.
3. Drum auf für deutsche Ehre,
du tapfres Teutsgeschlecht!
Der beste Schild der Heere
heißt Vaterland und Recht;
als schönste Losung klinget
die Freiheit in das Feld;
wo sie die Fahne schwinget,
wird jedes Kind ein Held.
4. Druni auf, ihr deutschen Scharen,
frisch auf zum heil'gen Krieg!
Gott wird sich offenbaren
im Tode und im Sieg:
und wenn die ganze Hölle
sich gösse über euch,
ihr spült sie, wie die Welle
das Sandkorn, weg von euch.
A. Ähnliches. Beide Gedichte feuern den Krieger zu mutigem
Kampfe an, nennen den Freiheitskrieg einen heiligen Krieg (warum?),
sprechen vom Tode und vom Siege, atmen festes Vertrauen auf Gottes
Beistand und nennen das Kreuz als ein Zeichen des heiligen Krieges.
ö.Unterschiede. Während das Kriegslied nach der Aufforderung
an die Krieger ein Gebet und einen Wunsch für den Frieden enthält,
spricht das Lied von Arndt neben der Aufforderung noch die Hoffnung
aus, daß Gott den Kämpfern beistehen wird. Suche in jedem Gedichte
eigentümliche Züge! W. D.
233. Reiters Morgenlied.
Wilh. Hauff. Sämtliche Werke. Stuttgart. 12. Ausgabe. B. I. S. 44.
1. Morgenrot!
leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
dann muß ich mein Leben lassen,
ich und mancher Kamerad. Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
I. Vermittlung des Verständnisses. Str. 1. Ein Reiter im Feld-
lager wird uns hier vorgeführt. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen,
nur im Osten rötet sich der Himmel, da erhebt sich der Reitersmann von
seinem feuchten und kalten Lager. Das Herz voll banger Sorge, sieht
er das Morgenrot, den Verkündiger des Tages, immer heller werden.
Ihm scheint es heute Blut zu bedeuten, denn er fragt:
„Morgenrot! leuchtest mir zum frühen Tod?"
Es ist ein Tag, an welchem der Reiter eine Schlacht erwartet, und
da allerdings ist die bange Frage, ob er einen frühen Tod erleiden
werde, gerechtfertigt. Wie die Sonne des Morgens gleichsam in fügend-
624
III. Lyrische Gedichte.
licher Schönheit prangt, so gedenkt auch der Soldat an seine Jugend, an
sein kurzes, heiteres Leben, das er lassen soll.
„Bald wird die Trompete blasen" usw.
Der durchdringerlde Ton der Trompete — vgl. die Trommel in
„Der gute Kamerad" — weckt die schlafenden Reiter und ruft sie zur
Schlacht. Die Trompete gibt das Zeichen zum Angriff und ist deshalb
dem Reiter ein Mahnruf, daß er, wie viele Kameraden, dem Tode ent-
gegensieht. Das betrübt den Jüngling, und noch größer wird der Schmerz,
wenn er daran denkt, daß noch „mancher Kamerad" den Tod auf dem
Schlachtfelde sterben muß.
Str. 2. „Kaum gedacht, war der Lust ein End' gemacht!"
Von dem bevorstehenden Tode wenden sich die Gedanken des Jüng-
lings noch einmal auf die Vergangenheit. Wie schnell vergeht die Lust
der Jugend, die Lust des Reiters; kaum hat man an sie gedacht, so ist sie
schon vorüber. Freud' und Leid, Leben und Tod, wie schnell wechseln sie!
„Gestern noch auf stolzen Rossen",
d. i. aus edlen Pferden, die gleichsam auf ihre schön gestalteten, kräftigen,
jugendlichen Reiter stolz sind, so wie diese auf ihre Rosse. Schnell aber
ist das Gestern entflohen, drum heißt es weiter:
„Heute durch die Brust geschossen, morgen in das kühle Grab".
Zwischen gestern, heute und morgen, welche Gegensätze! Das
blühende, jugendliche Leben, der schnelle Tod und das kühle Grab! Dieser
schnelle Wechsel ist das Los des Reiters in der Schlacht.
Str. 3. „Ach, wie bald schwindet Schönheit und Gestalt!"
Der Gedanke an den frühen Tod erinnert den Reiter an die Hin-
fälligkeit alles Irdischen. Nicht bloß den jugendlichen Reiter kann der
plötzliche Tod wegraffen, sondern alles, was schön und reizend ist, kann
bald ein Ende nehmen. Das schmerzt den Reiter, drum seufzt er: „Ach!"
In der Überzeugung, daß alle Schönheit schnell vergeht, spricht er nicht
nur von sich, sondern von der gesamten Jugend:
„Prahlst du gleich mit deinen Wangen" usw.
Mancher Jüngling, manche Jungfrau p r a h l t, d. h. trägt zur Schau
die jugendliche Schönheit (Milch und Purpur: die Weiße der zarten Haut
mit dent durch das pulsierende Blut hervorgebrachten Rot); doch wie bald
sind diese Vorzüge verloren! Es geht ihnen wie den Blumen, die da
frühe blühen und bald welk werden. Wer gedächte hier nicht des Sprich-
wortes: „Heute rot, morgen tot!"
Diese dritte Strophe bildet einen schönen Übergang von der zweiten
zur vierten. In der zweiten redet der Reiter von seinem eigenen Tode,
in der dritten von der Vergänglichkeit des Irdischen im allgemeinen, und
nun in der vierten sagt er:
„Darum still füg' ich mich, wie Gott es will".
Jetzt ist die Trauer und Wehmut verklungen; der Reiter hat den
richtigen Tröster gefunden; er setzt seine Hoffnung auf den allein, der
Hauff: Reiters Morgenlied. 625
helfen kann, auf Gott. Mit treuer Ergebung unterwirft sich der brave
Reiter dem Willen des Herrn. Das gibt ihm neuen Mut:
„Nun, so will ich wacker streiten" usw.
Dieser Gedanke an Gott läßt den Reiter kaum noch an den Tod
denken; ja er glaubt jetzt in seinem Vertrauen auf Gott sogar an die
Möglichkeit, daß er nicht fällt. Mit ruhigem Herzen und mit dem festen
Vorsatze, seine Pflicht als Soldat zu tun, geht er nun in die Schlacht.
Und wenn ich dann wirklich sterbe, meint er, nun dann sterbe ich als
braver Reitersmann für mein teures Vaterland, das mich dann gewiß
auch in gutenl Andenken behalten wird.
II. Gliederung. Das kleine, echte Volkslied enthält die Gedanken
eines ernsten Kriegers vor der Schlacht, und zwar Str. 1: die bange
Sorge vor dem nahen Tode, Str. 2: den Rückblick und Vorblick auf
gestern, heute und morgen, Str. 3: den Gedanken an die Vergänglichkeit
alles Irdischen, und Str. 4: den getrosten Mut und die fromme Er-
gebung in Gottes Willen.
III. Nutzanwendung für Herz und Leben. Auch in der Jugend sollen
wir an das Sprichwort denken: Heute rot, morgen tot. Der Krieger
soll, ehe er zur Schlacht geht, sich dem Willen Gottes ergeben, dann wird
er Mut zu wackerm Streiten haben.
IV. Sprachliche und poetische Darstellung. Das Gedicht übt durch
seine ernsten, treffenden Gedanken und seine Kürze einen tiefen Eindruck
auf den Hörer aus; dazu tragen besonders auch der Bau der kurzen, oft
abgekürzten Sätze und die schön angebrachten Gegensätze viel bei. Die
schönste Melodie bleibt die bekannte einfache Volksweise in 6-äur, wie
sie in Erks, Hentschels u. a. Liedersammlungen gegeben ist.
V. Vergleiche: „Reiters Morgenlied" und „Der gute Kamerad" von
Uhland (Bd. I, Nr. 215). 1. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte sind in
Form eines Selbstgesprächs abgefaßt, sprechen von einer Schlacht und
erinnern an den Tod. Die geschilderten Krieger sind pflichttreue Männer,
die den Tod fürs Vaterland sterben.
2. Verschiedenheiten, a) In „Morgenrot" ist nur von einem
Krieger die Rede, während Uhland von zwei Kameraden spricht, b) H.
versetzt uns in die Zeit vor der Schlacht, U. in den Anfang der Schlacht,
e) H. gibt die Tageszeit bestimmt an, U. nicht, ck) H.'s Reiter ist noch
jung („Prahlst du gleich mit" usw.), U. sagt nichts darüber, e) U. erzählt
den Tod eines Kriegers, H. nur die Todesahnung des Reiters vor der
Schlacht. I) H.'s Krieger ist ein Reiter, U.'s Krieger sind Fußsoldaten,
g) H. führt in seinem Gedichte den Hauptgedanken durch: „Der Soldat
soll wohl vor der Schlacht an den Tod denken, aber er muß mit getrostem
Mut und in frommer Ergebung wacker streiten; dann darf er sich eines
seligen Sterbens und eines guten Andenkens im Vaterlande getrösten."
U.'s Gedichte liegt der Gedanke zugrunde: „Die Liebe zum Freunde ist
etwas Hohes und Schönes, aber über derselben steht die Erfüllung der
Pflicht." .- W. D.
AdL. II. 8. Aufl.
40
626
III. Lyrische Gedichte.
234. Der Trompeter an der Katzbach.
Jul. Mosen. Sämtliche Werke. Leipzig 1863. 1. S. 16.
1. Von Wunden ganz bedecket,
der Trompeter sterbend ruht,
an der Katzbach hingestrecket;
der Brust entströmt das Blut. Usw.
(Das Gedicht steht in allen Lesebüchern.)
1. Erläutrrungsfragen. Was weißt du von der Schlacht an der
Katzbach am 26. August 1813? Was hat der Trompeter zu tun?
(Mit seiner Trompete bläst oder schmettert er die Signale oder
Zeichen zum Angriff, zum Sammeln, zum Rückzug usw.) Wann bläst
er Viktoria? (Nach erfochtenem Siege.) Welches Geschick hatte den
Trompeter in unserm Gedichte getroffen? Welches Verlangen läßt ihn
nicht sterben? Welcher wohlbekannte Klang dringt oder bricht zu seinem
Ohre? (Siegesrufe.) Warum sitzt er wie ein steinern Bild auf dem
Pferde? (Die Augen sind halb gebrochen, die Glieder nur von einem
eisernen Willen starr und gerade, wie von einem Krampf gehalten.) Wie
wetterte er „Viktoria!" in das Land? (Mit Aufbietung seiner letzten
Kraft bläst er überlaut das Signal: Sieg, Sieg!) Was bedeutet die
Wiederholung des Wortes „Viktoria"? (Auf dem ganzen Schlachtfelde
wird es von Trompeten und Menschenstimmen wiederholt.) Wovon ist
ihn: das Herz zersprungen? (Von der übermenschlichen Anstrengung
und von der Freude über den Sieg.) Warum sammelt sich's ganze Re-
giment um den toten Trompeter? (Durch sein Viktoriablasen hat er den
Feinden Entsetzen, den Freunden Mut und Siegesfreudigkeit ins Herz
geblasen, sich aber ein Ende im Siegesjubel bereitet.) Wer ist der Feld-
marschall? Warum nennt er das Ende selig? (Der Trompeter ist
in Erfüllung seiner Pflicht und im Glanze des erfochtenen Sieges heim-
gegangen.)
II. Vertiefung. 1. Gesamtbild: Der Trompeter, umgeben von
seinem Regiment. (Weites Schlachtfeld. Die gelben, angeschwollenen
Fluten der Katzbach mit treibenden Franzosenleichen. Flüchtige Franzosen
stieben nach allen Seiten auseinander. Tote und Verwundete, Kanonen
und Wagen bedecken das Schlachtfeld. Ein Reiterregiment hat einen
Kreis gebildet. In der Mitte steht mit gesenktem Kopfe ein Streitroß.
Daneben liegt der Reiter mit gebrochenen Augen, aber einem freudigen
Zuge in dem erblaßten Antlitz. Die Hand hält krampfhaft die Trompete.
Die Brust ist mit Blut überströmt. Der greise Feldherr Blücher blickt
gerührt auf den toten Trompeter, der mit seinem schmetternden Viktoria-
blasen den Sieg entscheiden half.)
2. Gedankengang. Str. 1: Der Trompeter ist an der Katzbach
tödlich verwundet. Str. 2: Schmerzlich wartet er auf Siegesnachrichten.
Str. 3: Trotz bittrer Todesschmerzen hört er einen Klang wie Sieg!
aus deni Kampfgetümmel herübertönen. Str. 4: Mit letzter, krampfhafter
Anstrengung schwingt er sich auf sein Pferd. Str. 5: Schmetternd bläst
er Viktoria! Str. 6: Alle Trompeten und Stimmen hallen Vik-
Set) cur Un: Treuer Tod.
627
toria! im Echo wider. Str. 7: Tot sinkt hieraus der Trompeter vom
Pferde. Str. 8: Das ganze Regiment mit dem Feldmarschall an der Spitze
gibt dem toten Helden die letzte Ehre.
Grundgedanke: Selig, in der Erfüllung der Pflicht und im Be-
wußtsein des Sieges zu sterben!
III. Vergleiche mit dem „Trompeter an der Katzbach" (I)
„Reiters Morgenlied" v. Hauff (II)!
A. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte haben einen patriotischen Inhalt.
Sie zeigen uns tapfere, pflichttreue Reiter, mit Todesgedanken beschäftigt.
Stolze Rosse, getroffene Reiter, Trompetenklang, Vergänglichkeit der
menschlichen Kraft, Pflichttreue bis ans Ende und Gottergebenheit sind
in beiden Gedichten erwähnt. (Weise nach, in welcher Weise!)
B. Verschiedenheiten. 1. Hauptinhalt. II ist das Morgenlied,
I der Schwanengesang eines Reiters.
2. Ort und Zeit. II führt uns früh beim Aufbruch des Heeres
in das Lager, I auf das Schlachtfeld an der Katzbach nach erfochtenem
Siege. —
3. Personen. II zeigt uns einen braven Reiter inmitten seiner
Kriegskameraden bei frommen Morgenbetrachtungen, I einen tapfern
Trompeter, der den Heldentod gestorben ist, von seinen Kameraden um-
geben.
4. Gedanken gang. In II sieht ein Reiter ahnungsvoll die Schlacht,
ben Tod, die Vergänglichkeit aller irdischen Kraft und Schönheit, gelobt
treue Pflichterfüllung und befiehlt Gott seine Seele. In I sehen wir die
Erfüllung jener Ahnungen. Die Schlacht tobt; der Trompeter ist zum
Tode getroffen; er stirbt selig in treuer Übung seiner Pflicht und wird
von seinen Kameraden und dem Feldherrn noch im Tode geehrt. (Was
der Reiter ahnte, das sehen wir beim Trompeter erfüllt.) Jener
spricht sich Mut ein; dieser verkündet seinen Kameraden sterbend den Sieg.
Jener lebt und kämpft, dieser kämpft und stirbt mit Gottvertrauen. Jener
erwartet ein ehrenvolles Andenken im Vaterlande, diesen ehrt das ganze
Regiment und der Feldmarschall. P.
233. Treuer Tod.
Georg Scheurlin. Gedichte. Ansbach 1852. S- 162.
1. Wir zogen miteinander,
Hornist und Musketier,
vier Arme, wenn wir stritten,
zwei Füße, wenn wir schritten,
ein Herz, wenn im Quartier.
da lag in seinem Blute
der treue und der gute,
der tapfre Landesknecht.
4. Und sprach: „Daß Gott genade,
mir kommt die letzte Not!
2. Wir hielten fest zusammen,
was immer mochte sein;
sobald mein Horn sich rührte,
da focht und da marschierte
der Brave hinterdrein.
Nun deck mich zu mir Rasen,
und tu das Lied mir blasen:
„Wohl starb er treuen Tod"!
3. Bis auf das Feld von Lützen,
da traf die Kugel recht,
5. Ich nahm ihn in die Arme,
die Augen schloß er sacht; —
ob er, ob ich geschieden? —
Wir lagen beid' in Frieden
und tief auf uns^die Nacht.
40*
628
III. Lyrische Gedichte.
6. Drauf deckt' ich ihn mit Nasen,
so wie er mir gebot,
und blies mit hellen Zähren
ihni übers Grab zu Ehren:
„Wohl starb er treuen Tod".
7. Als wir nun heimwärts zogen,
die Fahne flog im Wind —
da jauchzten Väter, Brüder,
da drängte durch die Glieder
ein Weib mit ihrem Kind.
8. Sie forschte rings und winkte
mit Augen tränenrot;
das Herz schier wollt' mir brechen,
ich blies — nicht konnt' ich spre-
chen —:
„Wohl starb er treuen Tod".
I. Vermittlung. Das Gedicht enthält die Erzählung eines Hornisten,
der mit einem Kameraden (Musketier, d. h. ein mit einem Fenergewehr,
einer Muskete, bewaffneter Fuß-Soldat) ins Feld zog und diesen in der
Schlacht bei Lützen verlor. Die einfache, schlichte Erzählung des braven
Musikers ist ein rührendes Loblied auf treue, hingebende Freundschaft.
Auch in den beiden ersten Strophen sind die Eigenschaften wahrer
Freundschaft angegeben. „Wir zogen miteinander"; wo der eine ging,
war auch der andere; Leid und Freud' teilten sie miteinander. „Vier
Arme, wenn wir stritten!" Diese vier Arme deuten an, daß einer für
den andern stritt und sie gleichsam von einem Geiste und Willen be-
seelt waren. „Zwei Füße, wenn wir schritten", will sagen, daß beide
nicht nur äußerlich nach dem Takte der Musik und der Trommel, sondern
auch innerlich mit den Gedanken und Empfindungen im gleichen Schritt
gingen. „Ein Herz, wenn im Quartier." Da gab es keinen Streit und
Neid, sondern was dem einen gefiel und wohltat, das war auch dem andern
eine Freude. Fand der eine einen guten Bissen, so teilte er ihn gewiß
mit dem andern. Sie waren, wie das Sprichwort sagt: „Ein Herz und
eine Seele". — Diese innige Freundschaft zeigte sich nach Str. 2 noch
darin, daß beide auch in der größten Gefahr („was immer mochte sein")
und wo es dem einen oder dem andern schwer wurde, fest zusammenhielten.
Da konnte es nicht fehlen, daß der Musketier, sobald das Horn des Freun-
des erklang, sofort zum Marschieren und Fechten bereit war.
Str. 3. Da kam es zur blutigen Schlacht*), und der gute, brave,
treue und tapfere „Landsknecht" (d. i. hier nur so viel wie Krieger, Kriegs-
knecht; denn eigentliche „Landsknechte" existierten nur bis Ende des
16. Jahrhunderts) wurde von einer Kugel tödlich verwundet. Er selbst
fühlt (Str. 4),, daß sein Tod nahe ist, und bereitet sich zum Abscheiden
vor. Zunächst empfiehlt er sich als frommer Soldat der Gnade Gottes
inl schweren Todeskampse („letzte Not"); hierauf verkündigt er dem
Kameraden seinen letzten Willen:
*) Welche von den beiden Schlachten bei Lützen gemeint sei, ist nicht
gesagt. Der Ausdruck „Hornist" läßt schließen, daß es nicht die Schlacht
von 1632 gewesen ist, weil die Hornmusik erst am Ende des 17. Jahrhun-
derts beim Militär eingeführt wurde; dagegen waren die Musketiere
gerade ini 30 jährigen Kriege eine wichtige Truppengattung. Die Schilderung
der Heimkehr (Str. 7) stellt es außer Zweifel, daß die Schlacht von 1813 ge-
meint ist. Im 30 jährigen Kriege erfolgte die Heimkehr der Soldaten erst
16 Jahre nach der Schlacht von Lützen und gewiß unter andern Umständen.
Scheurlin: Treuer Tod.
629
„Nun deck mich zu mit Rasen, und tu das Lied mir blasen: Wohl
starb er treuen Tod"!
Str. 5. Der erschrockene Kamerad trägt den Sterbenden in seinen
Armen vom Schlachtfelde und wacht bei der Leiche. Seinem tiefen Schmerze
gibt er Ausdruck in dem die Erzählung unterbrechenden Satze: „Ob er,
ob ich geschieden?" und will damit sagen, daß er, von Schreck und Schmerz
betäubt, sich seiner selbst kaum bewußt ist.
Str. 6. Trotz der tiefen Trauer vergißt aber der Freund den letzten
Willen des lieben Toten nicht; er deckt ihn mit Rasen zu und bläst unter
bitterem Weinen das Lieblingslied desselben.
Str. 7. Der Krieg ist beendet; die Scharen ziehen heimwärts mit
wehenden Fahnen und werden von den Ihrigen jauchzend empfangen.
Auch der brave Musketier wird von Weib und Kind erwartet. Da er-
kennt (Str. 8) die Frau den Kameraden ihres Mannes und „winkt ihn:
mit den Augen tränenrot". Das ist für unsern Hornisten zu viel. Der
Schmerz ist so überwältigend, daß ihm das Herz schier brechen will und
er kein Wort zu sprechen imstande ist. Nur sein Horn verkündigt der
jammernden Frau: „Wohl starb er treuen Tod!" Denn treu war er als
tapferer Soldat seiner Fahne, treu dem Freunde, treu dem Weibe
und Kinde und treu seinem Gott. —
II. Vertiefung. 1. Gliederung. Str. 1 und 2. Schilderung der
innigen Freundschaft zwischen Hornist und Musketier. Str. 3. Der Mus-
ketier fällt in der Schlacht. Str. 4. Der letzte Wille des Sterbenden.
Str. 5 und 6. Die Ausführung des letzten Willens durch den Hornisten.
Str. 7 und 8. Die Rückkehr in die Heimat.
2. Ort und Zeit der Handlung. Zuerst sehen wir die beiden
Kameraden auf dem Marsche, dann in der Schlacht bei Lützen und
zuletzt den einen in der Heimat.
3. Charakter der Freunde. Beide waren vereint im Kampf,
auf den: Marsche und im Quartier, in Leid und 'Freud'. Der Gefallene
wird als treu, gut, brav und fromm geschildert; der andere bewies
noch nach dem Tode des Kameraden seine Liebe und Treue, indem er
seinen letzten Willen bis ins kleinste erfüllte und der trauernden Witwe
die Kunde des Todes überbrachte.
4. Poetische und sprachliche Darstellung. Die Sprache ist
einfach und ohne bildliche Redensarten, wie sie für ein ernstes Gedicht,
das von einfachen Kriegsleuten erzählt, allein passend ist. Str. 4: „tu
blasen" ist ein volkstümlicher Ausdruck.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Das Gedicht ist eine Verrherrlichung der Freundschaft und will uns den
Gedanken nahe führen: Wahre Freundschaft beglückt im Leben und über-
dauert den Tod. — Ein treuer Freund ist Goldes wert.
2. Verwandtes. Der Postillon von Lenau.
3. Vergleichung des Gedichtes mit /.Der gute Kamerad" von
L. Uhland (Band I, Nr. 215).
630
III. Lyrische Gedichte.
4. Worin ähneln sich beide Gedichte? 3.) Beide Gedichte sprechen
von Kriegern, die durch innigste Freundschaft miteinander verbunden
waren, b) In beiden Gedichten fällt der eine der Freunde durch eine
feindliche Kugel, c) In beiden Gedichten spricht der Überlebende seinen
Schmerz über den Tod des Kameraden aus.
5. Wodurch unterscheiden sich beide Gedichte? a) Das Gedicht von
Uhland ist kürzer gefaßt als „Treuer Tod", b) In U.'s Gedichte sind
die beiden Kameraden zwei Soldaten von gleicher Art; in Scheurlins
Gedicht ist der eine Hornist, der andere Musketier, e) In U.'s Gedichte
ist die Zeit, in welcher das Ereignis geschah, nicht angegeben; Sch. sagt
uns, daß der Musketier in der Schlacht bei Lützen gefallen ist. ä) U.
schließt mit dem Abschiede auf dem Schlachtfelde; der Hornist bringt die
Kunde von dem Tode des Musketiers in die Heimat. W. D.
236. Wer ist ein Mann? (1813.)
Ernst Moritz Arndt. Gedichte. Berlin 1865. S. 270.
1. Wer ist ein Mann? Wer beten
kann
und Gott dem Herrn vertraut;
wenn alles bricht, er zaget nicht:
dem Frommen nimmer graut.
2. Wer ist ein Mann? Wer glauben
kann
inbrünstig, wahr und frei;
denn diese Wehr bricht nimmer-
mehr,
sie bricht kein Mensch entzwei.
3. Wer ist ein Mann? Wer lieben
kann
von Herzen fromm und warm;
die heil'ge Glut gibt hohen Mut
und stärkt mit Stahl den Arm.
4. Dies ist der Mann, der streiten kann
für Weib und liebes Kind;
der kalten Brust fehlt Kraft und Lust,
und ihre Tat wird Wind.
5. Dies ist der Mann, der sterben kann
für Freiheit, Pflicht und Recht;
dem frommen Mut deucht alles gut,
es geht ihm nimmer schlecht.
6. Dies ist der Mann, der sterben kann
für Gott und- Vaterland;
er läßt nicht ab bis an das Grab
mit Herz und Mund und Hand.
7. So, deutscher Mann, so, freier Mann,
mit Gott, dem Herrn, zum Krieg!
Denn Gott allein mag Helfer sein,
von Gott kommt Glück und Sieg.
I. Ertäuterungsfragen. Welche Frage beantwortet das Gedicht? Was
tut ein rechter Mann erstens? (Er betet, vertraut Gott und verzagt
nicht in Trübsal.) Warum konnte 1813, als Arndt dies Lied dichtete,
mancher zagen und Grauen empfinden? (Napoleon war mit neuen
Heeren nach Deutschland gekommen, hatte die Verbündeten durch die
Schlacht bei Lützen und Bautzen zurückgedrängt und die meisten deutschen
Fürsten derart eingeschüchtert, daß sie kein Bündnis mit Preußen wagten.)
Wo ist die rechte Quelle unseres Mutes? — Was verlangt der Dichter!
zweitens von dem Manne? (Er soll glauben a) inbrünstig, d. h. innig,
heiß, d) wahr, d. h. ohne Heuchelei, 0) frei, d. h. ohne Zwang, freiwillig.)
Warum ist der Glaube eine unzerbrechliche Wehr (feste Waffe)?
(Weil er uns mutig und unverzagt macht. Der Mutlose unterliegt stets.
Arndt: Wer ist ein Mann?
631
Mut und Ausdauer überwinden alle Hindernisse.) — Was wird drittens
von einem Manne gefordert? (Er soll fromm und warm lieben.
Alle Liebe soll aus der Gottesliebe quellen und zu Gott führen; sie soll
innig, eine heilige Glut sein.) Was verleiht solche Liebe dem Herzen und
dem Arm? (Dem Herzen Mut, dem Arme Stahl, d. h. Kraft und Stärke.)
Wofür soll der Mann streiten und kämpfen? (Für Weib und Kind, die
liebsten, besten und heiligsten Güter.) Was macht ihn stark? (Gebet,
Gottvertrauen, Glaube und Liebe.) Was fehlt einer kalten Brust?
(Jene inneren Güter und damit Kraft und Freudigkeit.) Wann ist eine
Tat Wind? (Wenn sie leere Prahlerei bleibt oder ohne Kraft, Nach-
druck und Wirkung ist.) — Wozu ist ein rechter Mann fähig? Was be-
geistert ihn dazu? (Die Freiheit — vom Despotenjoche, die Pflicht —
der Vaterlandsliebe, das Recht des Gesetzes — als Gegensatz der Willkür.)
Warum geht's dem frommen Mute (Gemüte, Gesinnung) selbst in Wider-
wärtigkeiten nicht schlecht? (Er sieht in allein Gottes weise Führung und
unterwirft sich chr willig. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum
besten dienen. Röm. 8, 28.) — Wofür kann der rechte Mann noch ster-
ben? (Für Gott, d. h. seinen Glauben, und das Vaterland, den Inbegriff
aller lieben und heiligen Güter.) Wie lange dauert diese Gesinnung?
(Lebenslang.) Wie dient er Gott und dem Vaterlande mit Herz, Mund
und Hand? (Im Herzen die Liebe, im Munde das Bekenntnis, das be-
geisterte Wort, in der Hand die befreiende Tat.) — Was bedeutet das
zweimalige „so" in Str. 7? (So und nicht anders, in dieser Art.) Warum
heißt der Mann ein deutscher und ein freier? Warum will er mit
Gott in den Krieg ziehen? Wann hilft uns Gott? (Wenn wir im Rechte
und der Hilfe wert sind und unsere Schuldigkeit treulich tun.)
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Str. 1. Der rechte Mann
betet, vertraut Gott und zagt nicht im Unglück. Str. 2. Sein Glaube ist
seine beste Wehr. Str. 3. Seine Liebe ist seine beste Stärke. Str. 4. Die
Liebe macht stark, die Gleichgültigkeit schwach. Str. 5. Der fromme Mut
ist gottergeben und selbst in Widerwärtigkeiten nicht unglücklich. Str. 6.
Der rechte Mann ist treu und weiß für Gott und Vaterland zu sterben.
Str. 7. Er stellt Kampf und Sieg Gott anheim.
2. Gliederung. A. Str. 1—3. Wer ist ein rechter Mann? Der
betet (Str. 1), glaubt (Str. 2) und liebt (Str. 3). B. Str. 4—6. Der
rechte Mann kämpft und stirbt für Weib und Kind (Str. 4), für Frei-
heit, Pflicht und Recht (Str. 5), für Gott und Vaterland (Str. 6). C.
