t
Lüneb Lesebuch
üneburger Lesebuch.
Aitltelstufe,
herausgegeben
vom Vorstande der Lehrer-Witwen- und -Waisenkasse für
den Bezirk der vormaligen Landdrostei Lüneburg.
Achte, neubearbeitete Auflage.
—2
EE
lnternationales derũbuchinstitiu
Br ανα linventarisiert unter
Mothek— sis 3
Hannover und Leipzig.
Hahnsche Buchhandlung.
190
608.
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig
9 —
7
x
2 2
Inhaltsverzeichnis des Lüneburger Lesebuchs.
Mittelstufe.
Gedichte sind mit * bezeichnet.
J. Sür Zeit und Cwigkeit.
A. Alles mit Gott.
1. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf! Seite
1. Mit Gͤt — eette pp—
2benefaa sesteoae .
3. qur acheß eeee
4. Etwas von unserer Voreltern Frömmigkeit. Rach HJebel
2. Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut.
Von den Ugen seenstein
MWufe mich an in der dddödd Hann. Volkskalender.
ie voglei einecorne
8.Der gescgnete Kirchgang rummacher
9. Spruche — —————— ————
3. Ehre sei Gott in der Höhe!
119. Morgenliedd seseqhiiterr
11 VBo wohnt der liebe Got dey
12 Line eee 1 oeÊ
158 Sonntagg —ewenlein 9
14. Du sollst den Feiertag heiligen ..— Flieg. Blätter d. Rauh.
Haufsfeß 9
15. Weihnachtslid —p Trofaeaenn 6—
16. rttaaa — —po Diettsnbaen 1
17. Ehristnacht im Walde oorden
18. Leujahdee f Dieffenbach
19. Lenjahrsgeberr Dieffenbach
29 Osterüued Dieffenbah
21 hurizt sat ergtaundannn Dieffenbach (gekürzt).
22. Eine kleine Missionsfreundan.... . Nach haͤrms 211
4. Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!
125. Die apele hsand00
*24. Das Gloöcklein im Lerzenn .. Scheurfsinn 99
2 Vie Boten des Tode Frimm11
26. Auferstehungsnlaubde ccsenbach222
— 1V
B. LTebe im Ganzen!
1. In der Familie. Seite
227. Das Vaterhaus WMWwiedemann 31123
*28. Zimmerspruen —Uulland . ee
*29. Wenn du noch eine Mutter haste. E Kaulisch (gekürzhd
30 Ein Grabdb e Gitcannn ———
31 Dienertreuee 2 Caspari — 24
32. Der Rittmeister Kurzhagen v. Pustkuchen-Glan-
z0h pp ssßs
33. Lasset uns hingehn und desgleichen tun. Stober ———07
34. Der alte Großvater und sein Enkel .. Grimm 2
35. Grobmutter Holzgaammlerin wildenbruen —2
36. Das Licht der treuen Schwesteß Mullenhoftft 72 )
837. Spielet nicht mit Feuererr Zentralblatt
38 Sneewittchenn einnnnn333
39. Aschenputtel — Grimmmmm
40. Dornröschen e nnnn
41. Das Wunderkästehen aebaeer
42. Der Wirt muß vorau 1
3 Der gute Jder M on Horn 19 9
4 bDie Ra. ————————— Diland —
2. In Gemeinde und Staat.
a. Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!
45 Dentscher Raaaa Mein
46 in elrliener Knaeee vv 3
47. Der Bauer und sein Soh Gellee
48. Vom Kranien uind Wolrix ütrnere
Vom Wolf und Lammlei ebebuiherr
9 Vie reure ekße eit 13
51. Wahrheit und Treue im Sprichwort. ... *
b. Ein treuer Freund ist großes Gut.
52. Der gute Kamerrd eoodland 55
8. greunde in der ddoödd erbacher 653
5 Peler PeienScharrelmaun 66
65 Der lleine Friedensboe er —160
e. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!
b6. Ein freundliches Wort Rodemever
b7. Der Arme und der Reicherimmmm
38. Geiz ist die Wurzel alles Ubel aA4 lteldd 5
59. Geben ist seliger als Nehmeaen eebe 6
60. Auch ein dankbarer Samariter.. . App. Sonntagsblatte. 8
61. e ee inde bie Maq sosß8
62. Das bruve MAUtterengaean ullenhotft 69
d. Segen ist der Mühe Preis.
163. Die Schatzgräber Wurger 0
64. Das Seulurasenlana aens * 70
65. Weise Sparsamkeit. . . Aurbacher
66. Legende vom Huseisen . v. Goethe v3
37. Vôrgetan und nachbedacht, hat manchen
schon in Schaden gebracht... . . Anerbaehe.
— Vv —
o. Nicht der Stand ehrt den Mann, sondern der Mann den Stand.
Seite
*68. Graf Eberhard im Barx Zimmermann —
69. Konig Friedrich und sein Nachbher dvdebeee
70. Sehwert und sgg Mmuner
71 RaseiiiScchillerree
72. Ein braver Dienerr eylserr
78. Ich habe keine Zeit, nüde zu sein Brammer 19
1. Siehe auf dich selbst!
74 Die Herrgollslinde Stornmnnnnn 809
75. Der besteé Empfehlungsbrief.. ... Magdeb. Zeitung 00
76. Jockli, zieh das Käppli abll chorere ——
77. Ein gutes Wort findet einen guten Brt Branuunn
78. Der Uusiedier bbasparen
79 Der Wunderdolterr weeshlt
80. Der Fischreihr ohe
81. HVer volze iesen lbddand
82. Der Fuchs und der Hahn Simrock enach Afopp
83. Der Fuchs und die Trauben .. Nach Aslop 1
*84. Der Geizige und der Affe. gTagedoruuu 7
85. Etwas von der Reinlichkeit. .. Nach dem Gesundheits—
büchlein a88
g. Scherzecke.
186. War ded st du, wenn du Konig wirtfe? enter
87. Der großze Krebs im Mohriner Seß opischhh ——
88. Die Heinzelmannchen cophhee
89. Von den Sehildbürgern. larbaeh, Volxksbueh
90. RateeiiDeu senues Liuderxbuer
91. Till EulenspiegMach Till Eulenspiegel· 97
92. vans im Gluudd — erimmmm 160
*98. Rtsl evwvilexee104
94. Baron von Münchhausen erzählt einige
Abenteuer Burge 1106
95 alltfie 116
96. Sellsamuer Spazierriitlebe168
97. Die Katze und die Mäuse .. . . . Simrock nach Asop. . . 109
II. Aus Peimat und Vaterland.
A. Die Natur im Wechsel der Jahreszeiten.
1. Frühling.
*98. FruhlingseinzugßgßgßßMuller 1109
*99. Das golneeglekohen... dobeurlin 11
100. Der SirrsReinholdo 411
101. Der Fruͤhling als Aönig dwenstein 115
102. Die VellchhengeiTerolan413
198. Der ZaunkösniiggdGeiniin12121
194 Morgenliedhooffmannv s8s.2
1105. aAn sinem Maimorgen —odolaudiuu279
106. Alles neu macht der Maiv. Kam 120
Mittelstufe.
— VI —
Seite
*107. Maiglöckchen und die Blümelein ... Hoffmann 1132321
103. Wie das Käferchen ins Wirtshaus geht. Nach vebef 4121
*199 Gefunden. v Goerhe e
119. Der Löwenzahn Wagner 22
2111. rmahnung Tröfzan 3
*112. Nur nicht verzagt BReiniek — 1
113. Die Schwale Gruübe——
114. Waldkonzer Dieftfenbah 26
115. Das Vogelnest....... Oldenb. Volksbote. 27
*116. Wie ist doch die Erde so schön!. Reinit —— —12
117. Im Donn Troͤjan 8 128
118. Das Grab der Nachtigall Wolf⸗Harnier —Al9
119. Der Kuckued Wagnerr 3
120. Eine Sage vom Kuckuck Curtmnan s6
1121. Abendfeier Spitta (gekürzt) 136
*122. Raͤtsel ——— Schiller 136
2. Sommer.
*123. Sommergesang Gerbard 11687
2n orgen trolannn 1537
125. Der Hahin r Löwenstein 1388
1128 Ser Quhnerbvz Trojaen
127 Die Sperlineee beeiden o
22 ⁊*!fneeeMaoalle.. 1170
2 20 unleiii ßad debe 664
129. Voru sie Rrts gut isis voagnee134
131 Lin siger Bunner 136155
1832. Der Ursprung der Rofe Rutertt 6
133. Ein Brief a den Regen Maebhahnn 5
134 nnne chiier 17
135. Schulze vopeeeee Luhn und Schwarz 147
136. Valedee doffmunn g 5 3 147
137. Das Moo Maern wagnee177
1388. Das Bachleiin Rudolphi nach Goethen 149
139. Die Bachstelze.. Masiußsss 149
140. Das Ren E Wunderllien 1350
141. Im Waldfrieden Tdrojannnn162
*142. Die Gäste der Buche. Baumbaddd162
143. Der Specht Wagneßrßr 162
144. Die Kreuzotter AllLacdq Breh134
145. gottelohrr Lhompon 66
146. Natten Haaa s
147. Das Abenteuer im Walde Teroian 158
*148. Der Sommerabend. ... dvdebel. 162
3. Herbst.
149. Qubttt erinid164
*150. Einkerr Valanaaa1164
*151. Der Kirschbaunmn — Debennn 66
152. Die Einführung der Kartoffel. 2 Rettelbeddd168
153. Die Zugoödgiii jlubl168
1154 Wir bleben dahennn vVWeolf·Harnieß1170
165. Gruue Vogeleiiiiiimnmder. 117
*156. Das Lied vom Samenkorn.. . Krummaceher . .. 171—
157. Der Quhnerhabicht auf der Jagdd Muüller..11172
158. Am Rande des WaldeScharrelmann 17383
19 Ver RBabobMaltuͤrr 176
Veo Scuzenlide. CSqhill2e·12178
— VII —
4. Winter. Seite
1161. Gottes Lob im Winte ey 118
*162. gum neuen vahrr Meroiar 1107
163. Untertänigste Bitte unserer lieben Vöglein Deutseb. Kinderfreund 179
*164 Winterliede Kletteß 132
165. Hase und Fuchss echtei 182
166 Gin Lied hinterm Ofen zu ingen. ladin616683
B. Auf der Wanderung durch Heimat und Vaterland.
*167. Wenn du noch eine Heimat hast. . .. Träger 16684
168. Die IlmenaamaThiele und Meyer 185
169. Der Esel mit dem silbernen Hufbeschlag — 37—
179. Ritter Tzarenhusen Nach Rustmann188
171 LDor Biekelateiaa sce 6
172. Die Beerenpflücker der Heide ... . Brammer4 190
178. Fischzucht in der deid Dehning 192
*174. Des Sängers Wanderlied.. . Dieffenbach 193
175. Eine Fahrt auf der Elbe von Lauenburg
nach Sambur oo —1114
176. Die Seeräuber und die Bunte Knih . . Heuntzen —
177. Die Kirschenernte im Alten Lande. . . . Wilkens.
173 laola sdeentee.. 1100
179. Ehbe und git —V 2206—
180. Uber Berg und talt Brammer ——90
—E —e— Settfar ccc
182 Der Bergmonen im Har bbbeein 11
133. Die Roßtrape Mach rimm —112
184 Die Kinder zu Hamel beeimm. —2114
185. Mein Vaterladecunmnn 3231
186. Ein Besuch in den preußischen Königs—
schlössern in Porsdam und Umgebung koh12121215
187. Aus dem Reiche RübezahlhNnach Goebe 217
188. Was die Kinder aus Thüringen erhalten. Nach Scobel . . . .. 222
189. Der Binger Mauseturan Grimmmm2323234
190. Eine Rheinfahrt von Bingen bis Bonn . Nach Harms . . . .. 224
191. Alpenwirtschaft. Vach Bumüller u. Schacht 227
192. Lieb' Heimatland, ade!l! Disselboff . 229
O. Aus der Sage und Geschichte unsers deutschen Volkes.
193. Auf einem Gehöft unserer alten Vorfahren Nach Polack 230
194 iedtrisds senerf oalana 33
195 Der gehornte Siegiriede hab 35
196. Vonifatius und die Donareiche bei Geismar Nach Ahlfeld. . . . . . 234
*197. Wie Kaiser Karl Schulvisitation hiet Gerr25355
198 Wittelinds Tauffee parm236
*199. deinrich der Voglerer Vong 258
200. Otto der Große und Hermann Billung. darm 239
201. Editha, Ottos J. Gemahlin. ... v. Giesebreen 2
202. Die Zerstörung Bardowieft Westermann . ..5—
1208. Schwͤbische andeee lhandd
204 Varbarossa im Kysshausrerererr niiderrr
WQeinrich der poeßdennn 3
106 einricn der veeee sssonnn17154
297 Die Ritlerburgen qhaice 249
208. Aus dem Leben Rudolfs von Habsburg. Grube. 41111351
209. Wie Friedrich J. die Raubritter bezwingt. Nach Henning 263
— VIII —
Seite
210. Aus Luthers Leben... Disselho, Hagenbach und
veder
211. Ein Tag aus dem Leben des Großen Kur—
fürsten und seiner Gemahli Mmach dpubrer V0
212. König Priedrich Wilhelm J. und die
Laradebesugnger Wael nubrer 222
213. Wie Friedrich Wilhelm J. eine Schulprü—
füngd hiefrr Mpahopiitct64
214. Friedrich der Große als Wohltäter . . . Nach Burckhart . 266
215 eÊ alle s
216 Die Schlacht vei RoßbbadMach wirth 267
217. Der große Verbundel Stober
218 Mehm Er den Orden gleich mit! Mach Burkhart . 1790
219. Zwei Geschiohten vom alton rit Lylere 3 270
220. Aus dem Leben Friedrich Wilhelmns II. . O' von Horn. 2171
221. Die Königin Luise und der General v.
bckerizß vahnn —— 1072—
222. Mildtätigkeit der Königin Luisen bannnn ————272
4223. Treune um PTreus Jdahnkee 7
224 ZJohanna Stegenn . Nach Maßmann A74
*225. Das Lied vom Peldmarschall. Arnde —77
226. Ein Wort vom alten Blͤche beletliel 28
227. Friedrich Wilhelm III. und der kleine
Borzenkundieaed poounee eeoo
228. Ein Brie aaiser Willheiiann 479
222 r 1ßaui 18s2090 letie2580
2230 Zu eha 3 Meißner3891
*231 Der Sieg von Sedann Bodensteddd2882
232. Ein Abendsegaeaeaan Aus der Gartenlaube 282
233. Kaiser Wilhelm am Krankenbett.. . Lauxmann.. . . . . 283
244 Kaiser Wilheli dhoffsmann v. .112234
235. Kaiser Wilhelm J. ein echter Landesvater Pola1284
236. Kaiser Friedrich als Kronprinz. . .. Petsch u. Burckhart . .. 286
237. Aus Kaiser Friedrichs letzten Tagen Hubner.289
2838. Liebevolle Teilnahme Kaiser Wilhelms 1I1 Obt 1291
239. Selier dreibig Jahre hisi du all· Rurekhart. 2092
240. Unserer Kaiserin HerzensgüteßMNMach Burchkhart 11298
241. Unsere Kaiserin und das kleine Gänsemädchen Nach Hübner. 294
242. Unsere Kaiserin im Elisabeth-Kinderhospital Ernst.4 297
243. Weihnachten in unserm Kaiserhause . . . Nach dem Nachbar . .. 298
244. Gebet tur den Kuiser rurn —q4300
*245. Gelübde . .. Maßnann ß0
2⁊
Nach den Verfassern geordnetes Inhaltsverzeihnis.
Ahlfeld, Fräedrich. Nr. i i dr
6 inel alles Übels 58 Sn nn
ien und di Donareiche e *Ein Lied hinterm Ofen zu singen 166
Arndt, Erust Rorize eeene ck 120
dasñ e e vom Kuckief
Lied vom Feldmarschall. 225 Dehning, Heinrich.
Der Löwe und die Maus . 61 Fischzucht in der deide s
Der Fuchs und die Trauben . 83 Dieeubug Gerrg Christian
Auctbadh, Bertholb. Abendlied — —ae qö 2
Vorgetan und nachbedacht. . . 67 isun ——
Aurbacher, Ludwig. Peujabr
Das Wunderkästchen ——41 VNeuiahrsgebet. 7T
Freunde in der Not g Dterlien 5
33 3 Vhrist ist erstanden
Baumbach, Rudolf. Auserstehungsglaube —A— ——
le a vn cet
v 8. sn Wanderlied. .. 174
Huje und guchs l3di: off, Julius.
e r n gu 165 leb delnalland idel 192
Aus Luthers Leben 1210 Aus Luthers Leben . 210
Bodenstedt, Friedrich. Erus
*Der Sieg von Sedaen 231 Unsere Luiserin im Elisabeth—
ee elneee Kinderhospital — 242
Ich habe keine Zeit, müde zu sein 73 hlert griedrh
Die Beerenpflücker der Heide 172 Ein rt Dientt ue
ee eeea ere1 Zwei Geschichten vom alten Fritz 219
Bruͤnm, JIabrila. Fröhlich, Emanuel.
*Ein gutes Wort findet einen guten Ser Burderdeir
77 Gellert, Christian Fürchtegott.
Brehm, Alfred Ebmund. *Der Bauer und sein Sohn .. 47
Die Kreuzotætie 1144 sed
Vuiner nnernnaus 123283
Alpenwirtschat uha
ba 191 ee Karl Schulvisitation
Friedrich d. Gr. als Wohltäter. 21 r Bilt n
„Nehm' Er den Orden mit!“ 33 ee Viln
Kaiser Friedrich als Kronprinz. 236 n enuhtin n
Shier dreihig Jahre bist du annn 239 in srmann.
ÜUnserer Kaiserin Herzensgüte . 210 Gann r nind c
Bürger, Gottfried August. A e ann
*Die Schatzgräber6353 Gorn un aehnn s
Baron von Münchhausen erzählt 94 *Le b antt
Caspari, Heinrich. een on vecien n
Dienertreueee 31 Görres, Guido.
Der Einsiedleerer617538 WEine Flage. z 2
1
—X——
Nr. Nr.
Grimm, Jakob u. Wilhelm. Hey, Wilhelm.
Die Boten des Todes. 25 *Wo wohnt der liebe Gott? .. 11
Der alte Großvater und sein Enkel 314 *Gottes Lob im Winter . . . . 161
Sneewinuen 355 Hiltl, Georg.
eeuue — —q9 Wie Friedrich Wilhelm L. eine
drn chen· — — 40 Schulprüfung hielt. 213
e n der Reiche . n n Fallersleben.
s 4 prgenlied 10004
Der Jaunkönig 12169 Waiglöckchen und die Blümelein 107
d en im Harz . . 32 wWaldlied7136
ie Roßtrappeee 338 *ai i —
Die Kinder zu Hameln 81 een n
Der Binger Mäuseturm . 189 n
Heinrich der Lonneeur. 33 Der gute Herr 4
Grnt 22 Aus dem Leben Friedrich Wil—
r helmng ne. 5 220
— üb „Max.
Grube, A. W. en dem Leben des
Die Schwalhle1113 Großen Qurfürsten 1211
Aus dem Leben Rudolfs von Friedrich Wilhelm J. und die
Qabehnti ee98 Paradehesucher 212
d en ri n ua Kaiser Friedrichs letzten *
er Geizige und der Affe. .. gen
vagenbad Karl Rudolf. Di in und das kleine Gänse⸗ N
us Luthers Lebenn210 ——
Hahn, an dahn, 53
d n Luise und der an de arn arn een ss
eneral v. Köckeriß 221 3
Mildtätigleit der Königin Luise 338 umn Teue 2
Harms, H. ubitz.
cin heinfahrt von Bingen bis 8 Bugvögel..44153
vn11190 unker.
Harms, Ludwig. Friedrich Wilhelm III. und der
Eine kleine Missionsfreundin . 22 u Börsenhändler . . .. 227
Wittelindẽ Tauje198 amp, Hermann v.
Otto d. Gr. und Herm. Billung 200 n der Mai 1606
zebel ter. auli tlhelm.
eoun n te Voreltern en noch eine Mutter hast 29
gröminigkei 4 ette, Hermann.
Geben ist seliger als Nehmen . 59 VNit ——
König Friebrich und sein Nachbar 69 Aur Lt38
Seltsamer Spazierritt 4 96 Winterlied —— ——— 164
Wie das Käferchen ins Wirtshaus Koch, Hermann.
ge 660 Eine Fahrt auf der Elbe 1275
Zinnn vee eee den preußischen eg
er Sommerabed. nig ern
v Kirschßaum 11351 aeelnnn errn m
enning. e un uüdd
Wie Friedrich J. die Raubritter Kopisch, August.
bezwingrt12200 dn große Krebs im Mohriner See 87
Hentze, C. ie Heinzelmännchen 688
Die Seeräuber und die „Bunte Krummacher, Friedrich Adolf.
uh12s6 Der gesegnete Kirchgang .. 68
delgoland1178 *Das Lied vom Samenkorn . 156
„esekiel, Georg. Kuhn, A.
WEin Wort vom alten Blücher 226 Schuge Hoppe .135
Der 19. Juli 1879 2323259 Der Bickelstein 171
— XxXI —
Nr. Nr.
Lauxmann, Richard. Reinhold, Karl.
Kaiser Wilhelm am Krankenbett 238 Der Stàꝛe 4100
Löhr, Andreas. Reinick, Robert.
Der Fischreiher 80 *Deutscher Riii148
Löwenstein, Rudolf. *Nur nicht verzag4112
Von den Engeli6 *Wie ist doch die Erde so schön! 116
Sonutaga 32153 sderbzn 1600
*Der Fruͤhling als König 1090 Neuter, Fritz
Der Hahan5 *Wat ded'st du, wenn du König
Löwicke, Robert. wirꝛee 8
*Ratleeiliii 95 odemeyer
Luther, Martin. Ein freundliches Wort .. .. 66
Vom Kranich und Wolf . .. 48 Rückert, Friedrich.
Vom Wolf und Lämmlein .19 »Der Ursprung der Rose 132
Masius, Hermann. *Grüne Vogelein. 1165
Die VBachstelze 139 *Barbarossa im Kyffhäuser . . . 204
Maßmann, H. F. Rudolphi, Karoline.
hanna Stegen 4124 Dar Vachlein· 1138
Gelübde ——— 2 Rustmann, Wilhelm.
Meißner, Alfred. Ritter Tzarenhuͤsen 170
n aheeauo VBaun a —
Meher, Hustav. Das Schlaraffenland. ..64
Vie JIlmenau168 Salle
Mosen, Julius. allet, Fr. v.
4 dieten 4442215
Heinrich der Löͤwen 205 Zie
Mösfer, Juftuͤs Schaͤcht, Thepdor.
Der Wirt muß voran4 Alpenwirtschaft . 191
Müllenhoff, Karl. Schäfer, Wilhelm
Das Licht der treuen Schwester 36 Die Ritterburgen 206
Das brave Mütterchen. . . . 62 Scharrelmann, H.
Muller, Adolf u. Karl. Peter Pein654
Der Jged13 Am Rande des Waldes. .. 158
Der Hühnerhabicht auf der sagd 157 Scheurlin, Georg.
Müller, Wilhelm. *Das Glöcklein im Herzen. .. 24
*Fruhlingseinzug 9858 *Das Schneeglöckchen.... 99
Müller von Königswinter, Schiller, Friedrich v.
Volfgang. Morgenlied 10
Schwert und Pfluu .·70 Relldl
Nettelbeck, Joachim. ñ s
1 2 der Kartoffel. 152 s ssssssssss7
orden, Hanna. *Schienli
e Walde andeeeee 160
Obst/ J& la l
bledevole Teilnahne Kaiser Wil⸗ en bbuni Sirgielen ve nos
helms II. 2 238
Petsch. W. nn dephe ——685
aiser Fr in4
pin iedrich als Kronprinz; 286 Was die Kinder aus Thüringen
Ein lästiger Bummler . . .. 131 erhalten. 1188
Pacei, Fraͤnz. Seidel, Heinrich.
*Eine drageg12 Die Sperlingeß17
Polack, Friedrich. Seifart, Karl.
Auf einem Gehöft unserer alten Der Rosenstock zu Hildesheime. 181
Vorfahren 1093 Simroc sKarl.
Kaiser Wilhelm L., ein rechter Der Fuchs und der Hahn 82
Landesvate265 Die Katze und die Maäuse .97
Pustkuchen-Glanzow, Friedrich. Spitta, Philipp.
Der Rittmeister Kurzhagen .. 32 *Abendfeierr
125
—
Nr. Nr.
Stöber, Adolf. Unbekannte Verfasser.
Der große Verbündete . 217 Ein ehrlicher Ruabdee64
Stöber, Karl. Der Esel mit dem silbernen Huf—
Lasset uns hingehen und des— beschla 169
gleichen tun 33 Veith.
Der kleine Friedensbote 55 Die teure geche v — —20
Storm, Theodor. Vogl, Johann Nepomuk.
Die Herrgottskinder . 74 Heinrich der Vogler 1699
Sturm, Julius. Wagner, Hermann.
Mein Vaterlandn 185 Der Lowenzahn 1
AGebet für den Kaller 4 Der Kuckud119
Thiele, Th. Wozu die Kröte gut ist 130
Die Ilmenaun 238 Das Mooß 113
Thompson, Ernst Seton. Der Spech 114
Zottelorhe 148 Walther, E.
Träger, Albert. Der Rabe ——
Wenn du noch eine Heimat hast 167 Westermann, Heinrich.
Trojan, Johaunes. Die Zerstörung Bardowieks 202
Weihnachtsliede15 Wiedemann, Franz.
Die Veilchenzeinn16 * Das Vaterhauu177
unahuunn 11 Wildenbruch, Ernst.
vnnnnn17 *Großmutter Holzsammlerin 35
un Veren 124 Willens, Heinrich.
dr Aunne — ———— Die Kirschenernte im Alten Lande 177
lbfrieden
Das Abenteuer im Walden 147 Wirth, Johann n Au aust.
Zum neuen Jahr 162 Die Schlacht bei Roßbach. .. 216
nhland n Wolf-Harnier, Eduard.
Sie e g. Das Grab der Nachtigall. .118
Die Kapeller 233 u —
*V Wir bleiben daheiii11544
Zimmerspruch28
MDie Rachee uubderlich, E.
Der gute Kamerada 62 Dat sRejhd 60
Der weiße Hirsche. gimmermann, W.
MKinteyr A69 *Graf Eberhard im Bart . I 68
Siegfrieds Schwert 194 Zschokke, Heinrich.
Schwäbische Kunde . 208 Jockli, zieh das Käppli abl. 76
Uuellennachweis.
Aurbachers Volksbüchlein, Leipzig, Reclam: Nr. 53.
Brehm, Tierleben, Leipzig 1877: Nr. 144.
Burckhart, Das Haus Hohenzollern, Paderborn 1899: Nr. 214, 218, 236, 239, 240.
Bürger, Münchhausens Reisen und Abenteuer, Leipzig, Reclam: Nr. 94.
Caspari, Schatzkästlein, Erz., Stuttgart 1893: Nri 31.
Claudius, Wandsbecker Bote, Gütersloh 1901: Nr. 105, 166.
Dieffenbach, Für unsere Kleinen, 6. Jahrgang: Nr. 20; 7. Jahrgang: Nr. 19, 26;
8. Jahrgang: Nr. 7; 9. ZJahrgang: r 18,21.
Disselhoff, Jubelbüchlein, Kaiserswerth 1883: Nr. 210.
Eulenspiegel, Leipzig, Seemann: Nr. 9.
Freudenberg, Was der Jugend gefällt, Leipzig, Köhler: Nr. 30, 35, 127, 148.
Gedichte für die Jugend, herausgeg. v. d. Jugendschriften-Vereinigung des Bezirks—
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Gesundheitsbüchlein, Berlin 1899: Nr. 85.
Goebel, Der Herr des Riesengebirges, Wesel: Nr. 187.
Goethes Werke, Stuttgart 1885: Nr. 66, 109.
Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Berlin 1883: Nr. 38, 39, 40, 57, 92, 103.
Grube, Charakterbilder aus der Geschichte und Sage, 1873: Nr. 208.
Hahn, Friedrich Wilhelm III. und Luise, Berlin 1877: Nr. 222.
Harms, Goldene Äpfel in silbernen Schalen, Hermannsburg: Nr. 22, 196, 199.
Harms, Vaterländische Erdkunde, Braunschweig 1901: Nr. 190.
vele e Erzählungen des Rheinischen Hausfreundes, Stuttgart, Union:
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Hentze, Hamburg, Hamburg 1901: Nr. 176, 178.
Hoffmann v. Fallersleben, Kinderlieder, Berlin 1877: Nr. 104, 107, 136.
Hübner, Erzählungen und Schilderungen aus dem Leben unseres Kaiserhauses,
Breslau: Nr. 237, 241, 242.
Hübner, Im Glanze der Königskrone, ebenda: Nr. 212.
Hübner, Der Große Kurfürst, ebenda: Nr. 211.
Qübner u. Schwochow, Vom Kurhut bis zur Kaiserkrone, ebenda: Nr. 218.
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auxmann, Gedenkblätter aus dem Heldenkampfe Deutschla i i
— H pf schlands mit Frankreich 1870/71,
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ehring, Helmkampf u. Krausbauer, Lesebuch für ländl. Fortbildungsschule
Leipzig 1ddl. Nre 133. wschulen
Heinecke, Lesebuch für evangelische Volksschulen, Essen 1898: Nr. 43.
Hopf u. Paulsieck, Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, Berlin 1896:
Nr. 183, 225.
aen m ripbit ch, Lesebuch für deutsche Lehrerbildungsanstalten, Gotha 1884:
r. 75,
Langhans, Lesebuch für Volksschulen, Hannover 1901: Nr. 27.
Muff u. Dammann, Deutsches Lesebuch für Mädchenschulen, Berlin 1897: Nr. 139.
Löwenberg und Falke, Steht auf, ihr lieben Kinderlein, Köln, Schaffstein: Nr. 142.
Lüneburger Liederschatz, Hannover: Nr. 192, 245.
Maßmann, Johanna Stegen, Lüneburg 1863: Nr. 224.
Müller, Tiere der Heimat, Kassel 1882: Nr. 128, 157.
Eine Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgezeichnet, Leipzig, Reelam:
Nr.
Obst, Ein Festgeschenk, Breslau 1891: Nr. 238.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
I1
— xXIV —
Originalbeiträge 73, 168, 172, 173, 175, 177, 180, 186, 207.
Polack, 200 Jahre preußischen Königstums, Berlin 1901: Nr. 235.
de menet Neue Folge der Sammlung von Beispielen, Basel 18837: Nr. 4, 17,
Reinick, Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch, Bielefeld 1900; Nr. 116, 149.
Reuters Werke, Wismar 1900: Nr. 86.
Rustmann, Alte Steine in neuer Fassung, Hannover 1886: Nr. 170.
Scharrelmann, Weg zur Kraft, Hämburg 1904.: Nr. 54, 158.
Schillers Werke, Stüttgart 1879: Nr. 16, 71, 122, 134, 160.
ne and und Leute, Monographien zur Erdkunde, Thüringen, Bielefeld 1898:
r
Seifart, Sagen, Märchen, Schwänke u. Gebräuche, Hildesheim 1889: Nr. 181.
S ohntey, Landjugend, 2. Jahrgang, Berlin 1897: Nr. 228. I
eihisten herausgegeben vom Hamburger Jugendschriften-Ausschuß, Leipzig 1905;:
.
Trojan, Hundert Kinderlieder, Berlin 1899: Nr. 15, 111, 117, 124, 126, 162.
Uhlaäͤnd, Gedichte, Stuttgart 1901. Nr. 28, 41, 58, 81, 150, 194, 208.
Wagner, In die Natur, Bielefeld: Nr. 119, 143.
Westermann, Aus alten Zeiten, Hannover 1883: N. 202.
Wirth, Die Geschichte der Deutschen, Stuttgart 1865: Nr. 216.
Wolf-Harnier, Haulemann, Berlin u. Leipzig: Nr. 118, 154.
Wolter, Vaterländische Helden- und Ehrentage, Berlin 1898: Nr. 244.
Zeitungen, Zeitschriften, Kalender:
Deutsche Jugend, 14. Jahrgang, Berlin 1897: Nr. 141.
Deutscher Kinderfreund, 7. Jahrgang, Hamburg: Nr. 163.
Freytag, Hannoverscher Volkskalender 1878: Nr. 6.
Nachbar, Jahrgang 1905: Nr. 243.
Die übrigen Stücke sind dem alten Lüneburger Lesebuch entnommen.
l. Für Zeit und Ewigkeit.
A. Alles mit Gott.
1. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf!
1. Mit Gott!
Mit Gott — das ist ein schönes Wort —
da wandert man so fröhlich fort
und fragt nach Brücke nicht und Steg;
mit Gott! — man findet seinen Weg.
Dies Wort ist wie ein Wanderstab;
man geht den Berg hinauf, hinab,
das Feld hindurch, den Wald entlang,
und graut die Nacht, man wird nicht bang.
Im Grau'n der Nacht, im Windgebraus —
man weiß sich doch im Vaterhaus,
sorgt nicht am Kreuzweg allzuviel,
man geht mit Gott und kommt ans Ziel.
Mit Gott! das ist so wunderleicht!
Und doch, soweit der Himmel reicht,
soweit hinwandeln Tag und Nacht,
dies Wort hat wundergroße Macht.
Fürwahr, das ist ein selger Mann,
der's recht von Herzen sagen kann.
Er wird so stark, daß selbst der Tod
demütig naht und nimmer droht.
Wohlan, so sprich zur Abendruh',
zum Morgenlichte sag es du:
Mit Gott! mit Gott! — So fang es an,
dein Tagewerk, so schließ es dann! Hermann ANletle.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
— 2 ⸗—
2. Abendlied.
Der Abend kommt leise hernieder Die Abendglöcklein klingen
auf Dorf und Wald und Plur; so lieblich nah und fern,
es schweigen der Vögelein Lieder, — und fromme Gebete sohwingen
noch eines höret man nur. sich leise hinauf zu dem Herrn.
In purpurnen Gluten sinlet Nun herrschet Ruhe und Prieden
die Sonne dort zur Rub', wohl in der stillen Nacht,
und droben am Himmel blinket und alles schlummert hienieden, —
ein Sternlein schon freundlich mirzu. nur Gott im Himmel wacht! —
Georg Christian Diesffenbach.
3. Zur Nacht.
Verrauscht ist das Getümmel, Du blickst durchs Sterngefunkel
die stille Nacht bricht an; her in mein Kämmerlein;
der Mond am hohen Himmel zu tief ist dir kein Dunkel,
geht schweigend seine Bahn. du leuchtest doch hinein.
Ich falte froh die Hände, In aller Herzen blickst du
ich weiß, du wachst bei mir! und sendest Trost und Ruh',
Mein Gott und Vater, wende weinende Augen drückst du
dein Antlitz nie von mir! mit leiser Hand barmherzig zu.
Hermann Nletke.
4. Etwas von unserer Voreltern Frömmigkeit.
Die Gottesfurcht unserer Voreltern gab sich auch in Sprache und
Sitte zu erkennen. Wenn sie jemanden grüßten, so sagten sie: „Gott
grüße dich!“ Fingen sie eine Arbeit an, so sprachen sie: „Mit Gott!“
Gedachten sie in Zukunft etwas zu tun, so sagten sie: „Will's Gott!“
Nahmen sie Abschied von jemand, so hieß es: „Behüt' dich Gott!“
Hatten sie etwas ausgerichtet, so war es nur mit „Gottes Hülfe“ ge—
schehen. Hatten sie eine Wohltat empfangen, so hieß es: „Vergelt's
Gott!“ Sie aßen und tranken nicht, ohne zu beten: „Komm, Herr
Jesu, sei unser Gast!“ Sie schliefen nicht ein ohne das Abendgebet:
„Das walte Gott Vater, Sohn und heiliger Geist!“ Am Morgen
begannen sie: „All, was mein Tun und Anfang ist, gescheh' im
Namen Jesu Christ!“ So brachten sie durch die Sprache zum Ausdruck,
daß ihr ganzes Leben ein Leben „in Gott“ sein sollte. Wie sieht's
damit bei uns, ihren Kindern und Nachkommen, aus?
Nach J. P. Hebel.
— 1 ⸗—
2. Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut.
5. Von den Engeln.
Nun lab dir erzählen, mein liebes RKind,
wie schön die guten Engel sind!
Sie sind so hell von Angesicht
als Erd' und Himmel im PFrühlingslicht,
sie haben Augen gar blau und klar
und ew'ge Blumen im goldigen Haar,
und ihre raschen Flügelein,
die sind von silbernem NMondenschein.
Bei Tag und Nacht
schweben die Engel in solcher Pracht.
Nun laß dir erzählen, mein liebes Kind,
wie die Engelein fliegen leis und lind!
So leis, als der Schnee vom Himmel fällt,
so leis, als der Mond zieht über die Welt,
so leis, als der Keim aus der Erde spriebt,
so leis, als der Duft durech die Lüfte fliebt,
so leis, als vom Baume weht ein Blatt,
so leis, als das Licht über Land und Stadt —
so leis und lind
fliegen die Englein, mein liebes Kind.
Nun lab dir erzählen, mein liebes Kind,
wozu die guten Engel sind!
Wo ein Armer betet in seiner Not,
da bringen sie in das Haus ihm Brot,
wo beim kranken Kinde die Mutter wacht,
da nehmen des Kindleins sie in acht,
und wo in Gefahren ein Guter schwebt,
wo jemand weinet, jemand hebt,
dahin geschwind
gehen die Englein, mein liebes Rind.
Und willst du, mein Kind, die Englein sehn —
das kann auf der Erde wohl nicht geschehn;
doch wenn du hier lebest fromm und rein,
wird stets ein Engel um dich sein.
— 4 —
Und wenn dereinst dein Auge bricht,
du nicht mehr erwachst zum Tageslicht,
dann wirst du ihn schauen; er winkt dir still,
dann folg ihm, wohin er dieh führen will.
Im Himmelsschein
wirst du dann selber ein Engel sein.
Rudolt Löwenstein.
6b. Rufe mich an in der Not.
Ein Schiff befand sich auf einer Reise im Weltmeere und war
bereits weit von der amerikanischen Küste entfernt, als ein heftiger
Sturm losbrach, der fünf Tage lang anhielt und das Schiff in eine
solche Gefahr brachte, daß die Mannschaft sich schon für verloren ansah.
Gerade als das Unwetter am wütendsten tobte und das Schiff wie
einen Spielball haushoch hinauf- und hinabschleuderte, kam oben das
Takelwerk in Unordnung. Der Schaden mußte zurechtgebracht werden.
Aber in dem Tumult des Sturmwindes auf den Mast zu klettern, schien
fast unmöglich; es war ein Wagestück auf Leben und Tod. Der Steuer—
mann befahl kurzweg einem Schiffsjungen, er solle hinauf. Der war
ein junger, zarter Bursche, kaum vierzehn Jahre alt, das einzige Kind
einer armen Witwe, welche ihr Liebstes hatte in die Welt gehen lassen
müssen, weil sie selber kaum satt zu essen hatte.
Als der Junge den Befehl vom Steuermann empfangen hatte,
hob er seine Mütze auf, blickte nach der Spitze des Mastes hinauf und
wieder hinab in die schäumenden Wellen, die wie mit Ruten gepeitscht
übers Verdeck schlugen; und dann sah er den Steuermann an. Er
schwieg einen Augenblick; darauf sagte er: „Ich komme gleich,“ und
fort sprang er übers Verdeck in die Kajüte. Eine Minute verfloß;
dann kehrte er zurück, und nun ging's die Strickleiter hinauf, flink
und entschlossen.