Str. 7. Als deutscher Mann, als freier Mann zieh mit Gott in den Krieg!
Grundgedanke. Mit Gott — mächtig, ohne ihn — ohnmächtig!
Der rechte deutsche Mann ist ein frommer Mann, der in Gott seinen
besten Bundesgenossen hat.
3. Eigentümlichkeit. Dreimal kehrt die Frage der Überschrift
wieder und dreimal die Antwort: „Dies ist der Mann!" Die letzte Strophe
faßt alles zusammen und heißt solch freien, frommen, deutschen Mann
zum heiligen Kriege ausziehen. ?.
632
III. Lyrische Gedichte.
237. Gebet während der Schlacht.
Theodor Körner. Leyer und Schwert. Karlsruhe 1828. S. 37.
1. Vater, ich rufe dich!
Brüllend umwölkt mich der Dampf
der Geschütze,
sprühend umzucken mich rasselnde
Blitze.
Lenker der Schlachten, ich rufe dich,
Vater, du führe mich!
2. Vater, du führe mich!
Führ' mich zum Siege, führ' mich
zum Tode!
Herr, ich erkenne deine Gebote!
Herr, wie du willst, so führe mich!
Gott, ich erkenne dich.
3. Gott, ich erkenne dich!
So im herbstlichen Rauschen der
Blätter
als im Schlachtendonnerwetter,
Urquell der Gnade, erkenn' ich dich.
Vater, du segne mich!
4. Vater, du segne mich!
In deine Hände beseht' ich mein Leben,
du kannst es nehmen, du hast es ge-
geben;
zum Leben, zum Sterben segne mich!
Vater, ich preise dich!
5. Vater, ich preise dich!
's ist ja kein Kampf für die Güter der
Erde, -
das Heiligste schützen wir mit dem
Schwerte:
drum, fallend und siegend, preis' ich
dich.
Gott, dir ergeb' ich mich!
6. Gott, dir ergeb' ich mich!
Wenn mich die Donner des Todes
begrüßen,
wenn meine Adern geöffnet fließen:
dir, mein Gott, dir ergeb' ich mich,
Vater, ich rufe dich!
1. Geschichtliches. Es war wenige Tage vor dem Gefecht bei Wöbbelin,
am 28. August 1813, als Theodor Körner, der begeisterte Sänger der
Freiheitskriege, der Dichter von „Leyer und Schwert", aus Vorposten
befindlich, sich unter eine Eiche gelagert hatte und hier das oben stehende,
echt christliche „Gebet während der Schlacht" dichtete.
II. Vertiefung. 1. Lagebild. Des Dichters Phantasie versetzt ihn
mitten in eine heiße Schlacht hinein. Er stellt sich vor und spricht es
aus, welche Regungen und Gesinnungen seine Seele durchziehen, während
er mit aller körperlichen Kraft, mit Auge, Hand, Fuß und Mund am
Kampfe sich beteiligt. Das Gebet des Dichters gibt daher ein beredtes
Zeugnis davon, daß Körner nicht nur ein begeisterter Dichter und Patriot,
sondern auch ein echt christlicher Krieger war.
2. Hauptgedanke und Gliederung des Inhalts. Welche
Gesinnungen durchziehen das Gemüt eines echt christlichen
Streiters während der Schlacht?
A. Fester, lebendiger Glaube an Gott: a) Vater, ich rufe dich;
b) Gott, ich erkenne dich!
B. Ehrfurcht vor Gott. a) Herr, ich erkenne deine Gebote;
b) Vater, ich preise dich.
0. Innige Liebe, a) Vater, ich rufe dich (wie ein Kind einen
Vater ruft); b) Vater, du segne mich! (Wie eine liebende Mutter ihren
Sohn segnet.)
v. Unerschütterliches Vertrauen, a) Vater, du führe mich,
sei mein Heerführer, der Feldherr aller Feldherren! b) Herr, wie du
willst, so führe mich! e) Der Herr hat mir das Leben gegeben, der Herr
kann es mir wieder nehmen. Der Name des Herrn sei gelobt!
Schumacher: Heil dir im Siegerkranz.
633
E. Völlige Ergebung in den Willen Gottes, a) In deine
Hand befehl' ich mein Leben! b) Gott, dir ergeb' ich mich! Str. 6 bis
zum Ende, e) Zum Leben zum Sterben segne mich! ä) Drum, fallend
und siegend, preis' ich dich.
E. Wahrhaft christliche V aterlandsliebe: a) 's ist ja kein
Kampf für die Güter der Erde: um Geld und Gut, um Land und
Leute, uni Ehr' und Ruhm, sondern b) für geistige Güter: mit Gott
für König und Vaterland, für Freiheit und Selbständigkeit der deutschen
Nation, für unsere Muttersprache, für unsere Religion.
3. Schönheiten der Dichtung, a) Die von hehrer Begeisterung
und wahrer Gottinnigkeit zeugende Sprache, b) der der Ode ähnliche Stil,
c) der feurige Rhythmus und 6) der schließende Kettenreim, durch welchen
die einzelnen Strophen, wie die Glieder einer Kette, zu einem einheit-
lichen Ganzen verbunden sind.
III. Schlußbemerkung: Eine wörtliche Erläuterung und zergliedernde
Behandlung des „Schlachtgebets", sowie auch eine Verknüpfung von
irgendwelchen sprachlichen Übungen mit demselben ist in jedem Falle zu
unterlassen, indem sonst der tiefe sittliche Eindruck, den diese Dichtung
auf unverdorbene Kindergemüter ausübt, gänzlich zerstört werden würde.
R. D.
238. Heil dir im Siegerkranz.
B- Schumacher nach Harries.
l. Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, König, dir! Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
I. Geschichtliches. Über die Entstehung des Liedes sind die Literar-
historiker lange im unklaren gewesen. Erst in neuerer Zeit ist durch
die Untersuchungen H. Hossmanns von Fallersleben und vr. Ochmanns
Klarheit in die Sache gekommen. Der erstere spricht sich in seiner Schrift
„Unsere volkstümlichen Lieder" und der letztere in dem Büchlein „Ver-
anschaulichung der Entstehung des preußischen Volksliedes „Heil dir im
Siegerkranz" darüber aus.
Nach diesen beiden Schriften hat H. Harries (geb. 1762 zu Flens-
burg und gestorben 1802 als Prediger in Brügge bei Kiel) am 27. Jan.
1790 im Flensburger Wochenblatte folgendes Lied veröffentlicht:
„Lied für den dänischen Unterthan,"*)
zu seines
Königs Geburtstag (Christian VII.),
zu singen
in der Melodie des englischen Volksliedes:
*) Orthographie und Interpunktion der Lieder gleichen genau den von
vr. Ochmann gegebenen Abdrücken der Originale.
634
III. Lyrische Gedichte.
God save great George the King!
Heil dir, dem liebenden
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Christian, Dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Vater des Volks zu sein!
Heil, Christian, Dir!
Nicht Ross' und Reisige
sichern die steile Höh,
wo Fürsten stehn.
Liebe des Untertans,
Liebe des freien Manns
gründen den Herrscherthron
wie Fels im Meer.
Heilige Flamme, glüh',
glüh' und erlösche nie
fürs Vaterland!
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern
für Thron und Land.
Sei noch, o Christian, hier,
lange des Thrones Zier,
des Landes Stolz!
Eifer und Männertat
finde sein Lorbeerblatt
treu aufgehoben dort
an deinem Thron.
Tugend und Wissenschaft
hebe mit Mut und Kraft
ihr Haupt empor.
Jede geweihte Kunst
reife durch deine Gunst.
Jedes Verdienst erwärm'
an Deiner Brust!
Daurender stets zu blühn,
weh' unsre Flagge kühn
auf jedem Meer.
Alles, was ehrenvoll
leitet zu Bürgerwohl,
umfasse Dania
in ihrem Schoos!
Ha! wie so stolz und frei
schüttelt der nord'sche Leu
sein Mähnenhaar,
wirst über Land und Meer
flammenden Blick umher,
ob einer lüstern sei
sich ihm zu nahn!
Heil dir, dem liebenden
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Christian, Dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz,
Vater des Volks zu sein!
Heil, Christian, Dir! —
Drei Jahre später, am 17. Dezember 1793, wurde dieses Lied dem
Könige Friedrich Wilhem II. gewidmet, in der Spenerschen Zeitung ab-
gedruckt und mit einigen notwendigen Veränderungen versehen. Dieses
Lied lautet nach einer beglaubigten Abschrift so:
Berliner Volksgesang.
God save thè King.
Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, König, Dir!
Fühl in des Thrones Glanz
die hohe Wonne ganz:
Liebling des Volks zu sein! — Heil
Herrscher Dir!
Nicht Ross', nicht Reisige
sichern die steile Höh',
wo Fürsten stehn!
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Manns
gründen den Herrscherthron wie Fels
im Meer.
Heilige Flamme glüh',
glüh' und erlösche ni?
für's Vaterland!
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern für Thron
und Reich!
Handlung und Wissenschaft
hebe mit Mut und Kraft
ihr Haupt empor!
Krieger- und Heldentat
finde ihr Lorbeerblatt
treu aufgehoben dort an Deinem
Thron! —
Schumacher: Heil dir im Siegerkranz.
635
Sey Friedrich Wilhelm hier
lange der Preußen Zier,
des Landes Stolz!
Jede geweihte Kunst
reife durch deine Gunst!
Bürger-Verdienst erwärm' an deiner Brust! 8r.
Im Jahre 1801 erschien eine kleine Schrift: God save the King!
(Gott erhalte den König!) Ritual eines preußischen Volksfestes, nach den
Anordnungen der English ancient musical Society in London (Alter
englischer Musikverein) auf deutschen Boden verpflanzt von 8r. Dr. 6. R.
In dieser Schrift steht das von Sr. in der Spenerschen Zeitung 1793 ver-
öffentlichte Lied fast wörtlich, nur die erste Strophe beginnt:
„Heil, Friedrich Wilhelm, Heil!
Dem Landesvater Heil!
Glück, Segen Dir!"
und die 2. schließt: „Wie Fels in See'n!" In der 3. Str. lautet der
Schluß: „für Thron und Land", und in der 4. Strophe heißt der 3. Vers:
„Ihr Haupt zum Lohn". — In der Widmung dieser Schrift unter-
schreibt sich der Verfasser mit vollständigem Namen „B. G. S ch um a ch e r,
Dr. d. R., Senior der Vikarien im hochw. Hochstiste der freien Reichsstadt
Lübeck".
Hieraus ist nun sicher zu schließen, daß B. Schumacher das Flens-
burger Lied von Harries mit nur geringen Veränderungen hat nachdrucken
lassen. Daher sagt Dr. Ochmann mit vollem Rechte: „Das Geheimnis,
woher diese Gleichheit rühre, scheint mit B. G. Schumacher begraben
worden zu sein,.........es sei denn, daß es einem gelänge, nachzu-
weisen, beide nachgewiesenen Verfasser hätten einen und denselben dritten,
und zwar einen deutschen, abgeschrieben."
Hoffmann von Fallersleben, welcher in der genannten Schrift schon
1869 zu demselben Ergebnis, wie Dr. Ochmann 1878, gelangte, sagt
daselbst S. 99: „und so blieb dem Schuhmacher nur das Verdienst, das
Harriessche Lied für den dänischen Untertan mit kleinen Änderungen als
preußische Nationalhymne nach Berlin eingeführt zu haben." —
Der oben an erster Stelle angeführte Text ist seit langen Jahren
der gebräuchlichste und „schulgerechteste". Er findet sich als Beilage zu
Dr. Ochmanns Schrift und trägt die Unterschrift: „Berlin am 3. August
1833". Das Blatt ist mit dem Bilde Friedrich Wilhelms III. geziert
und enthält außer dem Texte kurze Erläuterungen zu jeder Strophe.
Diese Erläuterungen stammen von L. Schneider, Unteroffizier, und
A. W. Hayn, Wehrmann im 20. Landwehr-Regimente. L. Schneider,
der jüngst verstorbene Geh. Hofrat in Berlin, und sein Genosse A. W. Hayn
ließen dieses Blatt, wie aus den Erläuterungen hervorgeht, drucken, um
es am Geburtstage des Königs (3. August) an die Soldaten zu verteilen.
Die Veranlassung zur ersten Veröffentlichung (1793) mag folgende ge-
wesen sein: Der König Friedrich Wilhelm II. hatte den Feldzügen von
1792 und 93 gegen die Franzosen persönlich beigewohnt, und sein Heer
636
III. Lyrische Gedichte.
war besonders beim Schlüsse des Jahres 1793 glücklich im Felde ge-
wesen ; auch hatte sich dem Könige die Stadt Mainz ergeben müssen. Als
preußisches Volkslied fand aber das „Heil dir im Siegerkranz" erst nach
den Feldzügen 1813 bis 1815 Eingang im Volke und wird seitdem fast
bei jeder festlichen Gelegenheit, wo Preußen und Deutsche beisammen sind,
gesungen.
II. Erläuterungen. Str. 1. Kein preußischer König hat mehr An-
sprüche gehabt auf den Sieg er kr anz, d. h. das Ehrenzeichen für große
Kriegstaten, als der Kaiser und König Wilhelm I.; die Jahre 1864,
1866 und 1870—1871 haben uns allen die Beweise dafür geliefert. Wir
nennen den König auch mit Recht den Herrscher des Vaterlandes, und
jetzt nicht bloß des Preußenlandes, sondern von ganz Deutschland; denn
seit dem 18. Januar 1871 ist der König von Preußen auch deutscher
Kaiser. König Wilhelm I. war es gelungen, was unsere Väter so sehn-
lichst gewünscht haben — nämlich die Vereinigung von ganz Deutschland
zu einem großen, mächtigen Reiche. Darum singen nicht nur wir Preußen
„Heil, König, dir", sondern ganz Deutschland singt seitdeni mit uns:
„Heil, Kaiser, dir!" — Str. 1 fährt aber bittend fort: „Fühl' in des
Thrones Glanz" ustv.
Wie ein Familienvater sich glücklich fühlt, wenn er von seinen Kindern
geliebt wird, so muß sich auch ein Landesvater beglückt fühlen, wenn ihm
seine Millionen Untertanen von Herzen zugetan sind. Dieses Glück besitzt
auch unser jetziger König und Kaiser in hohem Grade, wie die freiwilligen
Liebesbeweise,' welche unserem Fürsten bei jeder Gelegenheit vom Volke
dargebracht werden, bekunden.
Str. 2. Wie viele Fürsten mußten von der steilen Höhe, d. h. vom
Throne, herabsteigen, obgleich sie Rosse und Reisige, d. h. berittene Kriegs-
leute, hatten! Wie oft haben z. B. in Frankreich trotz der Militärmacht
die Träger der Krone gewechselt! Der unglückliche Ludwig XVI. mußte
vom Throne aus das Schafott steigen, der allmächtig scheinende Napoleon I.
vom Kaisersitz in die Verbannung, Napoleon III. vom Throne in die
Gefangenschaft gehen.
Die rechte Stütze, der Felsengrund der Throne, ist in der zweiten
Hälfte der Strophe genannt: „Liebe des Vaterlands" usw.
Zunächst nennt der Dichter die Liebe des Vaterlands. Ein
Volk, das sein Vaterland liebt, hat auch Liebe zu dem Fürsten, der für
das Glück des Landes besorgt ist. Aber diese Liebe kann nicht befohlen
werden, sondern sie mich die Liebe des freien Mannes sein, d. h. eine
Liebe, die aus dem Herzen kommt und freiwillig dargebracht wird, ohne
jeglichen Zwang. Solche Liebe ist den preußischen Königen oft dargebracht
worden. Wir wollen uns nur erinnern an die Zeit von 1813 bis 1815
und an 1870 und 1871. Wie viele Jünglinge und Männer eilten da
freiwillig aus Liebe zu König und Vaterland zu dem Heere! Solche
Liebe aber gründet den Thron wie „Fels im Meer". Und wenn die
Wellen des Meeres den Fels noch so stark umbrausen, so schadet es diesem
doch nichts; denn ohnmächtig brechen sie sich an ihm und prallen von ihm
Schumacher: Heil dir im Siegerkranz.
637
ab. Dieses Bild, auf den Thron des Königs bezogen, will sagen: daß
wohl dann und wann Stürme über das Land kommen (vergleiche Preußen-
lied), aber die treue Liebe des Volkes verteidigt es und mit ihm den
Thron, so daß er niemals in seinem Grunde wankt.
Str. 3. Die Liebe fürs Vaterland ist eine heilige Flamme. Sie
soll — so verlangt es nicht nur der Dichter, sondern auch das göttliche
Gebot — niemals verlöschen und im Herzen jedes Preußen sortglühen
und fortdauern. Das Bild ist insofern schön gewählt, als man sich die
Liebe nicht ohne Wärme und Feuer denken mag; denn ein kaltes Herz
empfindet keine Liebe. Heilig aber nennt der Dichter die Vaterlands-
liebe, weil sie durch das Gebot etwas Göttliches, also Heiliges geworden
ist. Wenn diese Flamme aber glüht, spricht der Dichter weiter, so muß
sie auch Taten reifen: „Wir alle stehen dann" usw.
Str. 4. Wenn Fürst und Volk so zueinander stehen, wie die vorige
Strophe es schildert, dann muß auch zur Zeit des Friedens das Volk
glücklich sein, und dieses Glück zeigt sich zuerst, wenn Handlung ihr
Haupt mit Mut und Kraft emporhebt, d. h. wenn Handel und Gewerbe
blühen, wenn jeder Bürger des Staates durch seine Arbeit seinen Lebens-
unterhalt verdienen kann, dann wächst der Wohlstand im Lande, und die
Bürger sind äußerlich glücklich. Aber zu dem äußeren Glücke gesellt
sich noch das innere, welches durch das Gedeihen der Wissenscha ften
erblühet. Auch diese können nur zur Zeit des Friedens „ihr Haupt mit
Mut und Kraft emporheben"; denn zur Zeit des Krieges haben die
Fürsten weder Zeit noch Mittel für die Förderung der Wissenschaft und
Volksbildung. Was aber im Frieden die preußischen Fürsten getan haben,
das lehrt uns die Geschichte des preußischen Staates vom großen Kur-
fürsten an bis auf die Gegenwart. Diese Fürsten zogen nicht nur große
Gelehrte in ihre Staaten, sondern sie sorgten auch durch Anlegung von
Schulen dafür, daß das Volk bis in die untersten Schichten hinein einen
gewissen Grad von Bildung zu erlangen imstande war. Aber auch des
Wehr stand es gedenkt diese Strophe. Den Kriegern und Helden geziemt
für ihre Taten das Lorbeerblatt; das war bei den alten Völkern ein
hohes Ehrenzeichen. Unsere Tapfern dagegen erhalten Denkmünzen und
Orden als Auszeichnung für die treuen Dienste, welche sie im Kriege dem
Vaterlande und dem Könige geleistet haben; auch werden sie, falls sie
zur Arbeit unfähig sind, mit einem Gnadengelde (Pension) bedacht, da-
mit sie als Invaliden keine Not leiden. So sorgen also die Fürsten
Preußens für den Nähr-, Lehr- und Wehrstand*).
Str. 5. Hier bitten die treuen Landeskinder Gott zunächst um ein
langes Leben für den geliebten König. Aber sie bitten den Herrn auch,
daß der König die Zier (Zierde) des Volkes und der Stolz der Menschheit
bleiben möge. In edlem Sinne stolz kann man nur auf wirkliche Vor-
züge sein, und das Preußenvolk kann mit Recht auf seine Fürsten stolz
*) Im ersten Abdruck von 1793 steht diese Strophe, wie wir gesehen
haben, in der Form eines Wunsches und ist demgemäß zu behandeln.
638
III. Lyrische Gedichte.
fein; denn das Geschlecht der Hohenzollern hat eine so große Reihe von
kräftigen, tapfern nnd weifen Fürsten anfznweifen, wie kanm ein anderes
Fürstenhans.
Der Schlnß des Liedes wiederholt endlich noch einmal dieselbe Bitte;
wie die erste Strophe, daß der König sich, wie ein Vater über seine Kinder,
als Landesvater beglückt fühlen möge in der Liebe seines getrenen Volkes.
III- Gliederung. Str. 1. Glückwunsch und Bitte an den König von
Preußen. Str. 2. Nicht Kriegsmacht, sondern Volksliebe gründen und
befestigen die Throne der Fürsten. Str. 3. Wenn Volk und König in
Liebe verbunden sind, so stirbt jeder gern fürs Vaterland. Str. 4. Dann
werden auch Handel und Wissenschaft blühen und die tapfern Kriegs-
helden vom Könige und Lande geehrt werden. Str. 5 wünscht dem Könige
eine lange und gesegnete Regierung. W. D.
239. Preußisches Volkslied.
Bernhard Thiersch. (1830.)
1. Ich bin ein Preuße! Kennt ihr meine Farben?
Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran;
daß für die Freiheit meine Väter starben,
das deuten, merkt es, meine Farben an.
Nie werd' ich bang verzagen,
wie jene will ich's wagen;
sei's trüber Tag, sei's heitrer Sonnenschein:
ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein! Usw.
(Das Lied ist bekannt.)
I. Geschichtliches. Im Jahre 1830 am Geburtstage des Königs Fried-
rich Wilhelm III. (3. August) wurde dieses Lied. zum erstenmal in der
Harmoniegesellschaft zu Halberstadt, wo der Verfasser, Bernhard Thiersch,
Gymnasialdirektor war, nach einer bekannten Melodie gesungen. Später
wurde es von verschiedenen Musikern komponiert, aber die beliebteste
Melodie blieb bis heute die von Neidhard, dem früheren Leiter des
Berliner Domchors.
II. Erläuterung. Str. 1. „Ich bin ein Preuße!" rüst der Dichter
gleich zu Anfang des Gedichtes, und
„Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!"
wiederholt er in jeder Strophe noch einmal.
Zunächst gibt er das äußere Kennzeichen, die NationalfarbeU des
Volkes, an: schwarz und weiß. Diese Farben haben aber für den
Preußen eine hohe Bedeutung. Zunächst erinnern sie uns an den Ursprung
des edlen Geschlechts der Hohenzollern. Schon vor vielen Jahrhunderten,
als die Grafen von Zollern noch im Süden Deutschlands wohnten, hatten
sie in ihrem Wappen die beiden Farben; denn es besteht ans zwei silber-
nen (weißen) und zwei schwarzen Gevierten. Und dieses Wappen genoß
schon in alter Zeit hohe Ehre; denn die kaiserlichen Burggrafen von
Nürnberg, welche zu dem Geschlechte der Hohenzollern gehörten, hatten
sich bei den deutschen Kaisern durch treue Dienste schon stets ausgezeichnet.
Thiersch: Preußisches Volkslied.
639
Vor allem aber war es dem Burggrafen Friedrich VI. vorbehalten,
fein Geschlecht in glorreiche Bahnen einzuführen und sich den besonderen
Dank der Marken zu verdienen, indem er „ein Hort des Friedens, ein
Hort des Rechts und ein ernster Rächer des Übermutes der Raubritter
wurde/' — Auch in der Provinz Preußen hatten die Nationalfarben des
jetzigen Königreichs hohe Bedeutung, indem die deutschen Ritter, denen
jene Provinz so viel zu danken hat, als Ordenstracht einen weißen
Mantel mit schwarzem Kreuze trugen. — Eine noch höhere Be-
deutung haben aber die Farben dadurch, daß sie voran getragen wurden,
wenn „für die Freiheit meine Väter starben". Unzähligemal
gingen die Preußen mit ihren Fürsten in den Krieg und starben für die
Frecheit des Landes; wir wollen nur an die Zeiten unter dem großen
Kurfürsten, unter Friedrich dem Großen, an die Jahre 1813
bis 1814 erinnern. Auch im Jahre 1866 und vor allem 1870 und 1871
haben Preußens Söhne bewiesen, daß sie die Bedeutung ihrer Landes-
farben kennen, und daß für sie die Worte nicht nur Schein waren:
„Nie werd' ich bang verzagen, wie jene will ich's wagen."
Str. 2. Das ist eine der schönsten Eigenschaften eines Fürsten, wenn
er seinem Volke gestattet, sich ihm mit „Lieb' und Treue" zu nahen, und
wenn er als milder Landesvater mit ihm spricht. So sind Preußens
Herrscher fast immer die Väter ihres Landes und Volkes gewesen. Wir
dürfen nur an den großen Kurfürsten nach dem 30jährigen Kriege,
an Friedrich den Großen nach dem 7jährigen Kriege und besonders
auch an Friedrich Wilhelm III., zu dessen Zeiten dieses Lied entstand,
erinnern. Diese gegenseitige Liebe und Treue, dieses schöne Band zwischen
Volk und König, hat sich ganz besonders in den Jahren von 1807 — 1813
gezeigt, als fast die Hälfte der preußischen Länder dem Könige durch
Napoleon I. geraubt worden war. Und wie „fest der Liebe Band" waren,
erkannte alle Welt im Jahre 1813, als der Aufruf des Königs an
sein Volk erschien; da konnte ein Dichter ohne Übertreibung singen:
„Der König rief, und alle, alle kamen."
Denn des Königs Ruf drang jedem Preußen tief ins Herz hinein.
Und jung und alt strömte zu den schwarz-weißen Fahnen.
Str. 3. „Nicht jeder Tag kann glühn im Sonnenlichte,
ein Wölkchen und ein Schauer kommt zur Zeit!"
Das hat das preußische Volk oft genug erfahren, wenn Seuchen,
Mißwachs und Teurung über das Land hereinbrachen. Das waren oft
recht trübe Wolken. Wie aber solch Ungemach über jede Familie und
über jeden einzelnen Menschen hereinbricht, und wie jeder solche Trübsale
mit Geduld als Christ zu tragen hat, so auch das preußische Volk. So
spricht denn auch der echte Preuße:
„Drum lese keiner mir es im Gesichte, daß nicht der Wünsche jeder mir
gedeiht!"
Solche trübe Wolken sind aber auch für jedes andere Land gekommen,
oft sogar in viel höherem Maße, Drum läßt der Dichter den echten
640
III. Lyrische Gedichte.
Preußen ausrufen: Wohl tauschten usw. Wir brauchen nur auf unsere
westlichen Nachbarn, die Franzosen, zu schauen, um zu erkennen, was die
letzten Worte bedeuten. Wie oft ist da die Ordnung gestört, die Regierung
gewechselt, das Band der Liebe mrd Treue, welches Volk und Fürsten ver-
binden soll, zerrissen, das Glück zur Lüge und die Freiheit zu wesenlosem
äußerem Scheine geworden! Wir sind frei durch das Gesetz und die Ord-
nung im Lande; darum rufen wir mit Stolz:
„Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!"
Str. 4. Wilde Stürme und tobende Gewitter, diese furchtbaren
Naturereignisse, erheben sich oft plötzlich in der Nacht und erschrecken die
Menschen. Wer da nicht verzagt, der ist ein rechter Mann. So brausten
auch Stürme über unser geliebtes Preußenland, wie der 30jährige, der
7 jährige Krieg und die Kriege im Anfange des 19. Jahrhunderts. Da
schiert es manchmal, als ob Gott im Hinrmel das Vaterland verlassen
hätte; aber unsere wackeren Vorfahren riesen: „Mag Fels und Eiche
splittern" usw. Mögen also auch die festesten Gegenstände brechen, und
mag das Kriegswetter noch so stark uns umtoben, unser Mut soll nicht
wanken; denn solche Mutlosigkeit ist eines echten Preußen unwürdig. Das
haben unsere Krieger noch zuletzt im Kampfe 1870 bewiesen, und so wollen
auch wir, wenn einmal wieder solche Stürme kommen sollten, den Mut
nicht sinken lassen und uns als echte Preußen zeigen.
Str. 5. Wenn je eine Behauptung Wahrheit hat, so ist es die tu
Str. 5.
Wem ist es zu verdanken, daß das Preußenvolk jetzt als eines der
mächtigsten dasteht? Woher kommt es, daß das preußische Volk zu den
gebildetsten der Erde gerechnet wird? Wie kommt es, daß Handel und
Gewerbe im Lande blühen? Hauptsächlich daher, daß das Volk stets zu
seinen Königen und diese stets zu ihrem Volke gehalten haben. Und so-
lange dieser schöne Bund in Preußen dauern wird, so lange wird des
Volkes wahres Glück blühen. Darum schließt auch unser Gedicht mit
einem feierlichen Eide: „So schwören wir aufs neue" usw. Mit Recht
spricht hier der Dichter in der Mehrheit; denn einer soll den andern
anfeuern, den Bund zu halten, und aus aller Mund soll der Ausruf er-
schallen: „Wir sind ja Preußen" usw.; denn nur dann, wenn alle den
Schwur halten, wird Gott der Herr das Preußenland segnen.
III. Gliederung. Str. 1 erzählt von der Bedeutung der preußischen
Farben (schwarz und weiß) und enthält das Gelübde, denselben Ehre zu
machen. Str. 2 spricht von dem Bande der Liebe, welches das preußische
Volk mit seinem Könige vereinigt. Str. 3. Obgleich manchmal Unglücks-
sälle über das Land hereinbrechen, so tauschte doch mancher Nichtpreuße
gern mit dem Preußen. Str. 4. Auch in dem größten Ungemach, welches
über das preußische Vaterland hereinbrechen könnte, weicht doch des
Preußen Mut niemals. Str. 5. Wo Fürst und Volk in Lieb' und Treue
sich vereinigen, da muß des Landes Wohlfahrt gedeihen.
Gerbet: Dem siegreichen Heere. 64t
IV. Vergleiche A „Preußisches Volkslied" und B „M e i u
Vaterland"! (Siehe Baud II, Nr. 225!)
1. Ähnlichkeiten: Beide Gedichte sind patriotische Lieder, handeln
von treuer Liebe zum Vaterland und sprechen einen Schwur aus. Beide
Sänger sind stolz aus ihr Vaterland und geloben, ihre Treue und Liebe
durch die Tat zu beweisen.
2. Verschiedenheiten: A besingt das preußische Königshaus und
B das ganze deutsche Vaterland. A schwört Treue und Liebe dem König,
B dem Vaterlande. B sagt, daß wir dem Vaterlande alles zu danken haben,
A rühmt die trefflichen Eigenschaften des Königs und hält es für das
größte Glück eines Landes, wenn Fürst und Volk in Lieb' und Treue
sich vereinigen. A schließt jede Strophe mit einem Kehrreim, B wieder-
holt die ganze erste Strophe am Ende. W. D.
240. A. Dem siegreichen Heere.*)
Ein. Geibel. Spätherbstblätter. Stuttgart 1878. S. 131.
1. Heil euch ini Siegerkranz,
Streiter des Vaterlands!
Gott war mit euch;
glorreich in Wacht und Schlacht,
bracht ihr des Erbfeinds Macht,
halft in verjüngter Pracht
bauen das Reich.
2. Einig in Süd und Nord
stehn wir getrost hinfort
. jeder Gefahr.
Schirmende Flügel spannt
wieder vom Ordensland
bis an der Mosel Strand,
Kaiser, dein Aar.
3. Blühe, du Deutsches Reich!
Wachse der Eiche gleich
markig und hehr!
Friede beglücke dich,
Freiheit erquicke dich,
Herrlichkeit schmücke dich,
vom Fels zum Meer!
I. Erläuterung des Inhalts. Der erste Gruß (Str. 1) gilt den int
Siegerkranz zurückkehrenden Streitern des Vaterlandes. Ruhmreich haben
sie in „Wacht und Schlacht" gekämpft. Die „Wacht" soll uns an die,
großen und schweren Belagerungen der Festungen Metz, Straßburg, Bel-
fort und der Weltstadt Paris erinnern. Da mußten die tapfern Krieger
gar sehr auf der Hut sein, daß ihnen der Feind nicht entfloh; sie hielten
aber aufmerksame Wacht, so daß endlich die vollständige Übergabe erfolgen
mußte. Die Siege in den Schlachten von Weißenburg bis zum Falle
von Paris nennt der Dichter mit Recht glorreich, d. h. reich an hohem
Ruhme und Glanze. Mitten in der Strophe ruft der Dichter aus:
Gott war mit euch! Gedenket daran, will er damit sagen, daß ohne
Gottes Beistand kein Sieg errungen worden wäre! Als Folgen der glor-
reichen Arbeit führt der Dichter zweierlei an: einmal, daß des Erbfeinds
(das sind die Franzosen von jeher gewesen, wie wir aus der Geschichte
wissen) Macht gebrochen wurde, und zum andern, daß das Reich in ver-
jüngter Pracht wieder erstehen konnte. —
*) In den „Spätherbstblättern" von Em. Geibel (S. 131) lautet die
Überschrift: „Zur Begrüßung der aus Frankreich heimkehren-
den Truppen". Die obige Überschrift stammt aus dem Jahre 1871 und ist
vom Dichter gutgeheißen.
AdL. II. 8. Ausl. 41
IM»»
642
III. Lyrische Gedichte.
Str. 2. Solange Deutschland nicht einig war, wurde es häufig ge-
nug von dem Erbfeinde heimgesucht. Wir erinnern an den Dreißigjährigen
Krieg, an die Kriege zu Ludwigs XIV. und zu Napoleons I. Zeiten.
Jetzt aber können wir jeder Gefahr widerstehen. Außer dem Heere und
Gottes Beistand verdanken wir dieses dem siegreichen Kaiser Wilhelm I.
Der preußische Adler spannt seine schirmenden Flügel vom Ordens-
lande an der Weichsel bis an der Mosel Strand, also vom äußersten Osten
bis zum entferntesten Westen und, da Süd und Nord einig sind, auch von
der Nordsee bis zu den Alpen.
Den Wunsch des Dichters (Str. 3), daß das Deutsche Reich blühen
möge, teilt jeder echte Deutsche. Es soll wachsen wie die Eiche, markig
und hehr: „markig" deutet auf die innere Kraft; „hehr", d. h. von einer
das Gemüt mit Ehrfurcht und heiligem Schauer erfüllenden Hoheit nach
außen und nach innen. — „Friede beglücke dich, Freiheit erquicke dich!"
Bei diesen Versen erinnern wir uns an das Wort des Kaisers Wilhelm I.,
welches er in seiner Kaiser-Proklamation am 18. Januar 1871 dem deutschen
Volke zurief: „Uns aber und unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle
Gott verleihen, allezeit Mehrer des deutschen Reiches zu sein, nicht
in kriegerischen Eroberungen, sondern in den Werken des Friedens auf
dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung."
— Solange Gott den deutschen Kaisern diese Gnade verleiht, so lange
dürfen wir sicher sein, daß das Reich „v o m F e l s z u m M e e r" mit Herr-
lichkeit geschmückt sein wird.
II. Gliederung. Str. 1. Der Dichter feiert die Streiter des Vater-
landes, welche das neue Reich bauen halfen. Str. 2 wendet sich an den
Kaiser als Schirmherrn des Reiches. Str. 3 spricht den Wunsch aus, daß
das Deutsche Reich immer mehr wachsen und gedeihen möge.
III. Vergleiche: ZZ Deutscher Siegessang.
H. Lingg. Lieder zu Schutz und Trutz. Berlin 1875. S. 200.
1. Hoch wehen die Fahnen von blutigen Bahnen, vom Waffengang zum
Festglockenklang. Den Sieg errang das Schwert der Germanen. Auf! frohen
Empfang tön' Siegesgesang!
2. Mit prahlendem Mut rief der Feind uns heraus, zu beschirmen den
Herd und das eigene Haus. Ihn lüftete längst nach dem reichen Gebiet, nach
dem lachenden Gau, den der Rhein durchzieht, und er rückte heran mit ver-
heerender Macht, mit dem Todesgeschoß, mit den Donnern der Schlacht, und
zu Allah, wie einst an Gestaden des Meers, erscholl das Geheul des bar-
barischen Heers voll tigerhaft grausender Mordlust.
3. Doch es hielt nicht stand dem besonnenen Mut, der die Unsern durch-
drang, der begeisterten Glut, und sie rückten zum Sturm und zum Angriff
vor über Brücken und Wall und durch Gräben und Tor, durch der Kugeln
Gesaus, durch der Pferde Gestampf, mit dem freudigen Stolz, daß es gelte
den Kampf um die heiligsten Güter der Menschheit.
4. Alle, die im Kampf geblieben, ehr' des Angedenkens Wort; alle
wollen wir sie lieben, und so leben sie uns fort, die fürs Vaterland ihr Leben
todesmutig hingegeben.
Hoffmann von Fallersleben: Sonntag.
643
5. Nun erhebt sich eine neue Zeit deutscher Kraft und deutscher Größe
wieder, dauernd in der Völker Einigkeit, in dem Bündnis aller Stammes-
glieder.
6. Blüh' dem kommenden Geschlecht, Sitte wahrend, Ernst und Recht,
siegfroh, eichenzweigumlaubt, als Europas Herz und Haupt, mächtige Ger-
mania! Weltgevietend stehst du wieder da. Heit dir, Heil, Germania!
1. Ähnlichkeiten. Beide Gedichte drücken die Freude über die
kommende neue Zeit im Deutschen Reiche aus. Beide wünschen, daß das
Reich ferner blühen möge. Beide freuen sich, daß alle Länder und Völker
Deutschlands wieder geeint find.
2. Verschiedenheiten. A feiert die siegreichen Krieger mit wenig
Worten. B widmet ihnen einen ganzen Abschnitt. B fordert zum frohen
Empfange und Siegesgesange auf. A beginnt sofort mit dem Siegesliede.
B gibt den Grund an, weshalb der Erbfeind Deutschland angriff. A ver-
kündet nur die Tatsache (bracht ihr des Erbfeinds Macht). B beschreibt
den Erbfeind und den Zug der Deutschen nach Frankreich usw. W. D.
4. Religiöse Lieder.
244. A. Sonntag?)
Hoffmann von Fallersleben, Gedichte. Berlin 1874. S. 212.
1. Der Sonntag ist gekommen,
ein Sträußchen auf dem Hut! —
Sein Aug' ist mild und heiter,
er meint's mit allen gut.1 2)
2. Er steiget auf die Berge,
er wandelt durch das Tal,
er ladet zum Gebete
die Menfchen allzumal.3)
3. Und wie in schönen Kleidern
nun pranget jung und alt,
hat er für sie gefchmücket
die Flur und auch den Wald.^)
4. Und wie er allen Freude
und Frieden bringt und Ruh', 5)
so ruf auch du nun jedem
„Gott grüß' dich!" freundlich zu!
1. Erläuterung. 1. Das kleine Lied ist eine Allegorie, denn es
veranschaulicht durch sichtbare Bilder etwas Unsichtbares (die
Schönheit usw- des Sonntags).
2. Wir sehen in dem Sonntage einen fröhlichen Jüngling, der
sich festlich geschmückt hat, hell aus den Augen schaut und jedermann Gutes
erweist. Dies Bild will sagen:
Am Sonntag ist jeder, der es nur möglich machen kann, besser ge-
kleidet als an den Werktagen, so daß man äußerlich erkennt: Heute ist
Sonntag! Sodann sieht man auch an den heitern Gesichtern der Menschen,
besonders der Jugend, daß der Sonntag ein Freudentag ist. Und wer sollte
nicht milder und heiterer gestimmt sein an dem Tage, der nicht der sauern
Arbeit, sondern der Erholung gewidmet ist?
3. Das zweite Bild zeigt uns den Sonntag als einen Boten Gottes.
Er steigt auf die Höhen der Berge und wandelt durch das Tal, um die
Menschen zum Gebete, zum Gottesdienste, einzuladen. Der Glockenklang
ist seine Stimme; sie ruft: „Du sollst den Feiertag heiligen!"
41*
644
III. Lyrische Gedichte.
4. Das dritte Bild zeigt uns den Sonntag als Schmucker der
Natur. Wie die Menschen sich zu Gottes Ehre am Sonntage schmücken,
so trägt auch die Natur ein Festkleid, so daß sie freundlicher und schöner
aussieht als an Werktagen.
5. Der Freuden- und Friedespender „Sonntag" mahnt uns
zur Freundlichkeit und Friedfertigkeit gegen jedermann.
II. Vertiefung. 1. Gliederung. A. Str. 1. Beschreibung des
Sonntags: a) Sein Äußeres, b) Sein Inneres. B. Str. 2 und 3.
Tätigkeit des Sonntags: a) Er geht durch Berg und Tal, b) ladet
zum Gebet, e) schmückt Wald und Flur. C. Str. 4. Die Wirkung
seiner Tätigkeit: a) Er bringt Freude, Friede und Ruh', b) veran-
laßt uns, ebenfalls gegen jedermann freundlich zu sein.
2. Hauptgedanke. Am Sonntage, dem Tage der Ruhe und Er-
holung, sind fromme Menschen froh gesinnt; daher kommt es, daß ihnen
alles, was sie umgibt, Berg und Tal, Wald und Flur, auch sonntäglich
geschmückt erscheint. —
III. Verwertung. I.MahnungenfürHerzundLeben: Heilige
den Feiertag durch Gebet, Freude an der Natur, friedliche und freund-
liche Gesinnung gegen andere! — „Gott grüße dich!" sprich herzlich zu
jedem Begegnenden! — Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott
dem Vater ist der: die Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen
und sich von der Welt unbefleckt erhalten.
2. Schriftliche Aufgabe: Vergleiche „Schäfers Sonntags-
lied" von Uhland (Bd. I, Nr. 210)!
A. Ähnlichkeiten: In beiden Gedichten ist ein Sonntag im Som-
mer geschildert. Wir werden zum Gebete geladen; beide zeigen die Natur
im Feierkleide und das Herz in frommer Erhebung.
B. Verschiedenheiten: H. schildert den Sonntag als freund-
lichen Jüngling, während U. ihn „Tag des Herrn" nennt. H. schildert die
Schönheit der Natur ausführlich. U. sieht in der freien Gottesnatur einen
Tempel, der zur Anbetung einladet. H. zeigt den Sonntag als Mahner
zu frommer Gesinnung, U. den Schäfer als frommen Beter.
Vergleiche: U. Sonntag.
Jos. v. Eichendorff. Gedichte. 8. Anfl. Leipzig 1875. G. 368.
1. Die Nacht war kaum verblühet;
nur eine Lerche sang
die stille Luft entlang.
Wen grüßt sie schon so frühe?
2. Und draußen in dem Garten
die Bäume übers Haus
sahn weit ins Land hinaus,
als ob sie wen erwarten.
3. In festlichen Gewänden
wie eine Kinderschar,
Tauperlen in dem Haar,
die Blumen alle standen.
4. Ich dacht': „Ihr kleinen Bräute,
was schmückt ihr euch so sehr?"
Da blickt die eine her:
„Still, still, 's ist Sonntag heute!
5. Schon klingen Morgenglocken;
der liebe Gott nun bald
geht durch den stillen Wald."
Da kniet' ich froh erschrocken.
Eichendorff: Weihnachten.
645
A und B sind Preislieder des Sonntags. Sie malen seine äußere
Schönheit und seine innere Weihe. In A ladet der Sonntag als freund-
licher Jüngling zur Feier ein. In B rufen Lerche, Bäume, Blumen und
Morgenglocken zum Gebete. In A ist der Sonntag ein Mahner zu freund-^
licher Gesinnung gegen unsere Mitmenschen. In B zieht uns das Gefühl
der Gottesnähe nieder ans die Kniee. W. D.
242. A, Sonntag.
Jos. v. Eichendorff. Gedichte. 8. Aufl. Leipzig 1875. S. 368.
(Den Text siehe Nr. 262 8!)
B. Weihnachten.
Jos. v. Eichendorff. Gedichte. 8. Anfl. Leipzig 1875. S. 368.
1. Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus;
sinnend geh' ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.
2. An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt.
Tausend Kindlein stehn und schauen,
sind so wunderstill beglückt.
3. Und ich wandre aus den Mauern
< bis hinaus ins freie Feld:
hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
4. Sterne hoch die Kreise schlingen:
aus des Schneees Einsamkeit
steigt's wie wunderbares Singen —
o du gnadenreiche Zeit!
Vergleichung.
1. Ähnlichkeiten. Heilige Stille und Weihe eines Feiertages! Der
Dichter geht einsam durch die stille, weite Welt. Erwartung und Freude
begrüßen überall einen hohen Gast, der dem Tage die Weihe geben soll.
Alles stimmt zur Andacht. Der Dichter fühlt ein „süßes Grauen" im
Herzen und ein „geheinies Wehen" um sich. Die Andacht hebt seine Seele
zu Gott empor.
II. Verschiedenheiten. 1. Zeit und Ort. In A ein Sonntagmorgen
auf dem Lande, in B ein Weihnachtsabend in der Stadt. A führt uns
aus dem Felde in den Garten zu den Bäumen und Blumen, B über den
Markt durch die Straßen und Gassen der Stadt an erleuchteten und ge-
schmückten Fenstern vorüber, aus den Mauern auf das weite Schneefeld.
2. Personen. In A sind die Nacht, die Lerche, die Bäume und
die Blumen personifiziert, in B die Mutter, die Kinder, die Stadt und
die Sterne dargestellt, wie sie wirklich sind. — In A fragt der Dichter
die Lerche: Wen grüßest du schon so frühe? die Bäume: Wen erwartet
ihr? die Blumen: Was schmückt ihr euch so sehr? Als er die Antwort
erhält: Heute ist's Sonntag; die Morgenglocken verkünden das Nahen
des lieben Gottes! da fällt er froh erschrocken (durch das Unerwartete er-
schreckt und durch die hohe Freude beglückt) aus die Kniee. In B sieht der
Dichter die stillen Straßen, die glücklichen Mütter und Kinder, das weite,
einsame Schneefeld, die Sterne hoch am Himmel, den Glanz von oben
und hört ein wunderbares Singen; da durchbebt ein heiliger Schauer
sein Herz, und er stimmt in die Worte des Weihnachtsgesanges ein: O du
fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!
646
, III. Lyrische Gedichte.
3. Gedanken. In A verblühet die Nacht (in der Morgenröte)
wie die wunderbare, riesige Seerose Victoria regia, die in der Nacht blüht
und duftet, am Morgen aber sich schließt und unter das Wasser sinkt;
in B geht ein Glänzen und Leuchten über den Himmel, wie in der heiligen
Weihnacht, da plötzlich ein Licht vom Himmel die Hirten umleuchtete. In
A grüßt die Lerche in der Morgenfrühe den Herrn des Sonntags, in
B klingt ein wunderbares Singen aus der Einsamkeit des Schneefeldes
wie in jener heiligen Nacht, da die Menge der himmlischen Heerscharen
sang: Ehre sei Gott in der Höhe usw. In A schauen die hohen Bäume
des Gartens erwartungsvoll wie mit aufgereckten Häuptern über das
Haus hinweg nach dem hohen Gaste; in B ziehen die Sterne hoch am Him-
mel ihre Kreise und schwingen sich gleichsam vor Freude. In A stehen die
Blumen in festlichen Kleidern mit Tauperlen im Haar gleich einer Kin-
derschar, die den König empfangen will. erwartungsvoll da; in B sehen
tausend Kinder still beglückt auß das bunte Spielzeug, das ihnen die
Liebe der Mutter geschmückt hat- In A redet der Dichter mit den lieblichen
Blumenbräuten, in B geht er sinnend durch die Stadt in das Feld. In A
wird Gott von allen Geschöpfen in festlichem Schmuck erwartet, in B
ist die Stadt zu Ehren des heiligen Christes festlich geschmückt. In A
verkündigen die Morgenglocken, in B der wunderbare Gesang über dem
Schneefelde die heilige Nähe Gottes.
4. Grundgedanke. In A frohe und doch bange Erwartung der
Nähe Gottes am Sonntagmorgen, in B selige Freude über die Erstil-
ln ng der Weihnachtshoffnungen.
III. Aufgabe: Welche Lieder, Sprüche und Geschichten haben wohl
dem Dichter beim Dichten der beiden innigen Lieder in der Seele ge-
legen? (Jesu Einzug in Jerusalem. Die 10 Jungfrauen, die den Bräuti-
gam erwarten. „Da merkte Elias, daß der Herr vorüberging." Die Weih-
nachtsgeschichte. O du fröhliche —! O wunderbares, tiefes Schweigen —!)
P.
MA». Kür Me sieben Taqe.
Ghasele von Friedrich Rückerl. Gesammelte Gedichte. Erlangen 1834—1838.
I.
Sprich, liebes Herz, in deines Tempels Mitten,
für sieben Wochentage sieben Bitten!
Zum ersten Tag: Laß deine Sonne tagen
und Licht verleih'« der Erd' und meinen Schritten!
Zum zweiten Tag: O laß nach dir mich wandeln,
wie Mond der Sonne nach mit leisen Tritten!
Zum dritten Tag: Lehr' deinen Dienst mich kennen,
und wie ich dienen soll mit rechten Sitten!
Zum vierten Tag: Du sollst mich nicht verlassen
in meiner Woch', in meines Tagwerks Mitten!
Zum fünften Tag: O donnr' ins Herz mir deine
Gebote, wann sie meinem Sinn entglitten!
Zum sechsten Tag: O laß mich freudig fühlen,
wodurch du mir die Freiheit hast erstritten!
Zum siebenten: Die Sonne sinkt am Mend;
o dürft' ich mir so hellen Tod erbitten! " ■
Rückert: Für die sieben Tage.
647
II.
Preis ihm, der nach den sieben Wochentagen
verteilet hat des Lebens Lust und Plagen!
Preis ihm, der ausgeh'n über Gut und Böse
läßt seiner Lebenssonne Wohlbehagen!
Preis ihm, vor dessen Blick die Monde wechseln
und seinen Preis in jedem Wechsel sagen!
Preis ihm, der seinen Dienst die Erde lehret,
und der sein Joch die Himmel lässet tragen!
Preis ihm! Er thront in Mitte seiner Wonnen
und hört ein Herz in Mitte seiner Klagen.
Preis ihm! Wenn mit dem Donner des Gesetzes
er sprechen will, so muß der Mensch verzagen.
Preis ihm! Er hat mit Armen sanft gesprochen,
hat frei gemacht, die da gefangen lagen.
Preis ihm! Es ist sein Blick die Sonn' am Abend,
die untergeht, um neu der Welt zu tagen.
I. Vorbereitung. Bekanntlich sind in unsern Andachts- und Gebet-
büchern in der Regel auch solche Gebete enthalten, welche an den ver-
schiedenen Wochentagen, sei es morgens oder abends, der Andacht dienen
sollen. Ihre Bezugnahme auf unsere Seelenbedürsnisse ist eine bald mehr
bald minder enge. Da hat nun ein Dichter der Neuzeit, Rückert, für
jene sieben Tage Gebetlein niedergeschrieben, die gar sinnig die Namen
der Wochentage zum Gegenstände der Bitten machen.
Zum besseren Verständnis des schönen Gedichts sei vorangeschickt, was
über die Entstehung der betreffenden Namen geschichtlich feststeht. — Die
Woche bedeutet ursprünglich eine Ruhe, eine Ordnung wiederkehrender
Dinge, und umfaßt den Zeitraum vom Sonntage bis zum Samstage oder
Sonnabend. Unsere Benennung der einzelnen Tage ist zum Teil eine
Übersetzung ihrer lateinischen Namen, zum Teil aber auch deutschen Ur-
sprungs. Der Sonntag hieß bei den Römern dies solis, d. i. Tag
der Sonne; der Montag dies lunae, d. i. Tag des Mondes: daher
diese Benennungen im Deutschen! Die alten heidnischen Sachsen hatten
ersteren Tag auch der Gottheit der Sonne geweiht; nach christlicher Deu-
tung ist er der Tag, „wo die Sonne der Gerechtigkeit soll auf-
gehen und Heil unter ihren Flügeln" (Mal. 3,20). Der Dienstag,
umgedeutet aus Dings tag, hat seinen Namen vielleicht von einem Bei-
namen Thingsus, des germ. Kriegsgottes, (entsprechend dem lat. dies
Llartis, d. i. Tag des Kriegsgottes Mars). Die volkstümliche Erklärung
läßt das Wort sich anlehnen an Dienst. Die Mittwoche, wofür ge-
wöhnlich der Mittwoch nach der Ähnlichkeit des grammatischen Geschlechts
der übrigen Wochentage gesagt wird, urspr. bei den Germanen Wodans-
tag, hat ihren Namen von der Stellung zwischen den drei vorher-
gehenden und den drei nachfolgenden Wochentagen. Der Donners-
tag, angelsächsisch tdunresdae, ist der Tag des Thor, des altdeutschen
Donnergottes, der im Angelsächsischen auch Donner (tbnnder, tbuner)
hieß. Der Freitag (Freytag), althochdeutsch Fridag, hat seinen Na-
men von einer altdeutschen Göttin Fria (skand. Frigg), welche Benen-
nung der lateinischen Bezeichnung dies Veneris, d. i. Tag der Venus,
648
III. Lyrische Gedichte.
entspricht. Der Sonnabend ist eigentlich der So nnta g sab end, da
man den Tag vor einem Feste statt Tag „Abend" nannte. Die mehr in
Süddeutschland gebräuchliche Benennung Samstag (gotisch: sabbato-
dags, althochdeutsch: sambazdag) ist jüdischen Ursprungs und aus den:
Worte Sabbats-Tag (vom hebräischen sabbatb, d. i. Ruhe) durch Zu-
sammenziehung entstanden. Die Römer nannten ihn dies Laturni, Sa-
turnstag, woran die englische Benennung Saturday erinnert, die im
Französischen samsdi lautet.
II. Vortrag des Gedichts.
III. Vertiefung. Wen redet der Dichter an? „Sein Herz." — Vgl.
P. Gerhardts Sominerlied: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud'!"
Das Herz ist hier der geistige Teil des Menschen, die Seele, nach
1. Kor.3 und 2.Kor.6 ein Heiligtum, ein Tempel des lebendigen Got-
tes- Die Mitte dieses Tempels ist das tiefste Innere der Seele und deutet
auf die I n n i g k e i t der Bitten hin.
A. Erläuterung der sieben Bitten.
1. Am Sonntag. Wie das irdische Licht, die Sonne, den
Tag bringt, indem sie die Erde erhellt, so wolle Gott auch Christum,
das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, dem Beter
scheinen lassen, daß er wandle als „am Tage", wie die „Kinder
des Lichts". 2. Am Montag. Wie der Mond „in heiterm Glanze
so still einhertritt" auf seiner Bahn um die Sonne, so laß, bittet der
Dichter, mich wandeln nach dir (^auf dem Wege zu dir hin) still,
d. i. gelassen und gottergeben! („Sei wie der Mond, o du mein
Herz, und bleibe sanft und rein! meinst du auch oft im herben Schmerz,
erloschen sei sein Schein; wo du auch wandelst deine Bahn, schaut Gottes
Lieb' dich freundlich an.") 3. Am Dienstag. „Gott dienen" heißt
nach Paulus (Röm. 12, 1f.): „ihm unsre Leiber zum Opfer begeben"
und nach Hesekiel 11, 20: „in des Herrn Sitten wandeln, seine
Rechte halten und danach tun". Das erfleht der Dichter an diesem Tage.
4. Am Mittwoch. Die Mitte der Woche findet den Beter mitten im
Tagewerke, in der Ausübung seiner Bcrnfspslichten, und so erfleht er denn
zur weiteren Vollbringung derselben die Nähe und damit die Hilfe Got-
tes. 5. Am Donnerstag. „Donnern" heißt hier: „laut und heftig
reden". Wir vergessen eben nur zu oft die Gebote Gottes. Gesetzgebung
unter Donner und Blitz! 2. Mos. 20,20. Gott ist gekommen, daß er euch
versuchte, und daß seine Furcht euch vor Augen wäre, daß ihr nicht
sündigt. 6. Am Freitag. An einem Freitag erstritt Christus durch
seinen Tod uns die Freiheit a) vom Fluche des Gesetzes, b) von dessen
Herrschaft und c) von der Sünde, deren Macht er brach. Wie muß doch
die Wiederkehr jedes Freitags dies Bewußtsein in uns immer wieder
lebhaft erneuern und unsre Freude über diesen köstlichen Besitz erhöhen!
7. Am Sonnabend. Der Sonnenuntergang in seiner hehren, stillen
Pracht möge ein Ab- und Vorbild des friedlichen Abscheidens aus dem
Erdenleben sein!
Dehmel: Morgenandacht.
649
B. Des Dichters Aufforderung zum Preise Gottes.
1. Lust und Plage — Freud' und Leid — erstrecken sich über alle
Tage der Woche. (Vgl. Matth. 6,34: „Es ist genug" usw.) 2. Vgl.
Matth.5,45: „Denn er läßt seilte Sonne ausgehen" usw. 3. Die Monde
— die Gestirne überhaupt; vgl. Ps. 19,1: „Die Himmel erzählen die
Ehre Gottes" usw. 4. „Erde und Himmel sind Gott unterworfen,
gehorchen, dienen ihm." 5. „Obwohl Gott der Seligste an sich, ja
allein selig ist, so vernimmt er doch die Klagen unsrer Herzen."
Vgl. Ps. 145,19. 6. Siehe 2. Mos. 20,19! — „Laß Gott nicht mit uns
reden, wir möchten sonst sterben!" 7. Vgl. Matth. 11,5: „Den Armen
wird das Evangelium gepredigt" und Gal. 5,1: „So bestehet nun in
der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat!" 8. Sein Blick •= sein
Gnadenblick, seine Güte ist alle Morgen neu. Klaget.3,23.
IV. Verwertung in Aufgaben.
1. Gib mündlich und schriftlich in G e b c t s f o r in den Inhalt
der obigen 7 Bitten wieder!
2. Verfahre ähnlich mit den Strophen 1—8 unter II!
3. Merke: Dein Leben sei ein Gebet sieben! — Bete und ar-
beite ! — Franz Knauth.
243b. Morqenandacht.
Richard Dehmel.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Herr, wie sind deine Werke
so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde
ist voll deiner Güter! Wer das recht tief empfinden will, der soll
an einem Sommermorgen an den Waldrand gehen und von da das
große und das kleine Leben in der Natur belauschen. Der Dichter
Richard Dehmel hat das getan. Staunend sah er, wie alles zu einer
Einheit verknüpft war und das Lied des Einen, des allmächtigen,
allweisen und allgütigen Schöpfers, verkündigte. Das stimmte sein Herz
zur Andacht. Was er empfand, das sprach er in dem Gedichte „Morgen-
andacht" aus. Hört es!
1. Sehnsucht hat mich früh geweckt;
wo die alten Eichen rauschen,
hier am Waldrand hingestreckt,
will ich dich, Natur, belauschen.
2. Jeder Halm ist wie erwacht:
grüner scheint das Feld zu leben,
wenn im kühlen Tau der Nacht
warm die ersten Strahlen beben.
3. Wie die Fülle mich beengt!
So viel Großes? So viel Kleines!
Wie es sich zusammen drängt
in ein übermächtig Eines!
4. Wie der Wind im Hafer surrt,
tief im Gras die Grillen klingen,
hoch im Holz die Taube gurrt,
wie die Blätter alle schwingen!