Der Mann, welcher diese Geschichte erzählt hat, stand unten am
Maste, und seine Blicke folgten dem Kinde, bis ihm schwindelte. Er
fragte den Steuermann: „Warum schickst du den hinauf? Er kommt
nicht lebendig herunter.“ Der Steuermann antwortete: „Männer
fallen, Jungen stehen. Der klettert wie eine Eichkatze.“
Der andere sah wieder hinauf; noch stand der Junge. Jetzt hing
er am Mastkorbe; jetzt stieg er weiter. Der Sturm rasete und drohte
den Mast zu zerknicken wie ein dünnes Rohr; — der Junge hielt sich.
In einer Viertelstunde war er wieder unten, wohlbehalten und frisch,
und lachte fröhlich. „Gott sei Dank!“ rief jener. Vor Angst hatte das
Herz ihm stillgestanden.
— —
Denselben Tag noch suchte er den Jungen zu sprechen. Er fragte
ihn, ob ihm nicht bange gewesen sei. „Ja,“ sagte der Junge. „Ich
merkte es wohl,“ sagte der andere; „du hast es dir in der Kajüte auch
erst bedacht.“ „Bedacht nicht,“ sprach der Knabe; „ich wollte erst
beten. Ich dachte, herunter komme ich nicht wieder lebendig; da habe
ich erst beten müssen. Hernach war ich nicht bange.“ — Der Mann
fragte ihn, wo er das Beten gelernt habe. „Das habe ich zu Hause
gelernt,“ sagte der Junge; „die Mutter hat es mich gelehrt. Als ich
fortging, sagte sie, ich solle es immer tun, damit Gott mich vor Ge—
fahren bewahre; und so kann ich es nun auch nicht lassen.“
Die Mutter hat's ihn gelehrt! Du lieber Schiffsjunge, erzähle
es doch allen Müttern in Deutschland. Auch ihre Kinder müssen ja
hinaus in Wetter und Sturm. Wohl ihnen, wenn sie dann beten
können! Aus dem Hann. Volkskalender.
7. Die Vöglein.
O sagt, ihr lieben Vögelein, wer ist's, der euch erhält ?
wo fliegt ihr hin, wo kehrt ihr ein, wenn Schnee im Winter fällt ?
wo nehmt ihr eure Nahrung her, soviel, als ihr begehrt?
„Uns ist das Leben gar nicht schwer, Gott ist es, der uns nährt.“
Ibhr habt kein Feld, kein'n Heller Geld, nichts, das die Tasche füllt;
der Tannenbaum ist euer Zelt, trotz dem, der euch was stiehlt;
stets könnt ihr harmlos singen. Wie dankt ihr Gott dem Herrn?
„Die Töne tun wir schwingen bis zu dem Abendstern.“
Ihr habt nicht Koch noch Keller und seid so wohlgemut;
ihr trinkt nicht Muskateller und habt so freudig Blut.
Ei, sagt mir, wem ihr dienet, wer alles schafft herbei?
„Wenn's schneit, und wenn es grünet, hält Gott uns immer frei.“
Kein Sperling von dem Dache fällt, von meinem Haupt kein Haar,
es sei denn, daß ihm's wohlgefällt, der ewig ist und war.
Er ruft dem Storch zu seiner Zeit, der Lerch', der Nachtigall;
er führt uns all' zur Seligkeit, bewahrt uns vor dem Fall.
Wunderhorn.
8. Der gesegnete Kirchgang.
In einem Dorfe wohnte eine Witwe mit fünf Kindern, die war
sehr arm und ernährte sich kümmerlich mit ihrer Hände Arbeit. Es
gelang ihr anfangs zwar wohl, und sie konnte jährlich von ihrem Felde
ziemlich einernten; am übrigen Hausbedarf fehlte es auch nicht günzlich.
Aber eines Jahres mißriet die Frucht, dazu starb ihre einzige Kuh, so
daß sie in große Not kam mit ihren fünf Kindern. — Da ward sie
— 6—
sehr mißmutig und sprach: „Betteln mag ich nicht, Arbeit und Fleiß
nützen mir nichts, es wäre mir besser, ich stürbe!“ Als sie so dasaß
in ihrem Kummer, hörte sie von ferne das Geläute aus dem Dorfe.
Das war ihr ein erquickendes Getön; denn sie dachte: „So wird man
auch mir bald zu Grabe läuten!“
Darauf trat ihr Mägdlein in die Kammer und sprach: „Mutter,
sie läuten im Dorfe. Willst du nicht zur Kirche gehen? Ich will des
Hauses wohl hüten!“ — So sprach das Mägdlein, ihre Tochter; denn
die Mutter pflegte alle Sonntage zur Kirche zu gehen und fröhlicher
heimzukehren. Darum dachte sie bei den Worfen ihres Kindes: „Warum
sollt' ich nicht auch heute hingehen in den bösen Tagen, wie ich in den
guten getan habe?“ So ging sie, obwohl mit schwerem Herzen, zur
Kirche und setzte sich hinter einen Pfeiler, denn sie schämte sich ihres
Unmuts. Darauf, als das Lied anfing, vermochte sie kaum mitzusingen
vor heimlichem Weinen, und sie konnte ihre Tränen kaum verbergen.
Und als der Pfarrer von der Liebe und Güte Gottes redete, war ihr
ein jedes Wort erwecklich und rührend. Als nun die Kirche aus war,
ging sie mit demütigem Herzen getröstet nach Hause und sagte: „Hab'
ich doch das Meinige getan, so wird ja auch wohl der Vater es wohl
machen und das Seinige tun.“ Und vor allem war ihr ein Sprüchlein
aus der Predigt zu Herzen gegangen: „Durch Stillsein und Hoffen
werdet ihr stark sein!“ — „Gott,“ sagte sie, „hat meine Tränen ge—
sehen; er wird sie stillen, wenn es gut ist.“
Aber es hatte auch ein wohlhabender Mann in der Gemeinde die
Witwe bemerkt in ihrem Kummer. Und auch diesem war die Predigt
von der Liebe Gottes zu Herzen gegangen, und er dachte, als er die
Witwe sah: „Sie hat ein heimliches Leiden; drum kann sie nur mit
Tränen der Liebe Gottes gedenken und nicht so fröhlich nach dem Hause
des Herrn gehn wie du.“ Deshalb fragte er unter der Hand nach der
Witwe. Als nun am Abend die Witwe mit ihren Kindlein bei dem
Lämpchen saß, und sie sich untereinander trösteten und vorsetzten,
fleißig zu arbeiten, sagte die Mutter: „So wollen wir erst ein Geiß—
lamm aufziehen, vielleicht kommen wir auch einmal wieder zu einer
Milchkuh.“ Als sie diese Worte geredet hatte, vernahm sie an der Tür
ein Gebrüll wie das einer Kuh. Da wurde es ihnen wehmütig, denn sie
gedachten der Kuh, die ihnen gestorben war. Als es nun aber leise an
die Tür klopfte, da erschraken sie, und nachdem sie die Tür geöffnet,
trat ein Mann hinzu und sagte: „Sehet, ein guter Freund sendet euch
diese Kuh und die Säcke nebst seinem freundlichen Gruß.“ Da erstaunten
sie noch mehr, und ehe sie fragen und danken konnten, waren die
Männer schon von dannen gegangen. Die Kuh aber stand an einen
— 7 —
Baum gebunden und war schwarz und weiß gefleckt und viel schöner als
die gestorbene. Da führten die Kinder sie jauchzend in den Stall und
trugen mit Mühe das Korn in die Hütte; die Mutter aber weinte
heimlich. Des andern Tages kam der Geber, ein Meier, selbst zu der
Witwe und sagte: „Ihr habet gestern in der Kirche Gott Eure Tränen
dargebracht, dafür hat er Euch getröstet. Ich war ihm schon lange ein
Opfer meines Dankes schuldig, denn er hat mich reichlich gesegnet. So
seid so gut und nehmt es ohne Dank als eine Schuld, die ich gern
abtrage. Ich danke Gott, daß er in der Kirche mein Herz erweckt hat,
Euch zu helfen.“ — So sprach der Meier, und nun schieden sie fröhlich
voneinander. Friedrich Adolf Krummacher.
9. Wwruuclsie.
I. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf
Das ist der beste Lebenslauf.
2. An Gottes Segen ist alles gelegen.
2. Wer Gott vertraut, hat wohlgebaut.
1. Der Mensch denlct, Gott lenlet.
5. Vertrau auf Gott, er hilft in Not.
6. Not lehrt beten.
. Wenn die Not am größten,
issst Gottes Hülfe am nächsten.
8. Chrisstus läßt wohl sinsen,
aber nicht ertrinken.
9. Was Gott tut, das ist wonhlgetan.
3. Ehre sei Gott in der Höhe!
10. Morgenlied.
Verschwunden ist die finstre Nacht,
die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
die Sonne kommt mit Prangen
am Himmel aufgegangen.
Sie scheint in Königs Prunkgemach,
sie scheinet durch des Bettlers Dach,
und was in VNacht verborgen war,
das macht sie kund und offenbar.
— 8 —
CLob sei dem Herrn und Dank gebracht,
der über diesem Haus gewacht,
mit seinen heiligen Scharen
uns gnädig wollt' bewahren.
Wohl mancher schloß die Augen schwer
und öffnet sie dem Licht nicht mehr.
Drum freue sich, wer neu belebt
den frischen Blick zur Sonn' erhebt.
Friedrich v. Schiller.
11. Wo wohnt der liebe Gott?
Wo wohnt der liebe Gott? — Wo wohnt der liebe Gott? —
Sieh dort den blauen Himmel an, Hörst du der Glocken hellen Klang?
wie fest er steht so lange Zeit, Zur Kirche rufen sie dich hin.
sich wölbt so hoch, sich streckt so weit, Wie ernst, wie freundlich ist's darin!
daß ihn kein Mensch erfassen kann, wie lieb, wie traut und doch wie bang!
und sieh der Sterne goldnen Schein Wie singen sie mit frommer Lust!
gleich als viel tausend Fensterlein! wie beten sie aus tiefer Brust! —
Das ist des lieben Gottes Haus, Das macht, der Herr Gott wohnet da;
da wohnt er drin und schaut heraus drum kommen sie von fern und nah,
und schaut mit Vateraugen nieder hier vor sein Angesicht zu treten,
auf dich und alle deine Brüder. zu flehn, zu danken, anzubeten.
Wo wohnt der liebe Gott? — Wo wohnt der liebe Gott? —
Hinaus tritt in den dunklen Wald; Die ganze Schöpfung ist sein Haus.
die Berge sieh zum Himmel gehn, Doch wenn es ihm so wohlgefällt,
die Felsen, die wie Säulen stehn, so wählet in der weiten Welt
der Bäume ragende Gestalt! er sich die engste Kammer aus.
Horch, wie es in den Wipfeln rauscht! Wie ist das Menschenherz so klein!
horch, wie's im stillen Tale lauscht! und doch auch da zieht Gott herein.
Dir schlägt das Herz, du merkst es bald, O, halt das deine fromm und rein,
der liebe Gott wohnt in dem Wald; so wählt er's auch zur Wohnung sein
dein Auge zwar kann ihn nicht sehen, undkommtmits einen Himmelsfreuden
doch fühlst du seines Odems Wehen. und wird nie wieder von dir scheiden!
Wilhelm Hey.
12. Eine Frage.
Wer lehrt die Vöglein singen Wer beißt die Winde wehen
s0 süh und mannigfalt, bald stürmisch und bald leis,
und Hirseh' und Rebe springen die Jahreszeiten gehen
im grünen Buchenwald? im wundervollen Kreis?
— 9 —
Und wer die Bächlein gleiten und aueh mit treuem PVleibe
herab von steiler Höhb', gebaut das Sohneckenhaus?
und stolz die Ströme sehreiten Der über Länder zücket
zur weiten, tiefen dee? die Blitze weiß und blau
Wer hat den Tag gezieret und dann das PVeld erquicket
mit goldnem Sonnenschein? mit kühlem, frischem Tau?
Und wer am Himmel führet, Den Meister, grob und milde,
die tausend Sternelein, den nenne mir geschwind,
Dab sie gleich guten Kindern der dieb mit seinem Bilde
still gehen ihre Bahn geziert, mein liebstes Kind!
und nicht einander hindern Und der, bist du gegangen
und sich nicht stoben an? dem stillen Grabe zu,
O sag, wer ist der eine, dich jenseits wird empfangen
der Meister so geschiekt, in seiner ew'gen Ruh'.
der mit so reichem Scheine Und kannst du mir ibn nennen,
die Blümlein hat geschmückt? so folge ihm aueh fromm,
Der hoch am Himmelskreise dann wird er dich aueb kennen
sein Zelt gespannet aus und sprechen: „Sei willkomm!“
Görres u. Pocei.
13. Sonntag.
Es tönet über das weite Feld als hätte die Flur auch angetan
ein liebliches Frühgeläute, — sonntägliches Festgeschmeide.
wie ist so ruhig heut' die Welt, Es ist, als sängen die Vögel auch
so sonnig und wonnig heute! heut' schöner als andere Tage,
Die Hirten neben der Herde ruhn, als dufteten heut' mit stärkerem
die Herden ruhn auf der Weide; Hauch
die Bauern ziehen zur Kirche nun die Blumen in Feld und Hage.
im stattlichen Sonntagskleide. Und Orgelklänge tönen von fern,
Es schimmert der Tau im grünen von Morgenlüften gehoben,
Plan und alles betet: Wir loben den Herrn
wie Perlen auf schimmernder Seide, und wollen ihn ewig loben!
Rudolf Löwenstein.
14. Du sollst den Feiertag heiligen.
Ein ehrlicher Grobschmiedegesell kam auf seiner Wanderschaft in
eine Werkstatt, wo es recht tapfer herging mit Hämmern und Feilen
bis zum Abend; und es war ihm eben recht, denn er arbeitete gern.
Als aber der Sonntag kam, und das Hämmern nicht aufhörte, und keine
andere Orgel zu hören war als der Blasebalg, war es ihm nicht ganz
19 —
recht; denn er wäre gern in die Kirche gegangen, ein geistliches Lied
mitzusingen. Aber der Meister wollte aus seinem Eisen alle Taschen
voll Gold schmieden und dachte: Warum soll mein Handwerk bloß am
Sonntag keinen goldenen Boden haben?
Eine Weile hat sich's der Gesell eben gefallen lassen, weil er dem
Meister nicht wollte zuwider sein. Allein ohne den Sonntag schmeckte
ihm das Leben wie eine Wassersuppe, in der kein Salz ist. Also faßt
er sich ein Herz, geht zum Meister ins Haus und sagt: „Meister, ich
kann ohne Gottes Wort nicht länger bestehen, und wenn ich mich den
Sonntag in der Werkstatt abarbeite, bin ich die Woche nur ein halber
Mensch; darum seid so gut und gebt mir den Sonntag meine Freiheit.“
Der Meister sagt: „Nein, das geht nicht an; denn du hast die Aufsicht
in der Werkstatt, und außerdem, wenn einer fortginge, könnten sie alle
fortgehen, und dann stände das Geschäft still.“ — „Aber ohne Gottes
Wort verkomm' ich,“ sagt der Gesell, „und es geht einmal nicht mehr.
Ihr wißt, faul bin ich nicht, und Euren Schaden will ich auch nicht.
Und wofür bin ich ein Christ, wenn ich keinen Sonntag habe?“
Dem Meister kam es wunderlich vor, und er hatte schon ein Wort
von Narrenpossen und dergleichen auf der Zunge. Wie er aber dem
ehrlichen Gesellen ins Gesicht sah, besann er sich und sagte: „Nun,
meinethalben geh in die Kirche, soviel du willst. Aber eins beding'
ich mir aus: wenn viel zu tun ist, mußt du auch am Sonntag auf dem
Platze sein.“ — Wer war froher als unser Gesell! Am nächsten
Sonntag zieht er seinen blauen Rock an, nimmt das Gesangbuch unter
den Arm und geht in die Kirche. Solch einen schönen Tag hatte er
lange nicht gehabt; ihn hatte die Predigt und der Gesang ganz auf—
geweckt, und unser Grobschmied war so munter wie ein Vogel. Nun
vergeht die Woche; und wie der Sonntag kommt, sagt der Meister:
„Gesell, es ist viel zu tun; heute mußt du in der Werkstatt sein.“ —
„Gut,“ sagt der Gesell, „wenn's nicht anders sein kann.“ — Den
nächsten Sonntag sagt der Meister wiederum: „Es ist viel zu tun,“
und so auch den dritten.
Als aber nach dem dritten Sonntag der Gesell den Wochenlohn
bekam, fünf Taler und fünfundzwanzig Silbergroschen, wie es ihm zu⸗
kam, da spricht er: „Das ist zuviel!“ und schiebt die fünfundzwanzig
Silbergroschen zurück. „Warum?“ sagt der Meister, „es ist für die
sieben Tage.“ — Aber der Gesell spricht: „Nein, ich hab's mir bedacht,
und für den Sonntag nehme ich kein Geld mehr; denn der Sonntag
ist nicht zum Geldverdienen, und wenn ich am Sonntag arbeite, so
geschieht's Euch zuliebe, und Geld will ich nicht.“ Da sah der Meister
den Gesellen groß an; und seit dem Tage war die Schmiede jeden
an
m ⏑—
Sonntag verschlossen und kein Hammer und kein Blasebalg mehr zu
hören.
Merke: Man soll unserm Herrgott nicht sein drittes Gebot stehlen,
und wer in die Kirche will, der findet seinen Weg schon.
Fliegende Blätter des Rauhen Hauses.
15. Weihnachtslied.
Lieblich wieder durch die Welt und der Himmel wieder steigt
geht die holde Kunde, auf die Erde nieder.
die den Hirten auf dem Feld Wenn die goldnen Sterne glühn
klang aus Engelsmunde. in des Himmels Ferne,
Was den Hirten wurde kund, leuchten aus dem Tannengrüun
blieb uns unverloren: auch viel goldne Sterne.
wieder kündet Engelsmund, Haus an Haus mit hellem Schein
daß uns Christ geboren. flammen auf die Kerzen,
Welch ein Glanz durchbricht die durch die Augen fällt hinein
Nacht Licht auch in die Herzen.
in des Winters Mitte! Sei willkommen, Weihnachtslust,
Welche Freude wird gebracht uns auf neu' beschieden!
in die ärmste Hütte! Freude wohn' in Menschenbrust,
Winters Nacht und Sorge weicht auf der Erde Frieden!
hellem Jubel wieder, Johannes Trojan.
16. Ohristtag.
Da droben, da droben mub Christtag es sein,
es leuchten und flimmern die Lichtelein,
viel hundert und tausend, ach, mehr wohl gar,
die glänzen am Himmel so hell und so klar!
Dort oben, dort oben wohnt llezeit
Christkindehen in himmlischer Herrlichkeit;
es hat wohl den Engeln in dunkler Nacht
ein Bäumchen mit flimmernden Lichtern gebracht?
Dran hängen der goldenen Sternlein so viel,
den freundlichen Engeln ein liebliches Spiel;
wie werden sich freuen die Engel heut'
und jubeln und singen in seliger Preud'!
Dort oben, dort oben möcht' gerne ich sein,
mich freu'n mit den heiligen Engelein
und wandeln im hellen, im himmlischen Saal
und schauen die flimmernden Lichtlein zumal!
Georg Ohrissstian Diesfenbach.
— 12 —
17. Christnacht im Walde.
Die Glocken hatten das Christfest eingeläutet, und in den Kirchen
und Häusern klangen die Jubellieder dem Heiland zu Ehren. Helles
Jauchzen von Kinderstimmen drang in die dunkle Nacht hinein. Nur
die blasse Frau dort in tiefer Trauer hörte nicht das Jauchzen der
ganzen Welt, in ihrem Herzen wollte es nicht Weihnacht werden. Sie
schmiegte den Kopf traurig an den Arm ihres Mannes, der sie schweigend
aus der Stadt (Eisenach) hinaus den Weg zur Wartburg hinauf führte.
Ein tiefer Seufzer hob seine Brust, wenn er daran dachte, daß keine
Weihnachtsfreude in dem jungen Herzen erblühen wollte. Und doch
hatte er so viel von der Reise gehofft; hatte seine Frau doch immer
wieder den Wunsch ausgesprochen, diese Weihnachten auf der Wartburg
zu feiern, seit Jahr und Tag der erste, wenn auch wunderbare Wunsch,
den sie ausgesprochen.
Soeben hatten sie die Christmette besucht. Jetzt bat die Frau:
„Noch nicht dort hinauf, Kurt, dort sind Menschen und Licht, laß uns
langsam durch den Wald gehen.“ „Jetzt durch den Wald, Lucie, fürchtest
du dich denn nicht?“ „Ich? was sollte ich noch fürchten?“ — Arme
junge Frau! Zwei Jahre sind vergangen, seit sie ihr liebes Kind verlor,
und sie lernte sich noch nicht beugen unter die Hand Gottes; sie überließ
sich willenlos dem Schmerz über ihr verlornes Kleinod und wandelte
wie tot unter den Lebenden. Deshalb wollte sie auch jetzt allem Weih—
nachtsjubel glücklicher Menschen entfliehen. Ihr Mann deutete um sich,
ehe sie in den Wald eindrangen, um sie aus ihrer Schwermut aufzu—
rütteln. Drunten im Mariental schimmerten die hellen Fenster; hier
und dort, ob Berg, ob Tal, heller Weihnachtsglanz, und darüber breitete
der Himmel den prächtigsten Christbaum. Aber seine Frau schüttelte
nur seufzend den Kopf. Dg legte er den Arm auf ihre Schulter und
sprach: „Liebes Weib, sieh doch nach oben, wo unser Kind jetzt bei
Gott ewig Weihnacht feiert, und das Christkind heut', das will auch
zu den Betrübten und Verlassenen kommen.“ Sie seufzte nur: „Mir
wird es nichts bringen.“
Schweigend traten sie in den dunklen Wald, den Pfad durch ein
mitgenommenes und jetzt angezündetes Laternchen kaum erhellend. Zu—
erst zog sich der Weg durch dunkle Tannen, die in ihrer weißen Schnee⸗
hülle weihnachtlich glitzerten; dann ging es an Felsen vorbei wieder ins
Freie, wo eisige Luft sie umfing. Der Mann sprach besorgt: „Lucie,
wollen wir nicht jetzt noch umkehren?“ „Ach, Kurt, es treibt mich un—
aufhaltsam vorwärts.“ Gleichzeitig hörten sie beide zweimal deutlich
rufen: „Helf Gott!“ Beide standen erstaunt still, leuchteten umher und
2
— bß —
fanden dort unter dem Felsenvorsprung ein kleines Mädchen kauernd
sitzen. Es hatte sein Röckchen zum Schutze gegen die Kälte über den Kopf
gezogen und starrte sie mit großen erschreckten Augen an. Da nahte sich
Lucie, kniete neben der zitternden Kleinen und redete ihr liebreich zu:
„Was suchst du hier, meine Kleine?“ „Eine Mutter,“ sagte das Kind,
„ich will eine Mutter haben, dann kann ich wieder Weihnachten feiern.“
Auf ihre weiteren Fragen erfuhren unsere beiden Wanderer, daß die
Kleine nicht Vater und Mutter mehr habe, alle Verwandten seien
tot, und sie sei bei einer alten Frau Schmidt, bei der sie hungere
und friere.
Lucie hatte das süße Kindergesicht fest an sich gedrückt und sah
flehend zu ihrem Manne auf. Dieser sah einen lichten Glanz die
Schwermut aus seines geliebten Weibes Antlitz verdrängen; er fühlte
seines Heilandes Nähe, und es war ihm, als höre er sein Wort: „Wer
ein Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“ Da
fragte er das Kind mit freundlichem Worte: „Willst du mit uns gehen
und den Christbaum sehen?“ Nun sprang seine Frau glückstrahlend
auf und sagte: „Kurt, du wolltest?“ „In Gottes Namen,“ erwiderte
er fest und nahm das Kind auf den Arm. Dieses jubelte vor Freude,
daß der liebe Gott ihm eine Mutter wiedergegeben hatte, und es
Weihnachten feiern sollte Lucie aber preßte ihres Mannes Arm tief
bewegt und flüsterte: „Lieber Mann, es ist Weihnacht geworden, und
das Christkind ist erschienen, daß es unser aller sich erbarme.“
Hanna Norden.
18. Neujahr.
Das neue Jahr gekommen ist, — Sein Wort sei unser helles Licht,
was wird es uns wohl bringen? das uns zu allen Zeiten
Wir fangen es nach altem Brauch auf rechtem Wege himmelan
mit Beten an und Singen. und freundlich wolle leiten.
Wir danken Gott von Herzens— Wie geht ein Jahr so schnell
grund dahin, —
für alle guten Gaben, bald wird das letzte kommen!
die wir in dem vergangnen Jahr Gott führe uns nach dieser Zeit
von ihm empfangen haben. hinauf zu allen Frommen!
Gott war mit uns im alten Jahr Dort wollen in der Engel Chor
nach seiner großen Güte, — wir Freudenlieder singen
wir bitten, daß er gnädiglich und Lob und Dank in Ewigkeit
im neuen uns behüte. dem lieben Vater bringen.
G. Chr. Dieffenbach.
— 14 —
19. Neujahrsgebet.
Ich danke dir, o Gott, von Herzen, laß deine Liebe, dein Erbarmen
da heut' beginnt ein neues Jahr, mir alle Tage leuchten neu!
daß deine Güte mich behütet O segne meine lieben Eltern
und mich gesegnet immerdar. und die Geschwister, treu und gut,
Steh mir auch in dem neuen Jahre, nimm alle, alle, die ich liebe,
o lieber Gott und Vater, bei in deine väterliche Hut!
und hilf, daß ich zu allen Zeiten So führe mich mit treuen Händen
dein liebes, frommes Kindlein sei! durch dieses Lebens kurze Zeit
Behüte mich vor Not und Leiden und laß mich einstens zu dir kemmen
und segne mich nach deiner Treu'; in deines Hhimmels Seligkeit.
G. Chr. Dieffenbach.
20. Osterlied.
O schöne, sel'ge Osterzeit, singt jubelnd in den Lüften,
der Herr ist auferstanden! und Feld und Wiesen werden grün,
Nun regt das Leben sich, befreit die Bäume stehn im ersten Blühn.
von kalten Wintersbanden. Die Sonne lockt, wir ziehn hinaus
Das ist ein fröhlich Auferstehn, mit Jubeln und mit Singen
ein wunderbares Frühlingswehn. Uund pflücken uns den ersten Strauß.
Schneeglöckchen streckt sich schon Welch Duften, Blühn und Klingen!
es regt sich in den Klüften, lempor, O goldne Frühlingsherrlichkeit!
der Himmel blaut, der Vöoglein Chor O schöne, sel'ge Osterzeit!
G. Chr. Dieffenbach.
21. Ohrist ist ersstanden!
Aus dem Grab ist er erstandeen, der du auch für uns gestorben
der für uns am Kreuze starb und für uns erstanden bist.
und mit Leiden und mit Sterben Vinen Heiland, der du betet,
Preud' und Leben uns erwarb. haben vir, o Herr, in dir;
PFröhlich wollen wir dich grühßen, bleibe bei uns alle Tage,
lieber Heiland, Jesu Ohrist, segne uns, das bitten wir!
G. Ohr. Dieffonbach. (Gekũrzt.)
22. Eine kleine Missionsfreundin.
Die folgende Geschichte stand 1856 als ein persönliches Erlebnis
des seligen Pastors Ludwig Harms, des Begründers und damaligen
Leiters der Hermannsburger Mission, im Hermannsburger Missions—
blatt; sie ist sppäter durch die Hermannsburger Missionsbuchhandlung
auch als „Vergißmeinnicht“ verbreitet worden, ist indessen so schön,
15 —
daß sie verdient, immer wieder erzählt und gelesen zu werden. Sie
lautet etwas gekürzt so:
„Die kleine Marie. Ich habe vor einiger Zeit eine so schöne Er—
klärung des Spruches: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das
Angesicht meines Vaters im Himmel, verbunden mit dem Spruche:
Aus dem Munde der Unmündigen hast du dir Lob zugerichtet, er—
halten, daß ich sie unmöglich für mich behalten kann. Ich bekam
nämlich einen kleinen Brief, der an einer Seite angebrannt, an der
andern offen war, in welchem ein Matthier S 4 Pf.) lag. In dem
Briefe war von einer Kinderhand kaum leserlich geschrieben: „Der
liebe Herr Jesus schickt durch die kleine Marie einen Matthier, wofür
die Heiden bekehrt werden sollen. Mehr habe ich nicht, ich brauche
auch nicht mehr, ich gehe zu Jesu und warte auf meinen Engel, der
mich abholen will, ich denke morgen oder übermorgen. Lieber Pastor
Harms, grüße die kleinen schwarzen Heidenkinder von mir und sage
ihnen, sie hätten auch jeder einen Engel, der wäre aber weiß, und wenn
sie einmal in den Himmel kämen, so wären sie auch weiß. Denn daß
sie schwarz wären, das käme, weil die Sonne sie stäche, im Himmel aber
stäche die Sonne nicht mehr.“ Weiter stand nichts in dem Briefe, und
ich hätte wohl nimmer erfahren, woher er gekommen wäre, wenn mir
nicht der Überbringer davon erzählt hätte. Der war aber ein armer
Tagelöhner, der oft hier zur Kirche kommt und der ein rechtes Kind
Gottes ist. Der erzählte: Die kleine Marie ist nun bei Gott dem
Herrn. Sie war, als sie entschlief, sechs Jahre all. Sie ist die einzige
Tochter einer armen Witwe gewesen; die Mutter aber war ihr auch
abgestorben, als sie vier Jahre alt war, und da stand denn die arme
Waise ganz verlassen. Sie hätte gar nicht geweint beim Tode ihrer
Mutter, sondern als ihre Mutter begraben werden sollte und in den
Sarg gelegt wurde, hätte sie fröhlich in die kleinen Hände geklatscht und
gesagt: „Wie freue ich mich, seit drei Tagen hat Mutlter gar nicht
mehr geweint, nun muß sie es mal gut haben! Wo geht sie eigentlich
nun hin, da ihr sie wegbringt?“ Da hätte er, der sie mit zur Ruhe
bringen wollte, dem Kinde gesagt: „Marie, Mutter ist nun beim lieben
Herrn Jesu, und da braucht sie nicht mehr zu weinen, wie sie sonst
so oft tun mußte.“ Da sei das Kind so froh geworden, daß sie den
guten Mann an die Hand gefaßt habe, und sei mit zum Grabe ge—
gangen. Nach dem Leichenbegängnis habe sie aber gar nicht begreifen
können, warum man die Mutter in die Erde gelegt habe; sie habe
gemeint, es wäre besser gewesen, der liebe Golt hätte sie gleich in
den Himmel steigen lassen. Da habe er ihr gesagt: „Siehe, Marie,
die Mutter ist so müde geworden von der langen Reise und Arbeit
hier auf Erden, daß sie erst recht ausschlafen und ausruhen muß.
Und wenn sie dann ausgeschlafen hat, dann kommt der Herr Jesus
und weckt sie aus dem Grabe auf, so wie dich sonst deine liebe Mutter
des Morgens aus dem Bette aufweckte. Und wie du dann, wenn sie
dich weckte, in das freundliche Angesicht deiner Mutter sahest und
warst so vergnügt und standest auf, so sieht dann deine liebe Mutter
dem lieben Heiland, der sie aus dem Grabe aufweckt, auch in sein
freundliches Angesicht und steht alsdann ganz vergnügt auf. Nicht
wahr? das wird eine Freude sein!“ Da habe das Kind nochmals fröh—
lich in die kleinen Hände geklatscht und gesagt: „Das ist schön!“
Was sollte aber nun aus Marie werden? Der Vater war tot, Ver—
wandte waren nicht da, Geld war nicht da; nichts als das Bett, darin
die Mutter gestorben war, das bißchen Hausrat und Mariens Kleider;
das war alles. — Der gute Tagelöhner nimmt sich vor, nachdem er
das Kind, von dem Grabe zurückkehrend, wieder nach Hause gebracht
hat, er will nun hingehen und mit dem Dorfsvorsteher oder Bauervogt,
wie man ihn dort nennt, sprechen, damit das Dorf für die Waise sorge.
Aber die kleine Marie denkt anders; es fällt ihr gar nicht ein, allein
in ihrer Stube zu bleiben, sondern als er seinen Hut nimmt, um zu
gehen, faßt sie ihn wieder an die Hand und sagt, als verstehe sich das
von selbst: „Vadder, ick gah mit un will bi di un Vaddersche blieben.“
Dem Tagelöhner fallen wohl seine fünf lebendigen Kinder ein, die er
zu Hause hat und mit seiner Hände Arbeit ernähren muß; aber die
Stimme des Kindes schlägt in sein Herz, als ob es Gottes Stimme
vom Himmel gewesen wäre; und es ist auch Gottes Stimme gewesen.
Wohl ihm, daß er ein offenes Ohr und Herz hatte, sie zu vernehmen.
Hätte er viel Geld gehabt, würde er wahrscheinlich tauber gewesen
sein, denn Geld hat unter andern auch die Eigenschaft, daß es die
Ohren taub und die Herzen hart macht. So geht er mit seinem sechsten
Kinde heim und bringt es seiner braven Frau mit den Worten:
„NMutter, da hett us de leve God noch'n Kind beschert, dat is'n Vater—
unser mehr int Hus!“ Und die brave Frau knurrt nicht und murrt
nicht; der Engel Gottes hat, schon ehe der Vater nach Hause kommt, bei
ihr angeklopft, und sie hat ihn bitten wollen, wenn er käme, er sollte
hingehen und das Kind holen.
Am andern Tage holt er das Bett und den Hausrat, und
niemand redet ihm ein Wort darein, man läßt ihn gewähren; denn
die ganze Bauernschaft ist froh, daß sie die Last los ist, die der arme
Tagelöhner allein auf sich nimmt. Und ihm ist es, Gott sei Dank,
keine Last gewesen. Er hat mir mit Tränen im Auge gesagt, er habe
es in den zwei Jahren nicht einen Tag bereut, das Kind zu sich ge—
16
1
nommen zu haben; er habe mit seiner Frau und seinen sechs Kindern
immer Brot gehabt, und ihm wolle es vorkommen, mehr und reichlicher
als sonst; das müsse der Segen des Herrn getan haben, denn er wisse
doch nicht, daß er mehr gearbeitet habe als früher, wohl aber habe er
mehr gebetet seit der Zeit. Und gleich in den ersten Wochen habe er
zweierlei gelernt von dem lieben Kinde, so daß er sich in die tiefste
Seele hinein habe schämen müssen. Bis dahin nämlich habe er nach
dem Abendsegen seine Kinder zwar stets zu Bett gebracht, aber es sei
ihm nie eingefallen, die Kinder in ihren Betten einzusegnen. Da habe
aber gleich am ersten Abend Marie gemeint, ihre Mutter habe sie
immer eingesegnet, und das müsse er oder Vaddersche auch tun. Ganz
beschämt aber habe er fragen müssen, wie denn die Mutter das ge⸗
macht habe, und sie habe ihm geantwortet, erst hätte die Mutter ihr
das heilige Kreuz auf die Stirn gemacht und dann ihr die Hand auf—
gelegt und gesprochen: „Das walte Gott der Vater, Gott der Sohn,
Gott der heilige Geist, der behüte dich durch seine heiligen Engel.
Amen.“ Seit der Zeit habe er Marie und alle seine Kinder jeden
Abend eingesegnet, und er danke es dem Kinde noch im Grabe, daß
sie ihn das gelehrt habe, zumal da er später hier in der Kirche gehört
hätte, daß das allzeit bei uns in der guten alten Zeit Sitte gewesen
wäre. Und das zweite, was er von dem Kinde gelernt habe, sei das,
bei jeder Morgen- und Abendandacht zu singen und auf den Knieen
zu beten: denn beides habe er bis dahin noch nicht getan, sondern nur
den Morgen- und Abendsegen gelesen. Das sei aber so gekommen.
Als er gleich den ersten Abend das Abendsegenbuch nach dem Lesen
zugemacht habe und angefangen habe, das Vaterunser zu beten, da
sei das liebe Kind auf seine Kniee gefallen mit gefalteten Händen,
und er hätte unmöglich sitzen bleiben können, es hätte auch ihn mit
Gewalt niedergezogen und all' die Seinen mit, und so sei es nachher
stillschweigend jeden Morgen und Abend von selbst geschehen, ohne
weiter davon zu reden. Am andern Morgen aber, als alle wieder zur
Morgenandacht beisammen gewesen wären, da hätte das kleine Mäd—
chen, eben als er das Buch aufmachen wollte, angefangen zu singen:
„Wach auf, mein Herz, und singe dem Schöpfer aller Dinge, dem
Geber aller Güter, dem frommen Menschenhüter,“ so rein, so klar,
daß sie alle hätten mitsingen müssen. Das wäre so lieblich gewesen,
daß er seitdem keinen Morgen und keinen Abend mehr hätte unter—
lassen können zu singen. Er habe nachher erfahren, daß Mariens
Mutter täglich morgens und abends gesungen habe und das Kind
durch das stete Zuhören die Gesänge und Melodien so lebendig auf⸗
gefaßt habe. Bald darauf habe das Mädchen, da es seine ältern
Lüneburger Lesebuch, Mittelstufe. 2
— 18——
Kinder so oft habe lesen und schreiben sehen, durchaus auch lesen und
schreiben lernen wollen, und seine Kinder hätten sich eine Freude
daraus gemacht, es darin zu unterrichten; denn es sei wunderbar ge—
wesen, wie alle die kleine Marie lieber gehabt hätten, als sich unter—
einander, und wenn sie sich auch untereinander manchmal, wie Kinder
pflegen, uneinig gewesen wären, so doch nie mit diesem Kinde. Nie
könne er Gott genug danken, daß er ihm einen solchen Segen ins Haus
gebracht hätte. Ein solcher Segen wäre sie auch für seine Kinder ge—
wesen. Sie habe gar keinen Streit leiden können, und wenn sich die
andern einmal gezankt hätten, dann wäre sie gleich gekommen und
hätte gesagt: „Du Fritz, du Johann, wenn du streitest, so geht der
liebe Engel weg,“ dann wäre wieder Friede geworden.
Fast zwei volle Jahre ließ der Herr dem braven Mann das
gesegnete Kind. Und wenn er hierher zur Kirche gekommen war und
dann wieder zu Hause eingetroffen, da haben sich alle Kinder um ihn
versammelt; Marie aber hat sich mit seiner Kleinsten auf seinen
Schoß gesett, und dann hätte er erzählen müssen alles, was er ge—
sehen und gehört hatte. Da ist sie denn ganz Auge und Ohr gewesen,
monn er von den kleinen schwarzen Heidenkindern in Afrika erzählt
und in dem letzten Vierteljahr ihres Lebens ist sie viermal ge—
mmen und hat ihn um einen Pfennig gebeten, was sie sonst nie
getan hatte. Den Pfennig hat sie dann jedesmal sorgfältig in ihre
kleine Lade gelegt. — Da wird sie eines Tages krank, und die kleine
Brust geht ihr heftig auf und nieder. Er will zum Arzt laufen, sie
bittet ihn aber, es nicht zu tun. „Kind,“ sagt er, „du wirst wieder
besser, wenn du Arznei einnimmst.“ Sie aber antwortet: „Ich
brauche keine Arznei, ich gehe zum Heiland.“ So hat sie drei Tage
im Bett gelegen und nichts trinken wollen als etwas Milch und
Wasser. Am vierten Tage, morgens 10 Uhr, hat sie den Vater um ein
Stücklein Papier gebeten, hat darauf die obigen Worte mit zitternder
Hand geschrieben, hat den Vater gebeten, ihr für die vier Pfennige
einen Matthier zu geben, und er hat ihr versprechen müssen, den
Brief mit dem Matthier mir zu geben. Als er den Brief zugemacht
hat, hat er ihn aus Versehen an dem einen Ende etwas angebrannt.
„Das tut nichts,“ sagt das Kind, „er kann ihn doch wohl lesen.“
Dann hat sie den Brief unter ihrem Hemde auf die Brust gelegt, da
t das andere Ende von dem Todesschweiß ganz naß geworden.