5. Wie die Bienen taumelnd sammeln
und die Käfer lautlos schlüpfen —
o Natur! Was soll mein Stammeln,
sah ich all das dich verknüpfen:
6. Wie es mir ins Innre dringt,
all das Große, all das Kleine,
wie's mit mir zusammenklingt
in das übermächtig Eine!
II. Vertiefung. 1. Lagebild. Es ist ein schöner Sommermorgen.
Am Waldrande lagert der Dichter. Über ihm rauschen leise die alten Eichen.
Ihre Blätter schwingen im Morgenwinde geräuschlos hin und her. Tiefer
im Walde gurrt eine Taube. An den grünen Halmen des Grases hängen
650
III. Lyrische Gedichte.
wie Perlen die Tautropfen, in denen sich die Strahlen der Morgensonne,
spiegeln. In dem nahen Haferfelde rauschen die Rispen und singen die
Grillen. Auf den Blüten taumeln die Bienen honigtrunken her und hin,
und unter ihnen schlüpfen eilige Käfer durch das Gras.
2. Wesen der Natur. Sie zeigt die reichste Fülle und Mannig-
faltigkeit der Gestalten und des Lebens. So viel Großes (Sonne, Mond
und Sterne, der blaue Himmel, der rauschende Wald, das weite Feld,
das unendliche Meer usw.), so viel Kleines (Grashalm, Tautropfen,
Blätter, Blüten, Bienen, Grillen, Käser usw.)! Alles ist verknüpft und
zusammengedrängt zu einer großmächtigen E i n h e i t, zu einem Drange
des Lebens in größter Vielheit, zu einem Klange der Schönheit
und zu einem Lob Psalm der Macht, Weisheit und Güte Gottes, des
Alleinigen.
3. Gedankengang. Str. 1. Die Sehnsucht nach dem Genuß der
Nutur har den Dichter früh an den Waldrand geführt. Str. 2. Die ersten
Sonnenstrahlen glänzen in den Tautropfen an den grünen Halmen.
Str. 3. Großes und Kleines in reichster Fülle fließt zu einer Einheit und
zu einem übermächtigen Eindrucke zusammen. Str. 4 und 5. Der Dichter
sieht alles, empfindet die überwältigende Schönheit der Natur in ihrer
Vielheit und Einheit und kann nur stammelnd sie preisen. Str. 6. Sein
Herz und die tausend Stimmen der Natur klingen zu einem Lobe
des Einen, Ewigen zusammen.
III. Verwertung in Aufgaben. 1. Wie beengt die Fülle in der Na-
tur? (Das Auge hat nicht Raum und Kraft, die tausend Bilder, das
Ohr, die tausend Klänge, das Herz die tausend Empfindungen, das
Haupt die tausend Gedanken über Wesen und Zusammenhang des vielen
Großen und Kleinen in der Natur aufzunehmen und festzuhalten.)
2. Vergleiche Richard Dehmels „Stimme des Abends"!
Die Flur will ruhn.
In Halmen, Zweigen
ein leises Neigen.
Dir ist, als hörst du
die Nebel steigen.
Du horchst — und nun:
dir wird, als störst du
mit deinen Schuh'n
ihr Schweigen.
(Beide Gedichte führen uns hinaus in die Natur, zeigen uns ihre ge-
heimnisvolle Schönheit und geben der andächtigen Stimmung des Na-
turfreundes Ausdruck. Das erste ist ein Morgen-, das zweite ein Abend-
lied. Aus dem ersten klingen die tausend Stimmen des erwachenden Le-
bens, aus dem zweiten nur die eine des Ruhebedürfnisses am Abend. Im
ersten jubeln die Stimmen Lob und Preis des Einen, im zweiten mahnt
das tiefe Schweigen zur Ruhe, zum Frieden. Im ersten überall ein Auf-
steigen, im zweiten überall ein Niederneigen. Im ersten glänzen golden
die Tautropfen, im zweiten steigt leise der Nebel wie ein Schlafschleier
auf. Im ersten stimmt das Herz in den tausendstimmigen Jubel ein, im
zweiten lauscht es in andächtigem Schweigen. Das erste mahnt: Stimme
ein in den lauten Lobgesang der Kreatur! Das zweite: Störe mit keinem
Tritt, mit keinem Laut die heilige Stille und den tiefen Abendfrieden der
Natur!) ?.
©pitia; Sehet die Lilien auf dem Felde.
651
244. A. die Lilien auf dem Felde.
K. I. PH. Spitta. Psalter und Harfe. Leipzig 1876. I. S- 90.
1. Du schöne Lilie auf dem Feld,
wer hat in solcher Pracht
dich vor die Augen mir gestellt,
wer dich so schön gemacht? Z
2. Wie trägst du so ein weißes Kleid
mit goldnem Staub besä't,2)
daß Salomonis Herrlichkeit
vor deiner nicht besteht!^
3. Gott hob dich aus der Erde Grund/)
hat liebend auf dich acht;
er sendet dir in stiller Stund'
ein Englein bei der Nacht.
4. Das wäscht dein Kleid mit Tau so
rein
und trocknet's in dem Wind
und bleichet es im Sonnenschein
und schmückt sein Blumenkind.
5. Du schöne Lilie auf dem Feld,
in aller deiner Pracht
bist du zum Vorbild mir gestellt,5)
zum Lehrer mir gemacht.
6. Du schöne Lilie auf dem Feld,
du kennst den rechten Brauch,
du denkst: Der hohe Herr der Welt
versorgt sein Blümchen auch. 6)
1. Einführung. Der Ausspruch des Herrn in der Bergpredigt Matth.
6, 28 und 29: „Schauet die Lilien auf dem Felde —" hat sich in der
Seele des Dichters Phil. Spitta zu einem lieblichen Gedichte gestaltet.
Hört es! (Vortrag.)
II. Vertiefung. 1. Gedankengang. Der Anblick der Bluine voll
Reinheit und Schönheit rechtfertigt wohl die Frage; Wer hat dich so
schön geschaffen? 2. Rein weiß ist die Blütenhülle und goldfarbig
der Blütenstaub, 3. und doch schmücken diese beiden Farben die Blume
schöner, als es die kostspieligen Purpurkleider Salomos vermochten!
4. Wer ist der Künstler, der dich so schön schmückte? Nicht ein Mensch,
sondern Gott selbst in seiner Liebe! Er ließ die Lilie aus der Erde auf-
gehen und wachsen. Seine Englein wuschen die Blüte bei Nacht mit reinem
Tau; bei Tage trocknete sie der Wind und bleichte sie der Sonnenschein,
so daß ihr Schmuck immer glänzender wurde. 5. Alles Irdische ist Gleich-
nis des Himmlischen. So soll uns die Lilie ein Vorbild der Reinheit,
ein Zeuge der göttlichen Fürsorge und ein Lehrer der Zufriedenheit
sein. 6. Der rechte Brauch ist, Gott und seiner Führung zu ver-
trauen.
2. Gliederung: A. Die Schönheit der Lilie Str. 1.2. B. Der Ur-
sprung ihrer Pracht Str. 3 und 4. 6. Die Lilie als Vorbild und Lehrerin
Str. 5 und 6.
3. Grundgedanke: Der hohe Herr der Welt, der sein Blümchen
so schön versorgt und schmückt, der wird auch dich nicht verlassen noch
versäumen. Vertraue seiner Fürsorge!
III. Verwertung. 1. Anwendung fürHerzundLeben. Matth.
6, 25. 28 und 29. — Matth. 6,33. Trachtet am ersten —. Nicht Flitter-
kram und Farbenpracht schmückt eine Jungfrau, sondern Einfachheit und
Reinheit. — Noch immer war mir die größte Einfachheit die größte
Schönheit. — Vertrau auf Gott und laß ihn walten, er wird dich wunder-
bar erhalten. — Befiehl du deine Wege —.
2. Vergleichung des Gedichts mit dem folgenden: ?.
652
III. Lyrische Gedichte.
B. Gine Frage.
Aus dem Festkalender von Pocci und Görres. (Vergl. Colshorn. Dichterwald.
Hannover 1875. S. 20.) ,
1. Wer lehrt die Vöglein singen
so süß und mannigfalt
und Hirsch und Rehe springen
im grünen Buchenwald?
2. Wer heißt die Winde wehen
bald stürmisch und bald leis,
die Jahreszeiten gehen
in wundervollem Kreis?
3. Und wer die Bächlein gleiten
herab von steiler Höh'
und stolz die Ströme schreiten
zur weiten, tiefen See?
4. Wer hat den Tag gezieret
mit goldnem Sonnenschein,
und wer am Himmel führet
die tausend Sternelein?
5. Daß sie gleich guten Kindern
still gehen ihre Bahn
und nicht einander hindern
und sich nicht stoßen an?
6. O sag'! wer ist der eine,
der Meister so geschickt,
der mit so reichem Scheine
die Blümlein hat geschmückt?
7. Der hoch am Himmelskreise
sein Zelt gespannet aus
und auch mit treuem Fleiße
gebaut das Schneckenhaus?
8. Der über Länder zücket
die Blitze weiß und blau
und dann das Feld erquicket
mit kühlem, frischem Tau?
9. Den Meister groß und milde,
den nenne mir geschwind,
der dich mit seinem Bilde
geziert, mein liebstes Kind!
10. Und der, bist du gegangen
dem stillen Grabe zu,
dich jenseits wird empfangen
in seiner ew'gen Ruh'!
11. Und kannst du mir ihn nennen,
so folge ihm auch fromm,
dann wird er dich auch kennen
und sprechen: „Sei Willkomm!"
1. Ähnlichkeiten, a) Beide Gedichte führen uns die Wohltaten
vor, die Gott der Herr seinen Geschöpfen ohne ihr Verdienst erweist,
b) Beide Gedichte lehren uns: Wie Gott den leblosen und unvernünftigen
Geschöpfen seine Liebe durch Wohltaten offenbaret, so wird er sie besonders
auch den Menschen erweisen. — 2. Verschiedenheiten, a) In A sind
die Wohltaten genannt, welche einem bestimmten Geschöpfe, der Lilie, er-
wiesen sind, in B dagegen die Beweise der göttlichen Liebe an verschiedenen
Geschöpfen. (Welche sind es?) b) In A ist der Geber, Gott, genannt,
in B sollen wir ihn selbst nennen usw. W. D.
2M. A. Sommerlied.
Paul Gerhardt. Gödeke, 11 Bücher deutscher Dichtung. Leipzig 1849. I. S. 398.
1. Geh aus, mein Herz, und suche Schau an der schönen Gärten Zier
Freud' und siehe, wie sie mir und dir
in dieser lieben Sommerzeit sich ausgeschmücket haben! Usw.
an deines Gottes Gaben!
(Das Lied ist bekannt.)
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Die Pracht des Sommers
fordert uns auf, hinauszugehen in die herrliche Natur und mit Augen
und Herzen die Gaben unseres Gottes zu genießen. Dann heißt's: „Alles
ist euer! Alles für euch!" Wir machen uns auf zu einer Morgenwande-
rnng und durchwandern zuerst die Gärten, in denen allerlei Blumen,
so Narzissen und Tulpen, prangen, wo Gras den Boden und Laub die
Gerhardt: Sommerlied.
653
Bäume mit einem grünen Kleide deckt. Was will Salomos Purpur und
Seide gegen diese Pracht sagen! Nun geht's in das Feld! Da trillert
die Lerche in der Lust! Da kommt die Holz- oder Ringeltaube aus ihrem
Versteck und gurrt im Walde. Da läßt die Nachtigall, die Königin der
gefiederten Sänger, ihr volles, schönes Lied dnrch Berg und Tal er-
schallen. In der Nähe des Gehöftes freuen wir uns an der Glucke mit
ihren geschäftigen Küchlein, an dem Storche auf dem Dache und an dem
Schwalbenneste am Gesimse. Näher kommen wir dem Saume des Wal-
des. Der stattliche Hirsch mit dem ästigen Geweih und den klugen Augen,
sowie das leichtfüßige Reh haben in der Morgenfrühe den Wald ver-
lassen, um aus einer duftigen Waldwiese ihr Mahl zu halten. Durch die
Wiese plätschert ein klares Bächlein zwischen Weidengebüsch, das den
Schatten seiner schmalen Blätter wie Myrten auf das Wasser und die
Uferränder wirft. Auf den Wiesen rechts und links vom Bache werden
bald Herden und Hirten ihre fröhlichen Stimmen erschallen lassen. Höher
steigt die Sonne am Himmel, und lauter regt sich das Leben in der Natur.
Auf allen Blumen summen Bienen und suchen Honig. An den Abhängen
der nahen Kalkberge sieht man die schwanken Weinreben an ihren Pfählen
und freut sich der künftigen Traubenernte. Den Heimweg nehmen wir
durch schöne Weizenfelder und freuen uns, wie jung und alt die Güte des
himmlischen Gebers rühmt. Wir müssen dem Drange des dankbaren Her-
zens folgen und in das Lob mit einstimmen. Von der schönen, reichen
Erde richtet sich der Blick auf die bessere Welt droben, auf das Himmels-
zelt, das güldene Schloß, das mit seiner unbeschreiblichen Herrlichkeit den
Sinn nach oben lenkt. Dahin geht unser Verlangen; dort möchten wir
mit Palmen, den Zeichen des Sieges und des Friedens, nach der
Erde Kampf und Leid vor dem Throne des Ewigen erscheinen und Ihm
im Chore der Engel ewige Loblieder (Psalmen) für seine Güte und Treue
singen.
Was ein frommes Herz auf einer Morgenwanderung im Sommer
bewegt, das hat Paul Gerhardt in seinem „Sommerlied e" ergreifend
schön gesungen. Wir wollen es hören! (Vortrag.) P-
II. Gliederung und Gedaukeugang. A. Str. 1. Der Dichter for-
dert zu einer Wanderung in der Sommerzeit auf. B. Str.
2—7. Die Wanderung durch Garten, Feld und Wald. Bei
dieser Wanderung bewundert er: Str. 2 die Bäume, das Gras und die
Blumen; Str. 3 die Lerche, die Taube und die Nachtigall; Str. 4 die
Hühner, die Störche, die Schwalben, die Hirsche, die Rehe; Str. 5 den
Bach, die Wiesen, die Schafe und die Hirten; Str. 6 die Bienen und den
Weinstock; Str. 7 das Getreide. 0. Str. 8—10. DerSegenderWan-
derung. Str.8. Der Anblick der Natur fordert uns auf, den Herrn
zu loben und zu preisen; Str.9 vergleicht die arme Erde mit dem
reichen Himmel; Str. 10 spricht das Verlangen ans, bald mit in dem
Himmel zu sein, um dort nach der Weise der Engel Gott zu loben*).
*) Ursprünglich hat das Lied nicht 10, sondern 15 Strophen.
654
III. Lyrische Gedichte.
III. Hauptgedanke. Der Anblick der Natur in der Sommerzeit for-
dert den frommen Menschen auf, Gott zu loben und zu preisen und den
Sinn von der schönen irdischen Heimat auf die schönere himmlische zu
richten.
IV. Vergleichung mit den beiden folgenden Gedichten:
B. Morgenwanderung
Von E. Geibel. Gedichte. I.
1. Wer recht in Freuden wandern will,
der geh' der Sonn' entgegen!
Da ist der Wald so kirchenstill,
kein Lüftchen mag sich regen;
noch sind nicht die Lerchen wach,
nur im hohen Gras der Bach
singt leise den Morgensegen.
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,
darin uns aufgeschrieben
in bunten Zeilen manch ein Spruch,
wie Gott uns treu geblieben;
Wald und Blumen, nah und fern,
und der helle Morgenstern
sind Zeugen von seinem Lieben.
Stuttgart 1876. S. 240.
3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
durch alle Sinnen leise,
da pocht ans Herz die Liebe auch
in ihrer stillen Weise,
pocht und pocht, bis sich's er-
schließt
lind die Lippe überfließt
von lautem, jubelndem Preise.
4. Und plötzlich läßt die Nachtigall
im Busch ihr Lied erklingen,
in Berg und Tal erwacht der Schall
und will sich aufwärts schwingen,
und der Morgenröte Schein
stimmt in lichter Glut mit ein:
Laßt uns dem Herrn lobsingen!
C. Der frohe Wandersmann.
I. v. Eichendorff. Gedichte. Leipzig 1875. S. 5.
1. Wem Gott will rechte Gunst er- 2. Die Bächlein von den Bergen
weisen, springen,
den schickt er in die weite Welt; die Lerchen schwirren hoch vor Lust;
dem will er seine Wunder weisen was sollt'ich nicht mit ihnen singen
in Berg und Wald und Strom und aus voller Kehl'und frischer Brust?
Feld.
3. Den lieben Gott lass' ich nur walten:
der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
und Erd' und Himmel will erhalten,
hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt. (Gekürzt.)
a) „Sommerlieb" und „Morgenwanderung".
1. Welche Freude erfüllt beide Dichter? (Die Freude, welche eine
Wanderung im Sommer uns bringt.) 2. Wozu fordert nach beiden Ge-
dichten die Sommerwanderung den frommen Menschen auf? (Gott zu
loben und zu preisen.) 3. Was tun deshalb auch beide Dichter? (Sie
stimmen mit in das Lob ein.) 4. In welcher Tageszeit soll die Wande-
rung unternommen werden? (Nach Geibel in der ersten Frühe des Mor-
gens, wenn das Leben in Wald und Flur noch nicht erwacht ist, nach
Gerhardt zwar auch am Morgen, aber erst dann, wenn die Natur schon
belebt ist.) 5. Wodurch unterscheidet sich deshalb der Genuß, den beide
Dichter in der Natur haben? (Gerhardt erfreut sich am Leben in der
Natur, Geibel dagegen an der Ruhe und Stille.) 6. Welches Lebens-
zeichen des Baches erwähnen beide Gedichte? (Das Rauschen des nim-
Eichendorff: Der frohe Wandersmann.
655
merruhenden Baches.) 7. Was^ sagen beide vom Gesänge der Lerche?
(Gerhardt begrüßt ihn mit Freuden, Geibel bemerkt, daß er fehlt.) 8. Wes-
halb hat Gott, der treue Herr, die Erde so geschmückt? 9. Welche Ver-
änderung geht in beiden Gedichten mit der Szene vor? (Wie Gerhardt
die Gärten, das Feld und den Wald nach und nach durchwandert, so geht
Geibel über Berg und Tal, wo der Gesang der Nachtigall endlich auch
alle anderen Sänger weckt.) 10. Welcher Unterschied findet sich in der
Schilderung der Natur in beiden Liedern? (Gerhardt geht mehr ans die
einzelnen Gegenstände und Vorzüge ein, während Geibel sich mehr an
das Große und Allgemeine hält. Daher spricht jener von der Lerche,
der Taube, der Nachtigall, der Glucke, dem Storch usw. und dieser nur
vom Wald, von den Blumen, den Sternen mrd von Berg und Tal usw.)
b) „Sommerlied" und „Der frohe Wandersmann".
1. Von welcher Wanderung ist in beiden Liedern die Rede? (Sommer-
wanderung.) 2. Wodurch unterscheiden sich die beiden Wanderungen? (Im
„Sonlmerliede" besteht die Wanderung in einem Spaziergange, im „Wan-
dersmann" in einer Reise.) 3. Wofür halten beide Lieder die Wande-
rung? (Für eine Gnade und Gunst Gottes.) 4. Wozu soll nach beiden
Gedichten die Wanderung unternommen werden? (Um die Schönheiten
der Natur zu bewundern.) 5. Wodurch werden beide Dichter veranlaßt,
aus vollem Herzen Gottes Lob zu singen? (Durch den Gesang der Vögel.)
6. Wodurch unterscheidet sich der religiöse Eindruck, welchen die Natur
auf die beiden Dichter ausübt? (G. wird hauptsächlich zum Lobe Gottes
und zur Sehnsucht nach dem Himmel, in dem es besser ist als auf dem
schönsten Fleck der Erde, angeregt; E. spricht das feste Vertrauen auf Gott
ans, „der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld und Erd' und Himmel will
erhalten", daß er auch die Sache des Wanderers glücklich ausführen wird.)
W. D.
Joseph von Eichendorffs dichterische Eigenart.
Aus der reichen Fülle der Eichendorffschen Dichtungen ist nur eine
kleine Zahl in die Lesebücher übergegangen, doch genug, um daran seine
Eigenart zu erkennen.
I. Inhalt. 1. Als echter Romantiker wendet E. seinen Blick
rückwärts auf das deutsche Mittelalter und singt wieder im Anschluß an
das Volkslied der „fahrenden Leute" helljubelnde Lieder vom Wandern
(Der frohe Wandersmann, Reiselied, Morgengebet). Das Besondere seiner
Wanderlieder nun ist, daß der Frohsinn, der aus dem Wandern quillt,
und der Natur sinn, der beim Wandern sich liebevoll in die Natur ver-
tieft, religiös verklärt werden: das Wandern selbst eine Gunst Got-
tes, der Anblick des Himmels und der Erde eine Mahnung zum Gott-
vertrauen! Alles, was des Wanderers Auge erschaut, vom Bächlein an
bis aufwärts zum Hinimelsdom, verlebendigt sich der dichterischen An-
schauungskraft. — Das ganze Leben erscheint E. als Wanderung über den
Strom der Zeit zum Herrn der Ewigkeit (Morgengebet). Dabei sind ihm
656
III. Lyrische Gedichte.
Erde unb Himmel nicht etwa unüberbrückbar geschiebene Welten; ans
seiner Wanderung durchs Leben steht er mit Gott in stetem Verkehr durch
seine Gedanken und Lieder (Reiselied), weil diese himmlischen, nicht irdi-
schen Ursprungs sind. — Diese Mischung von Irdischem und Göttlichem,
diese religiös verklärte Welt- und Naturbetrachtung in
E.s Liedern ist so einfach, so innig, daß sie nirgends gesucht und unnatür-
lich erscheint.
2. Das gilt auch von seinen Waldliedern (Abschied vom Walde,
Der Jäger Abschied), die ich von der vorigen Gruppe abtrenne, weil E.
als Dichter uns über den deutschen Wald etwas Neues, Besonderes zu
sagen hat, was seine Vorgänger mit ihren Dichteraugen noch nicht er-
schauten. Der Wald ein Meisterbau Gottes (vgl. „Buchenhallen" in
„Reiselied"), ein wallendes, kühles Banner, die Heimat des Dichters
und frommer Sagen, Ort eines stillen Gelübdes, das deutsche
Panier (Der Jäger Abschied); die Andachtsstätte des Dichters in
Freud' und Leid, ein grünes Zelt, das die geschäftige Welt ausschließt
und in seiner Herrlichkeit das Erdenleid verscheucht, ein Buch voll stiller,
ernster Worte, das mit seinem gewaltigen Ernste auch in der Erinnerung
noch auf des Dichters Herz einwirkt (Abschied v. W.): welche Fülle an-
schaulicher Vorstellungen! Durch E. sind sie Gemeingut des deutschen
Volkes geworden; durch ihn hauptsächlich unter den Romantikern haben
wir den deutschen Wald für Herz und Phantasie uns neu erobert.
3. Die beiden religiösen Lieder (Sonntag, Weihnachten) tragen den
Charakter der innigen Verschlingung religiöser und Natur-Motive in ver-
stärktem Maße. Dem Dichter erscheint bei der Feier des Sonntags und
des Weihnachtssestes die ganze Welt wie eine einzige, große, feiernde
Gemeinde Gottes: in „Sonntag" feiern die Lerche, die Bäume am Hause,
die Blumen, der Wald, die Morgenglocken, der Mensch; mitten unter
ihnen der, dem die Feier gilt, durch den stillen Wald schreitend, der liebe
Gott. (Zu dem echt volkstümlichen Attribut vgl. Luther, Sendbrief
vorn Dolmetschen: „Wer Deutsch kann, der weiß wohl, welch ein herzlich
feines Wort das ist: . . . der liebe Gott, der liebe Kaiser ustv.") Ähn-
lich in „Weihnachten"!
4. Von den epischen oder episch-lyrischen Dichtungen (Loreley, Die
zwei Gesellen, Das zerbrochene Ringlein) trägt die bekannteste, „Das
zerbrochene Ringlein", am deutlichsten das Gepräge des Volksliedes an
sich nach Wahl des Themas — Untreue in der Liebe — und Art der
Behandlung.
B. Form. 1. Eichendorfss Gedichte sind nach einem Worte Ad.
Sterns (Gesch. der neueren Lit. V, 464) „von einem sprachlichen Wohl-
laute, der beinahe schon selbst Musik ist". Als sprachliche Mittel Ver-
wender der Dichter: klangvolle Vokale, Stabreime (z. B. Der frohe Wan-
dersmann, Str. 1 und 3), Binnenreime (vgl. Die zwei Ges.), viele eigen-
artige Bilder, Anaphora (z. B. Das zerbr. Ringl.: „Ich möcht'" — drei-
mal), kennzeichnende Beiwörter (z. B. in einem kühlen Grunde: dies
eine Eigenschaftswort läßt mit einem Schlage den tief eingeschnittenen
Redwitz: Verzage nicht!
657
Talgrund mit seinem Wiesenteppich, plätschernden Bach und stillen Müh-
lenteich vor das Auge treten; ähnlich in demselben Gedicht „blut'ge
Schlacht, stille Feuer, dunkle Nacht"), Antithese (nicht in der scharf ge-
schliffenen Form, die Schiller liebt; z. B.: Reiselied Str. 6, Abschied Str. 1,
Die zwei Gesellen Str. 1 u. 2 gegen Str. 3—5).
2.. Als Rhythmus verwendet E. bald den regelmäßigen Wechsel
von Hebungen und Senkungen, bald den deutschen Akzentvers.
3. Die Reinheit des Reimes wird mit großer Sorgfalt gewahrt.
Im „zerbrochenen Ringlein" verwendet E. die Assonanz, um den Klang
des Volksliedes nachzuahmen. — Als ein vortreffliches Beispiel für die
Weise, wie E. sprachliche und rhythmische Mittel dieser Art zu gebrauchen
versteht, mag Str. 4 von „Die zwei Gesellen" erwähnt werden: die vollen
Reimvokale, die Mittelwörter aus „end" als bezeichnende Attribnte, die
Ruhelosigkeit im Aufbau des Satzes, der erst am Strophen ende zum
Abschluß kommt, die Häufung der Senkungen im Akzentvers — alles
nmlt aufs anschaulichste das bewegte Locken der „tausend Stimmen".
II. E. stellt sich uns in seinen Dichtungen als ein klarer, ruhevoller
Charakter dar, der den drei Welten um uns — Natur, Menschenleben,
Gott — mit wunderbar geschlossener, einheitlicher Anschauung gegenüber-
steht. Das Band, das diese Einheit herstellt, ist seine religiöse Betrach-
tungsweise, die in den bekannteren Liedern nicht den spezifisch katholischen
Standpunkt vertritt und selbst in der Abkehr von der „geschäft'gen, stets
betrognen Welt" nicht weltflüchtiges Mönchtum predigt. Mag dem Dich-
ter auch die Kraft hinreißender Leidenschaft fehlen — das zeigt sich z. B.
in seinen Liedern aus den Jahren 1812 und 1813 —, mag eine „träume-
risch-weiche Stimmung" (Stern a. a.O.) über manchem seiner Gedichte
liegen, in andern der Schmerz wie die Freude leise gedämpft erscheinen:
in dieser Geschlossenheit des Charakters, in dieser herzlichen Freude an
den Wundern Gottes, in diesem innigen Gottvertrauen kann er uns vor-
bildlich sein; er kann uns auch lehren, mit welchen Augen wir die Natur
und die Menschen betrachten sollen — in der Welt und doch der Unruhe
der Welt fern. Dr. P. Polack.
246. Verzage nicht!
Oskar v. Redwitz.
1. Ich höre leis den Baum mich
fragen:
„Was ist dein Herz so gramver-
stimmt ?i)
Ich will ja auch darum nicht klagen,
daß mir der Herbst die Blätter
nimmt!2 *)
3. Und aus dem Bächlein hör' ich's
sprechen:
„Was weinest du? Verzage nicht!
Ich muß durch Kluft«) und Dornen
brechen
und komme doch am End' ans
Licht.«)
2. Denn wie mir Gott zur rechten
Stunde
die Blätter nimmt und wieder leihts),
so schlägt und heilt des Herzens
Wunde 4 * *)
auch dir dein Gott zur rechten Zeit."
2IbS. II. 8. Aufl.
4. Viel goldner aus der Klüfte
Dunkeln 7)
mir dann das Licht des Tages
scheint: —
so wird die Freude sel'ger funkeln«)
dereinst aus Augen trübverweint."
42
III. Lyrische Gedichte.
658
1. Vermittlung. 1. Gramv er stimmt — durch Leiden und Unglück
niedergedrückt. Das Herz ist verstimmt = es ist nicht in der Stimmung,
sich zu freuen und sich zu erheben. 2. Der Herbst nimmt die Blätter —sie
fallen im Herbste ab. 3. Die Blätter leihen —sie geben bis zur Zeit des
Abfallens. 4. Des Herzens Mundender Gram, welcher das Herz erfüllt.
5. Klust—durch Felsen eingeengter Weg. 6. Ans Licht kommen —
aus den dunklen Klüften ins Freie hervortreten. 7. Aus der Klüfte
Dunkeln^aus der Finsternis, die mich in den Klüften umgibt. 8. Die
Freude funkelt aus den Augendie sonst trübverweinten (durch
Weinen matt und glanzlos gewordenen) Augen strahlen wieder hell und
freudig.
II. Vertiefung. Gliederung undGedankengaug. 1. Das Ge-
dicht will einem Bekümmerten unter Hinweisung auf Gottes Hilfe Trost
zusprechen. 2. Es werden Vergleichungen mit dem Baum und Bächlein
aufgestellt. Letztere werden redend eingeführt. Wie fragt der Baum und
wie das Bächlein? a) Der Baum verliert im Herbste auch seine Blätter,
aber der liebe Gott verleiht sie ihm auch wieder zur rechten Zeit. b) Das
Bächlein muß aus Kluft und Dornen brechen, bis es ans Licht kommt.
3. Bei dem Baume ruht der Hauptgedanke auf dem Worte „zur rechten
Zeit." „Denn wie mir Gott — so auch dir dein Gott zur rechten
Zeit." 4. Bei dem Bächlein liegt der Hauptgedanke in den Worten „und
komme doch am End' ans Licht". Wie bei dem Baume „nehmen und
leihen" in Gegensatz gebracht sind, so stehen bei dem Bächlein „Kluft
und Licht" einander gegenüber. 5. In der 4. Strophe beziehen sich die
beiden ersten Verszeilen noch auf das Bächlein; die beiden andern Vers-
zeilen weisen den Bekümmerten auf die Zeit, in welcher wieder Freude
in das Herz eingekehrt sein wird- Wie das Licht des Tages dem Bächlein
aus der Klüfte „Dunkeln" viel goldener scheint, so wird auch dem tief
Bekümmerten nach überstandenem Leide die Freude sel'ger funkeln, und
die sonst trübverweinten Augen werden in hellerem Glanze strahlen.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung. Wenn die Not am größten,
ist Gottes Hilfe am nächsten. — Hilft er nicht zu jeder Frist, hilft er doch,
wenn's nötig ist. — Er weiß auch wohl die rechte Zeit.
2. Rede- und Stilübung en. a) Vergleiche die Frage des Bau-
mes mit der des Bächleins! b) Welche Ähnlichkeit und welcher Unter-
schied liegt in der Antwort des Baumes und des Bächleins? c) Nenne
Sprüche aus der Heiligen Schrift, welche uns gebieten, nicht kleingläubig
und verzagt zu sein! L. Dosch.
247. A. Schifferlied.
Johannes Falk. Bibliothek deutscher Klassiker. Hildburghausen 1862. Bd. XIII. S. 822.
I. Vorbereitung und Vortrag. Ein furchtbarer Sturm hatte vier
Schiffer in ihrem Kahne hinaus in die wild erregte Ostsee getrieben.
Wie wilde Tiere mit grimmigem Unverstände stürzten die Wellen über
das Schifflein her. Bald trugen sie es hoch auf die Schaumkämme der
Wogen, bald schleuderten sie es tief hinab in die Wellentäler. Stoß auf
Falk: Schifferlied.
659
Stoß schnaubte der Wind; Schlag auf Schlag klatschten die Wogen gegen
und über das Schiff. Die Schiffer ruderten mit aller Kraft, aber ein
Ruder nach dem andern zerbrach. Nirgends zeigte sich Land, nirgends
Rettung. Die Nacht brach herein; Mond und Sterne verschwanden hinter
dicken, schwarzen Wolken. Mit jeder Welle, die heranschäumte, tranken
sie tropfenweise den bittern Kelch des Todes, der ihrer in den Fluten
wartete. Da dachten sie in ihrer Not, als Menschenhilse fern und eigene
Kraft ohnmächtig war, des Heilandes, der einst auf dem See Genezareth
während eines wilden Sturmes im Schifflein schlief und dann die um
Hilfe schreienden Jünger und das Schiff rettete (Matth. 8,23—27; Mark.
4,37—44; Luk. 8,23—25). Sie gedachten weiter daran, wie einst die
Jünger auf dem See Not von den Wellen litten, Jesus ihnen auf dem
See erschien und dem sinkenden Petrus die starke Rettungshand reichte.
Zu ihm, dem einzigen und rechten Helfer, erhoben sie ihr Herz und ihre
Stimme: „Christ, Kyrie! Komm zu uns auf dem See!" Und siehe! da
teilten sich die Wolken, und der Abendstern leuchtete wie eine helle Hoff-
nung am Himmel. Der Sturm legte und das Meer beruhigte sich all-
mählich. Als der Tag anbrach, setzten die Schiffer Notsegel auf, die sie
aus ihren Hemden herstellten. Mit Erstaunen sahen die Zuschauer ain
Lande die vier halbnackten Männer im Schifflein und hörten ihr Lob-
lied, das über das Wasser scholl. Hört es auch! (Vortrag.)
1. Nach dem Sturme fahren wir
sicher durch die Wellen,
lassen, großer Schöpfer, dir
unser Lob erschallen. »
Lobt ihn mit Herz und Mund,
lobt ihn zu jeder Stund'!
Christ, Kyrie, komm zu uns auf dem
See!
2. Wie mit grimm'geni Unverstand
Wellen sich bewegen!
Nirgends Nettnng, nirgends Land
vor des Sturmwinds Schlägen!
Einer ist's, der in der Nacht,
einer ist's, der uns bewacht!
Christ, Kyrie, du schlummerst auf dem
See!
II. Vertiefung.
1. Gedankengang. Str. 1: Lobgesang nach dem Sturme. Str.2
und 3: Erinnerung an die Gefahr im Sturme und den Hoffnungsstern
im Dunkel und Grans. Str. 4: Bitte um Hilfe in der letzten Not.
2. Grundgedanke: In Not und Tod ist Christus unser Helfer; zu
ihm müssen wir unsere Zuflucht nehmen. Ps.50,15. Rufe mich an in
der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen. Ps. 145,18,19.
Der Herr ist nahe —.
3. Eigentümlichkeiten. Das Lob des Schöpfers steht voran;
es gewinnt an Wärme und Innigkeit durch die Erinnerung an die Ge-
fahr. Die überstandene Not mahnt zu rechter Vorbereitung auf den Tod,
42*
Z. Wie vor unserm Angesicht
Mond und Sterne schwinden!
Wenn des Schiffleins Ruder bricht,
wo nun Rettung finden?
Wo sonst als bei dem Herrn!
Seht ihr den Abendstern?
Christ, Kyrie, erschein' uns auf dem
See!
4. Einst, in meiner letzten Not,
laß mich nicht versinken!
Sollt' ich von dem bittern Tod
Well' auf Welle trinken:
reich' mir dann liebentbrannt,
Herr, deine Glaubenshand!
Christ, Kyrie, komm zu uns auf dem
See!
660
III. Lyrische Gedichte.
damit wir einst nicht hilf- und hoffnungslos in den dunklen See der
Ewigkeit versinken. Christus reicht uns seine starke Gnadenhand, die wir
mit unserer Glaubenshand ergreifen. — Dem „großen Schöpfer" wird
das Loblied gesungen, weil die Schiffer eben seine Macht als Schöpfer
und Beherrscher des gewaltigen Meeres bewundert haben. — Jede Strophe
endet mit dem kurzen Stoßseufzer: „Christ, Kyrie!" (Christus unser Herr!)
usw." Dieser Refrain hat in jeder Strophe eine andere Bedeutung. In
Str. 1: Rette uns nun völlig! In Str. 2: Du Helfer bist bei uns auf
dem See, aber du schlummerst; deine Stunde zum Helfen ist noch nicht
gekommen. In Str. 3: Mit dem Abendstern — der Hoffnung — er-
schein' uns wach und hilfbereit! In Str. 4: Komm einst zu uns auf
dem dunklen See des Todes, wenn wir in langsamer Sterbensnot ver-
sinken, und rette uns durch deine Liebe! — Es heißt nicht auf „der See"
(dem Meere), sondern auf „dein See", weil der Dichter immer das Bild
des Sturmes auf dem See Genezareth im Sinne hat.
III. Verwertung. 1. Nutzanwendung und V erwand tes. Jesus
stillt den Sturm, wandelt auf dem Meere und reicht Petrus seine rettende
Hand. — Jonas (Kap. 1) wird bei einem Sturme ins Meer geworfen.
— Pf. 46, 4: Wenn gleich das Meer wütete und waltete — Pf. 42, 8:
Deine Fluten rauschen daher, daß hier eine Tiefe —. Der Reiter und
der Bodensee. — Wie ein Schifflein überm Meere, schwebt das Leben
überm Tod —. Ein Gesang über den Wassern (Blätter aus dem
Rauhen Hause): ,Nach Amerika geht die Straße weit, und wer dahin
will, muß mehr als einen Sonntag unterwegs bleiben usw."
2. Aufgaben: a) Schildere nach dem gegebenen Stoffe die „Not
auf der See"! — b) Wie unterscheidet sich der viermalige Refrain in
seiner jedesmaligen Bedeutung? — c) Welche Momente sind aus der
biblischen Geschichte in das Schifferlied übergegangen? —
Fr. v. Meyer. Des Mägdleins Dichterwald.
1. Es steht im Meer ein Felsen,
die Wellen kreisen herum;
die Wellen brausen am Felsen,
doch fällt der Fels nicht um.
2. Es zieht einher ein Wetter
und rasselt am starken Baum,
zur Erde sinken wohl Blätter,
doch eisern steht der Baum.
7. Aufl. Hannover 1875. S. 99.
3. Ein Turm ragt überm Berge
und schaut in das Tal hinab;
die Winde rasen am Berge,
doch fällt kein Stein herab.
4. Des Höchsten ewige Treue
steht fester denn Fels und Turm
und grünt und blühet aufs neue
und trotzt dem rasenden Sturm.
ä) Vergleiche: B. Gottes Treue
Colshorn.
I. Ähnlichkeit. Der Herr ist stärker als Meer, Sturm und
Hagel. Seine Treue steht fester als der Grund der Erde, und mit seiner
Hilfe ist er uns überall nahe. Klag. Jer. 3, 23: Seine Barmherzigkeit
ist alle Morgen neu, und deine Treu ist groß.
II. Verschiedenheiten. A führt uns auf das Meer während eines
furchtbaren Sturmes, B auf einen Felsen in der Meeresbrandnng, zu
einem starken Baum im Hagelwetter und auf einen hohen Turm im
Schiller: Hoffnung.
661
Sturmesbrausen. In A ohnmächtige Schiffer und der allmächtige Retter,
in B Fels, Baum und Turm als schwache Sinnbilder der göttlichen Treue
und Hilfe in den Stürmen des Lebens. In A Sturmesnot, Hilferufe,
Rettung, Bitte um Beistand in der letzten Not; in B brausende Wellen,
rasselndes Hagelwetter, rasende Stürme, unerschütterliche Treue und Liebe
Gottes. Grundgedanke in A: Christ ist mit seiner Hilfe auf dem See;
in B: Seine Treue ist unerschütterlich und ohne Ende.
6) Vergleiche: C. Die Liebe fjöret nimmer auf.
Bon Heinrich Seidel.
1. Es ist kein Tal so wüst und leer, 2. Es ist kein Menschenherz so tief
drin nicht ein Blümchen blühet, versenget und versunken,
und keine Nacht so wolkenschwer, daß nicht in seiner Asche schlief'
drin nicht ein Sternlein glühet. der ewgen Liebe Funken.
(Kein wüstes Tal ohne ein Blümchen, keine wolkenschwere Nacht ohne
ein Sternlein, kein versunkenes und zu Asche versengtes Menschenherz
ohne einen Funken der ewigen Liebe. Glaube an den Menschen und an
das Gute! Glaube an die Allmacht der ewigen Liebe! Arbeite an der
Rettung der versunkenen und verkonnnenen Seelen.! Das ist das Rettungs-
Werk der innern Mission.) B.
248. Hoffnung.
Fr. v. Schiller. Werke. Leipzig. Bibl. Institut. I, S. 361.
1. Es reden und träumen die Men-
schen viel
von bessern künftigen Tagen;
nach einem glücklichen, goldenen Ziel
sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder
jung,
doch der Mensch hofft immer Ver-
besserung.
2. Die Hoffnung führt ihn ins Le-
ben ein,
sie umflattert den fröhlichen Knaben;
den Jüngling begeistert ihr Zauber-
schein,
sie wird mit dem Greis nicht be-
graben;
denn beschließt er im Grabe den mü-
den Lauf,
noch am Grabe Pflanzt er — die Hoff-
nung auf.
3. Es ist kein leerer, schmeichelnder
Wahn,
erzeugt im Gehirne des Toren;
im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besferm sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht.
I. Vorbereitung und dann Vortrag. Vierzig Jahre lang wanderte
das Volk Israel in der Wüste und schaute mit Sehnsucht nach dem ver-
heißenen Lande, da Milch und Honig floß. Endlich stand es an der Grenze
desselben. Moses, der treue Führer des Volkes, stieg auf die Spitze des
Berges Nebo. Von hier zeigte ihm der Herr das gelobte Land in seiner
Schönheit und sprach: „Dies ist das Land, das ich enren Vätern ge-
schworen habe. Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst
nicht hinein kommen!" Und wie dem Manne Gottes, Moses, so geht
es uns bis zu diesem Tage. Das Leben ist eine Wanderung durch die
Wüste. Schmerz, Not und Entbehrung bringt jeder Tag. Da eilt der
Wunsch und die Sehnsucht aus der unbefriedigten Gegenwart in eine
662
III. Lyrische Gedichte.
künftige Zeit und in ein fernes Land, wo die Klagen schweigen, die Wünsche
sich erfüllen und Sonnenschein die Landschaft verklärt. Dies sehnende Aus-
schauen nach dem Glück der Zukunft und die stille Zuversicht auf die
endliche Erreichung des besseren Loses — ist die Hoffnung. Sie ist
die treue Begleiterin durchs Leben und macht die schlimmen Tage, die
uns nicht gefallen, erträglich. Was sie bedeutet, sagt Schillers Lied „Hoff-
nung". (Vortrag.)
II. Erläuterungsfragen. Str. 1. Wie unterscheiden sich träumen
und reden? (Die Träume gaukeln uns im Geiste schöne, aber un-
bestimmte Gebilde künftigen Glückes vor; die Rede kleidet sie in Worte,
gibt ihnen Ausdruck.) Was bietet die Gegenwart, wenn sich die Men-
schen nach einer besseren Zukunft sehnen? (Entsagung, Schmerzen, Not
usw.) Warum heißt das Strebeziel golden? (Es ist hoch, kostbar,
wertvoll. — Mit Gold glaubt man das Glück zu erkaufen. Am Golde
hängt, nach Golde drängt ja alles.) Wie unterscheiden sich rennen und
jagen? (In der Rennbahn steht das Ziel fest, und der Weg ist vor-
geschrieben. Bei der Jagd entfernt sich das Ziel und ändert sich der Weg.)
Wie wird die Welt alt und wieder jung? (Auf das alte Jahr folgt ein
neues; aus das Sterben der Natur im Herbste eine fröhliche Auferstehung
im Frühjahr; auf die alte, absterbende Generation eine junge, aufstrebende.
Es erneuert sich das Jahr, die Gestalt der Erde und das Menschen-
geschlecht.) Was für eine Verbesserung hofft der Mensch? (Seiner Lage
und der öffentlichen Zustände.)
Str. 2. Wie führt die Hoffnung den Menschen ins Leben ein?
(Sie begrüßt das Kind bei der Geburt und erwartet Glück und Freude
von ihm.) Womit wird sie verglichen, da sie den Knaben umflattert?
(Mit singenden und schwingenden Vöglein oder bunten, gaukelnden
Schmetterlingen. Es ist kein sicherer Verlaß darauf.) Wie begeistert
sie den Jüngling durch ihren Zauberschein? (Sie malt ihm das Leben
der Zukunft, seine Aufgaben und sein Glück in wunderbaren Farben ans
und weckt dadurch alle Kräfte des Geistes.) Welche Hoffnungen hat der
Greis? (Auf die Liebe der Seinen, ein ehrenvolles Gedächtnis und die
Seligkeit des Himmels.) Welchen LaufbeschließtdasGrab? Warum
heißt er müde? (Die Kraft zur Arbeit und zum Streben ist erloschen.)
Womit ist die Hoffnung am Grabe verglichen, da sie aufgepflanzt
wird? (Mit einer Fahne, die der Sieger aus der eroberten Schanze auf-
pflanzt.) Welche Hoffnung darf der sterbende Greis haben, wenn dies
die Kreuzesfahne ist? (Seligkeit, Wiedersehen in der Ewigkeit.) Womit
trägt sich der Mensch selbst im Angesichte des Todes, wenn er mit allen
Fasern an der Erde hängt? Mit allerlei irdischen Hoffnungen.)
Str. 3. Was ist ein Wahn? (Vergl. wähnen oder meinen! —
Scheingebilde, unbegründete Vorstellungen und Urteile.) Wann ist er
leer? (Weun er ohne Inhalt, ohne Wahrheit, ohne Grund, also ein Irr-
tum ist.) Warum heißt er schmeichelnd? (Er gefällt uns, täuscht uns
angenehm, trägt uns süß kosend und gaukelnd über Schmerz und Not
der Gegenwart hiniveg.) Was ist hier mit Tor gemeint? (Ein Mensch,
Schiller: Hoffnung.
663
der allerlei Phantasie- oder Wahngebilde ausheckt.) Wo ruht die Be-
gründung der Hoffnung? (Im Herzen.) Was für einen Ursprung hat
sie also? (Einen göttlichen.) Zu welch Besserem sind wir geboren?
(Zur Vollendung in der Ewigkeit, zur Gemeinschaft mit Gott und zum
Wiedersehen unserer Heimgegangenen Lieben.) Was spricht die göttliche
Stimme in der Bibel und in unserm Innern? (Über der Erde ist der
Himmel, nach dem Grabe folgt die Auferstehung.) Was hofft die Seele?
(Seligkeit im Himmel.) Wann wäre sie getäuscht, d. h. betrogen?
(Wenn die innere Stimme löge.) Warum kann sie das nicht? (Des Herrn
Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiß.)
III. Vertiefung. 1. Charakter der Hoffnung. Sie ist das
sehnende und zuversichtliche Ausschauen nach einem künftigen Glück, nach
höherer Vollendung; sie ist die Begleiterin des Menschen durch das ganze
Leben, die Trösterin in der Not der Gegenwart. Sie regt sich überall
und zu allen Zeiten und bleibt auch stetig beim Wechsel ringsum. Sie
begrüßt das Kiud bei der Geburt, umflattert den Knaben, begeistert den
Jüngling, tröstet den Greis. Sie ist kein Phantasiegebilde, sondern eine
göttliche Stimme in uns und die Bürgschaft unserer dereinstigen Voll-
endung im Lichte der Ewigkeit .
2. Gedankengang. Str. 1. Die Hoffnung erfüllt den Menschen
überall und zu allen Zeiten. Str. 2. Sie begleitet ihn von der Wiege
bis zum Grabe. Str. 3. Sie ist göttlichen Ursprungs.
3. Grundgedanke: Die Hoffnung ist göttlichen Ursprungs und
führt uns durch das wechselvolle Leben endlich zur Vollendung. — Wenn
Hoffnung nicht wär', so lebt' ich nicht mehr.
4. Schönheiten der Sprache. Bilder: Das Leben ist ein Wett-
rennen nach goldenem Preise, eine Jagd nach flüchtigem Glücke. Die
Hoffnung ist die Amme des Kindes, ein flatternder Schmetterling für
den Knaben, ein Zauberlicht für den Jüngling, eine Siegesfahne für
den Greis.
IV. Verwertung. 1. Verwandtes. „Und dräut der Winter noch
so sehr —" (II, Nr. 147). Der Traum von einem goldenen Zeitalter
der Menschheit. — 1. Mos. 47,9: „Wenig und böse ist die Zeit meines
Lebens." — I.Kor. 9,24: „Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken
laufen —". 1. Mos. 8,22: „Solange die Erde stehet —Luk. 2,29:
„Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren —". Hebels
Wegweiser (II, Nr. 204): „Sell Plätzli het e gheimi Tür, nnd's sin
noch Sachen ehna dran."
2. Aufgaben, a) Warum erscheint uns die Gegenwart schlimmer
als die Vergangenheit im Lichte der Erinnerung und die Zukunft im
Lichte der Hoffnung? — b) Worin suchen die Menschen das Glück? —
e) Wie wird die Welt alt und wieder jung? — d) Welche Hoffnungen
hat der Knabe, der Jüngling, der Greis? — e) Was hoffen wir nach
den Verheißungen der Bibel von der Ewigkeit? ?.
664
III. Lyrische Gedichte.
249a. A. Über ein Stündlein.
Paul Heyse. Gesammelte Werke. I. Bd. Berlin 1872. S. 1.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Ziel. Die Berggipfel
glänzen früh im Sonnenschein, aber auf den Tälern liegt noch Nebel
oder Dämmerung. Hohe Türme ragen himmelan, glänzen im Sonnen-
golde und schicken den Glockenschall hinaus ins Land, aber in den düstern
Kammern der engen Gassen graut erst der Morgen und seufzt die Armut.
Der reiche Mann kleidete sich in Purpur und köstliche Leinwand und lebte
alle Tage herrlich und in Freuden, aber der arme Lazarus lag vor seiner
Tür voller Schwären und begehrte sich zu sättigen von den Brosamen,
die von des Reichen Tische fielen. So stoßen überall im Leben die Gegen-
sätze hart zusammen; Licht und Schatten, Glück und Unglück, Genuß und
Entbehrung scheinen ganz ungleich verteilt, und überall wird die Frage
laut: Warum ist Lust und Leid mit so ungleichem Maße den Menschen
zugemessen? Und mit dieser Frage schießt der Neid ans, der dem Nächsten
das vermeintliche Glück nicht gönnt.
Einem Herzen, das sein licht- und freu denarmes Los
beklagt undintörichtemNeideaussein erd unkelnKamm er.
in der engen Gasse empor nach der lichtumflossenen Turm-
stubeschaut, hat derDichter PanlHeyse ein gutes Wort der
Mahnung und des Trostes zugerufen. Hört es! (Vortrag.)
Dulde, gedulde dich fein!1) •
Über ein Stündelein8)
ist deine Kammer voll Sonne!3)
Über den First, wo die Glocken
hangen^),
5 ist schon lange der Schein gegangen,
ging in Türmers Fenster ein.8)
Wer am nächsten dem Sturm der
Glocken 8),
einsam wohnt er, oft erschrocken1),
doch am frühsten tröstet ihn Son-
nenschein. 8)
10 Wer in tiefe Gassen gebaut8),
Hüit' an Hüttlein lehnt sich traut18),
Glocken haben ihn nie erschüttert11 * * *),
Wetterstrahl ihn nie umzittert18),
aber spät sein Morgen graut.18)
15 Höh' und Tiefe hat Lust und
Leid.").
Sag ihm ab, dem törichten Neid!15 * *)
Andrer Gram birgt andre Wonne.18)
Dulde, gedulde dich fein!
über ein Stündelein
20 ist deine Kammer voll Sonne!11)
II. Erläuterungen. 1. Ertrage still dein Geschick und lerne mit
fröhlichem Gemüte warten! 2—3. Nach kurzer Zeit des Wartens strömt
auch in deine düstere Kammer das Sonnenlicht und in dein verdüstertes
Herz die Freude. 4. Der First (auch die Firste) ist die oberste Längen-
linie des Daches. Über dieselbe gleiten die Strahlen der aufgehenden
Sonne nach oben, nach dem obersten Teile des Turmes, wo die Glocken
hängen. Je höher aber die Sonne steigt, desto besser schaut sie über die
Hänsersirste nieder in die Straßen und Gassen. 5. Nahe den Glocken
wohnt der Türmer, der die Glocken zu läuten, die Uhr zu stellen und
nach Feuerschein auszulugen hat. In sein Stüblein blickt die Sonne zu-
erst und erfüllt sie mit Licht. 6. Aber die sonnige Wohnung des Turm-
wächters hat auch ihre Schattenseiten: der grelle Schall der nahen Glocken
braust wie ein Sturm in die Ohren. 7. Er wohnt allein und kann Leid
Hepse: Über ein Stündlein.
665
und Freude mit keinem Nachbar teilen. Oft erschreckt ihn ein Gewitter
oder Feuerschein in der Stadt oder Sturmgebraus, so daß der ganze
Turm zittert und bebt. 8. Für diese Gefahren und Unbequemlichkeiten
entschädigt ihn früh der erste und abends der letzte Sonnengrnß und ein
klarer Blick in die Nähe oder Ferne. 9—10. Ties unter der Turmstube
liegen die Gassen oder engen Straßen der Stadt. Da haben kleine, arme
Leute Hans an Haus gebaut. Wie sich die Hütten gleichsam traulich und
zuversichtlich aneinander lehnen, so stehen sich die Menschen drin auch
herzlich nahe, tragen Freud' und Leid zusammen und helfen sich gegen-
seitig. 11—12. Der Glockenklang erschreckt die friedlichen Bewohner nicht,
sondern ist ihnen ein freundlicher Gruß aus der Höhe. Der aus der Ge-
witterwolke niederzuckende Wetterstrahl trifft nicht die niederen Hütten,
sondern den hohen Turm. 13. Aber es wird spät Tag in der Tiefe; das
freundliche Sonnenlicht kommt zuletzt hierher. 14. Wie der hohe Turm
und die niedere Gasse jedes in seiner eigenen Art Lust und Leid, Glück
und Gefahr hat, so geht's auch auf den Höhen und in den Tiefen der
Menschheit. Reichtum und hohe Stellung scheinen ein großes Glück, schlie-
ßen aber auch viele Gefahren ein. Armut und Niedrigkeit scheinen ein
Unglück, bergen aber doch oft ein reines, stilles Glück. 15. Entsage dem
Neide über anderer Glück und verjage ihn aus deinem Herzen, denn er
ist eine Torheit. 16. Wonne und Gram int Herzen stehen in inniger
Wechselbeziehung; je größer das eine, desto größer auch das andere. Nicht
auf äußere Glücksumstände, sondern ans das Herz kommt es an. 17. Jedes
Leben hat seinen Sonnenschein und jedes Herz sein Glück. Lerne zufrieden
und still darauf warten; auch deine Zeit kommt!
III. Vertiefung. 1. Ort und Zeit. Wir sind in einer volkreichen
Stadt. Ein hoher Turm ragt über das Häusermeer empor. Ein Blitz-
ableiter läuft von dem vergoldeten Kreuze bis zur Erde herab. Auf den
Fenstern der Türmerstube glänzt der erste Strahl der Sonne. Die Glocken
rufen den Morgengruß nieder in die Stadt. In engen Gassen stehen
dicht gedrängte Häuserzeilen um den Fuß des Turmes. Eins versperrt
dem andern Luft und Licht. Drin wohnen die „kleinen Leute". Hier
graut erst der Morgen, und die Dämmerung webt noch ihren Schleier in
den Gassen. Beim Schein einer Lampe sitzt in dunkler Kammer ein^'
Nähterin schon an der Arbeit. Sie schaut empor zu dem sonnbeglänzten
Turme und zu dem glücklichen Türmer, der droben fröhlich in die Weite
schaut, und dann hinaus in die düstere Straße, wo noch aus manchem
Fenster Lichtschein glänzt, und etwas wie Neid will ihr Herz beschleichen.
Da grüßt die Morgenglocke von oben und eine freundliche, teilnehmende
Nachbarin von der Seite. Ihre Hände falten sich zum Gebet, und die
Nachtgespenster verschwinden. Tiefer nub tiefer steigt nun der Sonnen-
schein in die dunkeln Gassen, bis auch ihr Stüblein endlich voll goldenen
Lichtes ist.
2. Charakter derHöhe und der Tiefe. Droben Sonnenschein,
drunten Dämmerung; droben ein luftiges, sonniges Stüblein und ein
weiter Blick, drunten eine dunkle Kammer und ein begrenzter Blick;
mhhmbhhhhmi
666
JII. Lyrische Gedichte.
droben Erschrecken über den lauten Glockenklang, drunten Freude über
den Gruß von oben; droben Einsamkeit, drunten liebevolle Menschen-
gemeinschaft; droben Gefahr vom Wetterstrahl und Sturz von der Höhe,
drunten Sicherheit; droben Sturmgebraus und sorgenvolle Umschau,
drunten Stille und Rübe.
3. Gedankengang, a) Mahnung zu geduldigem Warten (1—3).
b) Glück und Gefahr aus der Turmhöhe (4—9). c) Glück und Not in
der Tiefe (10—14). d) Ausgleich zwischen Höhe und Tiefe (15—17).
e) Verheißung des Sonnenscheins (18—20).
Grundgedanke: „Genieße, was dir Gott beschieden; entbehre
gern, was du nicht hast; ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand
hat seine Last." — Oder: „Wenn der Winter ansgeschneiet, tritt der
schönste Frühling ein; also wird auch nach der Pein, wer's erwarten
kann, erfreuet."
4. Schönheiten. Mit ein und derselben Mahnung und Verheißung
klingt das sinnige Gedicht an und aus: das erstemal nur beschwichtigend,
das zweitemal überzeugend und siegesgewiß. — Unter dem Bilde des
hohen Turmes und der niederen Hütten, des eigenartigen Lebens droben
und drunten sind schlicht und treffend die Gegensätze des Lebens zu-
sammengestellt und versöhnt. Zufriedenheit und Frieden, Trost und
Versöhnung gießt das Gedicht wie milden, warmen Sonnenschein in die
Herzen.
IV. Verwertung. 1. Nutzanwendung für Herz und Leben.
Die rechte Freude und das rechte Glück kann nur das Herz geben. Was
von außen dazu getan wird, um beides zu erhöhen, das sind nur Flitter.