Hierauf hat sie Vater und Mutter und ihren fünf Brüdern und
Schwestern die Hand gegeben und hat gesagt, sie sollten mich auch
grüßen, wenn sie mir den Brief brächten. Mit auf der Brust ge—
falteten Händen hat sie dann eine Zeitlang stillgelegen und zuletzt
9
gesagt: „Nun kommt mein lieber Engel und holt mich zu Jesu.“ Das
ist ihr Ende gewesen. Den Matthier habe ich aber noch und werde
ihn auch nicht ausgeben, ich habe einen andern dafür in die Missions—
kasse gelegt. Diese kleine Marie ist eine von meinen starken Heldinnen
und Mitarbeiterinnen gewesen. Dort ist sie es nun noch besser. Gott
erwecke mir noch viele solche Amen.“
Als Ludwig Harms diese köstliche Geschichte im Missionsblatte
mitgeteilt hatte, erhielt er eines Tages von einem preußischen Juristen
einen Brief des Inhalts, er habe die Geschichte mit herzlicher Rührung
gelesen und danke ihm dafür, könne aber als Rechtsgelehrter nicht um—
hin, ihm zu sagen, daß er den Matthier nicht behalten dürfe, denn
eines Verstorbenen Testament müsse pünktlich ausgeführt werden.
Ihm antwortete Ludwig Harms folgendermaßen:
Lieber Bruder!
Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief, der mich erquickt hat.
Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Der Herr hat mir den Matthier
schon abgefordert. Ich sollte einen Wechsel aus Afrika zahlen von
2000 Talern. Zur bestimmten Zeit war das Geld bis auf 4Pf. zu—
sammen, die fehlten an der Summe, und obgleich ich meine Missions—
kasse und meine Privatkasse umstürzte, wollten die 4Pf. nicht mehr
heraus. Da ich nun nie einen Pfennig leihe, so mußte, wenn ich Wort
halten wollte, des lieben Kindes Matthier mit, und er ist mitgegangen.
Gott segne Sie, lieber Bruder, beten Sie für mich, ich bete für
Sie! In brüderlicher Liebe und Fürbitte
Hermannsburg, den 28. Februar 1837. Ihr L. Harms.
Dieser treue Gottesmann und der brave Tagelöhner sind dem
lieben Kinde, von dem unsere Geschichte erzählt, nun schon längst
nachgefolgt und zur seligen Ruhe der Kinder Gottes eingegangen,
auch ihr Rechtsanwalt, der sich über ihre kindliche Frömmigkeit so
sehr gefreut hatte. Ich habe es durch ihn selbst erfahren, daß ihn diese
kleine Missionsfreundin durch ihr Tun sehr in seinem Glauben ge⸗
stärkt hat. Er ist aber kein geringerer gewesen, als der nachherige
preußische Minister Dr. Bosse.
Nach L. Harms.
—
4. Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!
23. Die Kapelle.
Droben stehet die Kapelle, stille sind die frohen Lieder,
schauet still ins Tal hinab; und der Knabe lauscht empor.
unen singt bei Wies und uelle Droben bringt man sie zu Grabe,
froh und hell der Hirtenknab'. die sich freuten in dem Tal.
Traurig tönt das Glöcklein nieder, Hirtenknabe! Hirtenknabe!
schauerlich der Leichenchor; dir auch singt man dort einmal.
Ludwig Uhland.
24. Das Glöcklein im Herzen.
Es pocht dein Herz den ganzen Ein rührig Glöcklein ist es eben,
Tag; vom lieben Gott dirzu eigen gegeben;
was es nur meinen und wollen mag? er hingls an deiner Seele Tür
Es pocht dein Herz die ganze Nacht; und läutet es selber für und für
hast du das, Kindlein, schon bedacht? und stehet draußen und harret still,
Und pocht's schon so lang', oft laut, ob ihm dein Herz nicht öffnen will,
oft still; und läutet fürder und harret fein,
hast du gefragt, was Herzchen will? du wollest rufen: „Herein, herein!“
26
—
So pocht dein Herz nun Tag für Tag, er wolle rufen: „Herein, herein!“
und endlich — so tut es den letzten und sprechen: „Komm nur, mein
Schlag, —
und wie es den letzten Schlag getan, ich fand bei dir auch fromme Rast;
da pocht es selber am Himmel an wie du getan, so gescheh' dir heut':
und stehet draußen und wartet still, geh ein in des Himmels ewige
ob ihm Gott Vater nicht öffnen will, Freud'!“
und stehet draußen und harret fein, Georg Scheurlin.
25. Die Boten des Todes.
Vorzeiten wanderte einmal ein Riese auf der groben Land-
strahe; da sprang ihm plötzlich ein unbekannter Mensch entgegen
und rief: „Halt! keinen Schritt weiter!“ — „Was?“ sprach der
Riese, „du Wicht, den ich zwischen zwei Fingern zerdrücken kann,
du willst mir den Weg vertreten? Wer bist du, dab du so keck
reden darfst?“ — „leh bin der Tod,“ erwiderte der andere, „mir
widersteht niemand, und auch du mußt meinen Befehlen ge—
horchen.“ — Der Riese aber weigerte sich und fing an, mit dem
LIode zu ringen. Es war ein langer, heftiger Kampf; zuletzt aber
behielt der Riese die Oberhand und schlug den Tod mit seiner
Faust nieder, dab er neben einem Steine zusammensank. Der
Riese ging seiner Wege, und der Tod lag da besiegt und war so
kraftlos, daß er sich nicht wieder erheben konnte. — „Was soll
daraus werden,“ sprach er, „venn ich da in der Ecke liegen
bleibe? Es stirbt niemand mehr auf Erden, und sie wird so mit
Menschen angefüllt werden, daß sie nicht mehr Platz haben,
nebeneinander zu stehen.“ Indem kam ein junger Mensch des
Weges, frisch und gesund, sang ein Lied und warf seine Augen
hin und her. Als er den halb Ohnmächtigen erblickte, ging er mit—
leidig heran, richtete ihn auf, flößte ihm aus seiner Flasche einen
stärkenden Trank ein und wartete, bis er wieder zu Kräften kam.
„Weißt du auch,“ fragte der Fremde, indem er sich aufrichtete,
„wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine geholfen hast?“
— „Nein,“ antwortete der Jüngling, ieh kenne dich niecht! —
„leh bin der Tod,“ sprach er, „ich verschone niemand und kann
aueh mit dir keine ausnahme machen. Damit du aber siebst,
dab ich dankbar bin, so verspreche ich dir, daß ich dich nicht
unversehens überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will,
bevor ich komme und dich abhole.“ — „Wohblan,“ sprach der
Jüngling, „immer ein Gewinn, daß ich weiß, wann du kommst,
und solange wenigstens sicher vor dir bin,“ zog weiter, war
lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend
und Gesundheit hielten nicht lange aus; es kamen Krankheiten
und Schmerzen, die ihn plagten. „Sterben werde ich nicht,“
sprach er zu sich selbst, „denn der Tod sendet erst seine Boten;
ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber!“
Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an, in Freuden zu
leben. Da klopfte ihm eines Tages sjemand auf die Schulter, und
als er sich umblickte, stand der Tod hinter ibm und sprach: „Folge
mir, die Stunde deines Abschiedes von der Welt ist gexommen.“ —
„Wie,“ antwortete der Jüngling, „willst du dein Wort brechen?
Hast du mir nicht versprochen, daß du mir, bevor du selbst kämest,
deine Boten senden wolltest? Ich habe keinen gesehen.“ —
„Schweig,“ erwiderte der Tod, „habe ich dir nicht einen Boten
über den andern geschickt? Kam nicht das Fieber, stieb dich an
und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf
betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? Brauste
dir's nicht in den Ohren? Nagte nicht der Zahnschmerz in deinen
Backen? Ward dir's nicht dunkel vor den Augen? UÜber das
alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden
Abend an mieh erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärest
du schon gestorben?“ Der Mensch wubte nichts zu erwidern,
ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.
Brüder Grimm.
26. Auferstehungsglaube.
In das Grab, mit Leid und Klagen, alle, die wir unter Klagen
haben sie den Herrn getragen, in die stille Gruft getragen.
der am Kreuz gestorben war; O, welch' große Osterpracht!
aber er ist auferstanden Herrlich wird sich dann erheben
aus des Grabes finstern Banden us den Gräbern neues Leben;
herrlich, siegreich, wunderbar! welche Wonne wird das sein!
Aso werden auferstehen, Über dieser Erde Klüften,
wenn einst Osterlüfte wehen, über finstern Totengrüften
aus des Grabes finstrer Nachl strahlt der Ostersonne Schein!
G. Chr. Dieffenbach.
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Z. Lebe im Ganzen!
1. In der Familie.
27. Das Vaterhaus.
Wo's Dörflein dort zu Ende geht,
wo's Mühlenrad am Bach sich dreht,
da steht im duft'gen Blütenstrauß
ein Hüttlein klein: mein Vaterhaus.
Da schlagen mir zwei Herzen drin
voll Liebe und voll treuem Sinn,
mein Vater und die Mutter mein,
das sind die Herzen, fromm und rein.
Darin noch meine Wiege steht,
darin lernt' ich mein erst Gebet;
darin fand Spiel und Lust stets Raum,
darin träumt' ich den ersten Traum.
Drum tausch' ich für das schönste Schloß,
wär's felsenfest und riesengroß,
mein liebes Hüttchen doch nicht aus;
denn's gibt ja nur ein Vaterhaus.
Franz Wiedemann.
28. Zimmersprueh.
Das neue Haus ist aufgericht't, in die Küche Mab und Reinlichkeit,
gedeokt, gemauert ist es nieht, in den Stall Gesundheit allermeist,
noceh können Regen und Sonnenschein in den RKeller dem Wein einen guten
von oben und überall herein; Geist;
drum rufen wir zum NMeister der die Fenster und Pforten woll' er
Welt, weihn,
er wolle von dem Himmelszelt daß niehts Unseliges komm' herein,
nur Heil und Segen gieben aus und dabh aus dieser neuen Tür
hier über dieses offne Haus. bald fromme Kindlein springen für.
Zuoberst woll' er gut Gedeihn Nun, Maurer, decket und mauert
in die Kornböden uns verleihn, aus!
in die Stube Pleib und Prömmigkeit, der Segen Gottes ist im Haus.
Ludwig Uhland.
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2141
29. Wenn du noch eine Mutter hast.
Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden,
nicht allen auf dem Erdenrund ist dieses hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast, so sollst du sie mit Liebe pflegen,
daß sie dereinst ihr müdes Haupt in Frieden kann zur RBuhe legen.
Sie hat vom ersten Tage an für dich gelebt mit bangen Sorgen,
sie brachte abends dich zur Ruh' und weckte küssend dich am Morgen.
Und warst du krank, sie pflegte dein, den sie mit tiefem Schmerz geboren,
und gaben alle dich schon auf, die Mutter gab dich nicht verloren.
Sie lehrte dich den frommen Spruch, sie lehrte dich zuerst das Reden;
sie faltete die Hände dein und lehrte dich zum Vater beten.
Sie lenkte deinen Kindessinn, sie wachte über deine Jugend;
der Mutter danke es allein, wenn du noch gehst den Pfad der Tugend.
Und hast du keine Mutter mehr, und kannst du sie nicht mehr beglücken,
so kannst du doch ihr frühes Grab mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab, ein heilig Grab, für dich die ewig heil'ge Stelle!
O, wende dich an diesen Ort, wenn dich umtost des Lebens Welle!
Friedrich Wilhelm Kaulisch. (Gekürzt.)
30. Ein Grab.
Es liegen Veilchen dunkelblau „O sagt, ihr Veilchen, in der Nacht
auf einem Grab im Abendtau, der Mutter, was der Vater macht,
ein kleines Mädchen kniet davor daß ich schon stricken kann, und daß
und hebt die Hände fromm empor: ich tausendmal sie grüßen lass'!“
Hermann von Gilm.
31. Dienertreue.
Ein reicher Herr in Polen fuhr zur Winterszeit in einem Schlitten
nach dem Städtlein Ostrowo, nur von seinem Knecht Jakob begleitet,
der dem Schlitten vorreiten mußte. Ehe sie die Stadt erreichten,
mußten sie zuvor durch einen langen, einsamen Wald, und es war
bereits Abend. Der Knecht schlug daher dem Herrn vor, in einer
Herberge, die am Eingange des Waldes lag, zu übernachten; denn
im Walde seien viele Wölfe, und die Untiere seien jetzt gar grimmig,
weil der Winter so hart sei. Der Herr war aber einer von den
wunderlichen, von denen, die einen guten Rat, wenn er von einem
Knecht kommt, nicht annehmen mögen, fuhr ihn an und schrie: er
werde wohl des Reitens überdrüssig sein, aber da werde er nichts
danach fragen, sie müßten noch nach Ostrowo, es möge gehen, wie
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es wolle, und so ging's vorwärts, was die Pferde laufen konnten.
Kaum aber sind sie eine Strecke im Walde, hört der Herr hinter sich
ein lautes Heulen, und wie er sich umkehrt, sieht er die Wölfe in
Rudeln hinter dem Schlitten daherjagen, und die vordersten schon
ganz nahe. „Jakob, Jakob!“ ruft er, „die Wölfe, die Wölfe!“ Der
treue Jakob erwidert kein Wort, sondern läßt ruhig den Herrn voraus—
fahren, reitet zwischen den Schlitten und die Wölfe, zieht seine Pistolen
und schießt von Zeit zu Zeit unter sie. Damit schreckt er eine Weile
die Bestien, endlich aber hat er kein Pulver mehr, und als sie nun an
den Schlitten heranstürzen, sagt er: „Herr, ich muß meinen armen
Braunen opfern und sehen, daß ich zu Euch auf den Schlitten komme,
sonst ist alles verloren.“ — „Tu, wie du willst,“ sagt der Herr, und
im Augenblick war der Jakob vom Pferde und auf den Schlitten ge—
sprungen, hielt sein Pferd am Zaum fest, bis die Wölfe herankamen,
dann überließ er's ihnen zur Beute. Es schien, als sollten sie dadurch
einen Vorsprung gewinnen; aber nicht lange, so war ein Teil der
Wölfe wieder heulend hinter ihnen her, und einige schickten sich an,
in den Schlitten zu springen, und der Edelmann gab sich nun verloren.
Da sagte der Jakob: „Herr, nun will ich in Gottes Namen auch das
letzte noch für Euch tun. Dort sind schon die Lichter von Ostrowo,
und Ihr könnt das Städtlein erreichen, wenn ich nur auf ein paar
Minuten die Bestien Euch vom Halse halte. Sorgt für mein Weib
und meine Kinder, lebt wohl und denket manchmal an den armen
Jakob!“ Damit zog er den Säbel, sprang aus dem Schlitten und
stürzte sich mitten unter die Wölfe. Diese stutzten, fielen ihn aber
dann wütend an und übermannten ihn endlich; sein Herr aber war
mittlerweile unversehrt entkommen. Schnell nahm er Leute mit sich
und eilte in den Wald zurück, aber er fand nichts mehr als die Gebeine
seines treuen Knechtes, die sammelte er und ließ sie begraben; das
Weib und die Kinder aber versorgte er väterlich und wurde allen
seinen Dienern ein freundlicher, gütiger Herr, beklagte es auch oft
mit Tränen, daß er nicht ohne bittere Reue an seinen treuen Knecht
gedenken konnte. Caspari.
32. Der Rittmeissster Kurzhagen.
In dem Regiment des berühmten, von Friedrich dem Groben
hochgeehrten Generals von Zieten stand auch ein Rittmeister mit
Namen Kurzhagen. Er war klug, tapfer und hatte ein kindliches
Gemut. Seiné Eltern waren arme Landleute im Mecklenburgischen.
Mit dem Verdienstorden auf der Brust rückte er nach Beendigung
des Siebenjahrigen Krieges in Parchim ein.
Iu
Die Eltern waren von ihrem Dörfehen nach der Stadt ge-
kommen, um ihren Sohn nach Jahren wiederzusehen, und er—
warteten ihn auf dem Markte. Wie er sie erkannte, sprang er
rasch vom Pferde und umarmte sie unter Freudentränen. Bald
darauf mubten sie zu ihm ziehen und aben allezeit mit an seinem
Tische, auch wenn er vornehme Gäste hatte.
Einst spottete ein Offizier darüber, daß Bauern mit einem
Rittmeister zu Tische säbhen. „Wie, sollte ich nicht die ersten
Wohltäter meines Lebens dankbar achten?“ war seine Antwort.
„Ehe ich des Königs Rittmeister wurde, war ich ihr RKind.“
Der brave General von Zieten hörte von diesem Vorfall und
bat sich selbst nach einiger Zeit mit mehreren Vornehmen bei dem
Rittmeister zu Gaste. Die Eltern des letzteren wünschten diesmal
selbst, nicht an dem Tische zu erscheinen, weil sie sich verlegen
fühlen würden. Als man sich setzen wollte, fragte der General:
„Aber Kurzhagen, wo sind Ihre Eltern? Ich denke, sie essen mit
Ihnen an einem Tische.“ Der Rittmeister lächelte und wubßte
nicht sogleich zu antworten.
Da stand Zieten auf und holte die Eltern selbst herbei; sie
mubten sich rechts und links an seine Seite setzen, und er unter—
hielt sich mit ihnen aufs freundlichste. Als man anfing, Gesund-
heiten auszubringen, nahm er sein Glas, stand auf und sprach:
„Meine Herren, es gilt dem Wohlergehen dieser braven Eltern
eines verdienstvollen Sohnes, der es beweist, dab ein dankbarer
Sohn mehr wert ist als ein hochmütiger Rittmeister!“
Spũter fand der General Gelegenheit, dem Könige von der
kindlichen Achtung zu erzählen, welche der Rittmeister seinen
Eltern erwiesen, und Friedrich Il. freute sich sehr darüber. Als
Kurzhagen einst nach Berlin kam, wurde er zur königlichen Tafel
gezogen. „Hör Er, Rittmeister,“ fragte deèr König, um seine Ge—
sinnung zu erforschen, „von welchem Hause stammt Er denn
eigentlich? Wer sind Seine Eltern?‘ — „Ew. Najestät,“ ant-
wortete Kurzhagen ohne Verlegenheit, „ich stamme aus einer
Bauernhũüte, und meine Eltern sind Bauersleute, mit denen ieh
das Glück teile, was ich Ew. Majestät verdanke.“
„So ist's recht,“ sagte der König erfreut; „ver seine Eltern
achtet, der ist ein ehrenwerter Mann; wer sie geringschätzt, vor-
dient nicht, geboren zu sein.“
Ehre Vater und Mutter, das ist das erste Gebot, das Ver-
heibung hat.
v. Pustkuehen-Glanzow.
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33. Lasset uns hingehen und desgleichen tun.
Vor Jahren sollte in der Umgegend von Halberstadt eine un—
gewöhnlich reiche Ernte eingebracht werden; aber es fehlte an den
ausreichenden Händen dazu. Deswegen stellten sich aus der Nachbar—
schaft mehrere Leute ein, welche mit ihren wenigen Ackern schon fertig
waren, und boten gegen Tagelohn ihre Aushülfe an. Unter ihnen
waren auch zwei kräftige Burschen, die von einem Gutsbesitzer auf
die Zeit von vier Wochen fünfzehn Taler verlangten. Gefragt aber,
warum es gerade fünfzehn Taler sein müßten, antworteten sie: „Unser
Bruder, der ein Handwerk gelernt hat, möchte diesen Herbst noch
Meister werden und braucht dazu diese Summe. Der Vater aber kann
keinen Heller beisteuern, weil er selbst nur ein Tagelöhner ist. Auch
wollen wir treu und tüchtig arbeiten und begehren keinen Pfennig,
den wir nicht verdienen werden.“ Dieser Versicherung glaubte der
Gutsbesitzer, und die Brüder hielten Wort, als er auf ihre Forderung
eingegangen war. Des Morgens waren sie die ersten und des Abends
die letzten auf dem Felde. Wenn sie nach Hause gekommen waren, und
die anderen schon auf der Streu lagen, gingen sie noch an die eine
und die andere Arbeit im Hofe. Als aber die vier Wochen um waren,
ließ sie der Gutsbesitzer zu sich kommen, zählte die fünfzehn Taler
auf und sagte: „Das ist für euren Bruder, und das — er legte eine
Zehntaler-Note dazu — noch etwas für euren alten Vater. Sagt
ihm, daß ich ihm zu so wackeren Söhnen, wie ihr seid, Glück wünsche,
und daß er zu mir kommen möchte, wenn auch ihr euch ansässig
machen wollt.“ Karl Stöber.
34. Der alte Großvater und sein Enkel.
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb
geworden, die Ohren taub, und die Kniee zitterten ihm. Wenn er nun
bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe
auf das Tischtuch, und so floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund.
Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte
sich der alte Großvater hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben
ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal
satt; da sah er sehr betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden
ihm naß. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen
nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt,
er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes
Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie sie
da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde
—
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kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“ fragte der Vater.
„Ich mache ein Tröglein,“ antwortete das Kind, „daraus sollen Vater
und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da sahen sich Mann und Frau
eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten sofort den alten
Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen,
sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.
Brüder Grimm.
35. Großmutter Holzsammlerin.
Die Luft ist kalt, der Wind hinstreicht,
alt Mütterchen langsam nach Hause schleicht.
Eil' dieh, alt Mũutterchen, eile!
Hat Reisig gesammelt im knarrenden Wald,
der Abend sinkt, die Nacht kommt bald,
der Korb auf dem Rücken drückt schwer, drückt schwer,
doch die Kinder zu Hause, die hungert so sehr.
Eil' dich, alt Mütterchen, eile!
Den zitternden Rücken zur Erde gebückt,
die starrenden Händ' ineinander gedrückt,
sie hat sie mit dürftiger Schürze verhüllt,
denn der Winterwind heult und pfeift so wild.
Eil dich, alt Mütterchen, eile!
Da horch, da horch, mit Schellengeklirr,
mit Pferdegetrappel und Peitschengeschwirr
geht ein Schlitten vorbei, das Rob greift aus.
„Säß' ich drin,“ denkt die Alte, „bald wär' ich zu Haus!“
Eil' dich, alt Mütterchen, eile!
Siehst nicht, wie der Himmel in Wolken sich türmt?
Wie in Flocken es wirbelnd herniederstürmt!
Es häuft sich der Schnee, es versinkt die Au,
rings wird es so düster, rings wird es so grau
Eil' dich, alt Mütterehen, eilel
sie schleicht dahin mit wankendem Iritt,
es wächst ihr der Weg mit jeglichem Schritt,
ihr zitterndes Herz in die Augen ihr schwillt,
ihr trockenes Auge in Tränen quillt.
Eil' dich, alt Mütterchen, eile!
Der Pfad ist verloren, der Weg ist verschneit,
das heimische Dorf ist weit noch, gar weit,
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doch den Kirchturm, von ferne kannst du ihn sehn,
du Alte, du Alte, o bleibe nicht stehn!
Bil dieh, all Mutterechen, eilel
Alt Mütterchen wandert nicht vor, nicht zurück,
die Heimat sucht ihr umnachteter Blick,
sie setzt sich langsam in weichen Schnee,
drückt das Haupt in die Kniee, ihr wird so weh.
Lil' dieh, alt Mütterchen, eilel!
Das Sternenheer beginnt seinen Lauf,
die Alte sitzet, sie sssteht nicht auf,
der Tod schreitet her übers schneeige beld,
ihm gehört nun die schweigende, schauernde Wolt.
Hliehe, alt Mütterchen, fliehe!
Die Kinder zu Hause, die jammern so sehr,
die Alte stört es im Leben nicht mehr,
die Kinder schreien nach Brot, nach Brot,
alt Mütterchen stört's nicht, alt Mutter ist lot.
Schlat' nun alt Mütterchen, schlafe!
Ernst von Wildenbrueh.
36. Das Licht der treuen Schwester.
An dem Ufer einer Hallig wohnte einsam in einer Hütte eine
Jungfrau. Vater und Mutter waren gestorben, und der Bruder war
fern auf der See. Mit Sehnsucht im Herzen gedachte sie der Toten
und des Abwesenden und harrte seiner Wiederkehr. Als der Bruder
Abschied nahm, hatte sie ihm versprochen, allnächtlich ihre Lampe ans
Fenster zu setzen, damit das Licht, weithin über die See schimmernd,
wenn er heimkehre, ihm sage, daß seine Schwester Elke noch lebe und
seiner warte. Was sie versprochen hatte, das hielt sie. An jedem Abend
stellte sie die Lampe ans Fenster und schaute Tag und Nacht auf die
See hinaus, ob nicht der Bruder käme. Es vergingen Monde, es ver—
gingen Jahre, und noch immer kam der Bruder nicht. Elke ward zur
Greisin. Immer saß sie noch am Fenster und schaute hinaus, und an
jedem Abend stellte sie die Lampe aus und wartete. Endlich war es
bei ihr dunkel, und das gewohnte Licht erloschen. Da riefen die Nach—
barn einander zu: „Der Bruder ist gekommen!“ und eilten ins Haus
der Schwester. Da saß sie da, tot und starr ans Fenster gelehnt, als
wenn sie noch hinausblickte, und neben ihr stand die erloschene Lampe.
Karl Müllenhoff.
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37. Spielet nicht mit Feuer!
Helle Kinderstimmen erschollen vom Spielplatz im Garten herauf
zum Fenster, aus welchem der Vater voll Freude dem munteren
Treiben der Kinder zuschaute. Als es unten aber stiller wurde, stieg
er hinab, um zu sehen, womit sie sich jetzt die Zeit vertrieben, und ge⸗
wahrte zu seinem Schrecken, daß sein Sohn Fritz mit Streichhölzchen
spielte. „Welch ein Unglück hättet ihr jetzt anrichten können!“ sprach
der Vater mit ernster Stimme, „da ganz in der Nähe die Scheune
steht, gefüllt mit Stroh und Heu bis obenan!“ „Vater,“ rief Fritz,
„wir wollen ja nur damit spielen!“ „Durch das Spielen mit dem
Feuer,“ sprach der Vater, „ist schon manches Unglück angerichtet
worden. Hört zur Warnung eine Geschichte:
Der kleine Paul hat einmal, als er allein war, mit Streich—
hölzern gespielt. Das hatten ihm Vater und Mutter streng verboten.
Wißt ihr, was ihm geschehen ist? Er hat sich die Finger verbrannt,
und als er schnell das Streichholz wegwarf, ist es auf das Bett gefallen.
Das hat zu brennen angefangen. Paul hat laut geschrieen; da sind zum
Glück noch Nachbarn dazugekommen und haben das Feuer gelöscht.
Aber Pauls Vater, der am Abend müde von der Arbeit nach Hause
kam, hat sich nicht in das Bett legen können, weil es verbrannt war,
und hat an der Erde schlafen müssen. Die Mutter hat viel geweint.
Paul und seine Geschwister haben auch nichts zu Weihnachten
bekommen, weil der Vater ein neues Bett kaufen mußte.“
Lautlos hatten die Kinder der Erzählung gelauscht. Als der
Vater schwieg, eilte Fritz zu ihm und versprach hoch und teuer, nie
wieder so leichtsinnig zu sein.
Der Vater verzieh ihm, schärfte den Kindern aber noch folgende
Sätze ein:
Streichhölzchen und andere leicht brennbare Gegenstände, wie
Pulver, Benzin und Spiritus, sind kein Spielzeug für Kinder. Kinder
sollen gefundene Streichhölzchen sofort den Eltern geben und, wenn sie
andere kleine Kinder mit solchen spielen sehen, sie ihnen freundlich
fortnehmen.
Eigenmächtig darf kein Kind ein Streichholz benutzen; hat es
dies mit Erlaubnis der Eltern tun dürfen, so soll es dasselbe nicht
wegwerfen oder liegen lassen, solange es noch glimmt.
Man darf nicht gegen den Tisch stoßen oder am Tischtuch ziehen,
wenn eine Lampe darauf steht. Personen, welche eine brennende
Lampe oder ein Licht tragen, darf man nicht jagen, necken oder er—
schrecken. Niemand soll mit offenem Licht auf den Boden, in den Keller,
in die Scheune oder die Ställe gehen. Zentralblatt.
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38. Sneewittchen.
Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen
wie Federn vom Himmel herab; da saß eine Königin an einem Fenster,
das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und
wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der
Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee.
Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei
sich: „Hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so
schwarz wie das Holz an dem Rahmen!“ Bald darauf bekam sie ein
Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so
schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Sneewittchen ge—
nannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.
UÜber ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es
war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte
nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen
werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel; wenn sie vor den
trat und sich darin beschaute, sprach sie:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
so antwortete der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“
Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die
Wahrheit sagte.
Sneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und
als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag und
schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
so antwortete er:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“
Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid.
Von Stund an, wenn sie Sneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das
Herz im Leibe herum, so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und
Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß
sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger
und sprach: „Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht
mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und
Leber zum Wahrzeichen mitbringen.“ Der Jäger gehorchte und führte
es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Snee—
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wittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen
und sprach: „Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben! Ich will in den
wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.“ Und
weil es so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: „So
lauf hin, du armes Kind!“ Die wilden Tiere werden dich bald ge—
fressen haben, dachte er, und doch war's ihm, als wäre ein Stein von
seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als
gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab,
nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der
Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte
Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Sneewittchens Lunge und Leber
gegessen.
Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein
und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und
nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und
lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden
Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief,
solange nur die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden
wollte; da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen.
In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es
nicht zu sagen ist. Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben
kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben
Messerlein und Gäblein und sieben Becherlein. An der Wand waren
sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken dar—
über gedeckt. Sneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß
von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot und trank aus jedem
Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem allein alles
wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein
Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz,
bis endlich das siebente recht war; und darin blieb es liegen, befahl
sich Gott und schlief ein.
Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem
Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz
hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es
nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gewesen war;
denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen
hatten. Der erste sprach: „Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?“
Der zweite: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ Der dritte:
„Wer hat von meinem Brötchen genommen?“ Der vierte: „Wer
hat von meinem Gemüschen gegessen?“ Der fünfte: „Wer hat mit
meinem Gäbelchen gestochen?“ Der sechste: „Wer hat mit meinem
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Messerchen geschnitten?“ Der siebente: „Wer hat aus meinem Becher—
lein getrunken?“ Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem
Bette eine kleine Dälle war; da sprach er: „Wer hat in mein Bettchen
getreten?“ Die andern kamen gelaufen und riefen: „In meinem
hat auch jemand gelegen.“ Der siebente aber, als er in sein Bett sah,
erblickte Sneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die
andern, die kamen herbeigelaufen und schrieen vor Verwunderung,
holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Sneewittchen. „Ei, du
mein Gott! ei du mein Gott!“ riefen sie, „was ist das Kind so schön!“
und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im
Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei
seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.
Als es Morgen war, erwachte Sneewittchen, und wie es die
sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten:
„Wie heißt du?“ „Ich heiße Sneewittchen,“ antwortete es. „Wie
bist du in unser Haus gekommen?“ sprachen weiter die Zwerge. Da
erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen
lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär' es
gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte.
Die Zwerge sprachen: „Willst du unsern Haushalt versehen, kochen,
betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und
reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts
fehlen.“ „Ja,“ sagte Sneewittchen, ‚von Herzen gern,“ und blieb
bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung: morgens gingen
sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder,
und da mußte ihr Essen bereit sein. Den Tag über war das Mädchen
allein, da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: „Hüte dich
vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß
ja niemand herein!“
Die Königin aber, nachdem sie Sneewittchens Lunge und Leber
glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder
die Erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Da antwortete der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.“
Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit
sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Sneewittchen
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
34 —
noch am Leben war. Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie
es umbringen wollte; denn solange sie nicht die Schönste war im ganzen
Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas
ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine
alte Krämerin und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie
über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Tür und
rief: „Schöne Ware feil! feil!“ Sneewittchen guckte zum Fenster heraus
und rief: „Guten Tag, liebe Frau, was habt Ihr zu verkaufen?“
„Gute Ware, schöne Ware,“ antwortete sie, „Schnürriemen von allen
Farben,“ und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten
war. „Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen,“ dachte Sneewittchen,
riegelte die Tür auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen.
„Kind,“ sprach die Alte, „wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal
ordentlich schnüren!“ Sneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie
und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren; aber die Alte
schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Sneewittchen der
Atem verging und es für tot hinfiel. „Nun bist du die Schönste
gewesen,“ sprach sie und eilte hinaus.
Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach
Haus. Aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Sneewittchen auf der
Erde liegen sahen; und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es
tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest ge—
schnürt war, schnitten sie den Schürriemen entzwei; da fing es an,
ein wenig zu atmen, und ward nach und nach wieder lebendig. Als
die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: „Die alte
Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin; hüte dich und
laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind!“
Das böse Weib aber, als es nach Hause gekommen war, ging
vor den Spiegel und fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Da antwortete er wie sonst:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.“
Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie,
denn sie sah wohl, daß Sneewittchen wieder lebendig geworden war.
„Nun aber,“ sprach sie, „will ich etwas aussinnen, daß dich zugrunde
richten soll,“ und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen
giftigen KNamm. Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines
andern alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu
den sieben Zwergen, klopfte an die Tür und rief: „Gute Ware feil!
feil!“ Sneewittchen schaute heraus und sprach: „Geht nur weiter,
ich darf niemand hereinlassen.“ „Das Ansehen wird dir doch erlaubt
sein,“ sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn
in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ
und die Tür öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte:
„Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.“ Das arme Snee⸗
wittchen dachte an nichts und ließ die Alte gewähren; aber kaum
hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte,
und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. „Du Ausbund von
Schönheit,“ sprach das boshafte Weib, „jetzt ist's um dich geschehen,“
und ging fort. Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben
Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Sneewittchen wie tot auf der
Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht,
suchten nach und fanden den giftigen Kamm; und wie sie ihn heraus—
zogen, kam Sneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen
war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und nie—
mandem die Tür zu öffnen.
Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Da antwortete er wie vorher:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Sneewittchen über den Bergen
bei den sieben Zwergen
ist noch tausendmal schöner als Ihr.“
Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor
Zorn. Sneewittchen soll sterben,“ rief sie, „und wenn es mein eignes
Leben kostet.“ Darauf ging sie in eine ganz verborgene einsame
Kammer, wo niemand hinkam, und machte einen giftigen Apfel.
Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder,
der ihn erblickte, Lust danach bekam; aber wer ein Stückchen davon
aß, der mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das
Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging es über
die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an, Sneewittchen
streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: „Ich darf keinen
Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir's verboten.“ „Mir
auch recht,“ antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon los—
werden. Da, einen will ich dir schenken!“ „Nein,“ sprach Snee—
wittchen, „ich darf nichts annehmen.“ „Fürchtest du dich vor Gift?“
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sprach die Alte, „siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile;
den roten Backen iß du, den weißen will ich essen.“ Der Apfel war
aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war.
Sneewittchen lüsterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die
Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte
die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum hatte es aber
einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da be—
betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut
und sprach: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz.
Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken.“ Und als
sie daheim den Spiegel fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
so antwortete er endlich:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“
Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein böses und neidisches
Herz Ruhe haben kann.
Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Snee—
wittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem
Mund, und es war tot. Sie hoben es auf, suchten, ob sie was Giftiges
fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit
Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kiund war tot
und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle sieben
daran und beweinten es und weinten drei Tage lang. Da wollten sie
es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch
und hatte noch seine schönen roten Backen. Sie sprachen: „Das können
wir nicht in die schwarze Erde versenken,“ und ließen einen durchsich⸗
tigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen
konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen
Namen darauf, und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten
sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer
dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten
Sneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen.
Nun lag Sneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und ver—
weste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch
so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Eben—
holz. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und
zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg
den Sarg und das schöne Sneewittchen darin und las, was mit
goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den
Zwergen: „Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür
36
7 —
haben wollt.“ Aber die Zwerge antworteten: „Wir geben ihn nicht
um alles Gold in der Welt.“ Da sprach er: „So schenkt mir ihn,
denn ich kann nicht leben, ohne Sneewittchen zu sehen; ich will es
ehren und hochachten wie mein Liebstes.“ Wie er so sprach, empfanden
die guten Zwerglein Mitleiden mit ihm und gaben ihm den Sarg.
Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern
forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und
von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Sneewittchen ab—
gebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen,
hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war
wieder lebendig. „Ach Gott, wo bin ich?“ rief es. Der Königssohn
sagte voll Freude: „Du bist bei mir,“ und erzählte, was sich zugetragen
hatte, und sprach: „Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm
mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden!“
Da war ihm Sneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit
ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet.
Zu dem Feste ward aber auch Sneewittchens gottlose Stief—
mutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan
hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Der Spiegel antwortete:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr.“
Da stieß das böse Weib einen Fluch aus und ward ihr so angst,
so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht
auf die Hochzeit kommen, doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort
und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie
Sneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich
nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer
gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt.
Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen,
bis sie tot zur Erde fiel. Brüder Grimm.
39. Aschenputtel.
Einem reichen Manne dem ward seine Frau krank, und als
sie fühlte, daß ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein
zu sich ans Bett und sprach: „Liebes Kind, bleib fromm und gut,
80 wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom
Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.“ Darauf
—
38
tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag
hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte und blieb fromm und
gut. Als der VWinter kam, deckte der Schnee ein weibes Tüchlein
auf das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herab—
gezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Prau.
Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön
und weiß von Angesicht waren, aber garstig und schwarz von
Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an.
„Soll die dumme Gans bei uns hier in der Stube sitzen!“ sprachen
sie, „wer Brot essen will, mub es verdienen; hinaus mit der
Kũüchenmagdl Sie nahmen ihm seine schönen RKleider weg, zogen
ihim einen alten grauen RKittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe.
„Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist!“ riefen
sie, lachten und führten es in die Küche. Da mubte es von Morgen
bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser
tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein tfaten
ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es
und schũtteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so dab
es sitzen und sie wieder auflesen mubte. Abends, wenn es sich
mũde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mubte sich
neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer
staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.
Es trug sich zu, daß der Vater einmal in die Messe ziehen
wollte; da fragte er die beiden Stieftöchter, was er ihnen mit—
bringen sollte. „Schöne Kleider,“ sagte die eine; „Perlen und
Edelsteine,“ die zweite. „Aber du, Aschenputtel,“ sprach er, „was
willst du haben?“ „Vater, das erste Reis, das Ruch auf Eurem
Heimweg an den Hut stöbt, das brecht für mich ab.“ Er kaufte
nun für die beiden Stiefschwestern schöne Kleider, Perlen und
Edelsteine, und auf dem Rückweg, als er durch einen grünen Busch
ritt, streifte ihn ein Haselreis und stieb ibm den Hut ab. Da
brach er das Reis ab und nahm es mit. Als er nach Hause kam,
gab er den Stieftöõchtern, was sie sich gewünscht hatten, und dem
Aschenputtel gab er das Reis von dem Haselbusch. Aschenputtel
dankte ihm, ging zu seiner Mutter Grab und pflanzte das Reis
darauf und weinte so sehr, daß die Tränen darauf niederfielen
und es begossen. Es wuchs aber und ward ein schöner Baum.
Aschenputtel ging alle Tage dreimal darunter, weinte und betete,
und allemal kam ein weihes Vöglein auf den Baum, und wenn es
einen VWunsch aussprach, so warf ihm das Vöglein herab, was es
sich gewünscht hatte.
29
Es begab sich aber, dabß der König ein Pest anstellte, das
drei Tage dauern sollte und wozu alle schönen Jungkrauen im
Lande geladen wurden, damit sich sein Sohn eine Braut aussuchen
möchte. Die zwei Stiefschwestern, als sie hörten, dab sie auch
dabei eérscheinen sollten, waren guter Dinge, riefen Aschenputtel
und sprachen: „Lämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und
mache uns die Schnallen fest, wir gehen zur Hochzeit auf des
Königs Schlob.“ Aschenputtel gehorehte, weinte aber, weil es
auch gern zum Tanz mitgegangen wäre, und bat die Stiefmutter,
sie möchte es ihm erlauben. „Du Aschenputtel,“ sprach sie, „bist
voll Staub und Schmutz und willst zur Hochzeit? Du hast keine
Kleider und Schuhe und willst fanzgen?“ Als es aber mit Bitten
anhielt, sprach sie endlich: „Da habe ich dir eine Schüssel Linsen
in die Asche geschüttet; wenn du die Linsen in zwei Stunden
wieder ausgelesen hast, so sollst du mitgehen.“ Das Mädchen
ging dureh die Hintertür in den Garten und rief: „Ihr zahmen
Taubchen, ihr Turteltãubehen, all' ihr Vöglein unter dem Himmel,
kommt und helft mir lesen,
die guten ins Töpfehen,
die schlechten ins Kröpfehen.“
Da kamen zum Küchenfenster zwei weibe Täubchen herein und
danach die Turteltãubehen und endlich schwirrfen und schwärmten
alle Võgel unter dem Himmel herein und lieben sich um die Asche
nieder. Und die Täubehen nickten mit den Köpfehen und fingen
an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch an pick,
pick, pick, pick, und lasen alle guten Körnlein in die Schüssel.
Kaum war eine Stunde herum, so waren sie schon fertig und
flogen alle wieder hinaus. Da brachte das Mädchen die Schüssel
der Stiefmutter, freute sich und glaubte, es dürfte nun mit auf
die Hochzeit gehen. Aber sie sprach: „Nein, Aschenputtel, du
hast keine Kleider und äkannst nicht tanzen; du wirst ausgelacht.“
Als es nun weinte, sprach sie: „MWenn du mir zwei Schüsseln voll
Linsen in einer Stunde aus der Asche rein lesen kannst, so sollst
du mitgehen,“ und dachte: „Das kann es ja nimmermehr.“ Als
sie die zwei Schüsseln Linsen in die Asche geschüttet hatte, ging
das Mädechen dureh die Hinterfür nach dem Garten und rief:
„Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all' ihr Vöglein unter
dem Himmel, kommt und helft mir lesen,
die guten ins Töpfohen,
die sebleehten ins Kröpfehen.“
Bild aus Grimms Märchen, Stuttgart. K. Dhienemanns Verlag.
Da kamen zum Küchenfenster zwei weibe Täubechen herein und
danach die Turteltãubehen, und endlichschwirrten und schwärmten
alle Vöglein unter dem Himmel herein und lieben sich um die
Asche nieder. Und die Täubehen nickten mit ihren Köpfehen und
fingen an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch
an pick, pick, pick, pick, und lasen alle guten Körner in die
Schũusseln. Und eh' noch eine halbe Stunde herum Wwar, waren sie
schon fertig und flogen alle wieder hinaus. Da trug das Mädchen
die Schüsseln zu der Stiefmutter, freute sich und glaubte, nun
dürfte es mit auf die Hochzeit gehen. Aber sie sprach: „Es hilft
dir alles nichts; du kommst nicht mit, denn du hast keine Kleider
und kannst nicht tanzen; wir müßten uns deiner schämen.“ Dar—-
auf kehrte sie ihm den Rücken zu und eilte mit ihren 2wei
stolzen Töchtern fort.
Als nun niemand mehr daheim war, ging Aschenputtel zu
seiner Mutter Grab unter den Haselbaum und rief:
„Bäumchen, rüttel dioh und schüttel dich,
wirf Gold und dilber über mich!“
41 —
Da wart ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und
mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffel. In aller Eile zog es
das Kleid an und ging zur Hochzeit. Seine Schwestern aber und
die Stiefmutter kannten es nicht und meinten, es müsse eine
fremde Königstochter sein, so schön sah es in dem goldenen RKleide
aus. An Aschenputtel dachten sie gar nicht und glaubten, es säbe
daheim im Schmutz und suchte die Linsen aus der Asche. Der
Kõönigssohn kam ihm entgegen, nahm es bei der Hand und tanzte
mit ihm. Er wollte auch sonst mit niemand tanzen, also dab
er ihm die Hand nicht loslieb, und wenn ein anderer kam, es
aufzufordern, sprach er: „Das ist meine Tänzerin.“
Es tanzte, bis es Abend war, da wollte es nach Hause gehen.
Der Königssohn aber sprach: „Ich gehe mit und begleite dich,“
denn er wollte sehen, wem das schöne Mädchen angehörte. Sie
entwischte ihm aber und sprang in das Taubenhaus. Nun wartete
der Königssohn, bis der Vater kam, und sagte ihm, das fremde
Mädchen wär' in das Taubenhaus gesprungen. Der Alte dachte:
„Sollte es Aschenputtel sein?“ und sie mubten ihm Axt und Hacke
bringen, damit er das Taubenhaus entzweischlagen konnte; aber
es war niemand darin. Und als sie ins Haus kamen, lag Aschen—
puttel in seinen schmutzigen Kleidern in der Asche, und ein trübes
Ollàampchen brannte im Schornstein; denn Aschenputtel war ge—
schwind aus dem Taubenhaus hinten herabgesprungen und war zu
dem Haselbäumchen gelaufen; da hatte es die schönen Kleider
abgezogen und aufs Grab gelegt, und der Vogel hatte sie wieder
weggenommen, und dann hatte es sich in seinem grauen Kittelchen
in die Küche zur Asche gesett.
Am andern Tage, als das Fest von neuem anhub unde die
Eltern und Stiefschwestern wieder fort waren, ging Aschenputtel
zu dem Haselbaum und sprach:
„Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich,
wirf Gold und Silber über mieh!“
Da warf der Vogel ein noch viel stolzeres Kleid herab als am
vorigen Tag. Und als es mit diesem Kleide ausf der Hochzeit er—
schien, erstaunte jedermann über seine Schönheit. Der Königssohn
aber hatte gewartet, bis es kam, nahm es gleich bei der Hand und
tanzte nur allein mit ihm. Wenn die andern kamen und es auf—
forderten, sprach er: „Das ist meine Tänzerin.“ Als es nun Abend
war, wollte es fort, und der Königssohn ging ihm nach und wollte
sehen, in welches Haus es ging; aber es sprang fort und liet in
42
den Garten hinter dem Haus. Darin stand ein schöner, großer
Baum, an dem die herrlichsten Birnen hingen; es kletterte sö
behend' wie ein Eichhörnchen zwischen die Aste, und der Königs
sohn wubte nicht, wo es hingekonmmmen war. Er wartete aber, bis
der Vater kam, und sprach zu ihm: „Das fremde Mädchen ist mir
entwischt, und ich glaube, es ist auf den Birnbaum gesprungen.“
Der Vater dachte: „Sollte es Aschenputtel sein?“ lieb sich die
Axt holen und hieb den Baum um, aber es war niemand darauf.
Und als sie in die Kuche kamen, lag Aschenputtel da in der Asche
wie sonst auch, denn es war auf der andern Seite vom Baum
herabgesprungen, hatte dem Vogel auf dem Haselbäumchen die
schönen Kleider wiedergebracht und sein graues Kittelchen an—
gezogen.
Am dritten Tag, als die Eltern und Schwestern fort waren,
ging Aschenputtel wieder zu seiner Mutter Grab und sprach zu
dem Bäumchen:
„Bäumchen, rüttel dieb und schüttel dieb,
wirf Gold und dilber über mieh!“
Nun warf ihm der Vogel ein Kleid herab, das war so prächtig und
glänzend, wie es noch keins gehabt hatte, und die Pantoffel waren
ganz golden. Als es in dem Kleid zur Hochzeit kam, wubten sie
alle nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Der Königs-
sohn fanzte ganz allein mit ihm, und wenn es einer aufforderte,
sprach er: „Das ist meine Tänzerin.“
Als es nun Abend war, wollte Aschenputtel fort, und der
Königssohn wollte es begleiten; aber es entsprang ihm so ge—
schwind, dab er nicht folgen konnte. Der Königssohn hatte aber
eine List gebraucht und hatte die ganze Treppe mit Pech be—
streichen lassen; da war, als es hinabsprang, der linke Pantoffel
des Mädchens hängen geblieben. Der Königssohn hob ihn auf, und
er war klein und zierlich und ganz golden. Am nächsten Morgen
ging er damit zu dem Mann und sagte zu ihm: „Keine andere
soll meine Gemahlin werden als die, an deren Fub dieser goldene
Schuh pabt.“ Da freuten sich die beiden Schwestern, denn sie
hatten schöne Füße. Die älteste ging mit dem Schuh in die
Kammer und wollte ihn anprobieèren, und die Mutter stand dabei.
Aber sie konnte mit der groben Zehe nicht hineinßkommen, und
der Schuh war ihr zu klein. Da reichte ihr die Mutter ein Messer
und sprach: „Hau die Zehe abl Wann du Königin bist, so brauchst
du nicht mehr zu Fub zu gehen.“ Das Mädchen hieb die Zehe ab,
zwangte den Pub in den Schuh, verbiß den Schmer— und ging
heraus zum RKönigssohn. Da nahm er sie als seine Braut aufs
Pferd und ritt mit ihr fort. Sie muhten aber an dem Grabe vorbei;
da saßen die zwei Täubehen auf dem Haselbäumchen und riefen:
„Rucke di guek, rueke di guck,
Blut ist im Sechuek;
der Schuek ist zu klein,
die rechte Braut sitzt noch daheim.“
Da blickte er auf ihren Fuß und sah, wie das Blut herausquoll.
REr wendete sein Pferd um, brachte die falsche Braut wieder nach
Haus und sagte, das wäre nicht die rechte, die andere Schwester
solle den Schuh anziehen. Da ging diese in die Kammer und kam
mit den Zehen glücklich in den Schuh, aber die Ferse war zu
groß. Da reichte ibr die Mutter ein Messer und sprach: „Hau
din Stück von der Ferse abl Wann du Königin bist, brauchst du
nicht mehr zu Fubß zu gehen.“ Das Mädchen hieb ein Stück
von der Ferse ab, zwängte den Fuß in den Schuh, verbiß den
Schmerz und ging heraus zum Königssohn. Da nahm er sie als
seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Als sie an dem
Haselbäumchen vorbeikamen, saben die zwei Täubehen darauf
und riefen; „Rucke di guek, rucke di guek,
Blut ist im Schuck;
der Schucek ist zu klein,
die rechte Braut sitzt noch daheim.“
Pr blickte nieder auf ihren Fuß und sah, wie das Blut aus dem
Schuh quoll und an den weihen Strümpfen ganz rot heraufgestiegen
war. Da wendete er sein Pferd und brachte die falsche Braut
wieder nach Haus. „Das ist auch nicht die rechte,“ sprach er,
„habt ihr keine andere Tochter?“ „Nein,“ sagte der Mann, „nur
von meiner verstorbenen Frau ist noch ein kleines, verbuttetes
Aschenputtel da; das kann unmöglich die Braut seinl“ Der
Königssohn sprach, er sollte es heraufschicken; die Mutter aber
antwortete: „Ach nein, das ist viel zu schmutzig, das darf sich
nicht sehen lassen!“ Er wollte es aber durchaus haben, und
Aschenputtol mubte gerufen werden. Da wusch es sich erst Hände
und Angesicht rein, ging dann hin und neigte sich vor dem KLöõnigs
sohn, der ihm den goldenen Schuh reichte. Dann setzte es sich
auf einen Schemel, zog den Fuß aus dem schweren Holzschuh
und steckte ihn in den Pantoffel, der war wie angegossen. Und als
es sich in die Höhe richtete, und der Königssohn ihm ins Gesicht
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sah, so erkannte er das schöne Mädchen, das mit ihm getanzt hatte,
und rief: „Das ist die rechte Braut!“ Die Stiefmutter und die
beiden Schwestern erschraken und wurden bleich vor Arger; er
aber nahm Aschenputtel aufs Pserd und ritt mit ibhm fort. Als sie
an dem Haselbäumchen vorbeikamen, riefen die zwei weiben
Tuubehen: „Rucke di guek, ruceke di guek,
kein Blut ist im Schuck;
der Sechuck ist nicht zu klein,
die rechte Braut, die fübrt er heim.“
Und als sie das gerufen hatten, kamen sie beide herabgeflogen
und setzten sich dem Aschenputtel auf die Schultern, eine rechts,
die andere links, und blieben da sitzen.
Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden,
kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und
teil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zur Kirche
gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite;
da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach,
als sie herausgingen, war die älteste zur Linken und die jüngste
zur Rechten, da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge
aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit
Blindheit auf ihr Lebtag gestraft. Brüder Grimm.
40. Dornröschen.
Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden
Tag: „Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!“ und kriegten immer
keins. Da trug es sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß
ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: „Dein
Wunsch wird erfüllt werden; ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine
Tochter zur Welt bringen.“ Was der Frosch gesagt hatte, das geschah,
und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der König
vor Freude sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte.
Er lud nicht bloß seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern
auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und ge—
wogen wären. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche; weil er
aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten,
so mußte eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit aller
Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen
das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere
mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf
der Welt zu wünschen ist. Als elf ihre Sprüche eben getan hatten,
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trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, daß
sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzu—
sehen, rief sie mit lauter Stimme: „Die Königstochter soll sich in
ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“
Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und verließ
den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die
ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht
aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber
kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen
die Königstochter fällt.“
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren
wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen König—
reiche sollten verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die
Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sitt—
sam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb
haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn
Jahre alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren und
das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller—
orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und
kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe
hinauf und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloß steckte
ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang die Tür auf,
und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel
und spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen,“
sprach die Königstochter, „was machst du da?“ „Ich spinne,“ sagte
die Alte und nickte mit dem Kopfe. „Was ist das für ein Ding, das
so lustig herumspringt?“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel und
wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging
der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf
das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und
dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der König und
die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten
waren, fingen an einzuschlafen, und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da
schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben
auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem
Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu
brutzeln, und der Koch, den den Küchenjungen, weil er etwas versehen
hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der
Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schlosse regte sich kein
Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen,
die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und
darüber hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst
nicht die Fahne auf dem Dach. Es ging aber die Sage in dem Land
von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königs—
tochter genannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und
durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber
nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zu—
sammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht
wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen,
langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und
hörte, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte, es sollte ein
Schloß dahinter stehen, in welchem eine wunderschöne Königstochter,
Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr
schliefe der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wußte
auch von seinem Großvater, daß schon viele Königssöhne gekommen
wären und versucht hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie
wären darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben.
Da sprach der Jüngling: „Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und
das schöne Dornröschen sehen.“ Der gute Alte mochte ihm abraten,
wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte.
Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der
Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der
Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne
Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbe—
schädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zu—
sammen. Im Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde
liegen und schlafen; auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das
Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen
die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand,
als wollte er den Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem
schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden. Da ging er weiter und
sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei
dem Throne lagen der König und die Königin. Da ging er noch weiter,
und alles war so still, daß einer seinen Atem hören konnte, und endlich
kam er zu dem Turm und öffnete die Tür zu der kleinen Stube, in
welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, daß er die
Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen
Kuß. Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die
Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie
zusammen herab, und der König erwachte und die Königin und der
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ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die
Pferde im Hofe standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen
und wedelten; die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm
Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den
Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und
kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der
Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß er schrie; und die Magd
rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die Hochzeit des Königssohns
mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt
bis an ihr Ende. Brüder Grimm.
41. Das WVunderkãstehen.
Eine Hausfrau hatte in ihrer Haushaltung allerlei Unglücks-
fälle, und ihr Vermögen nahm alljährlich ab. Da ging sie in den
Wald zu einem alten Einsiedler, erzählte ihm ihre betrübten Um—
stände und sagteé: „Es geht in meinem Hause einmal nicht mit
rechten Dingen her. Wißt Ihr kein Mittel, dem Übel abzuhelfen?“
Der Einsiedler, ein fröhlicher Greis, hieb sie ein wenig warten,
brachte über ein Weilchen ein kleines versiegeltes Kästchen und
sprach: „Dieses Kästchen müßt Ihr ein Jahr lang dreimal des
Tages und dreimal bei Nacht in Küche, Keller und Stallung und
allen VWinkeln des Hauses umhertragen, so wircdt es besser gehen.
Bringt mir übers Jahr das Kästlein wieder zurück!“
Die gute Hausfrau setzte in den Kasten ein grobes Vertrauen
und trug ihn fleißbig umher. Als sie den nächsten Tag in den
Keller ging, wollte eben ein Knecht einen Krug Bier heimlich
herauftragen. Als sie noch spät bei Nacht in die Küche kam,
hatten die Mägde sich einen Eierkuchen gebacken. Als sie die
Stallungen durchwanderte, standen die Kühe tief im Kot, und die
Pferde hatten statt des Hafers nur Heu und waren nicht ge—
striegelt. So hatte sie alle Tage einen Fehler abzustellen.
Nachdem das Jahr herum war, ging sie mit dem Kästchen
zum Einsiedler und sagte vergnügt: „Alles geht nun besser. Labt
mir das Kästehen nur noch ein Jahr; es enthält ein gar vortreff—
liches NMittel.“
Da lachte der EBinsiedler und sprach: „Das Kästehen kann
ieh Euch nicht lassen; das Mittel aber, das darinnen verborgen
ist, sollt Ihr haben.“ — LEr öffnete das Kästechen, und sieh, es
war nichts darin als ein weihes Papier, auf dem geschrieben stand:
Du mubt, soll's wohl im Hause stehen,
auf Sparsamkeitf und Ordnung sehen. Ludwig Aurbacher.
42. Der Wirt muß vorauf.
Sie wundern sich, daß meine Leute nicht schlemmen und schlendern
und überhaupt so ordentlich sind? O, mein liebes Kind, ich kann, was
ich will, und der Henker sollte mir den Dienstboten holen, der mir ein
einziges Mal über die Schnur hiebe. Ordnung im Haushalt ist keine
Hexerei, und ich habe ein so sicheres Mittel, meine Leute vom Schlem—
men und Schlendern abzuhalten, daß ich alles in der Welt wetten will,
es fällt ihnen gar nicht ein. Das Schnakigste aber ist, daß ich dieses
Mittel von meiner Viehmagd gelernt habe. Diese wollte, als ich meinen
Mann geheiratet hatte und wir unsere Pachtung antraten, nicht früh
genug aufstehen, und als ich sie darüber zur Rede stellte, gab sie mir
zur Antwort: „Bei uns muß der Wirt vorauf.“ Dies schallte mir
durch die Ohren, und auf einmal erleuchtet, fühlte ich die ganze Wahr—
heit, daß alles in der Haushaltung durch einen guten Vorgang ge—
zwungen werden müsse, und daß es eine Torheit sei, sich um acht Uhr
aus dem Bette zum Kaffeetrinken wecken zu lassen und von dem Gesinde
zu fordern, daß es um drei Uhr an der Arbeit sein und sich nicht
auch eine verstohlene Freude machen sollte.
Wie es des andern Morgens vier schlug, sagte ich daher zu
meinem Manne: „Der Wirt muß vorauf!“ und so wie er dieses einige—
mal getan hatte, war alles Gesinde so schnell bei der Hand, daß ich
seit der Zeit nicht nötig gehabt habe, ein einziges Mal mit der Viehmagd
über ihren langen Schlaf zu schelten. Anfangs fiel es uns etwas hart,
so früh die warmen Federn zu verlassen; wie wir es aber erst eine
Zeitlang getan hatten, war es uns nicht möglich, lange über die ge—
wohnte Zeit darin zu verweilen.
Nun, mein Schatz, weißt du mein ganzes Geheimnis, und wenn
du dasselbe wohl anwendest, wirst du nicht nötig haben, dich über
Unordnung im Haushalt zu beschweren. Andern zu befehlen und Vor—
schriften zu geben, ist keine Kunst; man muß voraufgehen, „wenn einem
gefolgt sein soll,“ auf die Bresche wie auf die Dresche; und der Soldat
lacht über den Hauptmann, der ihm hinterm Eichbaum befehlen will,
als ein braver Kerl die Sturmleiter hinaufzuklettern. So handeln
aber unsere meisten Haushalter; sie selbst wollen schlafen, bis der Kaffee
fertig ist, und hinterm Ofen sitzen; das Gesinde aber soll sich quälen
und schlecht behelfen. Das geht nicht und wird in Ewigkeit nicht
gehen! „Der Wirt muß vorauf!“
J. Möser.
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43. Der gute Herr.
Mendelssohn-Bartholdy war ein großer Meister der Musik, der
in unserm deutschen Vaterlande nimmer vergessen werden soll. Hoch—
angesehen und geehrt war er schon bei seinen Lebzeiten, wie er es
verdiente; denn er war auch ein edler Mann.
Eine Reihe von Jahren, während er in Leipzig wohnte, hatte er
einen braven Diener namens Krebs. Der war der Sohn einer armen
Witwe, die noch für vier andere Kinder zu sorgen hatte. Krebs war
nicht allein seinem Herrn treu ergeben, er war auch ein guter Sohn
und Bruder, der seine Lieben daheim nicht vergaß, als es ihm gut ging.
Die schweren Sorgen des treuen Mutterherzens suchte er dadurch zu
erleichtern, daß er dem Mütterlein alle Monate von seinem ehrlich ver—
dienten Lohne zwei Taler sandte. Mehrere Jahre hindurch waren diese
Kindesgaben der armen Mutter zugeflossen, die sie mit Freudentränen,
mit Dank gegen Gott und mit Segensgebeten für den lieben Sohn
empfing. Da kam ein Brief von Leipzig an, der von fremder Hand
geschrieben war. Zitternd erbrach ihn die Mutter. Er war von Herrn
Mendelssohns Hand und enthielt die traurige Nachricht, daß der Sohn
gefährlich erkrankt sei und noch einmal sein Haupt an die treue
Mutterbrust zu legen wünsche; sie möge doch eiligst kommen. Zugleich
hatte der edle Mann zehn Taler eingelegt, damit der Mangel an Geld
die Reise nicht verhindere.
Du armes Mutterherz, welch eine schwere Reise war das für dich!
Wie magst du gepocht, gebebt, gebetet haben! — Aber der gute Sohn
ruhte schon im kühlen Grabe, als die Mutter die Türme Leipzigs er—
blickte. Herr Mendelssohn empfängt sie liebevoll, bereitet sie sanft
vor auf den schweren Schlag, trauert mit ihr um den guten Sohn und
flößt ihr dann heiligen Trost in ihre gute Seele. Er geht mit ihr zu
dem teuern Grabe und richtet die Gebeugte auf mit der frohen Hoff—
nung des Wiedersehens.
Er behält die arme Mutter bei sich, solange sie bleiben will und
kann. Als sie endlich die traurige Heimreise antritt, händigt er ihr
des Sohnes Ersparnisse ein, neunhundertfünfzig Taler, legt zwölf
Taler für die Heimreise zu und übergibt der Witwe eine Schrift, in
der er ihr verspricht, jeden Monat zwei Taler zu senden, solange
sie lebe.
Das hat er redlich gehalten bis an seinen Tod. Vergelt's ihm
Gott droben im Himmel, wo er nun auch schon ist!
W. O. von Horn.
Lüneburger Lesebuch. Mtittelstufe.
4
— *9 —
44. Die Rache.
Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn,
der Knecht wär' selber ein Ritter gern.
Er hat ihn erstochen im dunkeln Hain
und den Leib versenket im tiefen Rhein;
hat angelegt die Rüstung blank,
auf des Herren Robß sich geschwungen frank.
Und als er sprengen will über die Brück,
da stutzet das Rob und bäumt sich zurück.
Und als er die güldnen Sporen ihm gab,
da schleudert's ihn wild in den Strom hinab.
Mit Arm, mit Fub er rudert und ringt;
der sechwere Panzer ihn niederzwingt. Laudwig Unland.
2. In Gemeinde und Staat.
45. Deutscher Rat.
Vor allem eins, mein Kind: sei treu und wahr,
laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!
Von altersher im deutschen Volke war
der höchste Ruhm, getreu ünd wahr zu sein.
Du bist ein deutsches Kind, so denke dran!
Noch bist du jung, noch ist es nicht so schwer.
Aus einem Knaben aber wird ein Mann;
das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.
Sprich „ja“ und „nein“ und dreh und deutle nicht;
was du berichtest, sage kurz und schlicht;
was du gelobest, sei dir höchste Pflicht;
dein Wort sei heilig, drum verschwend es nicht!
Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran,
zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach;
doch dein Gewissen zeigt den Feind dir an,
und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!“
Dann wach und kämpf, es ist ein Feind bereit:
die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr.
Kind! Deutsche kämpften tapfer allezeit;
du deutsches Kind, seitapfer, treu und waähr!
Robert Reinick.
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21 —
46. Ein ehrlicher Knabe.
Ein Herr vom Lande brachte seinen Sohn zu einem Kaufmann
in der Stadt in die Lehre. Eine Zeitlang ging alles gut. Eines
Tages kam eine Dame in den Laden, um ein seidenes Rleid zu
kaufen, und der Jüngling wartete ihr auf. Sie wurden einig im
Preise, und er fing an, die Ware zusammenzulegen. Da entdeckte
er, ehe er fertig war, einen Schaden in dem Seidenzeug und sagte,
indem er die Dame darauf hinwies: „Madame, ich halte es für
meine Pflicht, Ihnen zu sagen, dab ein Schaden in diesem Seiden-
zeuge ist.“ — Als er ihr dieses zeigte, nahm sie den Stoft nicht.
Der Kaufmann hörte diess Bemerkung und schrieb sogleich an den
Vater, ex solle kommen und seinen Sohn nach Hause nehmen;
„denn,“ sagte er, „er wird niemals ein Kaufmann werden.“ —
Der Vater, welcher immer Vertrauen in seinen Sohn gesetzt hatte,
war sehr betrübt und eilte nach der Stadt, um sich über dessen
Fehler berichten zu lasson „Warum wird mein Sohn kein Kauf-
mann?“ fragte der Vater. — „Weil er keinen Takt hat,“ war die
Antwort. „Vor einem oder zwei Tagen sagte er eineér Dame, welche
von ihm Seidenzeug kaufen wollte, freiwillig, daß die Ware be—
schädigt sei, und ich verlor den Kauf. Käufer müssen selbst die
Augen aufmachen. Wenn sie die Mängel nicht entdecken, würde
es sehr föricht von mir sein, ihnen dieselben zu sagen.“ — „Und
dies ist sein ganzer Fehler?“ fragte der Vater. — „Ja,“ antwortete
der Kaufmann. „in andern Beziehungen ist er sehr gut.“ — „Dann
liebe ich meinen Sohn mehr als je,“ sagte der Vater. „Ieh danke
Ihnen, daß Sie mir diese Sache mitgeteilt haben. Ich wollte ihn
um die ganze Welt keinen Tag länger in Ihrem Laden lassen.“
L. W.
47. Der Bauer und sein Sohn.
Ein guter dummer Bauernknabe,
den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm,
und der trotz seinem Herrn mit einer guten Gabe,
recht dreist zu lügen, wiederkam,
ging kurz nach der vollbrachten Reise
mit seinem Vater über Land.
Fritz, der im Gehn recht Zeit zum Lügen fand,
log auf die unverschämtste Weise.
Zu seinem Unglück kam ein großer Hund gerannt.
„Ja, Vater,“ rief der unverschämte Knabe,
„Ihr mögt mir's glauben oder nicht,
n
so sag' ich's Euch und jedem ins Gesicht,
daß ich einst einen Hund bei Haag gesehen habe,
hart an dem Weg, wo man nach Frankreich fährt,
der — ja, ich bin nicht ehrenwert,
wenn er nicht größer war als Euer größtes Pferd.“
„Das,“ sprach der Vater, „nimmt mich wunder,
wiewohl ein jeder Ort läßt Wunderdinge sehn.
Wir zum Exempel gehn jetzunder
und werden keine Stunde gehn,
so wirst du eine Brücke sehn
(wir müssen selbst darüber gehn),
die hat dir manchen schon betrogen;
denn überhaupt soll's dort nicht gar zu richtig sein.
Auf dieser Brücke liegt ein Stein;
an den stößt man, wenn man denselben Tag gelogen,
und fällt und bricht sogleich ein Bein.“
Der Bub' erschrak, sobald er dies vernommen.
„Ach,“ sprach er, „lauft doch nicht so sehr!
Doch wieder auf den Hund zu kommen,
wie groß, sagt' ich, daß er gewesen wär'?
wie Euer größtes Pferd? Dazu will viel gehören.
Der Hund, jetzt fällt mir's ein, war erst ein halbes Jahr;
allein das wollt' ich wohl beschwören,
daß er so groß als mancher Ochse war.“
Sie gingen noch ein gutes Stücke;
doch Fritzchen schlug das Herz. Wie konnt' es anders sein?
denn niemand bricht doch gern ein Bein.
Er sah nunmehr die richterische Brücke
und fühlte schon den Beinbruch halb.
„Ja, Vater,“ fing er an, „der Hund, von dem ich red'te,
war nur so groß, und wenn ich ihn auch was vergrößert hätte,
so war er doch viel größer als ein Kalb.“
Die Brücke kommt. Fritz, Fritz, wie wird dir's gehen!
Der Vater geht voran; doch Fritz hält ihn geschwind.
„Ach, Vater,“ spricht er, „seid kein Kind
und glaubt, daß ich dergleichen Hund gesehen!
Denn kurz und gut, eh' wir darüber gehen:
der Hund war nur so groß, wie alle Hunde sind.“
Christian Fürchtegott Gellert.
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— —2 —
48. Vom Kranieh und Woll.
Da der Wolf einstmals ein Schat geiziglich frab, blieb ihm
ein Bein im Halse überzwerch stecken, davon er grobe Not und
Angst hatte, und erbot sich, groben Lohn und Geschenk zu geben,
wer ihm helfe. Da kam der Kranich und stieb seinen langen
Schnabel dem Wolfe in den Rachen und zog das Bein heraus. Da
er aber den verheibenen Lohn forderte, sprach der Wolt: „Willst
du noch Lohn haben? Danke Gott, daß ich dir den Hals nicht
abgebissen habe. Du solltest mir schenken, dab du lebendig aus
meinem Rachen gekommen bistl“ Martin Luther.
49. Vom Wolf und Lämmlein.
Ein Wolf und Lämmlein kamen beide an einen Bach zu trinken;
der Wolf trank oben am Bach, das Lämmlein aber fern unten. Da
der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm und sprach:
„Warum trübest du mir das Wasser, daß ich nicht trinken kann?“
Das Lämmlein antwortet: „Wie kann ich dir das Wasser trüben?
trinkst du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben.“ Der
Wolf sprach: „Wie? fluchst du mir noch dazu?“ Das Lämmlein ant—
wortet: „Ich fluche dir nicht.“ Der Wolf sprach: „Ja, dein Valer
tat mir vor sechs Monaten auch ein solches.“ Das Lämmlein ant—
wortet: „Bin ich doch dazumal nicht geboren gewesen, wie soll ich
für meines Vaters Schuld büßen?“ Der Wolf sprach: „So hast du
mir meine Wiesen und Acker abgenaget und verderbet.“ Das Lämm—
lein antwortet: „Wie ist das möglich? hab' ich doch keine Zähne!“
— „Ei,“ sprach der Wolf, „und wenn du gleich viel ausreden und
schwatzen kannst, will ich dennoch heut' nicht ungesättigt bleiben,“
und würget also das unschuldige Lämmlein und fraß es.
Der Welt Lauf ist: „Wer fromm sein will, der muß leiden,
sollte man eine Sache vom alten Zaun brechen, denn Gewalt geht vor
Recht. Wenn man dem Hunde zu will, so hat er das Leder gefressen;
wenn der Wolf will, so hat das Lamm unrecht.“ Martin Luther.
50. Die teure Zeche.
In der Zeit der französischen Revolution zogen viele Franzosen
bei uns ein. Sie waren froh, daß sie das Leben glücklich aus ihrem
unglücklichen Vaterlande herausgebracht hatten. In einem Dorfe in
meiner Nähe mußte einmal ein solcher Franzmann zurückbleiben, weil
seine zwei kranken Kinder in der Kälte nicht weiter konnten. Er
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mietete ein Stübchen und wollte Holz kaufen, aber niemand hatte
Holz übrig.
Zum Glück kommt ein Bauer, der in die Stadt will, mit einem
Führchen Holz durch das Dorf. „Was sik kost?“ fragt der Franzose.
„Das ist ein fremder Vogel,“ denkt der Bauer, „und sieht recht
erfroren aus, der soll's bezahlen.“ — „Drei Louisdor,“ spricht er,
„weil Ihr's seid.“
Der Franzose schüttelt den Kopf und handelt, aber vergeblich.
Der Bauer bleibt bei seiner Forderung, und will der Vater seine
Kinder nicht erfrieren lassen, muß er wohl das Sündengeld zahlen.
Froh über das Gelingen seiner Prellerei, geht der Bauer in die
Schenke, um zu frühstücken, und rühmt sich gegen den Wirt, wie hoch
er das Holz, das höchstens zwei Taler wert sei, verkauft habe, und
tut sich auf seinen Streich etwas zugute. Der Wirt aber meint, Fran—
zosen wären auch Menschen, und ein Schelmenstreich wäre immer ein
Schelmenstreich.
Darüber fährt der Bauer auf und behauptet: „Das Holz war
mein, ich konnte es so teuer verkaufen, wie ich wollte.“ Der Wirt
schweigt, und der Bauer trinkt den letzten Tropfen aus und fragt:
„Was bin ich schuldig für Käse, Brot und Schnaps?“ — „Drei
Louisdor,“ antwortete der Wirt.
Der Bauer glaubt, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen oder
einen Scherz zu hören, bis der Wirt ganz ernsthaft wiederholt: „Drei
Louisdor, ich nehm's auch in Silber. Brot, Käse und Schnaps waren
mein, und ich kann dafür verlangen, was ich will; und wollt Ihr
nicht zahlen, so zieh' ich Euren dicken Schimmel in meinen Stall und
lasse ihn nicht wieder in Euren Karren, bis Ihr bezahlt habt. Wollt
Ihr das nicht leiden, so verklagt mich beim Amtmann.“
Schnell eilt der Bauer ins Amt und klagt. Der Wirt, der ge—
fordert und erst scharf angelassen wird, erzählt die Prellerei des
Bauern, und wie er dadurch zu seiner Forderung veranlaßt worden
sei, um die Sache auf eine gute Art vor das Amt zu bringen.
„Bauer, Ihr zahlt dem Wirt die drei Louisdor!“ entscheidet der
gestrenge Herr Amtmann; und will der Bauer nicht noch ins Loch, so
muß er wirklich zahlen. „Nun, ich danke, Herr Amtmann,“ sagt der
Wirt, „haben Sie nun auch die Güte, von dem Gelde dem Bauern
zwei Taler zurückzugeben und das übrige dem armen Franzosen wieder
zuzustellen; für die Zehrung verlange ich nichts.“ So geschah es.
Weil man aber nicht alle Tage für drei Louisdor Käse ißt, so
ward von der Geschichte noch viel gesprochen. Und so kam sie denn
auch zu den Ohren des benachbarten Försters, der bald heraus—
5 —
brachte, daß der Bauer das Holz gestohlen hatte. Da hatte der
doppelte Schelm noch einige doppelte Louisdor nötig, um seinen
Frevel zu büßen. Veith.
51. Wörν;ον rαννο m riοrt.
L. Ein gut Gewissen ist ein sanftes Nunhekissen. 2. Jung
gewonhnt, alt getan. 3. Wer nicht hören will, muß fühlen. 4. Wahr-
heit besteht, Lüge oergeht. 5. Wer einmal lũgt, dem glaubt man
nicht, aueh wenn er die Wahrheit spricht. 6. Lügen haben kurae
Belne. 7. Ehrlich währt am längsten. 8. Treuen Dienst lohnt Gott.
9. Unrecht Gut gedeihet nicht. 10. Der Hehler ist so gut wie der
Stehler. 11. Der Krug geht so lange 2um Brunnen, bis er brichl.
Huũte dich vor drei falschen Sprichwörtern, sie lauten
I. Einmal ist keinmal.
2. Mit den Wölfen muß man heulen.
3. Not kennt kein Gebot.
Solche Sprichwörter sind Wegweiser aur Sünde und aum
Verderben.
52. Der gute Kamerad.
Ich hatt' einen Kameraden, er liegt mir vor den Füßen,
einen bessern findst du nit. als wär's ein Stück von mir.
Die Trommel schlug zum Streite, Will mir die Hand noch reichen,
er ging an meiner Seite derweil ich eben lad'.
in gleichem Schritt und Tritt. „Kann dir die Hand nicht geben,
Eine Kugel kam geflogen: bleib du im ew'gen Leben
gilt's mir oder gilt es dir? mein guter Kamerad!“
Ihn hat es weggerissen; 2udwig Uhland.
5z3. Freunde in der Not.
In einem früheren französischen Kriege, als nach der Schlacht
bei Nebel und Wetter alles durcheinander ging, fiel ein Franzose in
eine tiefe schlammige Grube, aus der er sich nicht mehr heraushelfen
konnte. Bald nachher plumpste auch ein Deutscher hinein und blieb
auch darin stecken. Der Franzose schrie „Kiwi!“ und der Deutsche:
„Wer da!“ und jeder merkte nun, wen er vor sich habe, und daß
sie sich als Feinde gemächlich den Säbel durch den Leib rennen konnten.
Sie bedachten sich aber eines andern und gaben sich in gebrochenem
5f
Deutsch und Französisch, so gut es gehen mochte, zu verstehen, es sei
besser, einer helfe dem andern, als daß sie sich beide umbrächten.
Also schrie bald der eine, bald der andere um Hülfe, jeder in seiner
Sprache. Endlich hörten Deutsche des Deutschen Ruf, und sie machten
sich sogleich daran, den Kameraden zu retten. Als der Deutsche ans
Licht gekommen war, sagte er ganz trocken: „Es steckt noch einer
drunten, ein guter Kamerad.“ Der wurde also auch heraufgezogen.
Als sie nun sahen, daß es ein Franzose war, wunderten sie sich über
die Worte des Deutschen. Dieser aber sagte: „Wir haben einander
versprochen, daß einer den anderen rette; er hätte es auch getan, wenn
mich die Spitzbuben, die Franzosen, bekommen hätten.“ Diesen Ver—
trag, welchen die Freunde geschlossen, achteten die Feinde, und er
wurde zwar als Gefangener von Kriegsrechts wegen sortgeführt, aber
wie ein Kamerad von den Kameraden gehalten.
Ludwig Aurbacher.
54. Peter Peine.
Eingeengt durch starke, hohe Ufermauern fließt mitten durch
die alte Hansestadt Bremen die Weser. Und auf der Seite, wo die
Altstadt liegt, zieht sich dicht hinter der Flußmauer eine breite Straße
entlang, die seit undenklichen Zeiten „die Schlachte“ heißt.
Eines Tages — ich weiß es noch wie heute — war die Schlachte
wie ausgestorben. Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Ein
dicker Nebel lag über dem Wasser, und die Weser war voll Treibeis.
Unzählige große und kleine Schollen schoben — sich drehend — träge
aneinander vorbei. Wir Jungen spielten am Kai und freuten uns
des Treibens und versuchten mit langen Stöcken die kleineren Schollen
zu zerschlagen und wagten auch wohl hin und wieder einen Sprung
aufs Eis.
Und bei uns stand Peter Peine, mein Freund. Er ist letzte
Ostern konfirmiert und will Schiffer werden. Aber er hat lange Zeit
an einer schweren Rippenfellentzündung im Krankenhause gelegen.
Nun ist er wieder so weit, daß er im Frühjahr seine erste Reise an—
treten kann. Mit einem Indienfahrer will er hinaus auf die See.
Manche schöne Geschichte hat er uns Jungen schon erzählt von den
Wundern ferner Länder und von den Herrlichkeiten des Schifferlebens.
Der steht bei uns und ruft warnend: „Laßt das! Laßt das! Sonst
geht's nicht gut aus!“
Das sollte nicht gut ausgehen? Ja, warum denn nicht? Wir
lachten ihn aus und nannten ihn „Bangbox“. Und Jan Beyer, der
Mutigste von uns dreien, schalt ihn und sagte: „Was willst du wohl
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— 57 —
auf See anfangen, wenn der Sturm weht und das Schiff auf und
nieder tanzt, wenn du hier schon bange wirst!“ — „Was weißt du
von der See, du Landratte“, antwortete Peter ihm, „auf See weiß
ich besser Bescheid als du.“
„Komm her, wenn du ein Kerl bist und kein Feigling!“ schrie
ihm Jan Beyer zu. „Sieh mal, was da für eine Scholle herange—
schwommen kommt! Eine Riesenscholle, halb so groß wie Amerika.