Im Herzen ist die Freistatt, wo Armut und Reichtum gleich sind, wo sich
Höhe und Tiefe begegnm, wo ein und dieselbe Gabe hier die höchste
Befriedigung und dort das tiefste Mißbehagen erzeugen kann. Darum ist
das Herz der Regulator, durch den die ewige Liebe die Ungleichheit der
äußern Glücksumstände und die scheinbaren Ungerechtigkeiten des Geschicks
ausgleicht. Unglück ist nur in der Unzufriedenheit. Sie wächst mit den
Bedürfnissen, und jeder neue Genuß steigert die Ansprüche. Glücklich,
wer nicht neidisch vergleicht und nicht begehrlich wünscht! Auf den Höhen
ist viel Licht, aber auch Sturm, Gewitter und Hagelschlag. Je höher
die Stellung, desto tiefer der Sturz!
2. Aufgaben: a) Weise die letztgenannte Wahrheit an dem Schicksal
des Krösus, Nebukadnezar, Haman, Goliath, Napoleon I. und III. u. a.
nach! — b) Zeige an Beispielen aus Bibel, Geschichte und Lesebuch, wie
geduldiges Warten endlich gekrönt wird! — c) Zeige an Beispielen das
Glück in der Beschränkung und die Gefahren in der Höhe! —
d) Vergleiche mit P. H e y s e s Gedicht das nachstehende von Seidl, indem
du daraus nachweisest: 1. Höhe und Tiefe, Armut und Reichtum, Macht
und Ohnmacht grenzen dicht aneinander. 2. Jeder Mensch strebt nach
Licht, Glück und Frieden. 3. Jeder meint, der andere sei glücklicher. 4. Der
eine schaut hinaus, der andere hinab. 5. Der Neid und das ewige Wün-
schen machen unglücklich, Zufriedenheit und geduldiges Warten machen
Seidl: Der König und der Landmann.
667
glücklich. 6. In der Tiefe sind die Mittel zum Glück beschränkt, aber sie
werden dankbar benutzt; auf der Höhe sind sie zahlreich, werden aber oft
mißbraucht. 7. In der Tiefe ist Zeit und Gelegenheit, auch das Kleine
gerecht abzuwägen und sich selber gerecht zu erkennen; ans der Höhe drängt
eins das andere, werden oft Gunst und Gaben falsch verteilt, bleibt im
Gedränge der Pflichten und im Rausch der Vergnügen wenig Zeit, sich
selbst recht zu prüfen.
II. Der König und der Landmann.
Johann Gabriel Seidl. Bifolien. 5. Anfl. S- 73. Wien 1855.
1. Der Landm ann lehnt in der
Hätt' allein
und blickt hinaus in den Monden-
schein
und schaut empor zu des Königs Pa-
last,
er weiß nicht, welch ein Gefühl ihn
faßt.
4. Der König lehnt im Palast al-
lein
und blickt hinaus in den Monden-
schein
und schaut hinab in des Landmanns
Haus
und seufzt in das weite Schweigen
hinaus:
2. „Ach, wär' ich ein König nur eine
Nacht,
wie wollt ich schalten mit meiner
Macht,
wie ging ich umher von Haus zu
Haus
und teilte den Schlummernden Segen
aus!
3. Wie strahlte dann morgen so
mancher Blick
die Sonne zum erstenmal hell zurück!
Wie staunten einander die Glücklichen
an
und meinten: Das hat ein Engel ge-
tan!"
6. „Ach, wär' ich ein Landmanu nur
eine Nacht,
wie gern entriet' ich der drückenden
Macht,
wie lehrt' ich mich selber die schwere
Kunst,
nicht irr zu gehen mit meiner Gunst!
Mt--
6. Wie wollt' ich ins eigene Herz
mir sehn,
um wieder es offen mir selbst zu ge-
stehn !
Was tausend Hände mir nicht voll-
bracht,
das wollt' ich gewinnen in einer
Nacht!"
7. So schau'n sie sinnend beim Sternenlaus,
der König hinunter, der Landmann hinauf.
Dann schließen beide den müden Blick
und träumen beide von fremdem Glück.
e) Vergleiche: C. Beherzigung.
I. W. v.Goethe. Gedichte. Stuttgart 1815. S. 42 und 44.
Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser, ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?
Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?
Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die Felsen beben.
Eines schickt sich nicht für alle;
sehe jeder, wie er's treibe,
sehe jeder, wo er bleibe,
und wer steht, daß er nicht falle!
k) Vergleiche: I). Erinnerung.
Willst du immer weiter schweifen? lerne nur das Glück ergreifen,
Sieh! das Gute liegt so nah; denn das Glück ist immer da.
668
III. Lyrische Gedichte.
Beantworte nach den Gedichten folgende Fragen: Wie und warum
sind die Wünsche der Menschen so verschieden? — Wer liebt das ruhige
und behagliche Leben? — Wer klammert sich fest an die Scholle wie die
Muschel an den Felsen? — Wen treibt sein Beruf hin und her? —
Wer baut sich still sein Häuschen und begnügt sich mit einem beschränkten
Glück? — Wer lebt unter Zelten? — Wer baut sich Schlösser auf Felsen?
— Wann beben selbst die Felsen? — Was sollen wir nach dem Gedicht
beherzigen a) über die Mannigfaltigkeit der menschlichen Neigung,
d) über ihre Beschäftigung, c) ihren Aufenthalt und ä) ihre sittliche
Lebensführung? — Wie kann ein Mensch fallen? — Wie schweifen Men-
schen, Gedanken und Wünsche immer weiter? — Welches Gute liegt
nahe und wo? — Wie lernt man das Glück ergreifen, wenn man offene
Angen, ein zufriedenes Herz, ein dankbares Gemüt und redlichen Wil-
len hat? P.
2 19V. Warteinweilchen.
Johannes Trojan.
I. Einführung, Ziel und Vortrag. Kinder können immer die Zeit
nicht erwarten, bis ein Fest ins Land und ein guter Bissen auf den Tisch
kommt, bis die Blumen aus den Knospen quellen, die jungen Bögelchen
aus den Eiern schlüpfen und die Beeren aus den Blüten reifen. Was sie
sehen, möchten sie haben; was sie wünschen, müßte gleich geschehen. Diese
Ungeduld verdirbt oft die Freude und den Genuß. Alles will seine Zeit
haben, um zu reifen. Drum: Erwarte nur die Zeit! Das liebe Veilchen
mahnt dich zur Bescheidenheit. Welches Kraut aber mahnt dich
zu geduldigem Warten? Der Dichter Johannes Trojan kennt es,
nennt es „WarteinWeilchen" und beschreibt es in dem folgenden Ge-
dichte. Rate nun, in welchem Garten es wächst, und was es bedeutet!
1. Mir geht noch über die Veilchen,
die doch so hold und traut,
ein Kraut, heißt „Warteinweilchen",
ein wunderliebes Kraut.
2. Ein Sträuchlein steht im Garten
mit Beeren, o wie fein!
Kannst du ein Weilchen warten,
so sind die Beeren dein.
3. Sie unreif zu verzehren,
bringt doch nur bittres Leid.
Die Freuden und die Beeren,
die reifen mit der Zeit.
4. Ein Kraut heißt, Warteinweilchen",
ein wnnderliebes Kraut,
das geht noch über die Veilchen,
die doch so hold und traut.
II. Vertiefung. 1. Lagebild. Ein Garten im Frühling. Im Grase
unter den Hecken blaue Veilchen. Ein Stachelbeerbusch hat ausgeblüht
und Beeren angesetzt. Neben dem Strauche steht ein Kind und fühlt die
Beeren an, ob sie bald reif sind- Wird es die unreifen Dinger essen? Wird
es warten können, bis sie reif sind?
2. G e d a n k e n g a n g. a) Das Sträuchlein „Warteinweilchen" ist
wertvoller als die trauten Veilchen, die Bilder der Bescheidenheit, b) Das
Sträuchlein labt dich mit Beeren, wenn du das Reisen abwarten kannst,
e) Beeren wie Freuden sind nur ausgereift ein Segen, vorzeitig gepflückt,
ein Fluch, ck) Darum lerne neben der Bescheidenheit auch geduldiges
Warten.
Miller: Zufriedenheit.
669
3. Leitgedanke: Das Stränchlein „Warteinweilchen" wächst im
Herzen und heißt: Geduld.
4. Eigentümliches. Nach Art der Rätsel verhüllt das Gedicht
den tieferen Sinn. Er ist in den Worten ausgesprochen: „Die Freuden
und die Beeren, die reifen mit der Zeit." Das Rätselwort „Warteinweil-
chen" wird als Steigerung im Gegensatz zu Veilchen gesetzt. Das Veil-
chen im Garten als Sinnbild der Bescheidenheit ist lieb und traut, aber
das Stränchlein „Warteinweilchen" im Herzen als Bild des geduldigen
Wartens ist noch wertvoller für das Leben.
III. Verwertung. 1. Mahnungen für Herz und Leben. Sei
ein Veilchen an Bescheidenheit! Das ziert dein Wesen. Lerne warten und
meide vorzeitigen Genuß und ungeduldiges Drängen! Pflanze das
Stränchlein „Warteinweilchen" in dein Herz! Das regelt dein Leben, er-
höht deine Freude und erspart dir Enttäuschung und Leid.
2. Verwandtes. P. Heyse: „Dulde, gedulde dich fein, über ein
Stündelein ist deine Kammer voll Sonne." P. Gerhardt: „Erwarte nur
die Zeit, so wirst du schon erblicken die Sonn' der schönsten Freud'."
Salomo: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem
Himmel hat seine Stunde." P.
250 a. Zufriedenheit.
Johann Martin Miller. Voß, Musenalmanach 1777. S. 10.
I. Einführung. So alt die Welt ist, so alt sind auch die Klagen der
Menschen. Der eine klagt über mangelnde Gesundheit, der andere über
den Mangel an Hab' und Gut, ein dritter wohl gar über verfehlte Stan-
deswahl und Lebensweise. Wie wohltuend ist es daher, auch einmal ein
Lied und Lob der Zufriedenheit anstimmen zu hören, ein Lied, das volks-
tümlich geworden ist, und gerade in heutiger Zeit so recht verdiente, Volks-
lied zu werden!
1. Was frag' ich Diel1) nach Geld und
Gut,
wenn ich zufrieden bin!
Gibt Gott mir nur gesundes Blut,
so hab' ich frohen Sinn
und sing' aus dankbarem Gemüt
mein Morgen- und mein Abendlied.
2. So mancher schwimmt^) im Überfluß,
hat Haus und Hof und Geld
und ist doch immer voll Verdruß 3)
und freut sich nicht der Welt.4)
Je mehr er hat, je mehr er will;
nie schweigen seine Klagen still.
3. Da3) heißt die Welt ein Jammertal
und deucht mir doch so schön;
hat Freuden ohne Maß und Zahl7),
läßt keinen leer ausgehn.
Das Käferlein, das Vögelein
darf sich ja auch des Maien freun.
4. Und uns zuliebe 3) schmücken ja
sich Wiese, Berg und Wald;
die Vögel singen fern und nah,
daß alles widerhallt.
Bei Arbeit singt die Lerch' uns zu,
die Nachtigall bei süßer Nuh'.
5. Und wenn die goldne Sonn'aufgeht
und golden wird die Welt
und alles in der Blüte steht9)
und Ähren trägt das Feld73):
dann denk' ich: Alle diese Pracht
hat Gott zu unsrer Lust gemacht.
6. Drum bin ich froh und lobe Gott
und schweb' in hohem Mut")
und denk': Es ist ein lieber Gott,
er meint's mit Menschen12) gut!
Drum will ich immer dankbar sein
und mich der Güte Gottes freun.
670
III. Lyrische Gedichte.
II. Erläuterungen, a) Wort-und Sacherklärung. 1. Gar nicht
danach zu fragen, wäre töricht und leichtsinnig. Der Heiland selbst ver-
wirft keineswegs die pslichtmüßige und weise Sorge für den zeitlichen
Lebensunterhalt, sondern sagt nur (Matth. 6,24): „Seid nicht ängstlich
besorgt um euer Leben!" Die Sorge darum darf aber unser Herz nicht
beschweren, uns nicht den Frohsinn rauben. So töricht es wäre, gar nicht
darum sich zu kümmern, so töricht wäre es, viel danach zu fragen; denn,
wie das Sprichwort sagt: „Pracht, Gold und Ehr' sind morgen oft nicht
mehr." 2. Wie der Fisch im Wasser. 3. Stets ärgerlich. „Weil ich ver-
drießlich bin, bin ich verdrießlich." (Ludw. Bechstein: Der Verdrießliche.)
4. Hat keine Freude an dem, was ihn umgibt. 5. Bei dem Unzufriedenen.
6. Ich halte sie für schön, ich, der Zufriedene. 7. In sehr großer Anzahl.
8. Für uns. 9. Im Frühling. 10. Im Sommer. 11. Erfaßt mich Be-
geisterung. 12. Mit allen Menschen.
b) Schönheit in der Form. Geld und Gut — ein Begriff durch
zwei. Nenne den einen Begriff, der gemeint ist! (Reichtum.) Gesundes
Blut — Ursache statt der Wirkung (Neton^mis): gesundes Blut bewirkt
die Gesundheit. Haus und Hof und Geld — Spezialisierung des Be-
griffes : Überfluß. Geld und Gut (Str. 1), Haus und Hof (Str. 2). Be-
achte die Verwertung sprichwörtlich verbundener Wörter und den Stab-
reim! Da — mir: sehr wirksamer Gegensatz. Wiese, Berg und Wald —
Spezialisierung für: die ganze Natur. Schmücken sich — Personifikation.
Goldene Sonne — golden — Wiederholung desselben Wortes (Epana-
lepsis). Alles in der Blüte, Ähren trägt das Feld — Schilderung des
Frühlings und des Sommers durch je einen Vers.
III. Vertiefung, a) Gedankengang. Str. 1. Zur Zufriedenheit
und zum Frohsinn ist zunächst nur die Gesundheit notwendig. Str. 2.
Hinblick auf den Reichen, aber Unzufriedenen, Verdrießlichen. Str. 3. Die
gerade entgegengesetzten Anschauungen beider. Str. 4. Die Freude des
Zufriedenen über die Natur an sich. Str. 5. Die Freude an den Vor-
gängen in der Natur (Wechsel von Tag und Nacht, Wechsel der Jahres-
zeiten). Str. 6. Der Zufriedene gibt Gott die Ehre und dankt ihm.
b) Grundgedanke: Zufriedenheit und Frohsinn werden nicht durch
Überfluß erreicht, sondern durch Gesundheit und durch die Freude an der
Natur, e) Dichtungsart: Das Gedicht kann zu den weltlichen Lie-
dern gezählt werden, d) Versmaß und Reim: Vierfüßige und drei-
füßige jambische Verse; gekreuzte, männliche Reime.
IV. Zum Vergleich. Der Dichter hat selbst noch ein anderes Gedicht
unter dem Titel „Zufriedenheit" geschrieben:
l. Wohl dem, der mit der Welt zu-
frieden
und einig mit sich selber lebt!
Ihm ist ein großes Gut beschiedeu,
wonach der Tor vergebens strebt;
er sieht mit ruhigem Gefühl
des Lebens buntes Gaukelspiel.
2. Ihn kümmert nicht, daß andre
haben,
was er mit leichter Müh' entbehrt.
„Der Himmel hat der guten Ga-
ben",
so denkt er, „mir genug beschert."
Sein Herz, sich keiner Schuld bewußt,
dies ist sein Glück und seine Lust.
Zoozmann: Gebet.
671
3. Zufriedenheit, dich will ich wählen
und halte dich, solang ich bin;
so kann ich nicht das Ziel verfehlen,
so geh' ich froh durchs Leben hin
und scheide, wenn es Gott gefällt,
mit leichtem Herzen von der Welt.
und ferner ein Gedicht: „Der frohe Bauer", in welchem es heißt:
„Ach, ich grämte mich, sollt' ich ein Reicher werden.
Gold schätzen reiche Toren nur; wer wird sie drum beneiden?"
Claudius singt (in dem Gedichte „Genügsamkeit"):
„Und all das Gold und all das Gut gewährt zwar viele Sachen;
Gesundheit, Schlaf und guten Mut kann's aber doch nicht machen."
Vgl. Jesus Sirach31,8: Glückselig der Mann, der dem Golde nicht
nachstrebte und auf Gold und Schätze seine Hoffnung nicht setzte. Gibt
Gott mir nur gesundes Blut — vgl. das Gedicht von Voß: „Der Ge-
sunde", das so anfängt:
„Gesund an Leib und Seele sein,
das ist der Quell des Lebens."
Dr. Regent.
250 b. Gebet.
Von Richard Zoozmann. (Monatshefte des Daheim.)
Ein bißchen Sonne gib meinen Wegen,
für meine Saaten den nötigen Regen!
Schicke mir beides: Liebes und Leides,
wie dir's behagt!
Unverzagt
nehm ich's; denn alles fördert und frommt,
was aus deinen Händen kommt.
Nur zwischen beiden, den Freuden und Leiden,
reift und gedeiht — Zufriedenheit!
Wolle auch dann noch eines lehren:
wenig entbehren und wenig begehren,
laß mich tröstend in trüber Stunde
ein Wort der Liebe beseelen,
und laß in heitrer dem Munde
ein Lied nicht fehlen.
I. Einführung in Stoff und Stimmung. Dem Glücke jagen die Men-
schen nach. In großen Dingen suchen sie es, in Geld und Gut, in Ehre
und Ruhm, in Freude und Genuß. Den wahren Quell des Glückes fin-
den sie nicht, die Gemeinschaft mit Gott, die dem Herzen Frieden gibt. Wer
das Glück in Gottergebenheit und im Herzensfrieden sucht, der spricht
mit dem Dichter Zoozmann das folgende Gebet! (Vortrag.)
II. Gedankengang: Das Herz bittet a) um etwas Sonne, d. h. Freude
auf dem Lebenswege, b) um Segen für die Berufsarbeit, e) um Ergebung
in Gottes Willen bei dem Wechsel von Freuden und Leiden, und um Zu-
friedenheit, ä) um bescheidenes Begehren und williges Entbehren, e) um
ein tröstliches Liebeswort in trüben uni) f) um ein herzliches Lied in
heitern Stunden.
672
III. Lyrische Gedichte.
Grundgedanke: Trachte nicht nach hohen Dingen, sondern nach
dem Frieden des Herzens in der Gemeinschaft mit Gott!
III. Verwandtes: Geibels Gebet „Herr, den ich tief im Herzen
trage —". Paul Heyses „Über ein Stündelein —Goethes „Der du
von dem Himmel bist —". Gellerts „Genieße, was dir Gott beschieden,
entbehre gern, was du nicht hast- Ein jeder Stand hat seinen Frieden,
ein jeder Stand hat seine Last," Die dritte Bitte: „Dein Wille ge-
schehe —Jesu Bitte in Gethsemane: „Nicht mein, sondern dein Wille
geschehe". — Rückerts „Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt".
Försters „Blauveilchen". Lichtwers „Der Hänfling", Herweghs „Wunsch
der Welle" usw.
IV. Verwertung in Ausgaben: 1. Was ist mit dem „Regen für meine
Saaten" gemeint? 2. Wann nehme ich die Geschicke aus Gottes Hand
unverzagt? 3. Wie reift die Zufriedenheit? 4. Was soll ich gern
entbehren und was nicht begehren? 5. Woher kommt das tröstende
Wort der Liebe? Wie beseelt es mich? 6. Was sind trübe und was
heitere Stunden? 7. Warum wird für erstere Trost und für letztere
ein Lied erbeten? P.
231* Gins nur traf ich allerorten.
Adolf Stöber. Gedichte. Hannover 1855. S. 139.
1. Schon entgegen ruft mir helle meiner Heimat Glockengruß;')
an des Vaterhauses Schwelle schüttl' ich froh den Staub vom Fuß.I. 2)
Gottes reiche Welt durchschritten hab' ich frisch in Jugendhast,2)
und in manches Volkes Mitten saß, ein Lehrling,') ich zu Gast.
2. Hoch im Nordland,2) wo die Fichte rauschend ihren Gipfel wiegt,
wo verklärt vom Nordscheinlichte die beschneite Heide2 5 *) liegt,
traf ich Männer ernster Weise, traumhaft7) stillen Sinnes voll,
in der Seele tiefstem Kreise2) helle Scherkraft 2) entquoll.
3. Wo im Süden aus dem Laube golden die Orange glüht,
wo die heißdurchsonnte Traube aus dem Lavaboden sprüht,'2)
sah ich heitre Völkchen scherzen, und wie Lacrimä Christi
quoll aus gluterfüllten") Herzen süßer Wein der Poesie.'2)
4. Anders hier und anders dorten fand ich Welt und Menschentum,'2)
eins nur traf ich allerorten, fern und nahe, längst und nun:")
das ist über Land und Wolke Gottes Himmel um und um;
das ist unter allem Volke'2) manch ein Herz voll Christentum!
I. Vermittlung. 1. Glockengruß-^das Läuten, welches aus seinem
Heimatorte ertönt, heißt den Wanderer nach mehrjähriger Abwesenheit
willkommen. 2. Den Staub vom Fuße schütteln^sich bereiten,
in das Vaterhaus einzutreten, alles Üble zu vergessen und von der Reise
auszuruhen. 3. Jugendhast^das rasche Wandern des Jünglings von
einem Ort zum andern. 4. Lehrlinge der Jüngling war ausgezogen,
um etwas Nützliches zu lernen, und wurde überall gastlich aufgenommen.
5. Hoch im Nord landein Norwegen und Schweden. Hier findet sich
die Grenze des Laubholzes, es gedeiht nur noch Nadelholz (Fichte).
0. Heide —weite, waldlose Flächen Land, oft mit Heidekraut bedeckt.
Gerok: An die Konfirmanden.
673
7. Traumhaft = in Gedanken versunken. 8. I n d e r S e e l e t i e f st e m
Kreise-^ die Seele wird mit einer Wasserfläche verglichen. Jede Bewe-
gung geht vom Mittelpunkte aus und pflanzt sich wie die Wellen nach
außen fort. 9. Seher —Leute, welche Hellen Geistes und Blickes pro-
phetisch in die Zukunft schauen. 10. Lavaboden —der Fuß des Vesuvs
bei Neapel ist mit Lava bedeckt; dort gedeiht ein feuriger Wein, der als,
Lacrimae Christi (Tränen des Heilandes) bekannt ist. 11. Glut erfüllt
= begeistert. 12. Süßer Wein der Poesie^ein bildlicher Ausdruck
für herrliche Dichtungen. Wie süßer feuriger Wein auf dem Lavaboden
wächst, so finden sich bei den Bewohnern dieser Gegend süße Lieder und
schwungvolle Dichtungen. 13. Welt-undMenschentum — das äußer-
liche Leben und Treiben der Menschen im Gegensatz zum Christentum.
14. L ä n g st u n d n u n = üor Zeiten und jetzt. 15. U n t e r a l l e m V o l ke
— unter jedem Volke.
II. Gedankengang. Str. 1. Ein Jüngling, welcher viele Länder durch-
reist und manches erfahren hat, kehrt in seine Heimat zurück und erzählt
von seiner Reise. Str. 2. Im hohen Norden hat er Männer von ernstem,
stillem Sinne getroffen. Str. 3. Im Süden, im Lande, wo die Orangen
blühen, hat er die lebhaften, zu Scherz, Gesang und Liedern geneigten
Bewohner kennen gelernt. Str. 4. überall ist das Leben und Treiben der
Menschen anders. Aber „Eins nur traf er allerorten", das blieb sich
überall gleich, nämlich Gottes Himmel, der über jedem Lande schwebte,
und so manches Herz, das von gläubigem Christensinne erfüllt war.
III. Verwertung. Christum lieb haben ist besser, denn alles Wissen.
— Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne usw.
— Unter allerlei Volk, wer Gott fürchtet und Recht tut, der ist ihm an-
genehm. — Eins ist not. L. Dosch.
232. An die Konfirmanden.
A. Abschiedsgruß.
1. Thess. 2, 9—13. 1. Tim. 6, 11 — 16.
Karl Gerok. Palmblätter. Stuttgart 1870. S. 148. (Gekürzt.)
Seid eingedenk! O teure Kinderschar, vergiß die Stunde nicht,
wo du gekniet am festlichen Altar im heil'gen Morgenlicht,
wo fromm geneigt mit glüh'nden Wangen den Segen du aufs Haupt emp-
Seid eingedenk! sfangen:
Seid eingedenk! Ein gut Bekenntnis klang aus eurem Kindermund;
Gott hat's gehört; o stehet lebenslang auf diesem Felsengrund!
Was ihr in göttlich schönen Stunden so laut bezeugt, so tief empfunden —
Seid eingedenk!
Seid eingedenk, wie euch der gute Hirt so treu beim Namen rief,
daß keins hinfort, aus seiner Hut verirrt, zur Wüste sich verlief!
Er hat die Schäflein all' gezählet, o daß dereinst nicht eines fehlet!
Seid eingedenk!
Seid eingedenk! — Nicht weit mehr gehn toir mit, die euch hierher gebracht;
bald schläft das Aug', das euren Kindertritt so liebreich hat bewacht.
Denkt au des treuen Vaters Lehren, denkt an der frommen Mutter Zähren:
Seid eingedenk!
AdL. II. 8. Aufl.
43
674
III. Lyrische Gedichte.
Seid eingedenk! Wenn die Versuchung naht und Welt und Sünde lockt,
wenn ungewiß auf blumenreichem Pfad der Fuß des Pilgers stockt:
dann denkt, was ihr so fest gelobet; dann sorgt, daß ihr die Treu erprobet,
Seid eingedenk!
Seid eingedenk! — O großes Hirtenherz, du hast sie dir erkauft;
du blutetest um sie im Todesschmerz, auf dich sind sie getauft.
Wir lassen sie in deinen Händen, du wollst das gute Werk vollenden,
Seid eingedenk!
1. Vorbereitung und dann Vortrag. Es ist am Sonntag vor oder
nach Ostern (Palmsonntag oder weißer Sonntag), die Kirche fest-
lich geschmückt und bis in die fernsten Winkel gefüllt. Goldenes Morgen-
licht glänzt durch die hohen Kirchenfenster. Vor dem Altar steht der Geist-
liche im Ornat und um ihn im Halbkreise eine Schar von Knaben und
Mädchen im festlichen Schmuck. Sie haben die erste heilige Kommunion
gefeiert, das Bekenntnis ihres Glaubens abgelegt und dem Heilande Treue
gelobt. Der Geistliche hat ihnen auf Grund des Bibelwortes I.Thess. 2,
9—13 und 1. Tim. 6,11—16 noch einmal vorgelegt Segen und Fluch,
Leben und Tod und sie eindringlich gemahnt, das Leben und den Segen
zu wählen. Manches Vaterauge ist feucht geworden und manche Mutter-
träne die Wange herabgerollt. Dann sind die Kinder niedergekniet, der
Geistliche hat seine Hände jedem auf das Haupt gelegt und den Segen
des Höchsten herabgefleht. Nun ist die heilige Feier beendet, und der letzte
Gruß wird den Kindern, die nun ans der Schule scheiden und in die
Gemeinschaft der Erwachsenen eintreten, zugerufen. Höret diesen Ab-
schiedsgruß an die Konfirmanden!
II. Vertiefung. 1. Charakteristik eines rechten Konfir-
manden. Er denkt lebenslang der feierlichen Stunde seiner Einsegnung,
bleibt auf dem Felsengrunde seines Bekenntnisses stehen, gedenkt der gött-
lichen Allwissenheit und der Liebe seines Heilandes, läßt sich von ihm
führen wie ein Schäflein von seinem Hirten, erinnert sich stets an die
Liebe seiner Eltern und läßt sich auch in der Freiheit von ihr leiten,
bleibt eingedenk seines Gelübdes, bewahrt die Treue in Versuchungen und
befiehlt sich betend der Hirtentreue seines Heilandes.
2. Gedankengang. Str. 1. Die Einsegnung am Altar. Str.2.
Das gute Bekenntnis. Str. 3. Der willige Gehorsam. Str. 4. Die treue
Erinnerung an die Elternliebe. Str. 5. Die Führung des guten Hirten.
3. Grundgedanke. Das Gedächtnis an die feierliche Einsegnung,
an das gute Bekenntnis, an die Hirtentreue Jesu und die Liebe der Eltern
wird die Konfirmanden in den Gefahren des Lebens bewahren und ihnen
zum Stecken und Stabe werden.
4. Eigentümlichkeiten. Der Abschiedsgruß ist ganz von bibli-
schem Geiste durchhaucht und voller Anklänge an die Bibelsprache. Wie
Moses vor seinem Scheiden dem Volke Israel das Gesetz wiederholte und
ihnen Segen und Fluch vorlegte; wie Paulus bei seinem Abschiede von
Milet die Ältesten von Ephesus Gott und dem Worte seiner Gnade be-
fahl; wie die Sonne vor ihrem Scheiden abends noch einen letzten Blick
voll Glanz und Glut auf die Erde wirft: so tut der Geistliche hier mit
Sturm: Rat des Vaters an seinen Sohn.
675
der Kinderschar. Der Kehrreim „Seid eingedenk!" am Anfang und Schluß
jeder Strophe prägt den Inhalt innig und nachdrücklich den Herzen ein.
III. Verwertung in Aufgaben. 1. Weise die Verwandtschaft
der folgenden Ausdrücke im Gedichte mit den eingeklammerten Bibel-
stellen nach: „ein gut Bekenntnis" (1. Tim. 6,12), „Felsengrund" (Matth.
7,24), „die verirrten Schafe, der suchende Hirt und das treue Hirtenherz"
(Luk. 15,4—7. Luk. 19,10. 1. Petr. 2,25. 1. Petr. 5,4), „keins verloren"
(Joh. 17,12), „der blumenreiche Pfad der Sünde" (Matth. 7,13.14), die
„Treuprobe" (1. Kor. 4,2), die „Vollendung des guten Werkes" (Phil.
1, 6)! — 2. Vergleiche das nachstehende Gedicht 8!
B. Rat des Vaters an seinen Sohn.
Jul. Sturm. Deutsche Jugend. Herausg. von Lohmeher. NI. Band. Leipzig 1874. S. 18.
1. Du wanderst in die Welt hinaus
auf dir noch fremden Wegen,
doch folgt dir aus dem stillen Haus
der treusten Liebe Segen.
4. Wer sich die Ehre wählt zum Hort,
den kann kein Schalk verführen;
gerader Weg, gerades Wort
soll dich zum Ziele führen.
2. Ein Ende nahm das leichte Spiel,
es naht der Ernst des Lebens;
behalt' im Auge fest dein Ziel,
geh keinen Schritt vergebens!
ü. Halt hoch den Kopf, tvas dir auch
droht,
und werde nie zum Knechte;
brich mit dem Armen gern dein Brot
und wahre seine Rechte!
3. Nimm auf die Schulter Last und
Müh'
mit frohem Gottvertrauen
und lerne, wirkend spät und früh,
den eignen Herd dir bauen!
6. Treib nie mit heil'gen Dingen
Spott
und ehr' auch fremden Glauben
und laß dir deinen Herrn und Gott
von keinem Zweifel rauben!
7. Und nun ein letzter Druck der Hand
und eine letzte Bitte:
Bewahr' dir treu im fremden Land
des Vaterhauses Sitte!
1. Ähnlichkeiten. In beiden Gedichten nimmt ein Vater mit Wort
und Handschlag Abschied von den Kindern, erinnert sie an eine schöne Ver-
gangenheit, weist sie auf den Ernst der Zukunft hin, gibt ihnen heilsame
Ratschläge, verheißt ihnen die Liebe als Geleit und mahnt sie zur treuen
Bewahrung ihrer heiligsten Güter.
2. Verschiedenheiten. A in der Kirche, B im Vaterhause. —
A am Konfirmandentage, B später — vielleicht beim Beginn der Wander-
schaft oder beim Eintritt in eine höhere Schule. — In A der geistliche
Vater, eine Schar von Konfirmanden und viele Zuhörer; in B der leib-
liche Vater, nur ein Sohn und etwa Mutter und Geschwister. — Ge-
dankengang in A siehe II, 3! In B: Str. 1. Die Liebe folgt dem Sohne in
die weite Welt. Str. 2. Nun kommt nach dem Spiel der Ernst des Lebens;
richte dein Auge auf feste Ziele und tue gewisse, wohlüberlegte Schritte!
Str. 3. Arbeite fleißig, vertraue Gott und gründe so deinen eigenen Herd!
Str. 4. Sei ehrenhaft und gerade, hasse die Schleichwege und folge keinem
boshaften Verführer! Str. 5. Sei nicht feige und erniedrige dich nicht,
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Braunschweig
-Schuibuchbibfiothek1 2
676
III. Lyrische Gedichte.
wahre deine Rechte, aber sei mildherzig gegen Arme! Str. 6. Halte deinen
Glauben heilig, meide Spott und Zweifel und sei duldsam gegen Anders-
gläubige ! Str. 7. Bewahre in der Fremde die Liebe zum Vaterhause und
seine Sitte! — A ist in feierlichem, B in ernst mahnendem Tone ge-
halten. Versmaß und Strophenbau sind völlig verschieden. ?.
233. A. Engellied.
Klaus Harms, Vermischte Aufsätze und kleine Schriften. 1. Ausl. Kiel 1853. S. 227.
1. Mein Engel, weiche nicht, wenn ich mich schlafen lege!
Breit' deine Flügel aus, daß sich kein Unfall rege!
Wehr' auch das Böse ab, so mich im Traum anficht,
daß rein die Seele bleib'! — Mein Engel, weiche nicht!
2. Mein Engel, weiche nicht, wenn ich vom Schlaf aufstehe
und nach des Herrn Befehl an mein Geschäfte gehe!
Halt' mich zu jeder Stund ihm treu und meiner Pflicht!
Ich folge deinem Wink. — Mein Engel, weiche nicht!
3. Mein Engel, weiche nicht, wenn ich soll Kmnmer tragen!
Ob schwer, ob lang er sei, laß mich doch nicht verzagen!
Wisch' ab mit Liebeshand den Schweiß im Angesicht
und stärk' die müde Seel'! — Mein Engel, weiche nicht!
4. Mein Engel, weiche nicht, wenn ich einmal soll scheiden
von Welt und Freud' und Lieb'; o hilf mir's tun mit Freuden!
Kehr' zu den Lieben dich, zu ihnen schwebe hin,
wenn ich zur Ruh' gebracht und ganz voll—endet bin!
I. Vorbereitung. Der fromme Dichter Klaus Harms, ein berühmter
Prediger im Holsteinischen, hat sich den christlich-kindlichen Glauben an
seinen Engel, seinen Schutzengel, bis ins Alter erhalten. Das Engellied
ist ein Gebet an seinen Schutzengel und wie eine Predigt nach einer festen
Disposition streng logisch geordnet.
Thema: Mein Engel, weiche nicht! I. Bleib' bei mir in der
Nacht! II. Begleite mich den ganzen Tag über! III. Steh' mir bei in
Kreuz und Leid, in Not und Kummer! IV. Bleib' innig mit mir verbun-
den auch in der Sterbestunde!
II. Vermittlung. Str. 1 enthält drei Bitten: a) Mein Engel, weiche
nicht von mir in der Nacht! b) Breit' deine Flügel aus, daß mich kein
Unfall treffe, und e) wehr' auch die sündigen Träume von mir ab! Str. 2
enthält nur zwei Bitten: a) Weich' den ganzen Tag über nicht von mir,
begleite mich bei meiner Arbeit, meinem Geschäfte, meinem Wirken! b) Gib
mir Kraft zur treuen Führung meines Amts und deinen Beistand zur
gewissenhaften Erfüllung meiner Pflicht! Str. 3 enthält vier Bitten:
a) Weich' nicht von mir in Kummer und Not! b) Laß mich nicht verzagen,
nicht kleinmütig werden und verzweifeln! c) Nach schwerem Kampf
und Ringen, nach glücklich überstandener Versuchung wisch ab den Schweiß
und ck) stärke meine müde Seele, daß sie endlich nicht doch noch ermatte
und unterliege! Str. 4 enthält endlich noch drei Bitten: a) Weich' nicht
von mir in meiner Sterbestunde! b) Hilf mir, daß ich mit Freuden von
der Erde abscheide! e) Tröste die Meinen, wenn ich vollendet, d. h. zur
Seligkeit des Himmels gelangt bin!
Harms: Engellied. — Dahn: Wo ist Gott?
677
III. Vertiefungsfragen. 1. Woran hat der Dichter gedacht bei den
Worten: Breit' deine Flügel aus? (Wir stellen uns die Engel mit zwei
Flügeln geschmückt vor.) 2. Und woran noch weiter? (Die Henne breitet
schützend die Flügel über ihre Küchlein.) 3. Kann man auch im Schlafe
sündigen? (Sündige Gedanken können im Traum die Seele beflecken.)
4. Was heißt hier anficht? (von anfechten, Anfechtung — anreizt, ver-
lockt). 5. Wer geht nicht nach des Herrn Befehl an seine Arbeit, an sein
Werk? (Der Dieb, Räuber, Mörder, Tagedieb, Geizhals, Wucherer usw.)
6. Drücke mit anderen Worten aus: „Halt mich treu meiner Arbeit und
meiner Pflicht!" (Antwort: Siehe II. Str. 2,b!) Was heißt: Ich folge
deinem Wink? 7. Welches Bild hat vor der Seele des Dichters gestanden,
als er sang: „Wisch ab mit Liebeshand den Schweiß im Angesicht und
stärk' die müde Seele!"? (Im Garten Gethsemane schwitzte Jesus blu-
tigen Schweiß und betete dreimal: Vater, ist's möglich, so gehe dieser
Kelch an mir vorüber! Da trat ein Engel zu ihm und stärkte ihn.)
8. Welche drei sinnverwandten Ausdrücke gebraucht der Dichter für den
Begriff sterben? (S. Str.4.)
IV- Vergleiche: IZ Geduld
1. Es zieht ein stiller Engel
durch dieses Erdenland:
zum Trost für Erdenmängel
hat ihn der Herr gesandt.
In seinem Blick ist Frieden
und milde, sanfte Huld;
o folg' ihm stets hienieden,
dem Engel der Geduld!
2. Er führt dich immer treulich
durch alles Erdenleid
und redet so erfreulich
von einer schönern Zeit.
Denn willst du ganz verzagen,
hat er doch guten Mut;
er hilft das Kreuz dir tragen
und macht noch alles gut.
3. Er macht zu linder Wehmut
den herbsten Seelenschmerz
und taucht in stille Demut
das ungestüme Herz.
Wo ist Gott? Im Meeresrauschen!
Wo ist Gott? Im Eichenwald!
Kehr in dich und lerne lauschen, —
seinen Atem hörst du bald!
Er macht die finstre Stunde
allmählich wieder hell;
er heilet jede Wunde
gewiß, wenn auch nicht schnell.
4. Er zürnt nicht deinen Tränen,
wenn er dich trösten will;
er tadelt nicht dein Sehnen,
nur macht er's fromm und still.
Und wenn im Sturmestoben
du murrend fragst: „Warum?",
so deutet er nach oben,
mild lächelnd, aber stumm.
5. Er hat für jede Frage
nicht Antwort gleich bereit;
sein Wahlspruch heißt: „Ertrage!
die Ruhstatt ist nicht weit."
So geht er dir zur Seite
und redet gar nicht viel
und denkt nur an die Weite,
ans schöne, große Ziel.
R. D.
Wo ist Gott? Im Kindesbeten!
Wo ist Gott? Im Sternengang
und im Ruf der Schlachtdrommeten
und im frommen Orgelklang!
254a. Wo ist Gott?
Von Felix Dahn.
Wo ist Gott? Im Duft der Linde
und im Lied der Nachtigall
und im Hauch der Frühlingswinde, —
überall im Weltenall!
678
III. Lyrische Gedichte.
I. Einführung. Apostg. 17,27 u. 28 heißt es: „Sie sollen den Herrn
suchen, ob sie ihn fühlen und finden möchten. Und zwar ist er nicht ferne
von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir."
Und doch fragen die Menschen immer wieder: „Wo ist Gott?" Die beste
Antwort auf diese Frage der Gottsucher gibt der 139. Psalm. Auch
W. Hey in dem Gedichte: „Wo wohnt der liebe Gott?" Knapp und schön
beantwortet die Frage der Dichter Felix Dahn in dem Gedichte: „Wo
ist Gott?" (Vortrag.)
II. Die Antwort. Sie lautet: überall im Weltenall! Diese zusam-
menfassende Antwort löst sich auf in 10 Einzelantworten: im Meeres-
rauschen, im Brausen des Eichenwaldes, im eignen Gewissen, im Gebet
des Kindes, im stillen, steten Laufe der Gestirne, im Donner der Schlach-
ten, im Klange der Orgel, im Dufte der Linde, im Gesänge der Nachtigall
unb im Hauch der Frühlingswinde. Überall da, wo eine geheimnisvolle
Kraft Wunderbares schasst, und zwar Größtes und Kleinstes, da ist Gott,
da wehet sein Odem, da wirkt sein Wille. Gewaltig ist das Rauschen des
erregten Meeres, ergreifend das Brausen des bewegten Eichenwaldes,
überwältigend die Pracht des gestirnten Himmels, durch Mark und Bein
schneidend der Schall der Kriegsdrommeten, die zum Kampfe für das be-
drohte Vaterland rufen. In all diesen gewaltigen Kundgebungen einer
geheimnisvollen Macht spüren wir des Schöpfers ewige Kraft und Gott-
heit. Aber auch im stillen, sanften Sausen merken wir sie: im eignen Her-
zen, im Gebetslallen des Kindes, im frommen Orgelklang und Chorgesang
der Kirche, im Blühen und Duften der Pflanzen, im Liederschall der
Vögel und im belebenden Hauche der Frühlingswinde. In allem ist ein
Lebens- und Aufwärtsdrang tätig; in allem zeigt sich die ewige Kraft und
Gottheit. In allem sieht das fromme Herz den allwaltenden Gott.
III. Verwandtes: Ps. 139,1—12. — Apostg. 17,27 u. 28. — Heys
„Wo wohnt der liebe Gott?" — Moses wollte die Herrlichkeit des Herrn
sehen, durfte ihm aber nur nachsehen und die Spuren seiner Herrlichkeit
zu seinen Füßen bewundern. — Elias sah Sturm, Feuer und Erdbeben
vor deni Herrn hergehen, ihn selbst aber spürte er im stillen, sanften Sausen.
— Salomo betete 1. König. 8,27: Der Himmel und aller Himmel Him-
mel mögen dich nicht umfassen. — Der große Weltweise Kant sagte:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit steter Bewunderung: der gestirnte
Himmel über mir und das Sittengesetz in mir. P.
254 b. Die Ewigkeit.
Von Rudolf Löwenstein. Kindergarten. 2. Anst. Berlin S. 34.
1. Wie lang ist wohl die Ewigkeit?
Merk auf! ich gebe dir Bescheid.
Wenn du zum Meere gingest dort
und schöpftest draus in einem fort
mit deinen kleinen Händen,
nähmst auch recht voll die Hände
dann —
wann, liebes Kindlein, meinst du, wann
wird sich die Arbeit enden?
Du meinst, die Arbeit sei zu schwer,
du schöpfest doch das Meer nicht leer?
2. Ich glaub' es selbst, denn immer
quellen
die Flüsse, die es wieder schwellen,
und die aufs neue zu den Wellen
mit frischem Drange sich gesellen.
Den Flüssen gleicht die rasche Zeit,
dem Meere gleicht die Ewigkeit:
ein Tropfen nur ist jedes Jahr,
der sich erneuert immerdar. —
Nun denke nach, gib selbst Bescheid:
Wie lang ist wohl die Ewigkeit? —
Löwenstein: Die Ewigkeit.
679
I. Erläuterung des Inhalts. Unser kleines Gedicht beginnt mit der
Frage: „Wie lang ist wohl die Ewigkeit?" Das ist eine wichtige Frage,
und wir freuen uns. daß wir vom Dichter die Antwort bekommen wer-
den; denn er sagt im 2. Verse: „Merk auf, ich gebe dir Bescheid." An das
große Weltmeer, dessen unermeßliche Ausdehnung wir uns kaum vor-
stellen können, werden wir gestellt. Hier sollen wir mit unsern Händen
schöpfen, bis es leer ist. Jedes Kind weiß, daß wir dazu nicht fähig sind.
Auch der Dichter stimmt uns bei, indem er sagt: „Du schöpfest doch das
Meer nicht leer!" Aber dennoch wäre es möglich; denn wenn Millionen
Hände in Millionen von Jahren an dem Meere schöpften, so würde es
gewiß endlich leer werden. Nur müßte dann kein Wasser mehr zum Meere
fließen.
Allein die 2. Strophe sagt uns, daß das eben der Fall ist; „denn
immer quellen die Flüsse, die es wieder schwellen." Schöpfen wir auch
Millionen Eimer aus dem Meere, so kommen die doppelten Wassermassen
wiederum an. Unser Ausschöpfen würde eine Abnahme des Meeres also
nicht bemerklich machen. So steht es auch mit der Ewigkeit: „Ein Tropfen
nur ist jedes Jahr, der sich erneuert immerdar."
Was will dieser Vergleich sagen? Ein Tropfen ist ein Teil, wenn
auch ein unendlich kleiner, des Weltmeeres; aber wenn der Tropfen sich
stets erneuert, so bleibt das Weltmeer stets so, wie es ist. Einem solchen
sich stets erneuernden Tropfen gleicht jedes Jahr der Zeit. Beide,
der Tropfen des Weltmeeres und das Jahr, werden stets von ihren Nach-
folgern ersetzt. Darum stehen wir am Ende unseres Gedichts an derselben
Frage, die uns am Anfange gestellt war: „Wie lang ist wohl die Ewig-
keit?" — Wir wissen es nicht und können es nicht begreifen. Darum
singt ein Dichter aus alter Zeit: „O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, o Anfang
sonder Ende." Auch das Meer wird vergehen, auch die rasche Zeit ver-
schwinden, aber die Ewigkeit hat kein Ende.
In dem Grimmschen Märchen vom Hirtenbüblein fragt der
König das Hirtenbüblein: Wieviel Sekunden hat die Ewigkeit? Da sagt
das Hirtenbüblein: In Hinterpommern liegt der Demantberg; der hat
eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die
Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahre ein Vöglein und wetzt sein Schnäb-
lein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste
Sekunde von der Ewigkeit vorbei. Auch dieser Vergleich will uns sagen,
daß die Ewigkeit ohne Ende ist.
II. Gliederung. ^..Einleitung (Str. 1, V. 1 und 2). L. Haupt -
teil (Str. 1, V. 3 bis Str. 2, V. 8), der die Frage beantwortet: Wie
lang ist die Ewigkeit? C. Schluß (9. und 10. V. der 2. Str.). Anfang
und Schluß enthalten denselben Gedanken und geben somit dem Gedichte
die schönste Abrundung. W. D.
Dichtungen in Poesie und Prosa erläutert für Lchule und Haus
Hus deutschen Lesebüchern
herausg. von R. u. M. Vierlein, Vr. 0. -frick, Dr. V. Saudig u. fr.polach
ln gänzlich neuer Bearbeitung erschien Band V:
ödegweiser durch die klassischen Schuldramen
F osstMcv (Wegweiser, 1. flbt.) 5. stuft. (Wegweiser, 5. stbt.) 5. stuft.
¿vvMlTIg non Dr. (E. (Er ebner: ptjitotas, v/Ovt-Hv von Dr. L. Er ebner: Gotz von
Lmilia Gaiotti, Minna von Barnhelm, Nathan ^ Bertichingen, Lgmont, Iphigenie, Taiso. Geh.
der weise. Geh. M. 2.60, geb.M. 3.60 M. 3.40, geb.................M. 4.40
Ohne die bewährten Vorzüge der Frickschen Bearbeitung, Gediegenheit in der Sad)e unb
zielbewußte Klarheit in der Darstellung, auszugeben, wurde der Wegweiser einer vollständigen
Neugestaltung unterzogen, der von Frick in der Negel eingeschlagene deduktive weg mit fernen
weit ausgreifenden Vorbesprechungen und vorblicken aufgegeben. Vas Hauptbestreben rst, ei»
möglichst anschauliches Verständnis des Werkes zu erreichen und sodann in zweiter Linre ern
Erfassen des Werkes als historisches Dokument anzubahnen. Dabei steigt die Betrachtung vom
einzelnen zum allgemeinen auf und faßt das einzelne in kurzen Besprechungen am Ende der
einzelnen stkte sowie in einem ausführlichen Rückblick am Schlüsse des ganzen Dramas zusammen,
ctls Abschluß wird eine möglichst knapp gehaltene literarhistorische Würdigung gebracht. So rst
der zusammenfassenden Betrachtung überhaupt ein viel weiterer Raum als bisher gelassen und
die Einzelerklärung auf das Notwendigste beschränkt. Kritische Werturteile über die Dichtung
selbst oder Einzelheiten daraus sind möglichst vermieden, wenn auch der allgemeine methodische
Gang der Erklärung sich bei jedem Drama wiederholt, so ging doch das Bestreben dahin, alles
Schematisieren möglichst zu vermeiden und die Erklärung immer der Eigenart des Werkes an-
zupassen, so daß diese möglichst deutlich heraustritt, stus praktischen Gründen wurden die
beiden bisherigen Hälften der 1. Abteilung in einen besonderen Lessing- und Goetheteil getrennt.
Wegweiser, 2. stbt. von Dr. <D. 5 r t d: Schillers
Dramen I: Räuber, Fresko, Kabale und Liebe,
von Earlos, Wallenstein. 4. stuft. Geh.
M. 4.—, geb........................M. 5.40
Wegweiser, 3. stbt. von Dr. if. Gaudig:
Schillers Dramen II: Maria Stuart, Jungfrau
von Orleans, Braut von Messina, Wilhelm Tell,
Demetrius. 3. stufl. Geh. M. 5.50, geb. M. 7.—
Wegweiser, 4. stbt. von Dr. H. Gaudig: B. v.
Kleist, Shakespeare, Hessing (fjanib. Dram.).
2. stuft. Geh. M. 6.-, geb........M. 7.50
Wegweiser, 6. stbt.: Grillparzer. sN. d. Pr.j
Erläuterungen zu den deutschen
Lesebüchern
(stus deutschen Lesebüchern Band I—III)
Das Werk bleibt nicht in den Schranken
eines bestimmten Lesebuches, sondern bringt
nach Vergleichung von mindestens dreißig der
verbreitetsten deutschen Lesebücher eine stnswahl
von Dichtungen, die sich entweder als eiserner
Bestand in allen oder doch in vielen Lesebückern
oder als zerstreute Perlen nur in einzelnen
finden. Damit überschreitet das Werk auch die
politischen Grenzen und ist in Schule und Haus zu
gebrauchen, „soweit die deutsche Zunge klingt".
Band I. 426 Dichtungen für die Unterstufe.
6. ctufL Geh. M. 4.50, geb......M. 5.80
Band II. 457 Dichtungen für die Mittel-
stufe. 7. stufl. Geh. M. 5.60, geb. M. 7.—
Band III. 251 Dichtungen für die Oberstufe
und die Mittelklassen höherer Schulen.
Mit 2 Anhängen: I. Poetik. II. Biogra-
phien. 8. stuft. Geh. M. 5.—, geb. M. 7.—
ctls Fortsetzung in vorher.: Klassische prosa.
— ModerTIC Prosa. — Hyrik des 19. Jahr-
hunderts.
Epische und lyrische Dichtungen
(stus deutschen Lesebüchern Band IV.)
1. stbt.: Epische Dichtungen: Nibelungen-
lied. — Gudrun. — Parzival. — Der arme
! H einrich. — Das glückhafte Schiff von Zürich. —
Messias. — Heliand. — Hermann und Doro-
thea. — Der 70. Geburtstag. — Reinecke Fuchs.
5. stuft. Geh. M. 5.—, geb.........M. 6.40
! 2. stbt.: Hyrische Dichtungen: Walter
v. d. vogelweide. — Volkslied. — Das so.
Kirchenlied. — Klopftod, — Goethe (Lyrik),
j — Schiller (Gedankenlyrik). — Die Sänger
1 der Freiheitskriege. 4. stuft. Geh. M. 5.—,
geb. . . .........................M 6.40
Griechische Dichter
(stus deutschen Lesebüchern Band VI.)
1. stbt.: Die griechischeCragödie. stischylos,
j Sophokles, Luripides. Bearb. v. Dr. I. Geff-
cken. 2. stuft. Geh. M. 2.—, geb. M. 2.60
2. stbt.: Börner. Herausg.v. Dr. G.Finsler.
Geh. M. 6.—, geb..............M. 7.—
(Jeder Band und jede Abteilung des Werkes ist einzeln käuflich)
Verlag von 6. 6. Heubner in I^eipLig unc! Ñerlin
Aus deutschen Lesebüchern II, 8.
Yerlag von 8. 6. Ceubner in Leipzig und Berlin
Deutsche Schulausgaben
herausgegeben von Zchulrat Dr. h. Gaudig u. Dr. G. Zrick.
1. Die deutschen Schulausgaben sollen dem Schul- wie dem Selbstunterricht dienen und
bieten neben den bedeutendsten Schöpfungen der älteren Zeit insbesondere Werke der klassischen
Periode und d.s 19. Jahrhunderts dar.
2. Die Texte werde» mit philologischer Genauigkeit wiedergegeben.
3. Die Erläuterungen sollen wirkliche Schwierigkeiten, die einer unbefangenen Aufnahme
der Lektüre im Wege stehen, beseitigen, Kurze Fußnoten erläutern einige Schwierigkeiten, ein
Anhang bietet in tabellarischer Form das wichtigste über das Leben und die Werke des Dichters,
gegebenenfalls auch über den geschichtlichen Hintergrund der Dichtung. Lin Durchblick faßt
zusammen, was an Gewinn über den Aufbau des Kunstwerkes und über die bedeutsamsten An-
schauungen und Legriffe dauerndes Eigentum werden soll. Alle Erläuterungen werden so
gegeben, daß sie nicht die Arbeit der Schule überflüssig machen, sondern nur das Ergebnis der
gemeinsamen Durcharbeitung sind.
4. Der praktischen Verwendbarkeit dienen Zeilen- und verszählung und Zusammenfassung
der einzelnen Teile zu übersichtlichen Gruppen.
5. Die große Schrift, der deutliche Druck und das kräftige, mit breitem Lande versehene
Papier entsprechen allen Anforderungen der modernen Schulhygiene. Besonderer wert ist auf
eine einfache und dauerhafte, dabei geschmackvolle, ästhetisch befriedigende Ausstattung gelegt.
6. Der preis ist außerordentlich niedrig bemessen, so daß auch in dieser Hinsicht die An-
schaffung so viel als möglich erleichtert ist.
Zür die Hand des Lehrers liegt der Stofs der in den Schulausgaben
gebotenen, für den Schüler berechneten Erläuterungen in ausführlicher,
für den Unterricht bearbeiteter Form in dem bekannten Werke „Kus
deutschen Lesebüchern" vor, das gleichzeitig mit den Schulausgaben
weiter ausgebaut wird.
Risher find folgende
Kart. Geb.
Goethe, Dichtung u. Wahrheit M. 1.20, 1.60
Goethe, Lgmont...............m. —.60,--.80
Goethe, Gedichte in Auswahl M. —.50, —.75
Goethe, Götz von Berlichingen M. — .50, —.75
Goethe, Hermann u. Dorothea ITT. -.35, —.00
Goethe, Iphigenie auf Tauris M. -.50, —.70
Go ethe, Torquato Tasso. . . ITT. — .60, — .80
Goethe, werther (in Vorbereitung).
Grillparzer, König Gttokars
Glück und Ende...........ITT.—.60, —.80
Homer, Ilias..................ITT.—.80, 1.—
Homer, Odyssee...............KT.-.60, -.80
Kleist, Prinz von Homburg. M.-.80, 1.—
Lessing, Lmilia Galotti. . . KT.-.40, -.65
Lessing, Minna v. Barnhelm M. —.35, —.60
Bändchen erschienen:
Kart. Geb.
Lessing, philotas und Kriegs-
poesie .....................KT. —.40, —.65
Lieder der Deutschen aus den
Freiheitskriegen. 2. Auflage M. —.75, 1.—
Schiller, Don Karlos . . . M. 1.20, 1.50
Schiller, Kabale und Liebe. . M. —.70, -.00
Schiller, Die Räuber . . . . M. — .60, -.80
Schiller, Wilhelm Teil . M.-.40,-.65
Schiller. Wallenstein, l und II M.-.80, 1.20
Schiller, Wallenstein. I. Teil:
Lager und Piccolomini . . M. —.40, -.65
----II. Teil: Wallensteins Tod M.-.40,-.65
Sophokles, Antigone . . . KT. — .35, — .60
Wolfram von Ejchenbach,
Parzival................M. 1.-, 1.25
Ñus den Urteilen:
„...diese neue Schulausgabe gehört in der Tat zu..den wenigen glücklichen Ausnahmen.
Hier braucht sich der unglückliche Schüler nicht durch eine Überfülle von Erläuterungen hindurch-
zuarbeiten, wodurch es mit der Liebe und dem Interesse für das Kunstwerk freilich zu Ende
wäre. Diese Ausgaben erfüllen zum guten Teil die wünsche, die ich in meinem ersten Berichte
ausgesprochen habe. Sie sehen ganz ab von weitschichtigen, literarhistorischen Einführungen,
außer zuweilen in tabellarischer Form über des Dichters Leben und Werk und den geschichtlichen
Hintergrund. Die eigentlichen Erläuterungen geben in äußerst knappen Fußnoten das Aller-
notwendigste zum Verständnis des Gelesenen, so daß die gemeinsame Arbeit im Unterricht nicht
überflüssig gemacht wird. Die gesamte äußere Ausstattung ist einfach mustergültig, Vers- und
Zeilenzählung ist überall durchgeführt, Schrift, Druck, Papier und Einband erfüllen alle An-
forderungen, die man in hygienischer und ästhetischer Beziehung an ein Schulbuch zu stellen
verpflichtet ist. Der neuen Schulausgabe ist die weiteste Verbreitung zu wünschen, zumal auch
der preis ein äußerst niedriger ist.. " (Monatsschrift für höhere Schulen.)