Jetzt will ich Kolumbus sein und Amerika entdecken! — Sie kommt!
Achtung! Wer will mit mir?“ —
Er sah mich herausfordernd an. Ohne Besinnen rief ich: „Ich
gehe mit!“ Denn ich wollte mich doch nicht auch Feigling schelten
lassen. Eine Spitze der Riesenscholle kam dem Ufer ganz nahe. Jan
sprang hinauf und ich ihm nach. Und dann standen wir beide lachend
und hurrarufend mitten auf der glatten Eisfläche.
„Kommt zurück! Kommt zurück!“ rief Peter Peine und winkte
uns mit den Armen. „Komm hierher, wenn du ein Herz hast!“ war
Jans Antwort. — Ich sah, wie Peter vor Zorn die Hand ballte und
böse zu uns herübersah. Er kam nicht, trotzig blieb er stehen und
— plötzlich drehte er sich kurz um und ging schnell fort.
Wir jubelten ihm nach, und manches Hohn- und Schimpfwort
flog ihm nach.
Währenddessen war die Scholle langsam am Ufer entlang ge—
rutscht. Wir standen dicht beieinander und freuten uns unserer Kühn—
heit. Ich sah hinaus auf den Strom und sah Tausende von großen
und kleinen Eisstücken dahinschwimmen dem fernen Meere zu. — — —
Inzwischen hatte sich die Scholle gedreht, die Spitze war weit
vom Ufer abgebogen, und von diesem trennte uns ein breiter Wasser—
streifen. „Na nu? Was ist denn das?“ Erschrocken starrte ich Jan
Beyer an. „Ach, sei nur ruhig, die stößt gleich wieder an das Ufer“,
sagte er. Mit gespannten Augen beobachteten wir alle kleinen Be—
wegungen und Drehungen unserer Scholle, der abgerundete Teil war
der Landseite zugedreht, und die Spitze ragte in die Stromesmitte
hinein. Da stieß sie an eine andere Scholle an, ein großes Stück
brach von ihr ab. Schreckensbleich hatte ich Jans Arm gefaßt.
Deutlich spürten wir in unseren Körpern das Beben beim Zusammen—
stoß.
Um Gottes willen! Was nun? Drei bis vier Schollenbreiten
waren wir schon vom Ufer abgekommen. Immer weiter trieb das
Eisstück vom Strome erfaßt nach der Wassermitte hin. Da packte
uns beide eine entsetzliche Angst. „Peter, Peter!“ schrie ich, „Hülfe,
Hülfe!“ — Aber nichts Lebendiges war zu erblicken. Die Schlachte
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war wie ausgestorben. Es war ja auch längst Feierabend. Und an
diesem kalten, nebligen Dezemberabend mochten so wie so nur wenig
Menschen unterwegs sein. Und Peter? — Wie sollte Peter uns
helfen können! Der war wohl schon lange zu Hause, und selbst wenn
er unser Rufen gehört hätte, der „Feigling“ würde uns doch nicht
helfen wollen. Er hatte ja nicht einmal den Mut gehabt, aufs Eis
zu springen, als es dicht am Ufer dahintrieb. Wie sollte er uns helfen,
nun die Scholle in der Mitte des Stromes schwamm!
Nichts regte sich am Ufer. Niemand hörte uns. Und die Scholle
trieb weiter und weiter. Kleine Wellen plätscherten gegen ihren Rand,
das Ganze schaukelte ganz leise, ganz wenig. Und rings um uns nur
Eisstücke und schwarze Wassertiefe — rings um uns der Tod.
Ein Grauen lief über meinen Rücken. Wir mochten uns beide
nicht mehr bewegen. Konnte nicht durch einen Tritt der Boden
unter unsern Füßen zerbrechen, und konnten wir nicht hinabgerissen
werden in die grausige Tiefe?
Eine andere Scholle stieß an die unsrige. Beide scheuerten an⸗
einander entlang und von jeder bröckelten Stücke ab. Das Schurren
der zusammenstoßenden Schollen und das Gurgeln des Wassers waren
die einzigen Laute, die ich hörte.
Wie lange mochte diese Reise noch dauern! Würden wir über—
haupt noch einmal dem Ufer nahe kommen? — Und welchem? —
Und wann? — Bald mußte die Nacht kommen, und wir trieben weit
ab von der Stadt. Vielleicht landeten wir irgendwo da hinten an
einem Werder und mußten dann im Freien übernachten und konnten
nicht nach Hause.
Und war das nicht noch das Günstigste, was geschehen konnte?
Wenn jedoch die Scholle scheiterte, dann mußten wir versinken in
der schwarzen Tiefe.
Das Herz klopfte mir zum Zerspringen, und mit entsetzten Augen
starrte ich nach dem Ufer hinüber, dessen dunkles Schattenbild noch
eben durch den Nebel zu erkennen war.
Vater und Mutter saßen jetzt daheim in der warmen Stube,
der Vater mit der Zeitung, und die Mutter am Ofen mit dem Näh⸗
zeug. Ach, sie ahnten ja nicht, welch ein furchtbares Unglück über
ihnen schwebte. Ob sie sich schon sorgten um mein langes Ausbleiben?
O, hätte ich es doch nicht getan! Hätte ich doch auf Peter Peine
gehört! Das war der Gedanke, der mir immer wiederkehrte. Und
Jan Beyer mochte dasselbe denken. Er sah unverwandt auf den Rand
des Eises und war kreideweiß im Gesicht.
Da — was war das! — — Vor uns aus dem Nebel tauchte
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F
ein schwarzer Fleck auf. War es ein Brückenpfeiler? Dann waren
wir verloren. Die Scholle mußte dann zerschellen. — Da — ein
Ton! — Was war es? — Rief jemand?
Näher und näher kamen wir dem schwarzen Fleck. Nein, das
konnte kein Brückenpfeiler sein. Es war ein Boot und ein Mann
saß darin, der vorsichtig zwischen den Eisschollen den Weg suchte —
gerade auf uns zu. Atemlos sahen wir sein Beginnen.
Da stieß das Boot an unsere Scholle. Der Mann im Boote
bückte sich und warf seine Ankerkette uns zu. Dicht vor meinen Füßen
fiel sie nieder. „Faßt an!“ rief er. Wir bückten uns und hielten
krampfhaft den Anker fest. „Legt euch nieder!“ kommandierte er.
Gehorsam warfen wir uns aufs Eis. Ich kroch auf allen vieren,
immer die Kette festhaltend, bis an den Schollenrand und klammerte
mich an das Boot. Während der Schiffer sich weit über den ent—
gegengesetzten Bootrand beugte, um das Gegengewicht zu halten,
kletterte ich hinein. Und dann kam Jan Beyer herangerutscht, und
dann waren wir beide im Schiffe und — — „Dammi! das
war ein schweres Stück Arbeit gegen die Schollen an!“ sagte unser
Retter. Wir starrten ihm ins Gesicht — es war Peter. Peter Peine
hatte uns gerettet. — Kein Wort haben wir gesprochen. Lautlos
und verlegen haben wir im Schiff gesessen, und Peter hat uns aus
dem Schollengewirr ans Ufer gerudert, und dann sind wir ausgestiegen
und Peter hat das Boot festgekettet und ist in unserer Mitte mit uns
gegangen.
Da hab' ich mich nicht mehr zu halten vermocht. „Peter, Peter“,
hab' ich gerufen, „du bist kein Feigling! Du bist der Tapferste von
uͤns dreien.“ Da sah er mich verwundert an und fragte: „Wie
meinst du das? — Ich konnte euch doch nicht ertrinken lassen!“
Und Jan Beyer hat nichts gesagt, aber die Tränen sind ihm über
die Backen gelaufen, und Peter Peines Hand hat er nicht wieder los—
gelassen auf diesem Wege. —
Seit der Zeit weiß ich, was Tapferkeit ist und Mut und Treue.
Peter Peine! Oftmals hab' ich ihn später noch wiedergesehen,
als er Matrose auf einem holländischen Küstenfahrer war. Manchen
schönen Brief bewahre ich von ihm in meinem Briefkasten auf, bis
der letzte Brief kam, den er mir geschrieben, ein paar Tage vor
seinem Ende. Als Lotse hat er in einem furchtbaren Unwerter sein
Leben gelassen — für andere.
Wo ich aber von einem Wunder der Tapferkeit höre zu Lande
oder zu Wasser, da denke ich dein, lieber Peter Peine.
H. Scharrelmann.
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55. Der kleine Friedensbote.
Ein Gerber und ein Bäcker waren Nachbarn, und die gelbe und
weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber ein Kind
geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe, und wenn der Bäcker
in seinem großen Obstgarten an die Stelle eines ausgedienten Invali—
den einen Rekruten bedurfte, ging der Gerber in seine schöne Baum—
schule und hob den schönsten Mann aus, den er darin hatte. Zu Ostern,
Martini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, welche keine Kinder
hatte, einen großen Korb unter dem Arme, immer zu den Nachbars—
leuten hinüber und teilte unter die kleinen Paten aus. Je mehr sich
die Kindlein über die reichen Spenden freuten, desto näher rückten
einander die Herzen der beiden Weiber, und es schien, als ob sie
einander immer gut bleiben würden.
Aber ihre Männer hatten jeglicher einen Hund, der Gerber als
Jagdliebhaber einen großen, braunen Feldmann, und der Bäcker
einen kleinen, schneeweißen Mordax. Beide meinten die besten und
schönsten Tiere in ihrem Geschlechte zu haben. Und da geschah es denn
eines Tages, daß Mordax ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann
behauptete. Denn er hatte wahrscheinlich vergessen, daß es nicht
gut sei, einem großen Herrn etwas abzuschlagen. Vom Knurren
kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner grünen Bank
vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein mit zermalmtem
Genick vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten Knochen
und mit eingezogenem Schweif davon. Sehr ergrimmt und ent—
rüstet warf der Bäcker dem Hunde einen gewaltigen Stein nach.
Aber was half's? Der Stein flog nicht dem Hunde an den Kopf,
sondern dessen Besitzer durch das Fenster, mitten auf den Tisch, an
dem er gerade die Zeitung las. Ohne zu fragen, woher der Schuß
gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten Fensterflügel auf
und fing an zu schimpfen. Der Nachbar in der weißen Schürze und mit
den aufgestülpten Hemdärmeln blieb nichts schuldig; Kinder und
Leute liefen zusammen. Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst, aber
nur, um seinen Nachbar bei Gericht zu belangen. Die Sonne ging
über dem Zorn der beiden Männer unter, und den Tag darauf wurden
sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den tot—
gebissenen Mordax mit einem Reichstaler zu büßen. Der Bäcker
mußte für den zertrümmerten Fensterflügel und das Loch in der
Zeitung nicht viel weniger bezahlen und sich mit seinem Widerpart
in die angelaufenen Sporteln teilen.
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft
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befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freundliches
Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die Nach—
barin ihren Weg rechts, und ebenso mieden die Männer einander.
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten, setzten
sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, um
ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade heraus⸗
zog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, der
neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich:
„Mutter, einen Groschen! Ich hole das Brot.“ Dann wandte er sich
in seiner kindlichen Eilfertigkeit an den Vater und sagte: „Heute
aber lauf' ich nicht lange umher, und wenn es beim Torbäcker kein
Brot gibt, so geh' ich einmal wieder zu dem Herrn Paten hinüber.“
Der Gerber, der vielleicht die anklopfende Gnadenhand des Herrn
spürte, sagte nicht ja und nicht nein darauf und ließ den Knaben
ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon alle ihre
Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Tor herein, laut singend,
wie es manchmal lebhafte Kinder mit ihren Gedanken zu tun pflegen,
daß es die ganze Gasse hören konnte: „Heut' geh' ich zum Herrn
Paten! heut' geh' ich zum Herrn Paten!“ Ungehalten über den
argen Schreihals wollte sein Vater ihm wehren. Aber ehe er noch das
verquollene Fenster aufbringen konnte, war der kleine Sänger schon
zum Hause hinein und — kehrte nach einigen Augenblicken als
Friedensbote wieder zurück. Er hatte einen geschenkten Kringel in
der Hand und rief, über die Schwelle in die Stube hineinstolpernd:
„Der Herr Pate läßt Vater und Mutter recht schön grüßen, und
ich sollte doch bald wiederkommen.“
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute
einige freundliche Worte über die Gasse; am folgenden saßen die
weiße und die gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen;
am dritten zeigten die Weiber einander die Leinwand, zu der sie in
den drei bösen Jahren oft mit ihren Tränen über den unseligen Zwist
den Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt
hatte. Denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet
schnell in ein Nervenfieber und aus diesem nach wenigen lichten
Augenblicken in den Todesschlummer. — Gott gebe ihm eine fröh—
liche Auferstehung! Karl Stöber.
Vergleichen und vertragen
ist besser als zanken und klagen.
56. Ein freundliches Wort.
„Bitte, bitte, kaufen Sie eine Schachtel, lieber Herr!“ Das sagte
ein kleines Mädchen, welches an einem Sommernachmittage vor einem
der Bahnhöfe der Hauptstadt stand und Streichhölzer zum Verkauf
ausbot. Die meisten, die vorbeieilten, sahen das Mädchen nicht oder
gaben doch nicht acht auf dasselbe. Endlich stand ein Herr doch still,
als er die flehende Bitte hörte. „Aber ich brauche keine Streichhölzer,“
sagte er und wollte weitergehen. Da sah er den traurigen Blick des
armen Kindes und dachte an das Butterbrot, welches seine eigene
Tochter ihm zum Frühstück mitgegeben, und das er nicht gegessen
hatte, weil er es heute so eilig gehabt hatte. Er zog es aus der
Tasche, gab es dem Kinde und sprach: „Hier, mein liebes Kind,
hier hast du ein Bütterbrot.“ Die Kleine nahm das Brot, ohne zu
danken. Darüber wunderte sich der Herr. Schon hatte er sich zum
Gehen gewandt, da blickte er noch einmal zu dem armen Kinde zurück.
Er sah es mit dem Butterbrot in der Hand und die Augen voll
Tränen und hörte, wie es ganz glücklich still vor sich hinsagte: „Er
hat mich liebes Kind genannt.“ Nun wußte der Herr, warum es
das Danken vergessen hatte. NRodemeyer.
57. Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter
den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde
war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen
konnte. Nun standen auf dem Wege vor ihm zwei Häuser einander
gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich an—
zusehen, und es gehörte das große einem reichen, das kleine einem
armen Manne. Da dachte unser Herrgott: „Dem Reichen werde
ich nicht beschwerlich fallen; bei ihm will ich übernachten.“ Der
Reiche, als er an seine Tür klopfen hörte, machte das Fenster auf und
fragte den Fremdling, was er suche. Der Herr antwortete: „Ich
bitte um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann vom
Haupte bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider
trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat,
schüttelte er mit dem Kopf und sprach: „Ich kann Euch nicht auf—
nehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte
ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür klopft, so könnte ich
selbst den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht Euch anderswo ein
Unterkommen!“ — schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben
Gott stehen. Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken und ging
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l
hinüber zu dem kleinen Hause. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte
der Arme schon sein Türchen auf und bat den Wandersmann einzu⸗
treten. „Bleibt die Nacht über bei mir,“ sagte er, „es ist schon finster,
und heute könnt Ihr doch nicht weiter kommen.“ Das gefiel dem
lieben Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm
die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich's bequem
machen und vorlieb nehmen; sie hätten nicht viel, aber was es wäre,
gäben sie von Herzen gern. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer,
und dieweil sie kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein wenig
Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe
Gott nieder und aß mit ihnen, und es schmeckte ihm die schlechte
Kost gut, denn es waren vergnügte Gesichter dabei. Nachdem sie ge—
gessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren
Mann und sprach: „Höre, lieber Mann, wir wollen uns heute nacht
eine Streu machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen
und ausruhen kann; er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird
einer müde.“ „Von Herzen gern,“ antwortete er, „ich will's ihm
anbieten,“ ging zu dem lieben Gott und bat ihn, wenn's ihm recht
wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich
ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten ihr Lager nicht
nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich tat und sich in ihr
Bett legte; sich selbst aber machten sie eine Streu auf die Erde. Am
andern Morgen standen sie vor Tag schon auf und kochten dem Gast
ein Frühstück, so gut sie es hatten. Als nun die Sonne durchs Fenster—
lein schien und der liebe Gott aufgestanden war, aß er wieder mit
ihnen und wollte dann seines Weges ziehen. Als er in der Tür stand,
kehrte er sich um und sprach: „Weil ihr so mitleidig und fromm seid,
so wünscht euch dreierlei, das will ich euch erfüllen.“ Da sagte der
Arme: „Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit,
und daß wir zwei, solange wir leben, gesund dabei bleiben und unser
notdürftiges tägliches Brot haben; fürs dritte weiß ich mir nichts zu
wünschen.“ Der liebe Gott sprach: „Willst du dir nicht ein neues
Haus für das alte wünschen?“ „O ja,“ sagte der Mann, „wenn ich das
auch noch erhalten kann, so wär' mir's wohl lieb.“ Da erfüllte der
Herr ihre Wünsche, verwandelte ihr altes Haus in ein neues, gab
ihnen nochmals seinen Segen und zog weiter.
Es war schon voller Tag, als der Reiche aufstand. Er legte sich
ins Fenster und sah gegenüber ein neues, reinliches Haus mit roten
Ziegeln, wo sonst eine alte Hütte gestanden hatte. Da machte er große
Augen, rief seine Frau herbei und sprach: „Sag mir, was ist ge—
schehen? Gestern abend stand noch die alte, elende Hütte, und heute
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steht da ein schönes, neues Haus. Lauf hinüber und höre, wie das
gekommen ist!“ Die Frau ging und fragte den Armen aus; er er⸗
zählte ihr: „Gestern abend kam ein Wanderer, der suchte Nacht—
herberge, und heute morgen beim Abschied hat er uns drei Wünsche
gewährt, die ewige Seligkeit, Gesundheit in diesem Leben und das nol—
dürftige tägliche Brot dazu — und zuletzt noch statt unserer alten
Hütte ein schönes, neues Haus.“ Die Frau des Reichen lief
eilig zurück und erzählte ihrem Manne, wie alles gekommen war. Der
Mann sprach: „Ich möchte mich zerreißen und zerschlagen, hätte ich
das nur gewußt! Der Fremde ist zuvor hier gewesen und hat bei
uns übernachten wollen, ich habe ihn aber abgewiesen.“ „Eil dich,“
sprach die Frau, „und setze dich auf dein Pferd, so kannst du den Mann
noch einholen, und dann mußt du dir auch drei Wünsche gewähren
lassen.“
Der Reiche befolgte den guten Rat, jagte mit seinem Pferde da⸗
von und holte den lieben Gott noch ein. Er redete fein und lieblich
und bat, er möcht's nicht übelnehmen, daß er nicht gleich wäre ein—
gelassen worden, er hätte den Schlüssel zur Haustür gesucht, derweil
wär' er weggegangen; wenn er des Weges zurückkäme, müßt' er
bei ihm einkehren. „Ja,“ sprach der liebe Gott, „wenn ich einmal
zurückkomme, will ich es tun.“ Da fragte der Reiche, ob er nicht
auch drei Wünsche tun dürfte wie sein Nachbar. — Ja, sagte der liebe
Gott, das dürfte er wohl, es wäre aber nicht gut für ihn, und er
solle sich lieber nichts wünschen. Der Reiche meinte, er wolle sich
schon etwas aussuchen, das zu seinem Glücke gereiche, wenn er nur
wüßte, daß es erfüllt würde. Sprach der liebe Gott: „Reit heim,
und die drei Wünsche, die du tust, die sollen in Erfüllung gehen.“
Nun hatte der Reiche, was er verlangte, ritt heimwärts und fing
an nachzusinnen, was er sich wünschen sollte. Wie er sich so bedachte
und die Zügel fallen ließ, fing das Pferd an zu springen, so daß er
immerfort in seinen Gedanken gestört wurde und sie gar nicht zu—
sammenbringen konnte. Er klopfte ihm an den Hals und sagte: „Sei
ruhig, Liese!“ aber das Pferd machte aufs neue Männchen. Da ward
er zuletzt ärgerlich und rief ganz ungeduldig: „So wollt' ich, daß
du den Hals zerbrächst!“ Wie er das Wort ausgesprochen hatte,
plump! fiel er auf die Erde, und lag das Pferd tot und regte sich
nicht mehr; damit war der erste Wunsch erfüllt. Weil er aber von
Natur geizig war, wollte er das Sattelzeug nicht im Stiche lassen,
schnitt's ab, hing's auf seinen Rücken und mußte nun zu Fuß gehen.
„Du hast noch zwei Wünsche übrig,“ dachte er und tröstete sich damit.
Wie er nun langsam durch den Sand dahinging und zu Mittag die
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9*
—
Sonne heiß brannte, ward's ihm so warm und verdrießlich zumut';
der Satiel drückte ihn auf den Rücken, auch war ihm noch immer nicht
eingefallen, was er sich wünschen sollte. „Wenn ich mir auch alle
Reiche und Schätze der Welt wünsche,“ sprach er zu sich selbst, „so
fällt mir hernach noch allerlei ein, dieses und jenes, das weiß ich im
voraus; ich will's aber so einrichten, daß mir gar nichts mehr zu
wünschen übrigbleibt.“ Dann seufzte er und sprach: „Ja, wenn ich
der bayrische Bauer wäre, der auch drei Wünsche frei hatte; der wußte
sich zu helfen, der wünschte sich zuerst recht viel Bier und zweitens
so viel Bier, als er trinken könnte, und drittens noch ein Faß Bier
dazu.“ Manchmal meinte er, jetzt hätte er es gefunden, aber hernach
schien's ihm doch zu wenig. Da kam ihm so in die Gedanken, was
es seine Frau jetzt gut hätte, die säße daheim in einer kühlen Stube
und ließe sich's wohl schmecken. Das ärgerte ihn ordentlich, und
ohne daß er's wußte, sprach er so hin: „Ich wollte, sie säße daheim auf
dem Sattel und könnte nicht herunter, statt daß ich ihn da auf meinem
Rücken schleppe.“ Und wie das letzte Wort aus seinem Munde kam,
so war der Sattel von seinem Rücken verschwunden, und er merkte, daß
sein zweiter Wunsch auch in Erfüllung gegangen war. Da ward ihm
erst recht heiß, er fing an zu laufen und wollte sich daheim ganz einsam
in seine Kammer hinsetzen und auf etwas Großes für den letzten Wunsch
sinnen. Wie er aber ankommt und die Stubentür aufmacht, sitzt da
seine Frau mittendrin auf dem Sattel und kann nicht herunter,
jammert und schreit. Da sprach er: „Gib dich zufrieden, ich will dir
alle Reichtümer der Welt herbeiwünschen, nur bleib da sitzen!“ Sie
schalt ihn aber einen Schafskopf und sprach: „Was helfen mir alle
Reichtümer der Welt, wenn ich auf dem Sattel sitze; du hast mich
daraufgewünscht, du mußt mir auch wieder herunterhelfen.“ Er
mochte wollen oder nicht, er mußte den dritten Wunsch tun, daß sie
vom Sattel ledig wäre und heruntersteigen könnte, und der Wunsch
ward alsbald erfüllt. Also hatte er nichts davon als Ärger, Mühe,
Scheltworte und ein verlorenes Pferd; die Armen aber lebten vergnügt,
still und fromm bis an ihr seliges Ende. Brüder Grimm.
58. Geiz ist die Wurzel allos Ubels.
Die Jahre 1779, 1780 und 1781 waren Wasser- und Hunger—
jahre. Damals lebte in den Odergegenden ein Mann, dessen Peld
war Höhenland und hatte gut getragen. Und sein Feld war grob,
s0 dab er eine gewaltige Masse Roggen in der Scheuer und endlich
aut dem Boden hatte. Hoch waren die Preise schon im Herbste:
Mit dem Winter und Frühjahre stiegen sie immer höher. Mancher
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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Handelsmann klopfte an die Tür des Reichen, mancher Hand—
werker bettelte, er möchte ihm doch für gutes Geld ein Scheffelchen
ablassen; aber alle wurden abgewiesen mit der Antwort: „leh
habe mir einen Satz gemacht: der Boden wird nicht eher geöffnet,
als bis der Scheffel Roggen vier Taler kostet. Dabei bleibe ichl“
IUnd zum Zeichen hatte er an die Bodentür eine grobe schwarze
Vier mit Kohle gemalt. Der Winter verging, der Mai kam heran;
dĩe Preise waren noch gestiegen, denn die gewaltigen Fluten hatten.
grohen Schaden getan. Am 7. Mai kam ein armer Leinweber, ein
ehrlicher Meister aus dem Orte. Sein Gesicht sah vor Hunger und
Grũmen selber aus wie graue Leinwand. Er zuhlte ihim, damit der
reiche Mann Geld sähe, 3 Tlr. 22 Gr. auf den Tisch. Die 22 Gr.
bestanden aus Dreiern, Vierlingen, Groschen und Sechsern; denn
der Mann hatte alles zusammengesucht. Aber der Bauer sprach;
„Euer Aufzählen hilft Euch nichts; 4 Taler, das ist mein Satz.
Eher tue ich meinen Boden nicht auf. Und dann mub es ordent—
lich Kurant sein.“ Des Bauern Söhnchen, ein Bürschehen von
zehn Jahren, zupfte den Alten am Rocke: „Vater, gebt's ihm
dochl“ Aber sein Vater prägte ihm mit einem Rippenstobo
bessere Grundsätze ins Herz. Der Weber mubte sein Geld zu—
sammenstreichen und heimwandern. Den 8. Mai in der Abend—
dämmerung kam die Zeitung an. Einen Blick hinein, und der Bauer
fand, was er finden wolltö: „Roggen 4 Taler.“ Da zitterten ihm
die Glieder vor Freude. Er nahm ein Licht, ging auf den Boden
und wollte übersehen, wieviel er wohl verkaufen könnte, und
überschlagen, wie grob seine Einnahme wäre. Indem er durch
die Haufen und gefüllten Säcke hinschreitet, strauchelt er und
fällt. Das Licht fliegt ihm aus der Hand und in einen Haufen
Stroh, der daneben liegt. Ehe er sich aufraffen kann, steht das
Stroh in hellen Flammen. Ehe an Hülfe zu denken ist, hat das
heuer Dachstuhl und Dielen ergriffen. Um NMitternacht an dem-—
selben Tage, wo der Scheffel Roggen 4 Taler galt, wo er auf seinen
Satæz gekommen war, wo er seinen Boden geöffnet hatte, stand
er am Schutthaufen seines ganzen Gutes als ein armer Mann.
Er. Ahlfeldt.
59. Geben ist seliger als Nehmen.
Ein junger Engländer von achtzehn bis zwanzig Jahren, der in
Lausanne studierte, ging eines Abends mit dem Professor Durand, den
man nur den Studentenfreund nannte, in der Umgegend spazieren.
Während sie nun so nebeneinander gingen, sahen sie neben dem Wege
ein Paar kotige Schuhe liegen, die, wie sie vermuteten, einem armen
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auf dem nahen Acker arbeitenden Manne gehören mußten. Der
Jüngling wandte sich zum Professor mit den Worten: „Wir wollen
dem Manne einen Streich spielen, ihm seine Schuhe verbergen und
uns dann hinter das nahe Gebüsch verstecken, um ihn zu belauschen
und seine Verlegenheit zu sehen, wenn er seine Schuhe nicht mehr finden
wird.“ — „Mein lieber Freund,“ entgegnete der Professor, „man
muß nie auf Unkosten der Armen sich lustig machen. Sie sind reich und
daher imstande, sich und dem armen Manne zugleich ein viel schöneres
Vergnügen zu bereiten. Legen Sie in jeden Schuh einen Taler, und
dann wollen wir uns verbergen.“ Der Student gehorchte, und jetzt
stellte er sich mit dem Professor hinter das Gebüsch, durch welches
hindurch sie jedoch den Bauern bequem beobachten konnten. Bald
hatte der arme Mann seine Arbeit vollendet und ging den Acker entlang
dem Wege zu, an welchem er sein Wams und seine Schuhe niedergelegt
hatte. Während er das erstere anzog, schlüpfte er auch mit dem einen
Fuß in einen seiner Schuhe; er fühlte etwas Hartes, bückte sich und
fand den Taler. Erstaunen und Verwunderung malte sich auf seinem
Gesichte; er besah den Taler, kehrte ihn um und besah ihn noch einmal
und abermal; jetzt wandte er seinen Blick nach allen Seiten hin, sah
aber niemand. Nun steckte er das Geld in die Tasche und wollte den
andern Schuh auch auziehen; aber wie groß war seine Überraschung,
da er nun den andern Taler fand! Das Gefühl überwältigte ihn;
er fiel auf die Kniee, blickte gen Himmel und rief aus: „O Herr, mein
Gott, so ist es doch wahr, daß du diejenigen nicht verlässest, die auf
dich trauen! Du wußtest, daß meine Kinder kein Brot haben, daß
mein Weib krank daniederliegt, und daß ich rat- und hülflos war. Du
hast mir, du lieber himmlischer Vater, durch irgend ein zum Wohltun
geneigtes Herz dieses Geld zugesandt, damit mir geholfen würde!
Ach, daß meine Seele deine Güte erkennete, und daß ich dir meine
Dankbarkeit bis in den Tod bezeigen könnte! Das Werkzeug deiner
barmherzigen Hülfe aber segne reichlich, du Vergelter alles Guten,
mit deinem besten Segen!“
Der Jüngling stand da in tiefer Rührung, und Tränen benetzten
seine Augen. „Nun,“ sagte Durand, „sind Sie jetzt nicht vergnügter,
als Sie es gewesen wären, wenn Sie Ihren Streich ausgeführt
hätten?“ — „Ach, mein teurer, lieber Herr Professor!“ erwiderte
der Jüngling, „Sie haben mir eine Lehre gegeben, die ich nimmermehr
vergessen will; ich fühle jetzt die Wahrheit des schönen, bisher aber
nie verstandenen Wortes: Geben ist seliger denn Nehmen. Nie sollten
wir uns dem Armen nahen als mit dem Wunsche, ihm Gutes zu tun.“
Johann Peter Hebel.
—
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bß. Auch ein dankbarer Samariter.
Es war in der Ziehzeit. Vor einem vielstöckigen Hause in der
Rosenthalerstraße zu Berlin lag und stand der ärmliche Hausrat einer
Arbeilerfamilie. Krankheit und Arbeitslosigkeit hatten den Besitzer des
kleinen Hausrats unfähig gemacht, die Miete zu verdienen; und der
Wirt war nicht dazu zu bewegen gewesen, die Familie noch länger im
Hause zu behalten. Verzweifelnd sah die Frau nach Hülfe aus, aber
nirgends fand sich diese. Jeder Vorübergehende hatte mit sich zu tun;
der bleichen Frau achtete keiner. Da endlich trat ein älterer Herr heran
und fragte sie nach dem Namen ihres Mannes, nach dem des Haus⸗
wirtes und nach der Ursache ihrer Zahlungsunfähigkeit. Schlicht und
offen erzählte die Frau von dem Unglücke, das sie betroffen. Während
dieses Gespräches kam auch der Ehemann von seiner Entdeckungsreise
nach einer neuen Wohnung zurück. Ein Blick des Fremden genügte,
um denselben zu überzeugen, daß hier wirklich Gram und Sorge an
dem Körper des Mannes nagten. „Haben Sie ein Unterkommen ge⸗
funden?“ „Ja, Herr,“ antwortete dieser und nannte ihm die ge—
fundene Wohnung. Der Herr schrieb sich die Straße und Hausnummer
auf und ging mit freundlichem Gruße fort. Kurz darauf erschienen
zwei Dienstleute, welche die wenige Habe aufluden und sie nach dem
neuen Bestimmungsorte schafften. Als das Ehepaar mit den zwei
Kindern dort ankam, trat ihnen der neue Wirt entgegen und sagte,
ein fremder Herr sei dagewesen und habe für ein halbes Jahr die
Miete vorausbezahlt, er wolle auch noch mehr senden. Kurz darauf
erschien ein Markthelfer mit einem Korbe Lebensmittel aller Art, ein
Kohlenfuhrmann brachte eine tüchtige Ladung Holz und Kohlen, und
ein benachbarter Gemüsehändler ließ der freudig überraschten Familie
sagen, daß ein Fremder bei ihm gewesen und zehn Mark für Kartoffeln,
Gemüse usw. hinterlegt habe. Ein Zettel, den der Markthelfer
abgab, enthielt nur die wenigen Worte: „Gott hat mir mein einziges
Kind von der Diphtheritis errettet; beten Sie zu ihm, daß er ihm
ferner Gesundheit schenke!“ App. Sonntagsblatt.
61. Der Löwe und die Maus.
Ein Löwe schlief in seiner Höhle, und um ihn her spielte eine
Schar lustiger Mäuse. Eine derselben kroch auf einen hervorstehenden
Felsen, fiel herab und weckte den Löwen, der sie mit seiner gewaltigen
Tatze festhielt. „Ach,“ bat sie, „sei doch großmütig gegen mich armes
Geschöpf! Ich habe dich nicht beleidigen wollen, ich habe einen Fehl—
tritt getan und bin von dem Felsen herabgefallen. Was kann dir mein
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— —
Tod nützen? Schenke mir das Leben, und ich will dir zeitlebens dank⸗
bar sein!“ „Geh hin!“ sagte der Löwe großmütig und ließ das
Mäuschen springen. Bei sich aber lachte er und sprach: „Dankbar
sein! Nun, das möchte ich doch sehen, wie ein Mäuschen sich einem
Löwen dankbar bezeigen könnte!“
Nurze Zeit darauf lief das nämliche Mäuschen durch den Wald
und suchte sich Nüsse; da hörte es das klägliche Gebrüll eines Löwen.
Es lief der Slelle zu, von wo das Gebrüll herübertönte. Es fand den
Löwen von einem starken Netze umschlungen, das der Jäger künstlich
ausgespannt hatte, um damit große Waldtiere zu fangen. Die Stricke
hatten sich so fest zusammengezogen, daß der Löwe sie weder mit seinen
Zähnen noch mit seinen Tatzen zerreißen konnte. Es lief hinzu,
zernagte die Stricke, welche die Vordertatzen des Löwen gefesselt
hielten, und als diese frei waren, zerriß er das Netz und war frei.
Nach Asop.
62. Das brave Mütterehen.
Es war im Winter, und das Eis stand. Da beschlossen cdlie
Husumer, ein grobhes PFest zu feiern; sie schlugen Zelte auf, und
alt und jung, die ganze Stadt, versammölte sich draußen. Die
einen liefen Sehlittschuh, die anderen fubren in Schlitten; in den
Zelten erscholl Musik, und Tänzer und Tänzerinnen schwenkten
sich herum, und die Alten saßen an den Tischen und tranken
eins. So verging der ganze Tag, und der helle Mond stieg auf;
aber der Jubel schien nun erst recht anzufangen.
Nur ein altes Mütterchen war von allen Leuten allein in der
Stadt geblieben. Sie war krank und gebrechlich und konnte ihre
Füße nicht mehr gebrauchen; abeèr da ihr Häuschen auf dem
Deiche stand, konnte sie von ihrem Bette aus aufs Eis hinaussehen
und die Froude sich betrachten. Wie es nun gegen den Abend
kam, da gewahrte sie, indem sie auf die See hinaussah, im Westen
ein kleines weißes Wölkchen, das eben über dem fernen Horizont
aufstieg. Gleich befiel sie eine unendliche Angst; sie war in
lrüheren Tagen mit ihrem Manne zur See gewesen und verstand
sich wohl auf Wind und Wetter. Sie rechnet nach: in einer
kleinen Stunde wircd die Flut da sein, dann der Sturm losbrechen,
und alle sind verloren! Da rief und jammerte sie so laut, als sie
konnte; aber niemand war in ihrem Hause, und die Nachbarn
waren auch äuf dem Eise; niemand hörte sie. Immer gröber ward
unterdes die Wolke und allmählich immer schwärzer, noch einige
Minuten, und die Flut mubte da sein, der Sturm losbrechen. Da
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rafft sie all ihr bihchen Kraft zusammen und kriecht auf Händen
und Füßen aus dem Bette zum Ofen; glücklich findet sie noch
einen Brand, schleudert ihn ins Stroh ihres Bettes und eilt, s0
schnell sie kann, hinaus, sich in Sicherheit zu bringen. Das
Häuschen stand nun augenblicklich in hellen Flammen, und wie
der Feuerschein vom Eis aus gesehen ward, stürzte alles in wilder
Hast dem Strande zu. Schon sprang der Wind auf und fegte den
Staub auf dem Eise vor sich her; der Himmel ward dunkel; das
Eis fing an zu knarren und zu schwanken, der Wind wuchs zum
Sturm, und als eben die letzten den Fub aufs feste Land setzten,
brach die Decke, und die Flut wogte an den Strand. — S0o rettete
die arme Frau die ganze Stadt und gab ihr Hab und Gut daran
zu deren Heil und Rettung. Karl Mullenhosl.
63. Die Schatzgräber.
Ein Winzer, der am Tode lag, Da war kein Kloß, der ruhig blieb;
rief seine Kinder her und sprach: man warf die Erde gar durchs Sieb
„In unserm Weinberg liegt ein und zog die Harken kreuz und quer
Schatz, nach jedem Steinchen hin und her.
grabt nur danach!“ — „An welchem Allein da ward kein Schatz verspürt,
Platz?“ und jeder hielt sich angeführt.
rief alles laut den Vater an.
„Grabt, grabt!“ — O weh! da starw Doch kaum erschien das nächste
der Mann. Jahr,
so nahm man mit Erstaunen wahr,
Kaum war der Greis zu Grab daß jede Rebe dreifach trug.
gebracht, Da wurden erst die Söhne klug
so grub man nach aus Leibesmacht; und gruben nun jahrein, jahraus
mit Hacke, Karst und Spaten ward des Schatzes immer mehr heraus.
der Weinberg um und um gescharrt. Gottfried August Bürger.
64. Das Sechlaraffenland.
Eine Gegend heibt Schlaraffenland,
den faulen Leufen wohblbekannt,
die liegt drei Meilen hinter Weihnachten;
ein Mensch, der dahinein will frachten,
mub sich des groben Dings vermessen
und durch einen Berg von Kuchen essen.
— 7 —
der ist wohl dreier Meilen dick;
alsdann ist er im Augenblick
in demselbigen Schlaraffenland.
Da hat er Speis' und Trank zur Haud;
da sind die Häuser gedeckt mit Pladen,
Lebkuchen Tür und Pensterladen;
um jedes Haus geht rings ein Zaun,
geflochten aus Brafwürstcehen braun;
vom besten Weine sind die Bronnen,
Commen einem selbst ins Maul geronnen.
An den Tannen hängen süße Krapfen,
wie hierzuland' die Tannenzapsfen.
Auf Weidenbäumen Semmeln stehn,
unten Bäche von NMilch hergehn,
in diese fallen sie herab,
dab jedermann zu essen hab'.
Auch sehwimmen Fische in den Lachen,
gesotten, gebraten, gesalzen, gebachen,
die gehn bei dem Gestad' so nahe,
daß man sie mit den Händen fahe.
Auch fliegen um, das mögt ihr glauben,
gebrat'ne Hühner, Gäns und Tauben;
wer sie nicht füngt und ist so faul,
dem fliegen sie selbst in das Maul.
Die Schweine, fett und wohlgeraten,
laufen im Land herum gebraten,
jedes hat ein Messer im Ruck',
damit schneidet man sieh ab ein Stück
und steckt das Messer wieder hinein.
Luse liegen umher wie die Stoin.
Ganz bequem haben's die Bauern:
sie wachsen auf Bäumen und an Mauern,
sind sie zeitig, so fallen sie ab,
jeder in ein Paar Stiefel herab.
Auch ist ein Jungbrunn in dem Land,
mit dem ist es also bewandt;
wer da häblich ist oder alt,
der badet sich jsung und wohlgestäalt.
Bei den Leuten sind allein gelitten
mühelose, bequeme Sitten;
so zum Ziel schieben die Gäst',
— r —
der am weitsten fehlt, gewinnt das Best;
im Laufen gewinnt der Letzte allein.
Das Schlafrocktragen ist allgemsin.
Auch ist im Land gut Geld gewinnen;
wer Tag und Nacht schläft darinnen,
dem gibt man für die Stund' einen Gulden
wer wacker und fleihig ist, macht Schulden;
dem, welcher da sein Geld verspielt,
man alles zwiefach gleich vergilt,
uncd wer seine Schuld nicht gern bezahlt,
auch wenn sie wär' ein's Jahres alt,
dem muß der andere doppelt geben.
Der, welcher liebt ein lüstig Leben,
kriegt für den Trunk einen Batzen Lohn.
lür eine grobe Lüge gibt man eine RKron'.
Verstand darf man nicht lassen sehn,
aller Vernunft muß man mühig gehn;
wer Sinn und Witz gebrauchen wollt',
dem wär' kein Mensch im Lande hold
wer Zucht und Ehbrbarkeit hätt' liehb,
denselhen man des Lands vertrieb';
und wer arbeitet mit der Hand,
dem verböt' man das Schlaraffenland;
denn wer träg' ist und nieht will lern'n,
der kommt im Land zu groben Ehr'n,
und wer der lDaulste wird erkannt,
derselbe ist König dort im Land.
Wer wüst, wild und unsinnig ist,
grob, unverständig zu aller hrist,
aus dem macht man im Land einen Fürstenm;
wer gerne ficht mit Leberwürsten,
aus dem ein Ritter wird gemacht;
und wer auf nichts weiter acht't
als auf Essen, Trinken und Schlafen,
aus dem macht man im Land einen Grafeèn.
Wer also lebt, wie obgenannt,
der ist gut im sSehlaraffenland,
in einem andern aber nicht.
Drum ist ein Spiegel dies Gedicht,
darin du sehest dein Angesicht.
Hans Sachs.
6bz. Weise Sparsamkeit.
Es kamen eines Tages in ein Dorf zwei Männer, welche frei—
willige Beiträge einsammelten zur Erbauung einer Kirche. Unter
anderen sprachen sie bei einem reichen Bauer ein. Sie trafen ihn vor
dem Stall und hörten, als sie sich ihm näherten, wie er's dem Knechte
ernstlich verwies, daß er die Stricke, woran die Ochsen gespannt ge—
wesen, über Nacht am Pfluge unter freiem Himmel gelassen und nicht
ins Trockene gebracht hatte. Da dachten sie bei sich: „Hier werden wir
wohl leer ausgehen; denn der Mann ist geizig.“ Nun wurde der
Herr des Hofes die Fremden gewahr, und nachdem er sie höflich in
sein Haus eingeladen und eingeführt, brachten sie ihm ihr Anliegen
vor. Wie groß war ihre Verwunderung, als er ihnen bald ein
ansehnliches Geschenk an Geld gab, soviel, wie sie im ganzen Dorfe von
allen Bauern zusammen nicht erhalten.
Darüber verwunderten sie sich, und sie sagten es unverhohlen,
daß und warum sie nichts erwartet hätten. Der Landmann sagte:
„Wer den Pfennig nicht achtet, der wird keines Guldens Herr; und
wer im kleinen sparsam ist, der kann im großen freigebig sein.“
Ludwig Aurbacher.
bb. Legende vom Hufeisen.
Als noch verkannt und sehr gering
unser Herr auf der Erde ging,
und viele Jünger sich zu ihm fanden,
die sehr selten sein Wort verstanden,
liebt' er sich gar über die Maßen,
seinen Hof zu halten auf der Straßen,
weil unter des Himmels Angesicht
man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
aus seinem heil'gen Munde hören;
besonders durch Gleichnis und Exempel
macht er einen jeden Markt zum Tempel.
Sso schlendert er in Geistes Ruh'
mit ihnen einst einem Städtchen zu,
sah etwas blinken auf der Straß',
das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!“
Sankt Peter war nicht aufgeräumt
er hatte soeben im Gehen geträumt
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so was vom Regiment der Welt,
das einem jeden wohlgefällt:
denn im Kopf hat das keine Schranken;
das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
hätte müssen Kron' und Zepter sein;
aber wie sollt' er seinen Rücken
nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
und tut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner CLangmut drauf
hebt selber das Hufeisen auf
und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
geht er vor eines Schmiedes Tür,
nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
kauft ihrer so wenig oder so viel,
als man für einen Dreier geben will,
die er sodann nach seiner Art
ruhig im Armel aufbewahrt.
Nun ging's zum andern Tor hinaus
durch Wies' und Felder ohne Haus,
auch war der Weg von Bäumen bloß;
die Sonne schien, die Hitz' war groß,
so daß man viel an solcher Stätt'
für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
als wenn es ein goldener Apfel wär';
das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr nach einem kleinen Raum
ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit;
dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
— 7 —
„Cät'st du zur rechten Zeit dich regen,
hätt'st du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Dinge wenig acht't,
sich um geringere Mühe macht.“
Wolfgang von Goethe.
67. Vorgetan und naehbedaeht, hat manehen sehon in
ssehaden gebracht.
Woer im kleinen nieht Sorge trägt, muß im grohen Schaden
leiden. Das erfuhr einst ein Kaufherr, der um eines schlechten
Nagels halben ein schönes Rob verlor. Dieser ritt von dem Markte
nadh seiner Heimat zurück, wohl bepackt mit Geld und Geldsorgen.
In einem Städtehen hielt er Mittag, und der Knecht, als er ihm
sein Pferd vorführte, sagte: „Herr, es fehlt dem Rob ein Nagel am
Hufeisen am linken Hinterfub.“ „Ei was!“ sagte der Kaufherr;
„Nagel hin, Nagel her! Die sechs Stunden, die ich noch zu machen
habe, wird das Eisen wohl noch halten. leh habe Lile.“ Und
damit ritt er fort. Nach etlichen Stunden, als er wieder einkehrte
und dem Rosse Brot geben lieb, kam der Knecht in die Zgtube und
sagte: „Herr, es fehlt Eurem Pferde ein Hufeisen am linken Hinter-
fube. Soll ich's wohl zum Schmied führen?“ „Imè“ sagte der
Kaufherr, „Iufeisen hin, Hufeisen her! Die paar Stunden, die ich
noch zu machen habe, wird das Pferd wohl aushalten. Ich habe
Bile.“ Und er ritt wieder fort. Er rift aber nicht lange, so fing
das Pferd zu hinken an; und das Pferd hinkte nicht lange, so fing
es zu stolpern an; und es stolperte nicht lange, 80 fiel es endlich
und brach ein Bein und stand nicht mehr auf. Da sagte doer
Kaufherr freilich nicht mehr: Pferd hin, Pferd her! sondern er
kratzte sich hinter den Ohren, schnallte die Geldkatze und den
Mantel ab und setzte seinen Weg zu Fub fort, wohlbeladen mit
Geld und Geldsorgen, und er hatte nun keine Eile mehr. Unter-
wegs aber dachte er: An dem ganzen Unglück ist doch nur der
vermaledeite Nagel schuld. Aber:
Vorgetan und nachbedacht,
hat manchen schon in Schaden gebracht.
Auerbach.
6b8. Graf Eberhard im Vart.
Zu Aachen saßen die Fürsten Der Markgraf seine Quellen,
beim Mahle froh geschart der Pfalzgraf seinen Wein,
und rühmten ihre Lande, der Böhme seine Gruben
ein jeder nach seiner Art. mit Gold und Edelgestein.
— —
Graf Eberhard saß schweigend EIIIe
„Nun, Württemberg, sagt an, tief trauernd um die Bahr'
was man von Eurem Lande und weinten stille Tränen,
wohl Köstlich's preisen kann?“ daß ich gestorben war.
„Von köstlichen Brunnen und Da fiel aufs Herz mir nieder
Weinen,“ ein Tropfen heiß und groß —
Graf Eberhard begann, und ich erwacht' — und ruhte
„von Gold und Edelsteinen in eines Bauern Schoß.
ich nicht viel rühmen kann. Vom Holzhau wollt' er gehen
Doch war ich einst verirret spät abends heimatwärts,
im dicksten Wald allein, und mein Nachtlager wurde
und unterm Sternenhimmel ein württembergisch Herz.“
schlief ich ermattet ein. Die Fürsten saßen und horchten
Da war es mir im Traume, verwundert des Grafen Mär
als ob ich gestorben wär', und ließen höchlich leben
es brannten die Trauerlampen des Württembergers Ehr'.
in der Totengruft umher. W. Zimmermann.
69. König Friedrich und sein Nachbar.
König Friedrich II. von Preußen hatte 8 Stunden von Berlin
ein schönes Lustschloß und war gern darin, wenn nur nicht ganz
nahe dabei die unruhige Mühle gewesen wäre. Denn erstlich stehen
ein königliches Schloß und eine Mühle nicht gut nebeneinander, ob—
gleich das Weißbrot auch in dem Schlosse nicht übel schmeckt, wenn
die Mühle fein gemahlen und der Ofen wohl gebacken hat. Außer—
dem aber, wenn der König in seinen besten Gedanken war und nicht
an den Nachbar dachte, auf einmal ließ der Müller seine Mühle
klappern und dachte auch nicht an den Herrn Nachbar; und die
Gedanken des Königs störten zwar das Räderwerk der Mühle nicht,
aber manchmal das Klapperwerk der Räder die Gedanken der Königs.
— So ließ denn dieser eines Tages den Müller zu sich rufen. „Ihr
begreift,“ sagte er zu ihm, „daß wir zwei nicht nebeneinander be—
stehen können. Einer muß weichen. Was gebt Ihr mir für mein
Schlößlein?“ — Der Müller sagte: „Wie hoch haltet Ihr es, könig—
licher Herr Nachbar?“ — Der König erwiderte ihm: „Wunderlicher
Mensch, soviel Geld habt Ihr nicht, daß Ihr mir mein Schlößlein
abkaufen könnt. Wie hoch haltet Ihr Eure Mühle? — Der Müller
erwiderte: „Gnädigster Herr, so habt auch Ihr nicht soviel Geld,
daß Ihr mir meine Mühle abkaufen könnt; sie ist mir nicht feil.“
Der König tat zwar ein Gebot, auch das zweite und dritte, aber der
1
77 —
Nachbar blieb bei seiner Rede: „Sie ist mir nicht seil. Wie ich
darin geboren bin,“ sagte er, „so will ich darin sterben, und wie sie mir
von meinem Vater erhalten worden ist, sollen sie meine Nachkommen
von mir erhalten und auf ihr den Segen ihrer Vorfahren erben.“
Da nahm der König eine ernsthaftere Sprache an. „Wißt Ihr
auch, guter Mann, daß ich gar nicht nötig habe, viele Worte zu
machen? Ich lasse Eure Mühle abschätzen und breche sie ab. Nehmt
alsdann das Geld oder nehmt es nicht!“ Da lächelte der unerschrockene
Mann, der Müller, und erwiderte dem König: „Gut gesagt, aller⸗
gnädigster Herr, wenn nur das Kammergericht in Berlin nicht wäre!“
nämlich, daß er es wolle auf einen richterlichen Ausspruch ankommen
lassen. Der König war ein gerechter Herr und konnte überaus gnädig
sein, also daß ihm die Herzhaftigkeit und Freimütigkeit einer Rede
nicht mißfällig war, sondern wohlgefiel. Denn er ließ von dieser
Zeit an den Müller unangefochten und unterhielt fortwährend mit
ihm eine friedliche Nachbarschaft. Der geneigte Leser darf schon ein
wenig Respekt haben vor einem solchen Nachbar und noch mehr vor
einem solchen Herrn Nachbar. ZJohann Peter Hebel.
70. Sehwert und Pflug.
Pinst war ein Graf, so geht die So starb der lebensmüde Greis,
Mãr, als er sein Gut vergeben;
der fühlte, daß er sterbe; die Söhne bielten das Gebeib
die beiden söhne rief er her, breu dureh ihr ganzes Leben.
au teilen Hab' und Erbe. Doch sprich, was ward denn aus
Nach einem Pflug, nach einem dem Stahl,
dehwert dem deblosse und dem Krieger?
rief dann der alte Degen, Was ward denn aus dem stillen
das brachten ihm die Söhne wert — Tal,
da gab er seinen Segen. was aus dem sehwachen Pflüger?
„Mein ält'ster Sohn, meinstärkster O fragt nieht nach der Sage Ziel,
Sprob, eueh künden's rings die Gauen:
du sollst das Schwert bebalten, der Berg ist wüst, das Schlob zerfiel,
die Berge mit dem stolzen Schlob, das Schwert ist längst zerhauen!
uncd aller Ehren walten! — Doch liegt das Tal voll Herr-
Doeh dir, nieht minder liebes Kind, lehkeit
dĩr sei der Pflug gegeben; im lichten Sonnenschimmer,
im Tal, wo stille Hütten sind, da wvãchst und reift es weit und breit;
dort magst du friedlich leben!“ — man ebrt den Pflug noch immer.
Wolfgang Müller von Königswinter.
78 —
71. Rätsel.
Wie heißt das Ding, das wen'ge schätzen ?
doch ziert's des größten Kaisers Hand;
es ist gemacht, um zu verletzen;
am nächsten ist's dem Schwert verwandt.
Kein Blut vergießt's und macht doch tausend Wunden;
niemand beraubt's und macht doch reich;
es hat den Erdkreis überwunden,
es macht das Leben sanft und gleich.
Die größten Reiche hat's gegründet,
die ält'sten Städte hat's erbaut;
doch niemals hat es Krieg entzündet,
und Heil dem Volk, das ihm vertraut! Friedrich v. Schiller.
72. Ein braver Diener.
Friedrich der Große hatte, wie oft geschah, anhaltend gearbeitet
und saß noch schreibend an seinem Pulte, als die Mitternachtsstunde
schon geschlagen hatte. Der hereintretende Kammerdiener Heise, der
bei dem königlichen Vertrauen, das er besaß, sich mehr erlauben durfte
als ein anderer, erinnerte daran, daß es schon spät und Zeit zur Ruhe
sei. Der König sagte: „Ich habe da eine wichtige Arbeit vor, die
keinen Aufschub leidet. Wenn ich jetzt zu Bette gehen soll, so muß
Er mich spätestens morgen früh um vier Uhr wieder wecken. Ich
werde dann noch schläfrig sein, nicht aufstehen wollen und Ihn wieder
wegschicken. Aber ich befehle Ihm, sich nicht abweisen zu lassen, und
ermächtige Ihn, im Falle der Weigerung mir die Bettdecke abzuziehen
— hört Er? — beim Verluste meiner Gnade!“
Mit dem Glockenschlage vier trat der treue, furchtlose Diener
herein und sah den König sanft und fest schlafen. Aber mit lauter
Stimme weckte er ihn, und als der König die Augen aufschlug, sagte
er: „Es ist mir leid geworden, ich muß noch zwei Stunden schlafen;
komm Er um sechs Uhr wieder! Nun fort zum Zimmer hinaus!“
„Erinnern sich Majestät an Ihren mir gegebenen Befehl und Ihre
Drohung!“ „Schäker!“ rief Friedrich, „Er hört's ja, ich will nicht!“
„Majestät, Sie müssen!“ antwortete Heise und zog damit die Bettdecke
entschlossen weg. Nun stand der König auf, und als er, noch schlaf—
trunken, gähnte und sich reckte, rief er aus: „Ach Gott, wär' ich doch
ein Kriegsrat geworden!“ Rulemann Friedrich Eylert.
2
—7
73. Ich habe keine Zeit, müde zu sein.
Viele Menschen meinen, je höher das Amt jemandes sei, desto
weniger brauche er zu arbeiten und arbeite er. Am besten hätten es
in dieser Beziehung die Fürsten, die Könige und Kaiser; sie brauchten
nur zu befehlen, aber nicht zu arbeiten, könnten vielmehr alles haben
und tun, wie sie wollten, also ein Leben führen so schön wie im
Schlaraffenland. Wie mancher Knabe hat sich deshalb wohl schon
gewünscht, wenigstens für einige Zeit einmal ein König oder Kaiser zu
sein, und hat sich im stillen überlegt, was er dann täte, wenn er König
wäre. Und wie manches Mädchen hat sich wohl schon gewünscht,
Königin oder Kaiserin zu sein, und gedacht, wie schön das wäre. Wie
schnell aber würden wir aus diesen Träumen erwachen, wenn die ge—
nannten Wünsche sich einmal erfüllten!
Wer ein guter König sein will, der sein Land zum Segen seiner
Untertanen regiert, der muß trotz seiner hohen Stellung sein Brot
im Schweiße seines Antlitzes essen, also auch arbeiten, bald so, bald so,
und zwar manchmal recht viel und recht schwer, nur in anderer Art
als wir, die wir seinen Platz gerne einnehmen möchten. Friedrich
der Große betrachtete daher einen rechten König als den ersten Diener
des Staates, und unser jetziger Kaiser faßt seinen hohen Beruf ebenso
auf. Auch beim alten Kaiser Wilhelm J. war es so. Noch als Mjähriger
Greis gönnte er sich keine Ruhe von der Arbeit für das Wohl seines
Volkes. Noch am Tage vor seinem Tode hörte er todkrank den Vor—
trag seines ersten Dieners, des Reichskanzlers Fürst Bismarck, über
dringende Staatsgeschäfte an und unterschrieb mit zitternder Hand
ein wichtiges Schriftstück, welches dieser ihm vorlegte. Und als am
Abend desselben Tages seine Tochter, die Großherzogin von Baden,
ihn bat, er möge doch nicht mehr mit den Gedanken an die Staats—
geschäfte sich quälen, sondern ruhen, da stand sein Verantwortlichkeits—
gefühl so groß vor ihm, und da war seine Pflichttreue noch so stark,
daß er der Bittenden sagte: „Ich habe keine Zeit, müde zu sein.“
So gab der alte Kaiser seinem Volke noch sterbend ein Vorbild
unwandelbarer Berufstreue. Es kommt also nicht auf den Stand und
Beruf an, ob du im Leben viel oder wenig zu tun hast — ein jeder
Stand hat vielmehr auch seine Last — sondern darauf, daß jeder in
seinem Beruf, welcher es auch sei, als ein treuer Mann erfunden werde.
Dann hat ein jeder Stand nicht nur seine Last, sondern, wie das
Sprichwort sagt, auch „seinen Frieden“. Heinrich Brammer.
— ——
74. Die Herrgottskinder.
Von oben sieht der Herr darein,
ihr dürft indes der Ruhe pflegen;
er gibt der Arbeit das Gedeihn
und träuft herab den Himmelssegen.
Und wenn dann in Blüte die Saaten stehn,
so läßt er die Lüftlein darüber gehn,
auf daß sich die Halme zusammenbeugen
und frisch aus der Blüte das Korn erzeugen;
und hält am Himmel hoch die Sonne,
daß alles reife in ihrer Wonne.
Da stünd' es den Bauern wohl prächtig an,
das alles in ihre Scheuern zu laden!
Gott Vater hat auch seinen Teil daran;
den will er vergeben nach seinen Gnaden.
Da ruft er die jüngsten Kinder sein;
die nährt er selbst aus seiner Hand,
die Rehlein, die Häslein, die Würmlein klein
und alles Getier in Luft und Land,
das flattert herbei und kreucht und springt,
ist fröhlich all zu Gottes Ehr' n
und all genügsam, was er bringt.
Des freut sich der Herrgott mächtig sehr,
er breitet weit die Arme aus
und spricht in Liebe überaus:
„All, was da lebet, soll sich freu'n,
seid alle von den Kindern mein;
und will euch drum doch nicht vergessen,
daß ihr nichts könnt als springen und fressen.
Hat jedes seinen eignen Ton!
Ihr sollt euch tummeln frisch im Grünen;
doch mündig ist der Mensch, mein Sohn:
drum mag er selbst sein Brot verdienen!“
Theodor Storm.
75. Der beste Empfehlungsbrief.
Auf die Annonce eines Kaufmannes, dureh welche ein Kontfor—
knabe gesueht wurde, meldeten sich 50 Knaben. Der Kaufmann
wählte sehr rasch einen unter denselben und verabschiedete die
anderen. „Ich möchte wohl wissen,“ sagte ein Freund, „warum
80
du gerade diesen Knaben, der doch keinen einzigen Empfehlungs-
brief hatte, bevorzugtest?“ — „Du irrst,“ lautete die Antwort;
„dieser Knabe hatte viele Empfehlungen. Er putzte seine Fübe ab,
ehe er ins Zimmer trat und machte die Tür zu; er ist daher
sorgfültig. Er gab ohne Besinnen seinen Stuhl jenem alten, lahmen
Manne, was seine Herzensgüte und Aufmerksamkeit zeigt. Er
nahm seine Mütze ab, als er hereinkam, und antwortete auf meine
Frage schnell und sicher; er ist also höflich und hat Manieren.
Er hob das Buch auf, welches ich absichtlich auf den Boden gelegt
hatte, während alle übrigen dasselbe zur Seite stieben oder dar—
über stolperten. Er wartete ruhig und drängte sich nicht heran, —
ein gutes Zeugnis für sein anständiges Benebhmen. lch bemerkte
ferner, daß sein Rock gut ausgebürstet und seine Hände und
sein Gesicht rein waren. Nennst du dies alles keinen Empfehlungs-
brief? Iech gebe mehr darauf, was ich von einem Menschen weib,
nachdem ich ihn zehn Minuten lang gesehen, als auf das, was
in schön klingenden Empfehlungsbriefen geschrieben steht.“
Magdeburger Zeitung.
76. Jockli, zieh das Käppli ab!
„Jockli, zieh das Käppli ab!“ sagte allemal des Schneiders
Balzer Witwe zu ihrem kleinen Sohne Jakob, wenn ein Fremder
durchs Dorf ging. Und Jockli nahm das Käppli ab und gewöhnte
sich, gegen jedermann, vornehm oder gering, immer höflich, freund—
lich und dienstfertig zu sein. Die andern Bauern im Dorfe waren
aber grob, und die Jungen waren es wie die alten. Das war nicht
fein.
Höflichkeit ist eine leichte Ware; sie kostet uns nichts und macht
uns alle Menschen zu Freunden. Grobe Leute liebt niemand, und
man pflegt sie Flegel zu nennen, und das von Rechts wegen. Freund—
liches Wesen und Dienstfertigkeit ist der Schlüssel zum Herzen aller
Menschen. Wenn ein fremder Herr ins Dorf kam, war Jockli immer
der erste, welcher freundlich grüßte. Die andern Knaben standen
indessen da und gafften und konnten die Mütze oder den Hut nicht
vom Kopfe bringen, als wären sie angepicht. Es kam auch zuweilen,
daß ein Fremder nach dem Wege fragte. Da war Jockli gleich bei
der Hand, antwortete und begleitete den Fremden selbst auf den Weg,
bis er nicht mehr irren konnte. Dafür erntete er manchen Dank
ein; denn Geschenke dafür zu nehmen, schämte sich Jockli. Das gefiel
der Mutter, die eine verständige Frau war, und sie sprach: „Du
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
81
— e2
hast recht, Jockli! Könige und Fürsten grüßen ihren geringsten Unter—
tan freundlich, warum soll ein Bauer nicht desgleichen tun?“
Nun, was geschah? — Jockli war sechzehn Jahre alt, stark und
groß und half seiner Mutter durch Tagelohn das Brot verdienen.
Wegen seiner Höflichkeit hatte ihn jedermann gern. An einem Sonn—
tage saß er mit andern Burschen vor dem Wirtshause an der Land—
straße. Da kam des Weges daher ein alter Herr aus der Stadt,
welcher spazieren ging. Ein betrunkener Bauer ging ihm entgegen
und wollte mit dem alten Herrn tanzen. Da lachten die Umstehenden
aus vollem Halse; aber keiner ging, den Fremden vor den Beleidi—
gungen des Trunkenboldes zu schützen; nur Jockli sprang hinzu,
schob den Betrunkenen auf die Seite und führte den alten Herrn
zum Pfarrer, zu welchem er begehrte.
Kaum eine Viertelstunde nachher kamen Kutschen voller Herren
und Damen. Die jungen Burschen und älteren Männer gafften und
sperrten die Mäuler auf, als sollten ihnen Kutschen und Pferde da
hineinfahren. Endlich sagte einer: „Das ist gewiß der Oberherr,
der zum Schlosse fährt!“ — Da zogen sie alle, einer nach dem andern,
ganz langsam die Mütze vom Kopfe, obgleich die Wagen schon längst
vorbei waren und am Schlosse hielten. Nun gingen sie hin und
gafften aus der Ferne. Da sahen sie den alten Herrn, vom Pfarrer
begleitet, zum Schlosse gehen und Jockli nebenan. Der alte Herr
war der Oberherr selbst, welcher seit vielen Jahren in fremden Kriegs—
diensten gestanden hatte und nun zurückkam. Er behielt den höf—
lichen Jockli gleich bei sich, kleidete ihn neu und machte ihn zu seinem
Kammerdiener. Jockli aber wußte durch seine Höflichkeit und Dienst—
fertigkeit aller Herzen zu gewinnen, und er war dabei so brav und
treu, daß der alte Oberherr ihm sein volles Vertrauen schenkte und
ihn endlich zum Verwalter aller seiner Güter machte. Als der alte
Herr sterben wollte, vermachte er Jockli sogar im Testamente eine
große Geldsumme und einen Bauernhof.
Von der Zeit an hielten die andern ihre Kinder auch zur Höf—
lichkeit an. Und wenn noch ein Grobian unter den Knaben war, so
riefen sie alle wie Jocklis Mutter: „Jockli, zieh das Käpplisab!“
— und es half. Heinrich Zschokke.
77. Ein gutes Wort findet einen guten Ort.
Hab auf der Lippe stets bereit Soll jemand tun dir was zu lieb,
ein freundlich gutes Wort; so schau ihn freundlich an,
das findet ja zu jeder Zeit ein lieblich gutes Wort ihm gib;
auch einen guten Ort. es ist ja leicht getan.
X
Und wenn ein Herz dir zürnen will, Wohin dein Weg dich führen mag
in Unmut lodert auf, auch in die Fremde drauß',
so lege nur ganz freundlich still streu du an jedem Lebenstag
ein gutes Wort darauf. nur gute Worte aus.
Dann bist du nirgends fremd und arm,
fühlst nicht den Heimatsschmerz;
dein mildes Wort macht mild und warm
dir jedes gute Herz. Isabella Braun.
78. Der Einsiedler.
Vor alters lebte ein Mann, der war sehr aufbrausend und
schnell zum Zorn, und wenn er zornig gewesen, gereute es ihn
wieder. Da dachte er: „Das kommt von den bösen Menschen;
lieben mich die in Frieden, würd' ich auch wohl sanftmütig sein.
Ich will lieber fortgehen in den wilden Wald und ein Einsiedler
werden, da werd' ich keinen mehr hören und sehn und werd' mich
nicht mehr erzürnen.“ So geht er fort in den Wald, sucht sich
einen Ort, wo ein Brunnen vom helsen herabrinnt, und will sich
da eine Hütte bauen. Uber der Arbeit wird's ihm warm, und er
trägt seinen Krug zum Brunnen und stellt ihn unter, daß er voll
werde; der Krug aber fällt um, und er muß ihn zum zweitenmal
unterstellen. Nach einer Weile fällt der Krug abermal, und der
Binsiedler, statt ihn wieder aufzustellen, wird so zornig, daß er
ihn nimmt und am Pelsen in tausend Stücke zerschlägt. Als er
nun den Henkel in der Hand hat und die Scherben auf dem
Boden liegen sieht, kommt er auf einmal wieder zu sich, erschrickt
und spricht zu sich selbst: „O ich Tor, ich dachte, dab der Zorn
in mich hineinkommt, nun sehe ich, daß er aus mir herauskommt;
drum will ich kein Einsiedler mehr sein, sondern wieder zu meinen
Brüclern gehn, daß sie mir guten Rat geben und mir beten helfen,
mein eigen Herz zu bessern.“ —
Trau dem nicht, der dir der nächste ist, der in einem Hause
mit dir wohnt, aus einem Löffel mit dir ißt und in einem Bette
mit dir sehläft, nämlich — dir selber! — Helnrieh Caspari.
79. Der Wunderdoktor.
Zu Ende des 18. Jahrhunderts lebte in dem Dorfe Langnau
in der Schweiz der berühmte Landarzt Micheli Schuppach. Bei diesem
wurde nicht nur in Krankheit Hülfe gesucht, sondern ebenso in jeg—
licher andern Not, und man glaubte, er habe gegen jeden Mangel
und jedes Leiden ein Mittel oder einen Zauber. Und er half oft
83
3*
4
wirklich auf die merkwürdigste Weise. So kam einst eine rüstige
Frau zu ihm und klagte ihm ihr Unglück, wie sie einen zank- und
streitsüchtigen Mann habe, wie er sie mit giftigen Reden Tag und
Nacht plage und ihr Woche aus und ein und das ganze Jahr hindurch
keine Ruhe lasse. Sie möchte doch den Herrn Doktor gar sehr gebeten
haben, ihr etwas gegen dieses Hauskreuz zu geben; er werde wohl
etwas dagegen wissen und haben. Micheli, welcher die redselige
Frau, die der Klagen über ihren Mann fast kein Ende finden konnte,
hatte ausreden lassen, besann sich dann eine Weile und sagte: „Es
gibt freilich wider ein so großes übel, mit welchem Euer Mann be—
haftet ist, ein Mittel; aber wenn es nicht genau gebraucht wird, wie
es soll, so wird das Übel noch viel größer.“ „O, es soll nicht fehlen,“
sagte die Frau, „ich werde pünktlich tun, was Ihr vorschreibt.“
Da ging Micheli in sein Nebenzimmer, wo seine Apotheke war, und
brachte eine ziemlich große Flasche mit Brunnenwasser, in welches
er Tropfen irgend eines unschädlichen Saftes gegossen hatte, und
sagte dann: „Sehet, Frau, sobald Euren Mann die Streit- und
Tobsucht wieder anfällt, so nehmet Ihr von diesem köstlichen Mittel
ein halbes Glas voll und behaltet es im Munde, solange es Euch
immer möglich ist; je länger, desto besser, und je mehr ihr Euch be—
zwingt und es ja nicht weder verschluckt noch ausspeiet, so werdet
ihr sehen, wie das Wüten Eures Mannes abnimmt, und merkt Ihr
das, und geht der Mann selbst etwa auf die Seite — er wird wohl
wissen, warum — dann mögt Ihr das Wasser ausspeien, aber so—
gleich wieder einen Mundvoll nehmen, wenn das Übel den Mann
neuerdings anfällt.“ Die Frau kam nach einiger Zeit wieder zu
Micheli und sagte: „Das Mittel hat schon ziemlich geholfen, das
Übel aber noch nicht ganz und gar gehoben.“ „Nun, so gebe ich Euch
noch eine Flasche,“ sagte Micheli, „und will das Zeug noch etwas
schärfer machen. Könnt Ihr es stundenlang im Munde behalten, so
muß das Übel weichen.“ Die Frau versprach nochmals, ihr möglichstes
zu tun. Und wieder nach einiger Zeit kam sie und rühmte, das Übel
sei bei ihrem Manne nicht mehr zurückgekehrt, seit sie von der
schärferen Flasche eingenommen und das Zeug wirklich stundenlang
im Munde behalten habe. Emanuel Fröhlich.
80. Der Fischreiher.
Wer das Geringere hochmütig verschmäht, muß zuweilen mit
dem Geringsten fürlieb nehmen.
EStolz und hochbeinig ging ein alter Fischreiher auf grüner Wiese
an den Ufern eines Baches hin. Der warme Sonnenschein lockte
8⸗
— 23 —
ganze Züge von Fischen aus dem Grunde in die Fluten hinauf, und
die Fische jagten sich in dem hellen Wasser und spielten und scherzten.
Unser Fischreiher sah manchen fetten Hecht, den er sich mit leichter
Mühe holen konnte, aber „Hechte!“ sagte er, und wendete Hals und
Kopf von einer Seite zur andern, „Hechte? — Nein, Hechte mag
ich nicht! Es muß ein Karpfen sein!“ — Er stand und lauerte auf
einen Karpfen. Aber Karpfen wollte nicht kommen, Karpfen ist
nicht da! Indessen der Hunger war da und wurde immer größer
und immer größer.
„Nun, so will ich denn nur einen Hecht nehmen, weil es nicht
anders sein soll!“ sagte unser Fischreiher; aber die Hechte waren
auf den Grund gegangen, und keiner war mehr da! Aber Schleien,
schöne fette Schleien waren noch genug da und schwammen im Wasser
dahin.
„Schleien? Schleien?“ sagte der leckere Züngler; „ja! die möchte
ich eben! Das wäre gerade eine Speise für eine Zunge, die Ge—
schmack hat! Zieht hin in Frieden! — und wenn es fehlt, kann ich
ja wohl euresgleichen noch haben!“ Und die Schleien zogen unan—
getastet dahin, wiewohl ihn der Hunger immer stärker nagte.
Jetzt ging unser Herr Reiher immer tiefer und immer tiefer in
den Bach hinein, und es zeigten sich zuletzt nur noch Gründlinge.
„Gründlinge nun gar!“ sagte der Reiher zu sich selbst, „Gründlinge?
Behüt' uns Gott! ich werde mich sehr in acht nehmen, einen einzigen
nur anzurühren. Gründlinge gehörten eben für eines Fischreihers
Magen!“
Über seine stolzen Bedenklichkeiten waren alle Fische auf den
Grund gegangen, und es ließ sich keiner mehr sehen. Aber der
Hunger war nicht mit den Fischen fortgegangen, sondern nagte und
plagte iyn so sehr, daß er es nicht mehr aushalten konnte. Nicht
Hechte, nicht Schleien, nicht Gründlinge waren mehr da — nur noch
ein paar Frösche fanden sich, mit welchen er zuletzt fürlieb nehmen
mußte. Andreas Löhr.
81. Der weiße Hirseh.
Es gingen drei Jäger wohl auf die Birsch,
sie wollten ersagen den weiben Hürsch.
Sie legten sich unter den Tannenbaum,
da haften die drei einen seltsamen Traum.
Der erste.
Mir hat geträumt, iech klopf' auf den Busch,
da rauschte der Hirsch heraus, husch, huschl!
*
— 89 —
Der zweite.
Und als er sprang mit der Hunde Geklaff,
da brannt' ich ihm auf das Pell, piff, paffl
Der dritte.
Und als ich den Hirsch auf der Erde sah,
da stieb ich lustig ins Horn, trara!
So lagen sie da und sprachen die drei,
da rannte der weibe Hirsch vorbei.
Und eh' die drei Jäger ihn recht gesehn,
so war er davon über Tiefen und Höh'n.
Husch, huschl piff, paffl trara!
Ludwig Uhland.
82. Der Fuchs und der Hahn.
Ein hungriger Fuchs kam einstmals in ein Dorf und fand einen
Hahn; zu dem sprach er also: „O mein Herr Hahn, welche schöne
Stimme hat dein Herr Vater gehabt! Ich bin darum zu dir hierher
gekommen, daß ich deine Stimme hören möchte. Darum bitt' ich dich,
daß du mir singst mit lauter Stimme, damit ich hören möge, ob du
eine schönere Stimme habest oder dein Vater.“ Da erschwang der
Hahn sein Gefieder, und mit geschlossenen Augen fing er an, auf
das lauteste zu krähen. Indem sprang der Fuchs auf und fing ihn
und trug ihn in den Wald. Als das die Bauern gewahr wurden,
liefen sie dem Fuchse nach und schrieen: „Der Fuchs trägt unsern
Hahn fort!“ Als der Hahn das hörte, sprach er zu dem Fuchse:
„Hörst du, Herr Fuchs, was die groben Bauern sagen! Sprich du
zu ihnen: Ich trage meinen Hahn und nicht den euern.“ — Da ließ
der Fuchs den Hahn aus dem Maule und sprach: „Ich trage meinen
Hahn und nicht den euern.“ Indem flog der Hahn auf einen Baum
und sprach: „Du lügst, Herr Fuchs, du lügst, ich bin der Bauern,
nicht dein.“ Da schlug der Fuchs sich selbst mit den Händen aufs
Maul und sprach: „O du böses Maul, wieviel schwätzest du! Wie—
viel redest du Unnützes! Hättest du jetzt nicht geredet, so hättest du
deinen Raub nicht verloren.“ Nach AÄsop von Simrock.
83. Der Fuchs und die Trauben.
Ein Fuchs kam auf einem Gange nach Beute an einen Weinstock,
der voll süßer Trauben hing. Lange schlich er vor demselben auf
und ab, überlegend und versuchend, wie er zu den Trauben gelangen
könne. Aber umsonst, sie hingen zu hoch. Um sich nun von den
D
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*
87
Vögeln, welche ihm zugesehen hatten, nicht verspotten zu lassen,
wendete er sich mit verächtlicher Miene weg und sprach: „Die Trauben
sind mir zu sauer, ich mag sie nicht.“ Nach Asop.
84. Der Geizige und der Asse.
RPin Geizhals hatte einen Affen.
Hin Geizhals sein und den sich anzuschaffen,
das klingt zwar sonderbar, doch war es wohl bedacht;
Gesellschaft äostet Geld, und Menschen können stehlen;
der Affe trieb blob seine Possen bis zur Nacht;
vor ihm braucht' er nichts zu verheblen,
ér konnt' im Gelde wühlen und Dukaten zählen,
der schwatzte nicht, und kurz, er war nach seinem Sinn.
Rinst rief der Glockenschlag ihn nach der Kirche hin;
denn hier dacht' er dureh Beten und durch Singen
dem Himmel neuden Segen abzudringen.
Pr lieb aus großer Eil' das Schreibpult offen stehn.
Petz, der den Haufen Gold erblickte,
und den die Langeweile drückte,
giunt sich zum Zeitvertreib ein kleines Spielwerk aus.
Er holt ein Goldstück nach dem andern
und läßt zum Penster frisch hinaus
die Louisdor' und die Dukaten wandern.
Das war ein Lärmen um das Haus!
Wer laufen konnte, lief, und bald ward vom Gedränge,
so breit die Strabe war, der Platz doch viel zu enge.
Ein jeder schrie: „Herr Petz, mir auch ein Stück!“
Man haschte, sprang und fiel, und wem zum guten Glũück
eins in die Hände fiel, dem kam es hoch zu stehen;
gin Jubel war's, dies Schauspiel anzusehen.
Indessen kam der Geizige zurück.
Er sah den Drang und rief: „Was gibt's für Unglück hier?
Mein Geld! Mein Geld! — O wehl Es bübe mir,
komm' ieh hinauf, verruchter Dieb, dein Blut!“
Hier schwieg er; denn ihm schlob die Lippen seine Wut.
„Herr,“ sprach ein alter Mann, „IHerr, mäßigt Lure Hitzel!
Das Geld ist Euch wie ihm und ihm wie Euch nichts nütze.
Der Affe wirft es weg und Ihr? Ihr sperrt es ein!
Wer mag von euch der KMügste sein?“ Friedrieh v. Hagedorn.
— 3 —
85. Etwas von der Reinlichkeit.
Es soll manche Knaben und Mädchen geben, die wasserscheu sind
und lieber schmutzig zu Tische und zur Schule gehen, als Wasser und
Seife gebrauchen. Was würde wohl der Spiegel sagen, wenn ein
solches Kind sich vor ihn stellen, hineinschauen und wie die Königin
im Märchen fragen würde: „Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Ich glaube, er würde ant—
worten: „Geh und wasch dich erst und dann komm wieder. Schmutzige
Kinder sind immer häßlich. Nur wer Gesicht, Ohren, Hals und
Hände immer schön rein gewaschen hat und auch am übrigen Körper
keinen Schmutz aufkommen läßt, gefällt mir.“ Ebenso werden auch
wohl alle ordentlichen Menschen zu dem Schmutzfinken und Struwel—
peter sagen. Mit unsauberen Kindern will niemand etwas zu tun
haben außer dem Ungeziefer. Dies hält sich da am liebsten auf,
wo der Schmutz am Körper und an der Kleidung am größten ist.