2
Verlag von 8. 6. Ceubner in Leipzig und Berlin
Der Kunstschatz des Lesebuches
Hlfred Biese urteilt in der Deutschen Literaturzeitung:
„Diese Bücher ruhen auf sehr gesunder pädagogischer und psychologischer Grundlage. Sie
betonen mit Recht, daß die Zeiten vorüber seien, in denen man den Kunstgehalt eines Gedichtes
und Prosastückes durch einige Lach- und Worterklärungen, sowie durch Überlieferung der wissen-
schaftlichen Terminologie für Poetik und Metrik zu erschließen hoffte,' vielmehr muß jedes
literarische Kunstwerk als Ganzes aufgefaßt, als ein Stück verdichteter Welt- und Lebensauf-
fassung empfunden werden. Was die Verf. erstreben und in hohem Maße erreichen, ist die
Kunst, den künstlerischen Goldschatz aus der Tiefe der Gedichte zu heben und für die Jugend
auszuprägen. ,vie Erläuterungen' bieten zumeist ganz vortreffliche Richtweisungen und sind
von dichterischem Geiste durchweht. Nicht ein Schema nach irgendwelchen Formalstufen herrscht
hier einengend und lähmend, sondern jedes einzelne Gedicht wird als lebendiges Kunstwerk, das
seine eigene Übermittelungsform erheischt, betrachtet und behandelt. Diese beiden Werke ge-
hören unzweifelhaft zu dem Gediegensten und Reifsten, das wir auf diesem Gebiete besitzen."
Zunächst sind erschienen:
Die lyrische Dichtung
von Oberlehrer Milhelm Peper in Altona.
[VI u. 203 S.] gr. 8. 1909. Geh. ITT. 3.40, in Leinwand geb. ITT. 4.-
„ . . . Hier werden Ziele gesteckt und Wege gewiesen, Rügen und vor allem Herzen ge-
öffnet, und es bleibt der Persönlichkeit des Lehrers überlassen, die hier aufgedeckten Schätze zu
der kleinen Münze von Unterrichtseinheiten auszuprägen. Ls will viel sagen, daß uns hier
gezeigt wird, wie man der Ligenart poetischer Gebilde gerecht werden kann, wenn Peper den
Stimmungsgehalt eines lyrischen Gedichtes vor uns entfaltet oder Weber mit wenigen kühnen
Strichen die Lharakterzeichnung eines Poeten hinwirft, so gilt es, unsere Empfänglichkeit zu
steigern und unser Gefühl zu verfeinern und zu vertiefen. Unserer Praxis aber wird unmittel-
bar gedient durch Musterbehandlungen wie die von Gülls ,pelzemärtl' oder Rückerts ,Büblein,
das überall mitgenommen hat sein wollen'. Da wird in der Tat das Gedicht zum eignen
Erlebnis des Kindes. Und darauf kommt's doch an." (preußische Schulzeitung.)
Die epische Dichtung
von Dr. 6rnst Meder in München
[VIII u. 266 S.] gr. 8. 1909. Geh. Ul. 3.40, in Leinwand geb. Ut. 4.—
„ . . . wer Ernst Weber kennt, wer da weiß, wie in diesem fleißigen und hochbegabten
Manne sich der schaffende Künstler und der feinfühlige Pädagog und Kinderkenner die Hand
reichen, der erwartet von vornherein, in dem Buche etwas Gutes zu finden. Und diese Er-
wartung wird nicht getäuscht: Ruf jeder Seite bewährt sich der geborene Kunstinterpret, der
Kenner und Liebhaber unserer vaterländischen Literatur, der praktische Schulmann. Rls Krone
des Buches möchte ich den Rbschnitt: ,Epische Dichtercharaktere' bezeichnen. Die Rrt, wie der
Verfasser die vichterpersönlichkeit eines Goethe und Schiller, eines Uhland und Mörike, eines
Hebbel und Keller usw. uns vor Rügen malt, hat positiven künstlerischen wert und liest sich
mit hohem Genuß." (Rllgemeine Deutsche Lehrerzeitung.)
Ausführlichen Prospekt
mit Programm der Sammlung und Probeaurschnitten aus den ersten beiden
Bänden versendet der Verlag umsonst und postfrei an jeden Interessenten.
2
Verlag von ß. 6. Ceubner in Leipzig und Berlin
ñus deutscher Wissenschaft und Kunst
"Jeder Band gebunden ]M. 1.20.
Zur Geschichte der deutschen Literatur, j
Proben literarhistorischer Darstellung für
Schule und lsaus, ausgewählt und erläutert
von Dr. R, Wessely. Enthält Aufsätze aus
den Schriften von Bellermann, Bielschowsky,
Brahm, Gervinus ksettner, Maync, Schmidt,
Scherer, v. Treitschke, Uhland, Vogt.
Zur Geschichte. Proben von Darstellungen
aus der deutschen Geschichte für Schule und
ksaus, ausgewählt und erläutert von Dr. w. !
Scheel. Enthält Aufsätze von v. Below, i
Brunner, Dropsen, Freptag, Friedrich,
v. Giesebrecht, v. Rugier, Lamprecht, Marcks,
v. Nloltke, Mommsen, v. Ranke, Schäfer, !
Schiller, v. Treitschke.
Zur Run ft. Ausgewählte Stücke moderner !
Prosa zur Runstbetrachtung und zum Kunst-
genuß, herausgegeben von Dr. M.Spanier. !
Mit Silderanhang. Enthält Aufsätze von Avena- I
rius, Bayersdorfer, Borrmann, Brinckmann,
Bürkner, Floercke, Furtwängler, Gurlitt, ksirth, !
Justi.Lichtwark, Schultze-Naumburg, v.Seidlitz,
Springer, Thoma, Urlichs, wölfflin.
Zur Erdkunde. Proben erdkundlicher Dar-
stellung für Schule und ksaus, ausgewählt
und erläutert von Dr. F. Lamp e. Enthält
Aufsätze von Barth, v. vrygalski, A.v. Hum-
boldt, Rirchhoff, partsch, Peschel, Ratzel,
v. Richthofen, Ritter, v. d. Steinen.
Zur Religion. Ausgewählte Stücke aus der
religiösen Literatur von Luther an bis zur
Gegenwart, für Schule und ksaus herausgegeben
von Johannes Paust. Enthält Aufsätze
von Bousset, Ehamberlain, Naumann, Frenssen,
ksarnack, Sohm, Lucken, Funcke, Salomon,
Dryander, Rittelmeyer, Rade, Förster, Lonrad,
Leeberg.
Zur Geschichte des Christentums. Proben
kirchengeschichtlicher Darstellungen für Schule
und ksaus, Herausgegeben von Johannes
p a u st. Enthält Aufsätze von Sohm, v. Loden,
Jülicher, ksarnack, ksauck, v. ksase, pfleiderer,
Tucken, v. Bezold, v. Ranke, Raufmann,
v. Schubert, Möller, Berger, ksausrath,
Tröltsch, Müller, Stephan, Sell, Warneck,
Uhlhorn, pfannmüller.
Deutsche Dichter des XIX. Jahrhunderts
Astbetilcbe Erläuterungen tür 8ebute unci k>aus.
herausgegeben von Stadtschulrat Professor Dr. Otto Lyon.
Ls erschienen bisher folgende
kseft l: Beuter, Ut mine Ltromtid, von
Professor Dr. P. Vogel,
kseft 2: ¿udwtg, Makkabäer, von Dr. R.petsch.
kseft 3: Sudermann, Frau Sorge, von Professor
Dr. G. Boetticher.
kseft 4: Storrn, Immensee und Lin grünes
Blatt, von Dr. G. Ladendorf,
kseft 5: Riehl, Novellen: Der Fluch der Schön-
heit, Am Quell der Genesung, Die Gerech-
tigkeit Gottes, von Dr. Th. Matthias,
kseft 6: frenssen, Der Dichter des Jörn Uhl,
von R. Rinzel.
kseft 7: Kleist, Prinz Friedrich von ksomburg,
von Dr. R. petsch.
kseft 8: Keller, Martin Salander, v. Dr. R. Fürst,
kseft 9: Meder, vreizehnlinden, von Direktor
Dr. L. Wasserzieher.
kseft IO: Magner, Die Meistersinger, von Dr.
R. petsch.
efte zum preise von je M. —.50:
kseft 11: JVIeyer, Jürg Jenatsch, von Professor
Dr. J. Sahr.
kseft 12: Grillparrcr, Ahnfrau, von Geh.Reg.-
Rat Dr. A. Matthias.
kseft 13: Hvenanus als Dichter, von Dr.
G. kseine.
kseft 14: Sudermann, kseimat, von Professor
Dr. G. Boetticher.
kseft 15: Beyse, Rolberg, von Professor Dr.
ks. Gloöl.
kseft 16: Grillparrcr, Libussa, von Professor
Dr. R. M. Meyer.
kseft 17: Storni, Pole Poppenspäler, Lin
stiller Musikant, von Dr. D. Ladendorf.
kseft 18: hlcycr, Der kseilige, von Dr. R. Tredner.
kseft 19: Raabe, Alte Nester, von Professor
p. Gerber.
kseft 20: Stifter, Studien, von Dr. R. Fürst.
Aus Natur und Geisteswelt
Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens.
Jeder Band ist in sich abgeschlossen und einzeln käuflich.
Jeder Band geh. M.i.—, in Heinwand geb.]
Entstehung und Entwicklung unserer
JMutterspräche: Prof. Dr. w. UHl. (Bd.84.)
DasCheater: Dr. THr. GaeHde. (Bd.230.)
Das Drama: Dr.B.Busse.2Bde. (BÖ.287/88.)
Geschichte der deutschen Kyrth seit Clau-
diuo: Dr. ks. Spiero. (Bd. 254.)
Das deutsche Drama des neunzeHnt. Jahrh.:
Prof. Dr. G. Witkowski. 3. Aufl. (Vd. 51.)
Deutsche Romantik: Prof. Dr. G.F. wal-
ze!. (Bö. 232.)
= Husführltches Verzeichnis auf Muni
1.25. Erschienen sind bisher ca. 370 Bände, u. a.:
Schiller: Dr. TH. Ziegler. (Bd. 74.)
friedrich Bebbel: Dr. A. Schapire-Neu-
rath. (Bd. 238.)
Gerhart Bauptmann: Prof. Dr. E.Sulger-
G ebing. (Bd. 283.)
Bcnrik Ibsen, Björnstjerne Björnson und
ihre Zeitgenossen: Prof. Dr. B.R ah le. (Bd.193.)
Shakespeare und seine Zeit: Prof. Dr. E.
Sieper. (Bd. 185.)
\ umsonst und postfrei vom Verlag ——-
4
Verlag von ß. 6. Ceubner in Leipzig und Berlin
. Die neuere deutsche Lyrik, von Professor Dr. Philipp witkop.
Band I: von Friedrich von Spee bis Hölderlin. Geh. ITC. 5.—, geb. ITC. 6.—
Band II: Bis zur Gegenwart. jIn Vorbereitung.)
„... Meisterhaft versteht der Verfasser, Leben und Dichtung eng miteinander zu verknüpfen und
so aufs lebhafteste für seinen Gegenstand zu interessieren. Ebenso anziehend ist seine Schilderung
kultureller Verhältnisse, deren Geistesinhalt in den Merken eines Dichters zum Ausdruck gelangt.
... Für jeden Freund des in kiede stehenden Stoffes bietet das Buch reiche Anregung: es emp-
fiehlt sich auch besonders für den Lehrer, weil es wissenschaftlich fest begründet und geschmack-
voll geschrieben ist." (Südrvestdeutsche Schulblätter.)
Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin,
vier Kufsätze von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. ID. Dilthep. 3. Aufl. Geh.
ITT. 5.20, geb.........................................................ITT. 6.20.
„...Dieses tiefe und schöne Buch gewährt einen starken Reiz, DilthehS feinfühlig wägende und
leitende Hand das künstlerische Fazit so außergewöhnlicher Phänomene tm unmittelbaren Anschluß
an die knappe, großlinige Darstellung ihres Mesens und Lebens ziehen zu sehen, Hier, das
fühlt man auf Schritt und Tritt, liegt auch wahrhaft inneres Erlebnis eines Mannes zugrunde,
dessen eigene Geistesbeschaffenheit ihn zum nachschöpferischen Eindringen in die Welt unserer
Dichter und Denker geradezu bestimmen mußte...." (Das literarische €cho.)
©Ott, Gemüt und Welt. Goethes Selbstzeugnisse über seine Stellung
zur Religion und zu religiös-kirchlichen Fragen, von Geh. Rat. 0. Dr.
Theodor Vogel. 4. Auflage. Geb...............................................ITT. 4.—
„... Abgesehen von den Beziehungen zu der Persönlichkeit Goethes bieten diese Betrachtungen
eine Welt von Weisheit in herrlichster Form.... Lin schönes Lrbauungsbuch; wer immer, Christ
oder Nichlchrist, sich mit Andacht in diese tiefe Gedankenwelt versenkt, fühlt aufs lebhafteste seine
Existenz um eine Unendlichkeit erweitert." (JSseue Jahrbücher.)
Goethe und die deutsche Sprache. Gekrönte Preisschrift des Allgemeinen
Deutschen Sprachvereins von (Oberlehrer Dr. G e o r g R a u sch. Geb. IR. 3.60.
„... wer tiefer in die Geisteswelt Goethes eindringen will, wer neben der stofflichen auch die
formale Schönheit seines Wirkens voll erfassen will, der kann einen so ausgezeichneten Führer
kaum entbehren, wie ihn Rausch in seiner Schrift darbietet." (Dresdner Journal.)
Goethes Zaust. Line Analyse der Dichtung, von Professor Dr. Wilhelm
Büchner. Geh. IR. 2.—, geb...................................................ITT. 2.80.
Das Buch bietet als Ergebnis fein empfundener Interpretation des einzelnen, die überall in
Fühlung mit der Welt- und Lebensanschauung des Dichters bleibt, die intimere Kenntnis seiner
Denkweise zu nutzen weiß und die Faustpapiere des Dichters verwertet, eine systematische Dar-
stellung des Ideengehalts der Dichtung.
Schiller im Urteil Goethes. Die Zeugnisse Goethes in Wort und Schrift
gesammelt und ergänzt durch die Zeugnisse IRitlebender. von Professor
Dr. Paul Uhle. Geb................................................. . . ITT. 2.40.
„... Durch die sorgfältige Auswahl und wohldurchdachte Anordnung der Äußerungen Goethes
über Schiller, die durch zeitgenössische Erkundigungen ergänzt werden, ist es dem Verfasser ge-
lungen, in seinem Sammelwerk ein Gesamtbild zu geben, das über die sittliche, literaturgeschicht-
liche und allgemein menschliche Bedeutung von Goethes Verhältnis zu Schiller umfassenden Aufschluß
gibt, zugleich aber Licht und Wärme spendend auf den Beurteiler selbst zurückstrahlt."
(Zeitschrift für den deutschen Unterricht.)
Gottfried Keller, von Professor Dr. Albert Röster. Sieben Vor-
lesungen. 2. Auflage. IRit einer Reproduktion der Radierung Gottfried
Rellers von Stauffer-Bern in Heliogravüre. Geb.........................ITT. 3.20.
,.... Es gibt in so knapper Form kaum Treffenderes, als was hier über Rellers Tharakter und
Eigenart wie über seine einzelnen Werke gesagt ist. Insbesondere, was Röster über die Ent-
stehung und die Romposition des .Grünen Heinrich' ausführt, ist ein wahres Meisterstück einer
ästhetisch-kritischen Würdigung eines poetischen Werkes." (Zürcher Zeitung.)
Dantes Göttliche Komödie in deutschen Stanzen frei bearbeitet von
p. Pochhammer. 2. Auflage. IRit einem Dante-Bild nach Giotto von
C. Burnand, Buchschmuck von h. Vogeler-Worpswede, 10 Skizzen und
einem Kommentar. Sn Griginal-Leinenband nach einem Entwurf von
h. Vogeler-Worpswede geb. IR. 8.—. Kleine Ausgabe mit 4 Feder-
zeichnungen und Buchschmuck von Franz Stassen. Geb. ... IR. 8.—
„Pochhammer hat das Verdienst, das Interesse für des großen Italieners unvergängliches Werk
bei den Gebildeten unseres Volkes neu belebt zu haben. Gr hat das erreicht vor allem auch
durch eine ganz persönliche Rote, die aus jeder Seite einem entgegenklingt, und die von eigenstem
Erleben spricht. So dürfen vir uns des schönen Werkes in jeder Beziehung freuen, das sein
reichlich Teil dazu beiträgt, daß die Beschäftigung mit Dante nicht bloß eine wissenschaftliche
Arbeit, sondern vor allem ein Kunstgenuß ist." (Deutsche TCitcraturzeitung.)
5
Yerlag von B. 6. Ceubner m Leipzig und Berlin
Deutsches Lesebuch in Lautschrift. (Zugleich in der amtlichen Schrei-
bung.) ctls hilfsbuch zur Erwerbung einer mustergültigen Aussprache,
herausgegeben von Professor Wilhelm vietor. l. Teil: Fibel und erstes
Lesebuch. 4., durchgesehene und vermehrte Auflage. II. Teil: Zweites Lese-
buch. 2. Auflage. In Leinwand geb. je...........................ITT. —
Vas Lesebuch wird vor allem dem Lehrer im In- und Auslande dienen können, sich eine muster-
gültige Aussprache zu erwerben, deren Vorbild ja in der Bühnensprache gegeben ist. Doch wird
namentlich auch im Auslande die Sammlung bereits mit bestem Erfolg dem deutschen Unterricht
zugrunde gelegt. Die Lautschrift ist diejenige der Fssoeiation RKonetiqus Internationale.
wort und Sinn. Begriffswandlung in der deutschen Sprache, von Gber-
lehrer vr. Fr. Söhns....................................Geb. TK. 2.—
Das Buch behandelt in anziehender, allgemein verständlicher weise die Geschichte einer Reihe
besonders interessanter, allgemein bekannter und gebrauchter Worte der deutschen Sprache, wie
Unecht, Schelm, Schalk, Bursch, Buchstabe, Papier, Bühne, Fensterscheibe, Federmesser, Gift, Laube,
Messe, Gassenhauer, Geselle, Genosse, Zunft, Frauenzimmer, Reichstag, schachmatt, Ungeziefer,
Segen, Spektakel, galant, Talent, Wirt, Witz, Pfaffe, Zeche, Zeitung, und entrollt damit zugleich
ein gutes Stück deutscher ttulturgeschichte.
Befristen von Professor Dr. Oskar Meise
,... Ich kenne kein Buch, das in so geschickter weise dem Bedürfnis nach rechtem Verständnis
und feinsinniger Würdigung unseres edelsten Gutes entgegenkäme und so geeignet wäre, jedem,
wer es auch sei, herzliche Lust an diesem Gute und warme Liebe zu ihm zu erwecken."
(Urteil über „Ästhetik der deutschen Sprache" in der Zeitschrift f. d. deut sehen Unterricht.)
Unsere Muttersprache, ihr werden und ihr Wesen. 7., verbesserte
Auslage. Geb................................................ITT. 2.80.
Unsere Mundarten, ihr werden und ihr Wesen. Geb. IN. 3.—
Ästhetik der deutschen Sprache. 3., verb. Ausl. In Leinw. geb. ITT. 3.—
Deutsche Sprach-und Stillehre. Tine Anleitung zum richtigen Verständnis
und Gebrauch unserer Muttersprache. 3., verb. Ausl. In Leinw. geb. M. 2.20.
Musterbeispiele zur deutschen Stillehre. Lin Handbüchlein für Schüler.
4. Auflage. Geh.............................................M. —.30.
Musterstiicke deutscher Prosa zur Stilbildung und zur Belehrung.
3., vermehrte Auflage. In Leinwand geb......................IN. 1.80.
wie denkt das Volk über die Sprache? von Prof. vr. Friedrich
Polle. 3., verb. Ausl. v. Prof. vr. Gskar Weise. In Leinw. geb. M. 1.80.
Schriften von Professor Dr. Oskar Däbnbardt
„Deutsche Märchen! welch holder Zauberklang tönt aus diesem Worte! wie durch den Schlag
der Wünschelrute ist eine ganze herrliche Wunderwelt vor unserer Seele aufgebaut. In diese
Welt hinein führt Dähnhardts neueste Sammlung wie wenige sonst. Sie en'.hält nur solche
Märchen, die bisher so gut wie unbekannt waren, eine rechte Ergänzung und Fortsetzung der
Grimmschen Märchen. Dazu ist das Buch mit vielen herrlichen Zeichnungen und bunten Bildern
ausgestattet, eins immer schöner wie das andere. Der Rünstler Erich Ruithan hat die Bilder
aus dem Geiste heraus geschaffen, der uns die Illustrationen Ludwig Richters so lieb macht; es
ist echte Märchenstimmung, die in seinen Bildern lebt." (hessische Schulblätter.)
Deutsches Märchenbuch. Mit vielen Abbildungen von T. RuitHan. 2
Bände. (Band I in 2. Auflage.) Geb. je......................ITT. 2.20.
Heiniatklänge aus deutschen Gauen. Mit Buchschmuck von Robert
Engels. In künstlerischem Umschlag geh. jeM, 2.—, in Leinw. geb. M.2.60.
I. Aus Marsch und Heide. Niederdeutsche Gedichte und Erzählungen. 2. Aufl.
II. Aus Rebenflur und Waldesgrund. Mitteldeutsche Gedichte und Erzählungen.
III. Aus Hochland und Schneegebirg. Oberdeutsche Gedichte und Erzählungen.
Schwänke aus aller Welt. Mit 52 Abbildungen nach Zeichnungen von
Alois Rolb. In farbigem Einband.............................HT. 3.—
Naturgeschichtliche Volksmärchen. 3., verbesserte Auflage. Mit Bildern
von O. Schwindrazheim. 2 Bände. Geb. je.........................ITT. 2.40.
6
Zum Hufsatz - Unterricht
erschien im Verlag von B.ö.Ccubner in Leipzig und Berlin
ctpelt, der deutsche Aufsatz in der
prima des Gymnasiums. 2. Auflage.
Geh. ITT. 3.20, geb. ITT. 3.80.
-----------Neue Folge. Geh. IN. 3.40,
geb. IN. 4.—
Eholevius-lVeise,Dispositionen zu
deutschen Aufsätzen. 4 Hefte. 12., völlig
umgearbeitete Aufl. Kart. I: IN. 1.40,
II: IN. I.—, III: ITT. 1.60, IV: 1TT.1.-
3n der 12. Auflage ist den Bedürfnissen
der Gegenwart durch zahlreiche neue Aufgaben
Rechnung getragen worden. Sachlich Zusammen-
gehöriges befindet sich jetzt nebeneinander,' so
stehen in Bändchen I die geschichtlichen und
kulturgeschichtlichen Aufgaben, in II die aus
der Erdkunde und Uaturlehre, in III die aus
dem religiösen, sittlichen und ästhetischen Ge-
biete, in IV die Sentenzen und Sprichwörter.
-----praktische Anleitung z. Anfertigen
deutscher Aufsätze. 8. umgearb. Aufl.
Geb. IN. 1.60.
Uutzner-Lpon, praktische Anleitung
zur Vermeidung der hauptsächlichsten
Fehler in Anlage und Ausführung
deutsch. Aufsätze. 4. Aufl. Kart. IN. 1.—
Menge, Dispositionen und INuster-
entwürse zu deutsch. Aufsätzen für obere
Klassen höh. Lehranstalten. 3. Aufl. von
Prof. Dr. G. weise. Geb. M. 2.—
Die vorliegende Sammlung enthält im
wesentlichen Musterentwürfe, wie sie bei der
Rückgabe von Aufsätzen mit Zusammenfassung
des gesamten, von den Schülern gebotenen, vom
Lehrer berichtigten Stoffes der Klasse vorge-
tragen werden können. In der2. Auflage sind eine
größere Anzahl von Themen literarischen und ge-
schichtlichen Inhalts neu aufgenommen worden.
Mosengel, deutsche Aufsätze für
mittlere u. obere Klassen höherer Lehr-
anstalten im Anschluß an den deutschen
Lesestoff. 2. Aufl. Geb. IN. 1.80.
-----------Neue Folge. 2. Auflage.
Geb. ITT. 2.—
Naumann, theoretisch-praktische An-
leitung zur Besprechung und Abfassung
deutscher Aufsätze. 8. Auflage. Geb.
ITT. 4.80. In 3 Abt.: IN. 1.60,1.60,2.20.
„ ... wir haben die Anleitung studiert
von vorn bis hinten und kommen zu dem Ur-
teil: ein selten schönes Buch, dem jeder Lehrer
geistige Samenkörner zu mannigfacher Ver-
wertung entnehmen kann."
(Hiterar. Beilage zu der
Hebrerzettg. f. Cbür. u. JMttteldeutfchl.)
Reiff, praktische Kunsterziehung.
Neue Bahnen im Aufsatzunterricht.
160 Schüleraufsätze, von den Schülern
selbst ausgearbeitet, nebst einer metho-
dischen Abhandlung über den Aufsatz-
unterricht. 3. Auflage. Geb. IN. 2.—
„(Es lesen sich diese echt kindlichen Geständ-
nisse entzückend, zum Teil rührend, zum Teil
heiter, immer aber sind sie ein freier und über-
raschend bezeichnender Ausdruck für die Alters-
stufe und das Naturell des Schreibers . Möchte
das Buch doch durch recht viele Lehrerhände
gehen, und möchte doch auch manche Mutier
darnach greifen." (Pädagog. Rundschau.)
Schmieder, der Aufsatzunterricht auf
psychologischer Grundlage. 2. Auflage.
Kart. IN. 1.40.
„...wer sich mit dem Inhalt der Schrift
vertraut gemacht hat, wird sicherlich zu mancher
Verbesserung seines Aufsatzunterrichts angeregt
werden, und darum kann das Büchlein als ein
wertvoller Beitrag zur Methodik des Aufsatz-
unterrichts jedem Lehrer empfohlen werden."
(pädagogikebe Blärrer f. Lehrerbildung.)
Lchnupp,DeutfcheAufsatzleHre. (Die
Abhandl.) Für den Unterricht an höh.
Schulen. Geh. IN. 3.20, geb. NT. 3.80.
„ .. Unter den vielen Aufsatzbüchern nimmt
das vorliegende eine Vorzugsstellung ein. Ls
zeichnet sich vor allein durch das richtige Streben
aus, allen öden Schemarismus, allen langweili-
gen und ermüdenden Zormenkram von der deut-
schen Aufsatzlehre fernzuhalten und dafür die
Schüler systematisch an verständiges u. selbstän-
diges Denken zu gewöhnen,das innerste Wesen der
Abhandlung klarzumachen." (Lir.Lenrralbl.)
Sieger - Christoph, Aufsatzunter-
richt und Kindersprache. Bausteine zu
einer exakten Methodik des Aufsatz-
unterrichts. Geh. IN. 2.80, geb. ITT. 3.20.
Ls gilt allgemach als Axiom, daß die
Schulung des schriftlichen Ausdrucks an die ge-
sprochene Rede anzuknüpfen hat. Aber die
Sprache des Kindes erschien zu vielgestaltig, zu
verschieden geartet nach Wohnort, Stand der
Eltern, Alter, Begabung usw. Hier greift nun
das vorliegende Werk in durchaus eigenartiger
weise ein. Die Verfasser bieten die Ergebnisse
des langjährigen Studiums und leiten daraus die
Gesetze für den Aufsatzunterricht ab, geltend für
gebundene und für freie Aufsätze, für Themen-
wahl und Themenbehandlung — anregend zu
ähnlichen Unternehmungen.
Ullrich, deutsche NTusteraufsätze.
3. verbesserte Auflage. Geb. IN. 2.80.
„Dieses Buch kam mir zu, als ich gerade
Werke für den Stil-Unterricht in der Bürger-
schule studierte... ■ In der Tat, ein treffliches
Buch,das eine Sammlung von wirklichen Muster-
aufsätzen enthält..." (-freie Scbulzeitung.)
7
Verlag von B. 6. Ceubner in Leipzig und Berlin
Zeitschrift
für den deutschen Unterricht
Begründet unter Mitwirkung von Rudolf hildebrand
Herausgeber: Professor Or. Otto Lyon
Schriftleiter: Or. üßaltber Rofstaetter
26. Jahrgang 1912. Jährlich 12 Monatshefte zu je 4—5 vruckbog.
gr. 8. Preis für den Jahrgang M. 12.—
Die Zeitschrift ist von Anfang an bemüht gewesen, für einen gesunden
Ausbau des deutschen Unterrichts zu wirken und im Geiste Rudolfs Mde-
brands ein lebensvolles Erfassen des deutschen Sprach- und Geisteslebens zu
fördern. Sie wird auch weiterhin ihr Hauptziel darin erblicken, der Ver-
ständigung über die dem deutschen Unterricht gestellten Probleme, deren
Lösung eine dringliche Aufgabe der nächsten Zeit ist (zeitgemäße Weiter-
entwicklung des deutschen Sprachunterrichts, Neugestaltung des Literatur-
unterrichts durch eingehendere Berücksichtigung der neueren Dichtung, Kampf
gegen die Schundliteratur und für eine gute Iugendlektüre, Problem des
Arbeitsunterrichts sowie Reform des Aufsatzunterrichts), zu dienen. Sie
wendet sich darum an die Deutschlehrer aller Schulgattungen als ihre Leser
und Mitarbeiter. Um ihnen den Überblick über die stets anwachsende
wissenschaftliche und pädagogisch-didaktische Literatur zu erleichtern, sind seit
1911 regelmäßige Literaturberichte eingeführt, in denen bewährte Fachmänner
kurze Iahresübersichten über alles Bemerkenswerte geben. Endlich wendet
sich die Zeitschrift auch an die Lehrer der Hochschulen, von deren reger Mit-
arbeit sie eine innigere, so dringend notwendige Verbindung der Schule mit
der wissenschaftlichen Arbeit erhofft. So will die Zeitschrift auch in Zukunft
alle Deutschlehrer zu gemeinsamer Arbeit zusammenschließen im Dienste des
deutschen Unterrichts und damit des gesamten deutschen Geisteslebens.
Probenummern auf Wunsch umsonst und postfrei vom Verlag
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