Noch mehr. Wer seinen Leib und seine Kleidung nicht rein hält, von
dem glaubt man leicht, daß er auch nichts darum gibt, seine Seele
rein zu erhalten.
Aber die Reinlichkeit schmückt nicht nur Leib und Seele, sondern
sie fördert auch die Gesundheit des Menschen. Alle Schmutzstoffe,
welche sich in unserer Umgebung befinden, oder an unserm Körper,
unserer Wäsche und unserer Kleidung haften, können unsere Gesundheit
gefährden. Oft enthalten sie Keime ansteckender Krankheiten anderer
Menschen, welche dann durch Atmung oder mit den Nahrungsmitteln
in unsern Körper gelangen und auch uns krank machen. Andere
schädliche Schmutzstoffe dringen durch die Poren oder durch kleine
Verletzungen in unsere Körperhaut ein und verursachen Hautkrank—
heiten. Jeder Schmutz am Leibe aber schließt die Poren der Körper—
haut und verhindert dadurch die dem Körper so notwendige Aus—
dünstung durch die Haut.
Für die Entfernung alles Schmutzes an unserm Körper, an
anserer Kleidung, in unserer Wohnung gewährt uns das Wasser
die beste Hülfe. Wir spülen damit die Straßen, scheuern damit unsere
Wohnräume und benutzen es zur Reinigung unserer Gebrauchs—
gegenstände, unserer Wäsche und unseres Körpers. Überdies fördern
wir die Reinlichkeit um uns durch Beseitigen des Staubes, Lüften
der Wohnräume und Entfernen aller Stoffe, welche die Luft durch
ihre Ausdünstungen verderben.
Bei solcher Reinlichkeit fühlt sich der Körper wohl, bleibt er ge—
sund und kräftigt sich die Gesundheit. Ein Kind oder ein Erwachsener,
8*
bei dem man solchen Sinn für Reinlichkeit sieht, gefällt, und in
einem Hause oder in einem Orte, wo solche Reinlichkeit herrscht, mag
jeder gern weilen. „Reinlichkeit ist das halbe Leben“ heißt es darum
im Sprüchwort schon seit langer Zeit.
Nach dem Gesundheitsbüchlein u.a.
86. Wat ded'st du, wenn du König wirst?
Twei Jungens, unsen Schulten sin
un Krischan Block, dei dunn bün Preister deint,
dei hödden eins de Faselswin.
Sei hodden jeder irst allein,
doch durt't nich lang', dunn wiren s' beid'
mit ehre Haud tausamen up de Scheid.
Un dunn, as so ne Jungs nu sünd,
dunn löten s't Veih taun Düwel lopen
un kröpen gegen Regen, gegen Wind
beid' achter'n Durnbusch ganz dicht tauhopen.
Nu gaud! un hier verkropen s' sick en beten;
denn regen ded't in vullen Gäten.
„Hür, Krischan,“ seggt nu Schulten Cute,
„ick krig' mi nu min Pip herute.“ —
„Jek orl seggt Krischan, so mne Pip Toback,
dat is doch glik en annern Snack
as dat verdammte Swingehäud
för de par Gröschen, dei ein kriggt.“
Na, dat was gaud! Sei steken beid'
mne Pip Toback sik in't Gesicht. —
Toback tau roken, is för so ne Bengels
en grot Plesir, dat is gewiß,
un wenn dat ok man CTüftenstengels,
un wenn dat ok man Feldkäm is. —
Sei rokten nu woll, will un bet,
un wiren beid' recht in ehr Fett
un freu'ten sick, dat sei noch gar nich natt,
vertellten sick von dit un dat:
wo oft sei in de Appeln stegen,
wat sei des Middags hadden eten,
wat sei des Dags an Taubrod kregen,
wat ehren Herrn für Schäw sei reten,
wat Jochen säd', un wat säd' Fiken,
um wat sei sülwst dunn seggt, un wat säd' Dürt,
— 79 —
un wat sei hir un dor bi ehresgliken
in 'n ganzen Dörpen hadden hürt;
un dat de Schult den Knecht hadd slagen,
un dat de Knecht den Schulten wull verklagen;
sei wullen sick gewiß nich slagen laten,
sei brukten dat tau liden nich von keinen,
sei wullen för kein Släg' nich deinen,
ne! leiwerst würden sei Soldaten.
Un von Soldaten kemen s' up den König.
De, hür,“ seggt Cute, „so en Konig,
so 'n König, Krischan, is nich wenig,
so n König, dei is schrecklich rik,
un allens möt gescheihen glik,
so as hei man de Hand ümkihrt,
so 'n König is en grotes Dirt!
So n RKoönig Ne segat Rrischan, „segg mal irst,
wat ded'st du, wenn du König wirst ?“
„As ick ? ick ? wat ick ded ?“ seggt Cute
un treckt drei Paff ut sine Pip herute
un kek so stolz umher, as set de Kron
up sinen Flaßkopp all, un hei up sinen Thron,
„dat will 'ck di seggen. Wenn ick König wir,
ick hödd min Swin man blot tau Pird.“
„Ne, so ne Dummheit hewwe'ck mindag nich hürt,
wer di för klauk köfft, dei ward angeführt,“
seggt Krischan Block. „Dat nimmt mi wunner!
Ne ick! wenn ick so König wir,
denn rokt ick keinen Toback mihr,
denn rokt ick nicks as luter Tunner!“
„Du büst woll ok nich klauk!“ seggt Lute
Dunn kamm uns' Schultenvader achtern Durnbusch 'rute,
in sine Hand en Schacht, en rechten löhnigen:
„Täuw, Rackertüg! täuw, ick will jug bekönigen!
Will'n ji woll dauhn, wat jug is heiten?
Kikt dor mal hen! de Swin sünd in den Weiten!
Ji Rackertüg! ji rokt mi all Toback d⸗
Un ob sei noch so knendlich beden,
raps! raps! tellt Schultenvader jeden
en richtig Dutzend in de Jack.
„Ji Snaesels! ji willt König sin
un lat't de Swin in 'n Weiten rin?“ Fritz Reuter.
9
— —
87. Der große Krebs im Mohriner See.
Die Stadt Mohrin hat immer acht,
guckt in den See bei Tag und Nacht.
Kein gutes Christenkind erleb's,
daß los sich reiß' der große Krebs!
Er ist im See mit Ketten geschlossen unten an,
weil er dem ganzen Lande Verderben bringen kann.
Man sagt, er ist viel Meilen groß
und wend't sich oft und, kommt er los,
so währt's nicht lang, er kommt ans Land:
ihm leistet keiner Widerstand.
Und weil das Rückwärtsgehen bei Krebsen alter Brauch,
so muß denn alles mit ihm zurücke gehen auch.
Das wird ein Rückwärtsgehen sein!
Steckt einer was ins Maul hinein,
so kehrt der Bissen, vor dem Kopf,
zurück zum Teller und zum Topf.
Das Brot wird wieder zu Mehle, das Mehl wird wieder Korn —
und alles hat beim Gehen den Rücken dann nach vorn.
Der Balken löst sich aus dem Haus
und rauscht als Baum zum Wald hinaus,
der Baum kriecht wieder in den Keim,
der Ziegelstein wird wieder Leim.
Der Ochse wird zum Kalbe, das Kalb geht nach der Kuh;
die Kuh wird auch zum Kalbe, so geht es immerzu!
Zur Blume kehrt zurück das Wachs,
das Hemd am Leibe wird zu Flachs,
der Flachs wird wieder blauer Lein
und kriecht dann in den Acker ein.
Man sagt, beim Bürgermeister zuerst die Not beginnt,
der wird vor allen Leuten zuerst ein Päppelkind.
Dann muß der edle Rat daran,
der wohlgewitzte Schreiber dann;
die erbgesess'ne Bürgerschaft
verliert gemach die Bürgerkraft.
Der Rektor in der Schule wird wie ein Schülerlein,
kurz, eines nach dem andern wird Kind und dumm und klein.
Und alles kehrt im Erdenschoß
zurück zu Adams Erdenkloß.
Am längsten hält, was Flügel hat,
doch wird zuletzt auch dieses matt,
die Henne wird zum Küchlein, das Küchlein kriecht ins Ei,
das schlägt der große Krebs dann mit seinem Schwanz entzwei.
Zum Glücke kommt's wohl nie so weit!
Noch blüht die Welt in Fröhlichkeit!
Die Obrigkeit hat wacker acht,
daß sich der Krebs nicht locker macht.
Auch für dies arme Liedchen wär' das ein schlechtes Glück:
es lief' vom Mund der Leute ins Tintenfaß zurück.
August Kopisch.
88. Die Heinzelmännchen.
Wie war zu Köln es doch vordem
mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul . man legte sich
hin auf die Bank und pflegte sich:
da kamen bei Nacht,
ehe man's gedacht,
die Männlein und schwärmten
und klappten und lärmten
und rupften
und zupften
und hüpften und trabten
und putzten und schabten
und eh' ein Faulpelz noch erwacht.
war all sein Tagewerk. bereits gemacht!
Die Zimmerleute streckten sich
hin auf die Spän' und reckten sich.
Indessen kam die Geisterschar
und sah, was da zu zimmern war,
nahm Meißel und Beil
und die Säg' in Eil';
sie sägten und stachen
und hieben und brachen,
berappten
und klappten,
92
— 98 —
visierten wie Falken
und setzten die Balken
eh' sich's der Zimmermann versahn.
klapp, stand das ganze Haus . .. schon fertig da!
Beim Bäckermeister war nicht Not,
die Heinzelmännchen backten Brot.
Die faulen Burschen legten sich,
die Heinzelmännchen regten sich —
und ächzten daher
mit den Säcken schwer!
Und kneteten tüchtig
und wogen es richtig
und hoben
und schoben
und fegten und backten
und klopften und hackten.
Die Burschen schnarchten noch im Chor:
da rückte schon das Brot . . .das neue, vor!
Beim Fleischer ging es just so zu:
Gesell und Bursche lag in Ruh'.
Indessen kamen die Männlein her
und hackten das Schwein die Kreuz und Quer'.
Das ging so geschwind
wie die Mühl' im Wind!
Die klappten mit Beilen,
die schnitzten an Speilen.
Die spülten,
die wühlten
und mengten und mischten
und stopften und wischten.
Tat der Gesell die Augen auf
wapp! hing die Wurst da schon im Ausverkauf!
Beim Schenken war es so: es trank
der Küfer, bis er niedersank;
am hohlen Fasse schlief er ein,
die Männlein sorgten um den Wein
und schwefelten fein
alle Fässer ein
und rollten und hoben
mit Winden und Kloben
94
und schwenkten
und senkten
und gossen und panschten
und mengten und manschten.
Und eh' der Küfer noch erwacht,
war schon der Wein geschönt und fein gemacht!
Einst hatt' ein Schneider große Pein:
der Staatsrock sollte fertig sein;
warf hin das Zeug und legte sich
hin auf das Ohr und pflegte sich.
Da schlüpften sie frisch
an den Schneidertisch
und schnitten und rückten
und nähten und stickten
und faßten
und paßten
und strichen und guckten
und zupften und ruckten —
und eh' mein Schneiderlein erwacht:
war Bürgermeisters Rock ..bereits gemacht!
Neugierig war des Schneiders Weib
und macht sich diesen Zeitvertreib:
streut Erbsen hin die andre Nacht.
Die Heinzelmännchen kommen sacht;
eins fährt nun aus,
schlägt hin im Haus,
die gleiten von Stufen
und plumpen in Kufen,
die fallen
mit Schallen,
die lärmen und schreien
und vermaledeien!
Sie springt hinunter auf den Schall
mit Licht: husch husch husch husch! — verschwinden all'!
O weh! nun sind sie alle fort,
und keines ist mehr hier am Ort!
Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn,
man muß nun alles selber tun!
Ein jeder muß fein
selbst fleißig sein
— 11 —
und kratzen und schaben
und rennen und traben
und schniegeln
und bügeln
und klopfen und hacken
und kochen und backen.
Ach, daß es noch wie damals wär'!
Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder her!
August Kopisch.
89. Von den Schildbürgern.
Es hatten die zu Schilda keine Katzen, wohl aber so viel
Mäuse, dab ihnen auch im Brotkorbe nichts sicher war; was sie
nur neben sich stellten, das ward ihnen aufgefressen oder zernagt.
Sie konnten auch keinen Rat finden, wie sie der Mäuse ledig
würden. Es begab sich aber auf einige Zeit, daß ein Wanders-
mann dureh Schilda zog, der trug eine Katze auf dem Arm und
kehrte bei dem Wirte ein. Der Wirt fragte ihn, was doch dieses
für ein Tier sei. Er sprach, es sei ein Maushund. Nun waren die
Mäuse zu Schilda dort so heimisch und zahm, daß sie auch vor
den Leuten nicht mehr flohen, sondern bei Tag ohne alle Scheu
hin und her liefen. Darum ließ der Wandersmann die Katze laufen;
diesoe erlegte alsbald im Beisein des Wirts eine grobe Anzahl von
Mäusen. — Als solches der Gemeinde durch den Wirt angezeigt
ward, fragten sie den Mann, ob ihm der Maushund feil wäre; sie
wollten ihm den wohl bezahlen. Er antwortete, er sei ihm zwar
nicht feil; weil sie aber seiner so bedürftig wären, so wolle er
ihnen denselben ablassen, wenn sie ihm, was recht sei, dafür
geben wollten. Er forderte aber hundert Gulden. Die Schildbürger
waren froh, dab er nicht mehr gefordert hatte, wurcdlen mit ihm des
Kaufs eins und zahlten das Geld aus dem Gemeindesäckel. Also
ward der Kauf gemacht, und der Fremde trug ihnen den Maus—
hund in das Rathaus, wo sie ihr Getreide liegen hatten, und wo
auch die meisten Mäuse waren. Der Wanderer zog eilends mit
dem Gelde hinweg, fürchtete sich, daß jene nicht etwa der Kauf
gereue, und sie ihm das Geld wieder nehmen möchten, und im
Gehen sah er oft hinter sich, ob ihm nicht jemand nacheilte. Nun
hatten die Schildbürger vergessen zu fragen, was der Maushund
esse; darum schickten sie dem Wandersmann in Eile einen nach,
der ihn deshalb fragen sollte. Als jener aber sah, daß ihm jemand
nacheilte, lief er desto schneller, so dah der Abgesandte ihn
9f
*
—
nicht ereilen konnte. Dieser schrie ihm daher von ferne zu:
„Mas ibt er? was ibßt er?“ Jener antworteté: „Was man ihm
beutl! was man ihm beut!“ Der sSchildbürger hatte verstan—
den: Vieh und Leut', Vieh und Leut'! und kehrte daher eilig
in grobem Schrecken heim und zeigte solches seinen gnädigen
Herren an. Diese erschraken darob sehr und sprachen: „Wehe,
wenn der Maushund keine Mäuse mehr zu fressen hat, so wird
er unser Vieh fressen und zuletzt uns selbst, ob wir ihn schon
mit unserm guten Gelde gekauft haben.“ Sie hielten daher einen
Rat, die Katze zu töten, aber keiner wollte sie angreifen. Darum
wurden sie rats, sie in dem Rathause mit FPeuer zu verbrennen;
denn es wäre besser, einen geringeren Schaden zu tragen, als
dab sie alle um Leib und Leben kämen. Also zündeten sie das
Rathaus an. Da aber die Katze das Peuer merkte, sprang sie zu.
einem Penster aus, kam davon und flüchtete in ein andeères Haus
das Rathaus aber brannte bis auf den Boden nieder. Niemand
war je mehr in Ingtsten als die Schildbürger, die doen Maushund
nicht los werden konnten. Sie hielten daher ferner Rat, kauften
das Haus, in welchem die Katze war, an sich und zündeten es
aueh an. Aber die Katze entsprang auf das Dach, sab da eine
Weile und strich sich, wie ihre Gewohnheit war, mit der Pfote
über den Kopf. Das verstanden die Bauern, als wenn die Katze
eine Hand aufhübe und einen fürchterlichen Eid schwöre, dabß sie
solches nicht wollte ungerochen lassen. Da wollte einer, der ein
alter Held war und das Herz auf dem rechten Flecke hatte, mit
einem langen Spieb nach der Katze stechen, sie aber sprang auf
den Spieb und kam an ihm herabgelaufen. Den Helden und die
ganze Gemeinde ergriff ein entsetzlicher Schrecken, so dab sie
davonliefen und das Feuer brennen lieben. Weil aber dem Feuer
niemand wehrte, noch jemand zum Löschen herbeikam, so brannte
die ganze Stadt nieder, und kam gleichwohl die Katze davon; die
schildbürger aber waren mit Weib und Kind in den Wald geflohen,
waren voller Angst und wubten nicht, was zu fun sei. Ihre Häuser
waren verbrannt, Hab undt Gut verloren. Neu sich anzubauen,
wagten sie nicht, denn der fürchterliche, blutdürstige Maushund
hatte einen teuren Eid geschworen, sich zu rächen, würde also
sicher wiedergekommen sein und sie, die nur mit Mühe dem Tode
entronnen waren, noch alle umgebracht haben. So fanden sie
keinen besseren Rat, als daß sie eine andeère Heimat und andere
WVohnungen suchten, wo sie vor dem Maushund geborgen und
sicher wohnen möchten. — Sie verlieben ihr Vaterland und zogen
96
— 97 —
voneinander, der eine hierhbin mit Weib und Kind, der andere
dahin, lieben sich an vielen Orten nieder und breiteten ihr Ge—
schlecht weit und breit aus. Ihre Kinder und Kindeskinder findet
man seitdem in aller Herren Ländern.
Volksbueh, herausg. v. Marbaeh.
90. Riitsel.
I. Wo kommen alle Säclke a2usammen?
2. Welche Leute tun nichts als Hauen und Stechen und werden
doch nicht bestrafto
3. Welche Pferde sind rosenfarben?
1. Was brennt besser als 2wei Lichter?
5. Warum bäekt der Dorfbächer ein Zweigroschenbrot größer als
der Stadtbächer
3. Wie kann man Wasser in einem Siebe tragen?
. Wieoiel Nägel braucht ein gut beschlagenes Pferd
8. Er hat keinen Körper und ist doch sichtbar.
9. Welche Schuhe zerreißen nie an den Rußen?
10. Welches Tier hat die Knochen auswendig und das Hleisch
inwendigꝰ
I1. Mie tief ist das Meer
12. Mit welechem Auge sieht man nichtꝰ Deutsehes Kinderbuen.
91. Till Eulenspiegel.
Till Eulenspiegel, der Schalksnarr, wurde, wie man erzählt, vor
etwa sechshundert Jahren im Dorfe Kneitlingen bei Schöppenstedt
geboren. Der kleine Till gedieh vortrefflich und war wie ein rot—
backiger Apfel. Schon als er drei Jahre alt war, verübte er allerlei
Schalkheiten, so daß die Nachbarn sich bei seinem Vater des öfteren
beklagten. Als Eulenspiegel so weit war, daß er ein Handwerk er—
lernen konnte, zeigte er wenig Lust dazu. Dafür lernte er mancherlei
Gaukelei und hatte später seine Freude daran, in der Welt umher—
zuwandern, allerlei lose Streiche zu verüben und anderen Leuten
einen Schabernack zu spielen. Von ihm will ich euch nun einige
lustige Stücklein erzählen.
Einst kam er auf seiner Wanderung nach Hildesheim, und weil
er es müde war, zu Fuß zu reisen, wollte er sich auf dem Roßmarkt
daselbst ein Pferd kaufen. Er fand bald eins, das ihm gefiel. Der
Besitzer bot ihm das Pferd für 25 Gulden an. Eulenspiegel handelte
mit ihm, und sie einigten sich auf 24 Gulden. Till sagte: „Ich will
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
3
dir jetzt 12 Gulden bar geben, die anderen 12 will ich dir schuldig
bleiben.“ Der Roßhändler schlug ein, und Eulenspiegel zahlte ihm
die zwölf Gulden. Es waren wohl drei Monate vergangen, da kam der
Roßhändler zu ihm und forderte die zwölf Gulden. „Die soll ich dir
doch schuldig bleiben,“ sagte Eulenspiegel. Da wurde der Roßhändler
zornig, und sie kamen schließlich miteinander vor Gericht. Ehe jedoch
der Prozeß beendet war, verschwand Eulenspiegel aus Hildesheim und
soll dem Roßhändler das Geld heute noch geben.
Ein andermal zog Eulenspiegel auf einem alten Klepper, der
Mühe hatte, seine Last zu tragen, durch das Lüneburger Land nach
Celle. Dort verübte er allerlei abenteuerliche Schwänke, so daß der
Herzog ihm das Land verbot und ihm drohte, daß er ihn hängen
lassen würde, wenn er sich nicht aus dem Staube mache. Aber Eulen—
spiegel beeilte sich nicht, aus dem Lande zu kommen. Er hatte sich
einen Sturzkarren gekauft, und als er eines Tages nach Celle fuhr,
traf er vor der Stadt einen Bauern, der seinen Acker pflügte. Er
fragte ihn, wem das Feld gehöre. Der Bauer sprach: „Es ist mein,
ich habe es ererbt.“ „Was soll ich dir geben,“ fragte Eulenspiegel,
„wenn ich mir meinen Karren voll Erde von diesem Acker fülle?“
„Einen Schilling nehme ich dafür,“ sprach der Bauer. Eulenspiegel
gab ihm einen Schilling, warf den Karren voll Erde, kroch da hinein
und fuhr vor die Burg zu Celle. Als nun der Herzog heimgeritten
kam, da ward er Eulenspiegel gewahr, der auf dem Karren saß, bis
an die Schultern in der Erde. Der Herzog runzelte die Stirn und
sprach: „Eulenspiegel, ich hatte dir doch mein Land verboten; wenn
ich dich darin fände, so wollte ich dich hängen lassen.“ „Gnädiger
Herr,“ sprach Eulenspiegel, „ich bin ja nicht in Eurem Lande, ich sitze
in meinem Lande. Das habe ich gekauft für einen Schilling von einem
Bauern, der mir sagte, es wäre sein Erbteil.“ Da sprach der Herzog
lachend und drohte mit dem Finger: „Fahr hin mit deinem Erd—
reich aus meinem Erdreich und komm mir nicht wieder, sonst werde ich
dich mit Pferd und Karren hängen lassen!“ Da kroch Eulenspiegel
schleunigst aus seinem Karren, sprang auf das Pferd und ritt aus
dem Lande; denn er merkte wohl, daß der Herzog nicht mehr mit sich
spaßen ließ. Seinen Karren ließ er aber vor der Hofburg stehen.
Bald darauf war er in Hamburg, und als er auf dem Hopfen—
markt stand und Maulaffen feilhielt, kam ein Bartscherer gegangen
und fragte ihn: „Was treibst du für ein Gewerbe?“ Eulen—
spiegel antwortete: „Ich bin ein Barbier.“ Da dingte ihn der
Meister und sprach: „Sieh, das Haus da gegenüber, wo die hohen
Fenster sind, da geh hinein, ich will gleich nachkommen.“ Eulen—
98
spiegel sagte ja und ging stracks durch die hohen Fenster, deren Scheiben
er zerbrach, ins Haus hinein und rief: „Gott grüß' das Handwerk.“
Indem kam nun der Meister, und als er die Bescherung sah, die
Eulenspiegel angerichtet hatte, rief er: „Bist du denn närrisch, daß
du nicht zur Tür hineingehest und mir meine Fenster ganz läßt? was
soll denn das heißen?“ „Aber lieber Meister, sagtet Ihr nicht, ich
sollte dort hineingehen, wo die hohen Fenster wären, und Ihr wolltet
bald nachkommen? So habe ich dann nach Eurem Geheiß getan,
aber wunderlicherweise seid Ihr mir da nicht nachgekommen.“ Da
ward der Meister zornig und schrie: „Du bist mir ein böser und
arger Schalk; geh wieder hin, wo du hergekommen bist!“ Da ging
Eulenspiegel in die Stube und sprang wieder zum Fenster hinaus,
wobei er noch eine Scheibe zerbrach. Wütend lief ihm der Bartscherer
nach, holte den Büttel, damit sie Eulenspiegel fingen; der war aber
flinker als die beiden und entwischte aus der Stadt.
Als Eulenspiegel nach Berlin kam, ward er Geselle bei einem
Schneider. Nun fügte es sich, daß der Meister eines Abends müde
war und gern zeitig schlafen gehen wollte; doch dünkte es ihn noch zu
früh, daß auch der Knecht zu Bette gehen sollte, und da in einen Rock
noch die Ärmel zu nähen waren, sagte er zu Eulenspiegel: „Wirf die
AÄrmel noch an den Rock und geh dann auch zu Bett!“ Eulenspiegel
sagte, daß er das tun wolle, und der Schneider legte sich schlafen. Als
Eulenspiegel nun allein war, hing er den Rock an einen Haken,
zündete zwei Lichter an, zu jeder Seite des Rockes eins, und nahm einen
AÄrmel und warf ihn an den Rock und ging auf die andere Seite und
warf den andern auch daran; er warf die Ärmel an den Rock die
ganze Nacht hindurch bis zum Morgen. Da stand der Meister auf
und kam in die Stube. Eulenspiegel ließ sich aber nicht stören und
warf unaufhörlich die ÄArmel an den Rock. Der Meister sah dies
merkwürdige Gebaren und sprach: „Du Narr, was treibst du da für
ein seltsames Gaukelspiel?“ „Das ist für mich kein Gaukelspiel,“ ant—
wortete Eulenspiegel ganz ernst; „die ganze Nacht habe ich gestanden
und habe diese dummen AÄrmel an den Rock geworfen, und sie wollen
nicht daran kleben bleiben.“ Der Schneider sprach ärgerlich: „Ich
meinte, du solltest die Armel an den Rock nähen.“ „Wenn Ihr eine
Sache anders sagt, als Ihr meint,“ sprach Eulenspiegel, „wie soll man
das zusammenreimen? Wie schnell wären die Ärmel angenäht gewesen,
und ich hätte gut noch ein paar Stunden schlafen können. Nun möget
Ihr den Tag über sitzen und nähen, und ich will gehen und mich
schlafen legen.“ Das wollte der Meister nicht zugeben, und beide
gerieten miteinander in Streit. Schließlich sagte der Schneider:
99
— 100 —
„Morgen räumst du mir das Haus, ich will dich nicht länger be—
halten.“ „Du lieber Gott,“ sagte Eulenspiegel, „ich tue doch alles, was
man mir heißt, und doch kann ich nirgends Dank verdienen. Aber
paßt Euch mein Dienst nicht, so will ich Euch morgen nach Euren
Worten das Haus räumen und wandern.“ Als der Meister am andern
Tage ausgegangen war, begann Eulenspiegel zu räumen. Stühle, Tische,
Bänke, und was er tragen und schleifen konnte, brachte er auf die
Gasse. Darauf suchte er seine Siebensachen zusammen und ging davon.
Gegen Ende seines Lebens kam Eulenspiegel nach Mölln. Er
fühlte sich plötzlich elend und krank und starb bald darauf. Als man
ihn begraben wollte, riß das Seil entzwei, das am Fußende war, und
der Sarg glitt in das Grab, so daß Eulenspiegel auf die Füße zu
stehen kam. Da sprachen alle, die dabei standen: „Lasset ihn nur
so stehen, denn wunderlich war er im Leben, wunderlich will er auch
sein im Tod.“ Also taten sie auch und warfen das Grab zu. Oben
darauf setzten sie ihm einen Stein. Dieser ist noch jetzt an der Stadt—
kirche in Mölln zu sehen. Er trägt das Bildnis Eulenspiegels mit
einer Eule und einem Spiegel und die Inschrift:
Anno 1350 is dütt upgehauden,
Uhlenspegel hir under begraven.
Market wol und denket dran,
wat ik gewest up Erden.
All de hir voräver gan,
moten mi gliek werden. Nach „Till Eulenspiegel“.
92. Hans im Glück.
Hans hatte sieben Jahre bei seinem Herrn gedient, da sprach
er zu ihm: „Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder
heim zu meiner Mutter, gebt mir meinen Lohn.“ Der Herr ant—
wortete: „Du hast mir treu und ehrlich gedient; wie der Dienst
war, so soll der Lohn sein,“ und gab ihm ein Stück Gold, das so
groß als Hansens Kopf war. Hans zog sein Tüchlein aus der Tasche,
wickelte den Klumpen hinein, setzte ihn auf die Schulter und machte
sich auf den Weg nach Haus. Wie er so dahinging und immer ein
Bein vor das andere setzte, kam ihm ein Reiter in die Augen, der
frisch und fröhlich auf einem muntern Pferde vorbeitrabte. „Ach,“
sprach Hans ganz laut, „was ist das Reiten ein schönes Ding! da sitzt
einer wie auf einem Stuhl, stößt sich an keinen Stein, spart die Schuh'
und kommt fort, er weiß nicht wie.“ Der Reiter, der das gehört hatte,
hielt an und rief: „Ei Hans, warum läufst du auch zu Fuß?“ „Ich
— 191 —
muß ja wohl; da habe ich einen Klumpen heimzutragen, es ist zwar
Gold, aber ich kann den Kopf dabei nicht gerad' halten: auch drückt
mir's auf die Schulter.“ „Weißt du was,“ sagte der Reiter, „wir
wollen tauschen: ich gebe dir mein Pferd, und du gibst mir deinen
Klumpen.“ „Von Herzen gern,“ sprach Hans, „aber ich sage Euch,
Ihr müßt Euch damit schleppen.“ Der Reiter stieg ab, nahm das
Gold und half dem Hans hinauf, gab ihm die Zügel fest in die Hände
und sprach: „Wenn's nun recht geschwind soll gehen, so mußt du
mit der Zunge schnalzen und „„hopp hopp““ rufen.“
Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank
und frei dahinritt. Über ein Weilchen fiel's ihm ein, es sollte noch
schneller gehen, und fing an mit der Zunge zu schnalzen und „hopp
hopp“ zu rufen. Das Pferd setzte sich in starken Trab, und ehe sich's
Hans versah, war er abgeworfen und lag in einem Graben, der die
Äcker von der Landstraße trennte. Das Pferd wäre auch durch—
gegangen, wenn es nicht ein Bauer aufgehalten hätte, der des Weges
kam und eine Kuh vor sich hertrieb. Hans suchte seine Glieder zu—
sammen und machte sich wieder auf die Beine. Er war aber ver—
drießlich und sprach zu dem Bauer: „Es ist ein schlechter Spaß, das
Reiten, zumal wenn man auf so eine Mähre gerät wie diese, die
stößt und einen herabwirft, daß man den Hals brechen kann, ich setze
mich nun und nimmermehr wieder auf. Da lob' ich mir Eure Kuh,
da kann einer mit Gemächlichkeit hinterhergehen und hat obendrein
seine Milch, Butter und Käse jeden Tag gewiß. Was gäb' ich darum,
wenn ich so eine Kuh hätte!“ „Nun,“ sprach der Bauer, „geschieht
Euch so ein großer Gefallen, so will ich Euch wohl die Kuh für das
Pferd vertauschen.“ Hans willigte mit tausend Freuden ein, der
Bauer schwang sich aufs Pferd und ritt eilig davon.
Hans trieb seine Kuh ruhig vor sich her und bedachte den glück—
lichen Handel. „Hab' ich nur ein Stück Brot, und daran wird mir's
doch nicht fehlen, so kann ich, so oft mir's beliebt, Butter und Käse
dazu essen: hab' ich Durst, so melk' ich meine Kuh und trinke Milch.
Herz, was verlangst du mehr?“ Als er zu einem Wirtshaus kam,
machte er Halt, aß in der großen Freude alles, was er bei sich hatte,
sein Mittag- und Abendbrot, rein auf und ließ sich für seine letzten
paar Heller ein halbes Glas Bier einschenken. Dann trieb er seine
Quh weiter, immer nach dem Dorfe seiner Mutter zu. Die Hitze
ward drückender, je näher der Mittag kam, und Hans befand sich in
einer Heide, die wohl noch eine Stunde Wegs hatte. Da ward es ihm
ganz heiß, so daß ihm vor Durst die Zunge am Gaumen llebte.
„Dem Ding ist zu helfen,“ dachte Hans, „jetzt will ich meine Kuh
— 102⏑
melken und mich an der Milch laben.“ Er band sie an einen dürren
Baum und stellte, da er keinen Eimer hatte, seine Ledermütze unter:
aber so sehr er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen Milch zum
Vorschein. Und weil er sich ungeschickt dabei anstellte, so gab ihm
das ungeduldige Tier endlich mit einem der Hinterfüße einen solchen
Schlag vor den Kopf, daß er zu Boden taumelte und eine Zeitlang
sich gar nicht besinnen konnte, wo er war. Glücklicherweise kam
gerade ein Metzger des Weges, der auf einem Schubkarren ein junges
Schwein liegen hatte. „Was sind das für Streiche!“ rief er und half
dem guten Hans auf. Hans erzählte, was vorgefallen war. Der
Metzger reichte ihm seine Flasche und sprach: „Da trinkt einmal
und erholt Euch. Die Kuh will wohl keine Milch geben, das ist ein
altes Tier, das höchstens noch zum Ziehen taugt oder zum Schlachten.“
„Ei, ei,“ sprach Hans, und strich sich die Haare über den Kopf, „wer
hätte das gedacht! es ist freilich gut, wenn man so ein Tier ins Haus
abschlachten kann, was gibt's für Fleisch! aber ich mache mir aus
dem Kuhfleisch nicht viel, es ist mir nicht saftig genug. Ja, wer ein
so junges Schwein hätte! das schmeckt anders, dabei noch die Würste.“
„Hört, Hans,“ sprach der Metzger, „Euch zuliebe will ich tauschen
und will Euch das Schwein für die Kuh lassen.“ „Gott lohn' Euch
Eure Freundschaft“ sprach Hans und übergab ihm die Kuh und ließ
sich das Schweinchen vom Karren losmachen und den Strick, woran
es gebunden war, in die Hand geben.
Hans zog weiter und überdachte, wie ihm doch alles nach Wunsch
ginge; begegnete ihm ja eine Verdrießlichkeit, so würde sie doch gleich
wieder gutgemacht. Es gesellte sich danach ein Bursch zu ihm, der
trug eine schöne weiße Gans unter dem Arm. Sie boten einander die
Zeit, und Hans fing an von seinem Glück zu erzählen, und wie er
immer so vorteilhaft getauscht hätte. Der Bursch sagte ihm, daß er
die Gans zu einem Kindertaufschmaus brächte. „Hebt einmal,“ fuhr
er fort und packte sie bei den Flügeln, „wie schwer sie ist, die ist aber
auch acht Wochen lang genudelt worden. Wer in den Braten beißt,
muß sich das Fett von beiden Seiten abwischen.“ „Ja,“ sprach Hans
und wog sie mit der einen Hand, „die hat ihr Gewicht, aber mein
Schwein ist auch keine Sau.“ Indessen sah sich der Bursch nach allen
Seiten ganz bedenklich um, schüttelte auch wohl mit dem Kopf. „Hört,“
fing er darauf an, „mit Eurem Schweine mag's nicht so ganz richtig
sein. In dem Dorfe, durch das ich gekommen bin, ist eben dem
Schulzen eins aus dem Stall gestohlen worden; ich fürchte, ich fürchte,
Ihr habt's da in der Hand. Sie haben Leute ausgeschickt, und es
wäre ein schlimmer Handel, wenn sie Euch mit dem Schweine er—
—2
*
wischten: das geringste ist, daß Ihr ins finstere Loch gesteckt werdet.“
Dem guten Hans ward bang. „Ach Gott,“ sprach er, „helft mir
aus der Not, Ihr wißt hier herum besser Bescheid, nehmt mein
Schwein da und laßt mir Eure Gans.“ „Ich muß schon etwas aufs
Spiel setzen,“ antwortete der Bursche, „aber ich will doch nicht schuld
sein, daß Ihr ins Unglück geratet.“ Er nahm also das Seil in die
Hand und trieb das Schwein schnell auf einem Seitenweg fort: der
gute Hans aber ging, seiner Sorgen entledigt, mit der Gans unter
dem Arme der Heimat zu. „Wenn ich's recht überlege,“ sprach er mit
sich selbst, „habe ich noch Vorteil bei dem Tausch: erstlich den guten
Braten, hernach die Menge von Fett, die herausträufeln wird, das
gibt Gänsefettbrot auf ein Vierteljahr, und endlich die schönen weißen
Federn, die laß ich mir in mein Kopfkissen stopfen, und darauf will
ich wohl ungewiegt einschlafen. Was wird meine Mutter eine Freude
haben!“
Als er durch das letzte Dorf gekommen war, stand da ein
Scherenschleifer mit seinem Karren; das Rad schnurrte, und er sang
dazu „Ich schleife die Schere und drehe geschwind
und hänge mein Mäntelchen nach dem Wind.“
Hans blieb stehen und sah ihm zu; endlich redete er ihn an und
sprach: „Euch geht's wohl, weil Ihr so lustig bei Eurem Schleifen
seid.“ „Ja,“ antwortete der Scherenschleifer, „das Handwerk hat
einen güldenen Boden. Ein rechter Schleifer ist ein Mann, der, so
oft er in die Tasche greift, auch Geld darin findet. Aber wo habt
Ihr die schöne Gans gekauft?“ „Die hab' ich nicht gekauft, sondern
für mein Schwein eingetauscht.“ „Und das Schwein?“ „Das hab'
ich für eine Kuh gekriegt.“ „Und die Kuh?“ „Die hab' ich für ein
Pferd bekommen.“ „Und das Pferd?“ „Dafür habe ich einen
Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.“ „Und das Gold?“
„Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst.“ „Ihr habt Euch
jederzeit zu helfen gewußt,“ sprach der Schleifer, „könnt Ihr's nun
dahin bringen, daß Ihr das Geld in der Tasche springen hört, wenn
Ihr aufsteht, so habt Ihr Euer Glück gemacht.“ „Wie soll ich das
anfangen?“ sprach Hans. „Ihr müßt ein Schleifer werden wie ich;
dazu gehört eigentlich nichts, als ein Wetzstein, das andere findet sich
von selbst. Da hab' ich einen, der ist zwar ein wenig schadhaft, dafür
sollt Ihr mir aber auch weiter nichts als Eure Gans geben; wollt
Ihr das?“ „Wie könnt Ihr noch fragen,“ antwortete Hans, „ich
werde ja zum glücklichsten Menschen auf Erden: habe ich Geld, so
oft ich in die Tasche greife, was brauche ich da länger zu sorgen?“
103
— 104 —
reichte ihm die Gans hin und nahm den Wetzstein in Empfang.
„Nun,“ sprach der Schleifer und hob einen gewöhnlichen schweren
Feldstein, der neben ihm lag, auf, „da habt Ihr noch einen tüchtigen
Stein dazu, auf dem sich's gut schlagen läßt und Ihr Eure allen
Nägel gerade klopfen könnt. Nehmt hin und hebt ihn ordentlich auf.“
Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter;
seine Augen leuchteten vor Freude. „Ich muß in einer Glückshaut ge⸗
boren sein,“ rief er aus, „alles, was ich wünsche, trifft mir ein, wie
einem Sonntagskind.“ Indessen, weil er seit Tagesanbruch auf den
Beinen gewesen war, begann er müde zu werden; auch plagte ihn der
Hunger, da er allen Vorrat auf einmal in der Freude über die er—
handelte Kuh aufgezehrt hatte. Er konnte endlich nur mit Mühe
weitergehen und mußte jeden Augenblick Halt machen; dabei drückten
ihn die Steine ganz erbärmlich. Da konnte er sich des Gedankens
nicht erwehren, wie gut es wäre, wenn er sie gerade jetzt nicht zu tragen
brauchte. Wie eine Schnecke kam er zu einem Feldbrunnen geschlichen,
wollte da ruhen und sich mit einem frischen Trunk laben; damit er
aber die Steine im Niedersitzen nicht beschädigte, legte er sie bedächtig
neben sich auf den Rand des Brunnens. Darauf setzte er sich nieder und
wollte sich zum Trinken bücken, da versah er's, stieß ein klein wenig an,
und beide Steine plumpten hinab. Hans, als er sie mit seinen Augen
in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann
nieder und dankte Gott mit Tränen in den Augen, daß er ihm auch
diese Gnade noch erwiesen und ihn auf eine so gute Art und ohne daß
er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen
befreit hätte: das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. „So
glücklich wie ich,“ rief er aus, „gibt es keinen Menschen unter der
Sonne.“ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun
fort, bis er daheim bei seiner Mutter war. Brüder Grimm.
93. Rũtsel.
Mit u des faulen Schuũlers Qual,
mit a eilt es vom Berg 2u Taul.
Mit i kannst du's am Kopfe Sehn,
mit e Siehsst du's am Himmel sStehn
Mit a ist es ein Ding von Eisen,
mit u kann's plaudern, sschmechen, speisen.
Mit g dient es ꝛu Schmuck und Zier,
mit d nennt es ein nũtalich Vier. Robert Lövionee.
94. Varon von Münchhausen erzählt einige Abenteuer.
Auf meiner Reise nach Rußland, die ich mitten im Winter antrat,
kam ich durch Polen. Nach einem langen Tagesritt überfielen mich
Nacht und Dunkelheit. Nirgends war ein Dorf zu hören noch zu
sehen. Das ganze Land lag unter Eis und Schnee, und ich wußte
weder Weg noch Steg. Des Reitens müde, stieg ich endlich ab und
band mein Pferd an eine Art von spitzem Baumstaken, der über dem
Schnee hervorragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistole unter
den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder und tat
ein so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieder auf—
gingen, als bis es heller, lichter Tag war. Wie groß war aber mein
Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorfe auf dem Kirch—
hofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch hörte
ich's bald darauf irgendwo über mir wiehern. Als ich nun emporsah,
so wurde ich gewahr, daß es an den Wetterhahn des Kirchturms ge—
bunden war und von da herunterhing. Nun wußte ich sogleich, wie ich
dran war. Das Dorf war nämlich die Nacht über ganz zugeschneit
gewesen; das Wetter hatte sich auf einmal umgesetzt; ich war im
Schlaf nach und nach, sowie der Schnee zusammengeschmolzen war,
ganz sanft herabgesunken; und was ich in der Dunkelheit für den
Stumpf eines Bäumchens, der über dem Schnee hervorragte, gehalten,
und daran mein Pferd gebunden hatte, das war das Kreuz oder der
Wetterhahn des Kirchturmes gewesen.
Ohne mich nun lange zu bedenken, nahm ich eine von meinen
Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glücklich auf die Art wieder zu
meinem Nierde und setzte meine Reise fort.
Einst belagerten wir, ich weiß nicht mehr welche Stadt, und dem
Feldmarschall war ganz erstaunlich viel an genauer Kundschaft gelegen,
wie die Sachen in der Festung ständen. Es schien äußerst schwer, ja
fast unmöglich, durch alle Vorposten, Wachen und Festungswerke
hineinzugelangen; auch war eben keiner vorhanden, durch den man
so etwas glücklich auszurichten hätte hoffen können. Vor Mut und
Diensteifer fast ein wenig allzurasch, stellte ich mich neben eine der
größten Kanonen, die soeben nach der Festung abgefeuert ward, und
sprang im Hui auf die Kugel, in der Absicht, mich in die Festung hinein—
tragen zu lassen. Als ich aber halbwegs durch die Luft geritten war,
stiegen mir allerlei nicht unerhebliche Bedenklichkeiten zu Kopfe. Hm,
dachte ich, hinein kommst du nun wohl, allein wie hernach sogleich
wieder heraus? Und wie kann's dir in der Festung ergehen? Man
105
— 196 —
wird dich sogleich als einen Spion erkennen und an den nächsten
Galgen hängen. Nach diesen und ähnlichen Betrachtungen entschloß
ich mich kurz, nahm die glückliche Gelegenheit wahr, als eine Kanonen—
kugel aus der Festung einige Schritte weit an mir vorüber nach unserm
Lager flog, sprang von der meinigen auf diese hinüber und kam, zwar
unverrichteter Sache, jedoch wohlbehalten bei den lieben Unsrigen
wieder an.
So leicht und fertig ich im Springen war, so war es auch mein
Pferd. Weder Gräben noch Zäune hielten mich jemals ab, überall den
geradesten Weg zu reiten. Einst setzte ich hinter einem Hasen her,
der querfeldein über die Heerstraße lief. Eine Kutsche mit zwei
schönen Damen fuhr diesen Weg gerade zwischen mir und dem Hasen
vorbei. Mein Gaul setzte so schnell und ohne Anstoß mitten durch
die Kutsche hindurch, wovon die Fenster aufgezogen waren, daß ich
kaum Zeit hatte, meinen Hut abzuziehen und die Damen wegen dieser
Freiheit untertänigst um Verzeihung zu bitten.
Ein anderes Mal wollte ich über einen Morast setzen, der mir
anfänglich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten im
Sprunge war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder um,
wo ich hergekommen war, um einen größeren Anlauf zu nehmen.
Gleichwohl sprang ich auch zum zweitenmal noch zu kurz und fiel nicht
weit vom andern Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte
ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines
eigenen Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem
Pferde, welches ich fest zwischen meine Kniee schloß, wieder heraus—
gezogen hätte.
Trotz aller meiner Tapferkeit und Klugheit, trotz meiner und
meines Pferdes Schnelligkeit, Gewandtheit und Stärke ging's mir
in dem Türkenkriege doch nicht immer nach Wunsche. Ich hatte so—
gar das Unglück, durch die Menge übermannt und zum Kriegs—
gefangenen gemacht zu werden. Ja, was noch schlimmer war, aber
doch immer unter den Türken gewöhnlich ist, ich wurde zum Sklaven
verkauft.
In diesem Stande der Demütigung war mein Tagewerk nicht
gerade hart und sauer, aber seltsam und verdrießlich. Ich mußte
nämlich des Sultans Bienen alle Morgen auf die Weide treiben,
sie daselbst den ganzen Tag lang hüten und dann gegen Abend wieder
zurück in ihre Stöcke treiben. Eines Abends vermißte ich eine Biene,
wurde aber sogleich gewahr, daß zwei Bären sie angefallen hatten
und ihres Honigs wegen zerreißen wollten. Da ich nun nichts anderes
107 —
Waffenähnliches in Händen hatte als die silberne Axt, welche das
Kennzeichen der Gärtner und Landarbeiter des Sultans ist, so warf
ich diese nach den beiden Räubern, bloß in der Absicht, sie damit weg—
zuscheuchen. Die arme Biene setzte ich auch wirklich dadurch in Frei—
heit; allein durch einen unglücklichen, allzustarken Schwung meines
Armes flog die Axt in die Höhe und hörte nicht auf zu steigen, bis
sie im Monde niederfiel. Wie sollte ich sie nun wiederkriegen?
mit welcher Leiter auf Erden sie herunterholen?
Da fiel mir ein, daß die türkischen Bohnen sehr geschwind und
zu einer ganz erstaunlichen Höhe emporwachsen. Augenblicklich pflanzte
ich also eine solche Bohne, welche wirklich emporwuchs und sich an
eins von des Mondes Hörnern von selbst anrankte. Nun kletterte ich
getrost nach dem Monde empor, wo ich auch glücklich anlangte. —
Es war ein ziemlich mühseliges Stückchen Arbeit, meine silberne Art
an einem Orte wiederzufinden, wo alle anderen Dinge gleichfalls wie
Silber glänzten. Endlich fand ich sie doch auf einem Haufen Spreu
und Häckerling.
Nun wollte ich wieder zurückkehren, aber ach! die Sonnenhitze
hatte indessen meine Bohne aufgetrocknet, so daß daran schlechterdings
nicht wieder hinabzusteigen war. Was war nun zu tun? — Ich
flocht mir einen Strick von dem Häckerling, so lang ich ihn nur immer
machen konnte. Diesen befestigte ich an eins von des Mondes Hörnern
und ließ mich daran herunter. Mit der rechten Hand hielt ich mich
fest, und in der linken führte ich meine Axt. Sowie ich nun eine
Strecke hinuntergeglitten war, hieb ich immer das überflüssige Stück
über mir ab und knüpfte dasselbe unten wieder an, wodurch ich denn
ziemlich weit hinuntergelangte. Dieses wiederholte Abhauen und
Anknüpfen machte nun freilich den Strick ebensowenig besser, als es
mich völlig hinab auf des Sultans Landgut brachte.
Ich mochte wohl noch ein paar Meilen weit droben in den
Wolken sein, als mein Strick auf einmal zerriß, und ich mit solcher
Heftigkeit herab zu Gottes Erdboden fiel, daß ich ganz betäubt davon
wurde. Durch die Schwere meines von einer solchen Höhe herab—
fallenden Körpers fiel ich ein Loch, wenigstens neun Klafter tief,
in die Erde hinein. Ich erholte mich zwar endlich wieder, wußte
aber nun nicht, wie ich wieder herauskommen sollte. Allein was tut
nicht die Not! Ich grub mir mit meinen Nägeln, deren Wuchs da—
mals vierzigjährig war, eine Art Treppe und förderte mich dadurch
glücklich zutage, Gottfried August Bürger.
95. Rätsel.
1. Mit K nährt's,
mit Mgärt's,
mit P fährt's,
mit R zerfrißt es Stahl und Wehr,
und ohne Kopf zieht's kalt einher.
2. Mit M umschließt es manchen Garten,
mit D trotzt es der Zeiten Lauf,
mit B muß es des Feldes warten,
mit L stehn Jäger oft darauf.
3. Mit a ist's reich an Woll',
mit i ganz sternenvoll,
mit u macht's Pferde toll.
96. Seltsamer Sparzierritt.
Ein Mann reitet auf einem Esel nach Haus und läßt seinen
Buben zu Fuß nebenher laufen. Kommt ein Wanderer und sagt:
„Das ist nicht recht, Vater, daß Ihr reitet und labßt Euren Sohn
laufen, Ihr habt stärkere Glieder.“ Da stieg der Vater vom Esel
herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann
und sagt: „Das ist nicht recht, Bursche, dab du reitest und lässest
deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere Beine.“ Da saben
beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wanders—
mann und sagt: „Was ist das für ein Unverstand, zwei Kerle auf
einem schwachen Tier! Sollte man nicht einen Stock nehmen
und euch beide hinabjagen!“ Da stiegen beide ab und gingen
selbdritt zu Fub, rechts und links der Vater und Sohn und in der
Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: „Ihr
seid drei kuriose Gesellen. Ist's nicht genug, wenn zwei zu Fube
gehen? Gehts nicht leichter, wenn einer von euch reitet?“ Da
band der Vater dem Esel die vordeéren Beine zusammen, und doer
Sohn band ihm die hinteren Beine zusammen, zogen einen starken
Baumpfahl durch, der an der Straße stand, und trugen den Esel
auf der Achsel heim.
So weit kann's kommen, wenn man es allen Leuten will
recht machen. Johann Peter Hebol.
108
— —
97. Die Katze und die Mäuse.
Die Mäuse hielten einmal eine Volksversammlung, um sich zu
beraten, wie sie den Nachstellungen der Katzen entgehen sollten. Da
war aber guter Rat teuer, und vergebens rief der Vorsitzer die
erfahrensten Mäuse der Gemeinde auf, bis endlich ein junger Mäuserich
die Finger emporstreckte und um die Erlaubnis bat zu sprechen. Als
diesem nun das Wort gegeben ward, hub er an und sprach: „Ich habe
lange darüber nachgedacht, warum uns die Katzen so gefährlich sind.
Das liegt nicht sowohl an ihrer Geschwindigkeit, wovon soviel Wesens
gemacht wird, — würden wir sie zu rechter Zeit gewahr, so wären wir
wohl behende genug, in unser Loch zu entspringen, ehe sie uns etwas
anhaben könnten. Ihre Überlegenheit liegt vielmehr in ihren samtenen
Pfoten, unter welchen sie ihre grausamen Krallen so lange zu verbergen
wissen, bis sie uns in den Tatzen haben. Denn da wir den Schall der
Katzen nicht vernehmen, so tanzen und springen wir noch unbesorgt
über Tisch' und Bänke, wenn der Todfeind schon hervorschleicht und
den Buckel zum Sprunge krümmt, uns zu haschen und zu würgen.
Darum ist meine Meinung, man müsse den Katzen die Schelle an—
hängen, damit der Schall uns ihre Nähe verkünde, bevor es zu spät
ist.“ Dieser Vorschlag fand so großen Anklang, daß er alsbald zum
Beschluß erhoben ward. Es fragte sich jetzt nur noch, wer es über—
nehmen sollte, der Katze die Schelle anzuhängen. Der Vorsitzer meinte,
hierzu werde niemand geeigneter sein als derjenige, der so schlauen
Rat erdacht hätte. Da geriet der junge Mäuserich in Verlegenheit und
stotterte die Entschuldigung heraus, hierzu sei er noch zu jung, er
kenne die Katze nicht genug; sein Großvater, der sie besser kenne, werde
dazu geschickter sein. Dieser erklärte aber, weil er die Katze zu gut
kenne, werde er sich wohl hüten, einen solchen Auftrag zu über—
nehmen. Auch sonst wollte sich niemand hierzu verstehen, und so
blieb der Beschluß unausgeführt und die Herrschaft der Katzen über
die Mäuse ungebrochen. Nach Äsop von Simrock.
108
II. Aus Heimat und Vaterland.
A. Die Natur im Wechsel der Jahreszeiten.
1. Frühling.
98. Frühlingseinzug.
Die Fenster auf, die Herzen auf! die ruft er sich zur Hülfe her
geschwinde! geschwinde! und pocht und klopfet immer mehr,
Der alte Winter will heraus, geschwinde, geschwinde.
ippen ünahllin durn buß dau Die Fenster auf, die Herzen auf!
er windet bang sich in der Brust de esie
und kramt zusammen seinen Wust, Gs pu g
s kömmt der Junker Morgenwind,
heschwinde, gesh winde ein bausebackig rotes Kind,
Die denster auf, die Herzen auf! Ind blͤst daß ulles Ningt und hürtt,
geschwinde! geschwinde! bis seinem Herrn gebffnet wird,
Er spürt den Frühling vor dem Tor, geschwinde, geschwinde.
der will ihn zupfen bei dem Ohr,
ihn zausen an dem weißen Bart Die Fenster auf, die Herzen auf!
nach solcher wilden Buben Art, geschwinde! geschwinde!
geschwinde, geschwinde. Es kömmt der Ritter Sonnenschein,
Die Fenster auf, die Herzen auf! der bricht mit goldnen Lanzen ein,
geschwinde! geschwinde! der sanfte Schmeichler Blütenhauch
Der Frühling klopft und pocht ja schleicht durch die engsten Ritzen auch,
schon — geschwinde, geschwinde.
horcht, horcht, es ist sein lieber Ton! Die Fenster auf, die Herzen auf!
Er pocht und klopfet, was er kann, geschwinde! geschwinde!
mit kleinen Blumenknospen an, Zum Angriff schlägt die Nachtigall,
geschwinde, geschwinde. und horch, und horch, ein Widerhall,
Die Fenster auf, die Herzen auf! ein Widerhall aus meiner Brust!
geschwinde! geschwinde! Herein, herein, du Frühlingslust,
Und wenn ihr noch nicht öffnen wollt, geschwinde, geschwinde.
er hat viel Dienerschaft im Sold, Wilhelm Müller.
— 111 —
99. Das Schneeglõckehen.
Der Lenz will kommen, der Winter ist aus,
Schneeglõckchen läutet: „Leraus, heraus!
Heraus, ihr Schläfer in Flur und Heid,
es ist nicht fürder mehr Schlafenszeit!
Ihr Sänger, hervor aus Feld und Wald,
die Blüten erwachen, sie säuseln bald;
und wer noch schlummert im Winterhaus
zu Leben und Weben heraus, heraus!“
So tönt Schneeglöckchen durchs weite Land,
da hören's wohl Schläfer allerhand;
und es läutet fort zu Tag und Nacht,
bis endlich allesamt aufgewacht;
und läutet noch immer und schweigt nicht slill,
ob nicht dein Herz auch erwachen will.
8o öffne nun doch den engen Schrein,
zeuch aus in die junge Welt hinein;
in das große, duftige Gotteshaus
erschwing dich, o Seele, und fleug hinaus
und halte Andacht und stimme erfreut
in das volle, sübe Prũühlingsgeläut! Georg Scheurlin.
100. Der Star.
„Bruder Lustig“ hat ein bekannter Naturforscher den Star ge—
nannt und damit die beste Bezeichnung für diesen heitern Allerwelts—
liebling gefunden. Unser Star ist ein schmuckes Bürschchen, das
16 bis 18 em mißt; er trägt ein schwarzes Kleid, das im Lichte der
Sonne wie Atlas glänzt und dabei einen blaugrünlichen Schimmer
zeigt, im Herbst aber nach der Mauser wie mit weißen Perlen über—
fäet ist. Das ist sein Reisekleid, in dem er uns aber erst dann ver—
läßt, wenn der Winter ihm das Leben in unserer Nähe unmöglich
macht. Nur zögernd trennt er sich von seinem „Daheim“ und verirrt
sich in der Regel nicht weiter von demselben als in die nächste wärmere
Gegend unseres Vaterlandes, die ihm genügend Nahrung bietet. Nur
einige reiselustige Stare sehen sich in Spanien, Italien und Griechen—
land um, während einzelne noch kühnere ihre Reise bis Afrika aus—
dehnen.
Sowie aber nur der Frühling bei uns seine Ankunft ansagt, ist
sicher Bruder Lustig einer der ersten unserer Frühlingsgäste. Um
1. —
Hofe des Königs Lenz darf auch der Star nicht fehlen; ja er muß
seiner Majestät noch vorauseilen, um aller Welt durch fröhliche
Lieder, lustiges Geschnatter und allerlei tolle Possen kundzutun, daß
nun alle Not ein Ende gewinnt und es keine Zeit mehr ist, sich von
Sorgen plagen zu lassen oder Grillen zu fangen.
Bei seiner Ankunft in der geliebten Heimat fliegt er auf die
äußerste Spitze eines womöglich in der Nähe seiner alten Wohnung
stehenden Baumes und verkündet mit lustigem Lied, daß er glücklich
wieder angelangt ist. Dann aber ist sein erstes Geschäft, nachzusehen,
wie es denn eigentlich mit seinem Sommerlogis steht. Hat er sich dazu
einen hohlen Baum im Walde ausersehen, so gilt es gewöhnlich nur
ein wenig aufzuräumen; besteht dasselbe aber aus einem Haus, das
ihm seine Freunde in ihrem Hofe oder Garten gebaut haben, aus
einem sogenannten Starkübel, dann geht sein Einzug oft nicht ohne
Kampf, Ärger und Geschrei ab. Die frechen Spatzen, die kein Eigen—
tumsrecht achten, haben die Wohnung in Beschlag genommen; sie
gehen von dem Grundsatze aus: „Der Besitzende ist im Recht,“ und
nehmen auf keine Kündigung Rücksicht. Was bleibt dem Star anders
übrig, als das freche Volk an die Luft zu setzen! Der Spatz schreit
zornig aus dem Kübel heraus und denkt: „Ich will doch sehen, ob
ich dem schwarzen Kerl Platz machen muß?“ Aber einige tüchtige
Schnabelhiebe treffen ihn. Er schimpft aus vollem Halse und ruft
die ganze Spatzengesellschaft zum Beistand gegen solche niederträchtige
Ungerechtigkeit herbei. Das Geschrei wird toller und toller. Ein
Spatzenaufruhr vor dem Kübel! Doch jetzt kommt auch die Frau
Starin geflogen, und der Kampf ist schnell entschieden.
Die Sperlingsfamilie muß die Wohnung räumen, und die Frau
Starin ergreift Besitz von ihr. Sie streckt ihr mit spitzigem Schnabel
bewehrtes Köpflein heraus und sieht sich mit klugen Augen trium—
phierend um, während der Star auf dem Baume ein Siegeslied singt.
Aber noch bleibt das Pärchen nicht in der Wohnung; es kehrt in den
nahen Wald zurück und besucht nur am Morgen und gegen Abend sein
trautes Heim zum erneuten Verdruß der immer wie toll schreienden
Spatzen. —
Bruder Lustig traut dem Winter nicht recht; er kennt die Tücke
desselben. Er hat auch klug daran getan, denn der Winter ist noch
in der Nähe. Plötzlich pfeift der Wind wieder kälter, Wolken haben
sich aufgetürmt, und dicht fallen die weißen Flocken nieder. Unser
Star sitzt auf seinem Kübel und spottet den Winter mit einem lustigen
Frühlingsliede aus. Die kalten Flocken fallen ihm auf das schwarze
Kleid; was kümmert das den fröhlichen Sänger!
12
— 113 —
Aber — aber! der Winter ist noch nicht so hinfällig, als Bruder
Lustig denkt. Die Flocken fallen immer dichter, und der Wind pfeift
scharf aus Norden. Das wird bedenklich. Die Frau Starin ist auch
gekommen und hat sich auf das Stängelchen vor dem Flugloch gesetzt,
auf das nun auch der Star fliegt. Mit dem Singen ist's vorbei, sie
hocken nebeneinander und hoffen auf bessere Tage. Diese bleiben auch
nicht aus. Die Sonne duldet kein Weißes mehr. Oft schon am
nächsten Morgen bricht sie sich durch die Wolken Bahn, und ehe der
Abend kommt, ist keine Spur von Schnee mehr zu sehen; unser Star
aber sitzt wieder auf seinem Kübel, singt lustiger denn je und schnarrt
und klatscht mit den Flügeln.
Nun wird es endlich auch Zeit, an die Einrichtung der Wohnung
zu denken. Den Plunder der Frau Spatzin, Stroh und Heu, schmutzige
Federn und alte Lumpen hat die Starin bereits trotz alles Schimpfens
des Spatzenpaares ausgeräumt und, ärgerlich über die liederliche
Wirtschaft, in den Hof hinabgeworfen.
Star und Starin sind von jetzt an von früh bis abends tätig und
tragen Strohhalme, Federn und Heu herbei, um das Nest zurechtzu—
machen. Einen künstlichen Bau gibt es nicht, aber er ist anständig
genug dem Nestbau der Spatzin gegenüber. Die Einrichtung ist eine
einfach bürgerliche.
Wenn der April, der wetterwendische Monat, sich seinem Ende
zuneigt, liegen fünf bis sechs hellblaue Eier im Neste, und nun beginnt
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
— 114 —
eine nicht gerade angenehme Zeit für die Frau Starin. Gegen sech—
zehn Tage muß sie brütend auf den Eiern sitzen; sie tut es aber gern
in der Hoffnung auf junge Starchen. Bruder Lustig dagegen hat
gute Zeit; aber das muß man ihm nachsagen, daß er ein Herz für
sein Weibchen hat. Er versorgt dasselbe nicht nur unermüdlich mit
Nahrung, sondern singt ihm auch zur Unterhaltung seine schönsten
Lieder vor. Nur gegen Abend gönnt er sich eine kleine Erholung und
sucht seine Freunde auf, um sich mit ihnen zu unterhalten. Er macht
es, wie es andere Strohwitwer eben auch machen. Man kann doch
nicht immer allein sein. —
Wenn aber die Jungen aus den Eiern geschlüpft sind, dann be—
ginnt auch für ihn eine ernste, arbeitsvolle Zeit, und die lustigen Lieder
verstummen. Die kleinen Starchen sehen wunderlich aus, und es wird
wohl niemand diese nackten Geschöpfe mit großen Köpfen und großen
Schnäbeln schön finden. Aber danach fragt die Elternliebe nicht.
Das Starpärchen ist unermüdlich, die kleinen unförmlichen Schreihälse
zu füttern. Bald sieht man Star und Starin Blatt um Blatt an den
Bäumen im Garten durchsuchen, bald auch wieder flink im Grase
umhertrippeln und die zierlichen Köpfchen mit den klugen Augen bald
dahin, bald dorthin wenden.
Es gilt, Schnecken, Raupen, Käfer und Würmer für die hungrigen
Kinder zu suchen und nebenbei sich selbst zu bedenken. Kehren Vater
und Mutter zum Kübel zurück, so gibt es ein gewaltiges Geschrei;
fünf oder sechs Schnäbel sperren sich weit auf, und jedes der Kinder
möchte gern zuerst bedacht sein. Aber eins nach dem andern! heißt
die Hausregel, und es ist wunderbar, daß die Eltern nach und nach das
ganze Häuflein Kinder zu befriedigen wissen. Da sieht man deutlich,
ein wie großes Gewicht auf einen geordneten Haushalt zu legen ist.
Aus dem Kübel kehren die Alten auch oft zurück, etwas Weißes
im Schnabel tragend, das sie im Fluge abwerfen. Lange Zeit hindurch
wußte ich nicht, was dies sei, bis ich bei genauer Beobachtung be—
merkte, daß das Starenpärchen darauf bedacht sei, das Nest seiner
Jungen reinlich zu erhalten. Sechzehn Tage lang dauert die an—
gestrengte Futterzeit; dann streckt ein Starlein nach dem andern sein
graues Köpflein aus dem Flugloch und blickt neugierig in die weite
Welt hinein. Das Nest wird ihnen zu eng. Die Flügel sind ihnen
gewachsen, und die Lust, das Häuslein zu verlassen, wird immer
größer. Kaum sind noch zwei Wochen vergangen, da geht es husch!
und husch! und ein Starchen nach dem andern fliegt auf den nächsten
Baum. Lange bleiben sie hier nicht sitzen; die Welt ist schön und so
weit. Sie sind mündig geworden und können sich nun ohne Hülfe
115 —
der Eltern durch das Leben schlagen. Mutig fliegen sie in das Weite
und treffen bald mit anderen jungen Staren zusammen.
Ein lustiges Leben beginnt; in großen Schwärmen fliegen sie
umher, suchen sich am Tage Nahrung und finden ihren Tisch überall
gedeckt; am Abend aber fallen sie in das Röhricht der Teiche oder
in dichte Weidichte ein und machen, bevor sie sich zur Ruhe begeben,
einen gewaltigen Lärm.
Die Alten bleiben dagegen am Kübel. Für diese gibt es noch
keine Ruhe. Sie reinigen die Wohnung und richten sich aufs neue
behaglich ein für die zweite Brut. Ist endlich auch diese flügge,
dann machen sich die Alten mit den Jungen auf, die übrigen Kinder
aufzusuchen, und von nun an findet man unsern Star in Gesellschaft
mit Krähen und Dohlen. Sich zu diesen Vögeln zu gesellen, verlockt
ihn wohl das ehrbare schwarze Kleid derselben.
Naht der Oktober, so kehrt das Starenpärchen noch öfters gegen
Abend zu seiner Wohnung zurück, und Freund Star bezahlt seine
Miete in klingender Münze: er singt ein fröhliches Abschiedslied. —
Sein Nachtlager wählt er mit Tausenden seinesgleichen jetzt am
liebsten im Rohr eines Teiches und liebt es, im vollstimmigen Chor
vor der Nachtruhe noch ein Ständchen zu bringen, das Steine er—
weichen kann. —
Erst wenn der Winter seinen Einzug hält, denkt Bruder Lustig
an seinen Abzug, — doch nicht ohne ein letztes Lied an seinem Kübel
zu singen und seinen Freunden ein fröhliches „Auf Wiedersehen“
zuzurufen. Kaum ist er fort, so sind die Spatzen wieder am Kübel und
schlüpfen munter aus und ein, froh darüber, daß sie eine warme
Wohnung für den Winter gefunden haben. Hat man das Haus auch
nicht für das kleine freche, zänkische und spitzbübische Gesindel gebaut,
so sieht man sie doch nicht ungern als Wintergäste und verübelt es
ihnen nicht, wenn sie sich bei den Hühnern im Hofe oder auch am Troge
des Hundes zu Gaste laden. Karl Reinhold.
101. Der Frühling als König.
Der Frühling schlief am eis'gen den Blütenwagen durch die Luft,
Bach, umwogt von süßem Blumenduft,
da küßte ihn die Sonne wach umschwirrt von muntern Klängen.
aus seinen tiefen Träumen; Viel' Boten fliegen vor ihm her,
schnell wirft er ab sein Winterkleid, kein König hat auf Erden mehr.
er tut sich um ein neu Geschmeid' Das ist ein buntes Drängen!
und lenket sonder Säumen Was atmen nur und fliegen kann,
— 122 —
das schließt sich ja dem Zuge an, bergauf, bergab, talaus und -ein:
es klingt wohl tausendtönig: Der König kommt und ziehet ein!
„Der Lenz ist unser König!“ Er ist der Sonne liebster Sohn,
Der Käfer und der Schmetterling, von Sonnengold ist seine Kronm',
sie kriechen aus und folgen flink, sein mildes Zepter ist das Licht,
die Wespen und die Bienen, er ist's der alle Fesseln bricht,
sie kommen, ihm zu dienen. und tausend Freuden bringt er mit,
Aus allen Landen, fern und nah, und Segen folgt ihm Schritt für
sind schon die Abgesandten da; Schritt.
zu seinem Ruhme melden Gelobet sei die Herrlichkeit
sich alle Sangeshelden; des besten Königs weit und breit!
sie jubeln in den Wald hinein: Herbei denn, kommt zum muntern
Erwacht nun all', ihr Blätterlein, Reih'n
und breitet aus ein lieblich Zelt und atmet auf und stimmet ein
dem besten König in der Welt; und singt es tausendtönig:
o, kommt herbei jetzt, jung und alt, „Der Lenz ist unser König!“
hört, wie's von allen Zweigen schallt, Rudolf Löwenstein.
102. Die Veilchenzeit.
O welch ein holder Veilchenduft
durchs Tal auf einmal zieht!
Das macht, weil hoch in blauer Luft
die Lerche sang ihr Lied.
Von ihrem Ruf sind aufgewacht
der Schläfer viel im Feld,
und wunderbar hat über Nacht
verändert sich die Welt.
Der Winter schleicht von dannen Jull,
als er das Lied gehört,
er weiß, was das bedeuten will:
daß seine Macht zerstört.
Bald klingen andre Stimmlein auch
im Garten und im Hain.
Da blinkt es grün an Baum und Strauch
und goldig blüht's am Rain.
In zarten Hälmchen lieblich wallt
zum Berg hinauf das Korn,
und da es rings von Liedern schallt,
trägt Rosen selbst der Dorn.
16
— 117 —
Die Flur legt an ihr schönstes Kleid,
mit Blumen bunt gestickt;
vor all der Pracht und Herrlichkeit
das Herz beinah' erschrickt.
O fommt und schaut, wie's überall
sich regt in Frühlingslust,
und lauscht dazu dem süßen Schall
und öffnet ihm die Brust!
Nun steht das Tal in Veilchenduft,
und alles grünt und blüht,
das macht, weil hoch in blauer Cuft
die Lerche sang ihr Lied. Johannes Trojan.
103. Der Zaunkönig.
In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Be—
deutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er: „Smit
mi to! smit mi to!“ Wenn der Hobel des Tischlers schnarrte, so
sprach er: „Dor häst! dor, dor häst!“ Fing das Räderwerk der
Mühle an zu klappern, so sprach es: „Help, Herr Gott! help, Herr
Gott!“ und war der Müller ein Betrüger und ließ die Mühle an,
so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam: „Wer ist da?
wer ist da?“ dann antwortetes sie schnell: „Der Müuller!
der Müller!“ und endlich ganz geschwind: „Stiehlt tapfer, stiehlt
tapfer vom Achtel drei Sechter.“
Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die
jedermann verstand; jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen
und Pfeifen, und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber
den Vögeln in den Sinn, sie wollten nicht länger ohne Herrn sein und
einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der
Kiebitz, war dagegen; frei hatte er gelebt, und frei wollte er sterben,
und angstvoll hin und her fliegend, rief er: „Wo bliw ik? wo bliw
ik?“ Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe und zeigte
sich nicht wieder unter seinesgleichen.
Die Vögel wollten sich nun über die Sache besprechen, und an
einem schönen Maimorgen kamen sie alle aus Wäldern und Feldern
zusammen, Adler und Buchfink, Eule und Krähe, Lerche und Sperling,
was soll ich sie alle nennen? Selbst der Kuckuck kam und der Wiede—
hopf, sein Küster, der so heißt, weil er sich immer ein paar Tage früher
hören läßt; auch ein ganz kleiner Vogel, der noch keinen Namen hatte,
mischte sich unter die Schar. Das Huhn, das zufällig von der ganzen
11
Sache nichts gehört hatte, verwunderte sich über die große Versamm—
lung. „Wat, wat, wat is denn dar to don?“ gackerte es; aber der
Hahn beruhigte seine liebe Henne und sagte: „Luter rik Lüd“, er—
zählte ihr auch, was sie vorhätten. Es ward aber beschlossen, daß der
König sein sollte, der am höchsten fliegen könnte. Ein Laubfrosch,
der im Gebüsche saß, rief, als er das hörte, warnend: „Nat, nat, nat!
nat, nat, nat!“ weil er meinte, es würden deshalb viel Tränen ver—
gossen werden. Die Krähe aber sagte: „Quark ok!“ es solle alles
friedlich abgehen.
Es ward nun beschlossen, sie wollten gleich an diesem schönen
Morgen aufsteigen, damit niemand hinterher sagen könnte: „Ich wäre
wohl noch höher geflogen, aber der Abend kam, und da konnte ich nicht
mehr.“ Auf ein gegebenes Zeichen erhob sich also die ganze Schar in
die Lüfte. Der Staub stieg da von dem Felde auf; es war ein ge—
waltiges Sausen und Brausen und Fittichschlagen, und es sah aus,
als wenn eine schwarze Wolke dahinzöge. Die kleineren Vögel aber
blieben bald zurück, konnten nicht weiter und fielen wieder auf die
Erde. Die größeren hielten's länger aus; aber keiner konnte es dem
Adler gleichtun, der stieg so hoch, daß er der Sonne hätte die Augen
aushacken können. Und als er sah, daß die andern nicht zu ihm
herauf konnten, so dachte er: „Was willst du noch höher fliegen, du
bist doch der König“, und fing an, sich wieder herabzulassen. Die
Vögel unter ihm riefen ihm gleich alle zu: „Du mußt unser König
sein; keiner ist höher geflogen als du.“ „Ausgenommen ich!“ schrie
der kleine Kerl ohne Namen, der sich in die Brustfedern des Adlers
verkrochen hatte. Und da er nicht müde war, so stieg er auf und
stieg hoch über den Adler hinweg. Dann legte er seine Flügel zu—
sammen, sank herab und rief unten mit feiner, durchdringender
Stimme: „König bün ik! König bün ik!“
„Du unser König?“ schrieen die Vögel zornig, „durch Ränke und
Listen hast du es dahin gebracht!“ Sie machten eine andere Be—
dingung; der sollte ihr König sein, der am tiefsten in die Erde fallen
könnte. Wie klatschte da die Gans mit ihrer breiten Brust nieder
auf das Land! Wie scharrte der Hahn schnell ein Loch! Die Ente
kam am schlimmsten weg; sie sprang in einen Graben, verrenkte sich
aber die Beine und watschelte fort zum nahen Teich mit dem Ausruf:
„Pracherwerk! Pracherwerk!“ Der Kleine ohne Namen aber suchte
ein Mäuseloch, schlüpfte hinab und rief mit seiner feinen Stimme
heraus: „König bün ik! König bün ik!“
„Du unser König?“ riefen die Vögel noch zorniger, meinst du,
deine Listen sollten gelten?“ Sie beschlossen, ihn in seinem Loch ge⸗
—18
123) —
fangen zu halten und auszuhungern. Die Eule ward als Wache
davorgestellt; sie sollte den Schelm nicht herauslassen, so lieb ihr
das Leben wäre. Als es aber Abend geworden war und die Vögel von
der Anstrengung beim Fliegen große Müdigkeit empfanden, so gingen
sie mit Weib und Kind zu Bett. Die Eule allein blieb bei dem
Mäuseloch stehen und blickte mit ihren großen Augen unverwandt
hinein. Indessen war sie auch müde geworden und dachte: „Ein
Auge kannst du wohl zutun, du wachst ja noch mit dem andern, und
der kleine Bösewicht soll nicht aus seinem Loch heraus.“ Also tat sie
das eine Auge zu und schaute mit dem andern steif auf das Mäuseloch.
Der kleine Kerl guckte mit dem Kopfe heraus und wollte wegwitschen;
aber die Eule trat gleich davor, und er zog den Kopf wieder zurück.
Dann tat die Eule das eine Auge wieder auf und das andere zu und
wollte so die ganze Nacht abwechseln. Aber als sie das eine Auge
wieder zumachte, vergaß sie, das andere aufzutun, und sobald die
beiden Augen zu waren, schlief sie ein. Der Kleine merkte das bald
und schlüpfte weg.
Von der Zeit an darf sich die Eule nicht mehr am Tage sehen
lassen, sonst sind die andern Vögel hinter ihr her und zerzausen ihr
das Fell. Sie fliegt nur zur Nachtzeit aus, haßt aber und verfolgt
die Mäuse, weil sie solche böse Löcher machen. Auch der kleine
Vogel läßt sich nicht gere sehen, weil er fürchtet, es ginge ihm an den
Kragen, wenn er erwischt würde. Er schlüpft in den Zäunen herum,
und wenn er ganz sicher ist, ruft er wohl zuweilen: „König bün ik!“
und deshalb nennen ihn die anderen Vögel aus Spott Zaunkönig.
Niemand aber war froher als die Lerche, daß sie dem Zaunkönig
nicht zu gehorchen brauchte. Wie sich die Sonne blicken läßt, steigt sie
in die Lüfte und ruft: „Ach, wo is dat schön! schön is dat! schön!
schön! ach, wo is dat schön!“ Brüder Grimm.
104. Morgenlied.
Die Sterne sind erblichen Sie singet Lob und Ehre
mit ihrem goldnen Schein; dem hohen Herrn der Welt,
bald ist die Nacht entwichen, der über Land und Meere
der Morgen dringt herein. die Hand des Segens hält.
Noch waltet tiefes Schweigen Er hat die Nacht vertrieben,
im Tal und überall; ihr Kindlein, fürchtet nichts!
auf frisch betauten Zweigen stets kommt zu seinen Lieben
singt nur die Nachtigall. der Vater alles Lichts.
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
1
m —
105. An einem Maimorgen.
Kommt, Rinder, wischt die Augen do hat die Sonne nicht Verstand,
aus, weiß nieht, was sioh gebühret;
es gibt hier was zu sehen, drum mubß wer sein, der an der
und ruft den Vater auch heraus — Hand
die Sonne will aufgehen! als wie ein Lamm sie fübret.
Wie ist sie doch in ibhrem Lauf Und der hat Gutes nur im Sinn,
ao unverzast und Munror! das Kann man bald verstehen;
geht alle Morgen riehtig auf er schüttet seine Wohbltat hin
und alle Abend unter. und lässet sich nicht sehen;
Geht immer und scheint weit und
i Und hilft und segnet für und für,
in Schweden und in Schwaben, gibt jodem seine Freude,
dann KLalt, dann warm, zu seiner Zeit, gibt uns den Garten der Tür
wie wir es nötig haben. und unsrer Kuh die Weide;
Von ungesfãhr kann das nicht sein, Und hält euech Morgenbrot bereit
das könnt ihr euch wohl denken; und läßt euech Blumen pflücken
der Wagen da geht nicht allein, und stehet, wann und wo ihr seid,
ihr müht ihn ziehn und lenken. eueh heimlich hinterm Rücken;
Sieht alles, was ihr tut und denkt,
hält euch in seiner Pflege,
weiß, was eueh freut, und was euch kränkt,
und liebt euch allewege. Matthlas Claudius.
106. Alles neu macht der Mai.
Ales neu macht der Mai, Dort im Schatten an dem Quell,
macht die Seele frisch und frei; rieselnd munter, silberhell,
laßt das Haus, kommt hinaus, klein und groß ruht im Moos
windet einen Strauß! wie im weichen Schoß.
Rings erglänzet Sonnenschein Hier und dort, fort und fort,
duftend prangen Flur und Hain; wo wir ziehen Ort für Ort,
Vogelsang, lust'ger Klang alles freut sich der Zeit,
tönt den Wald entlang. die verjüngt, erneut.
Wir durchziehn Saatengrün, Widerschein der Schöpfung glüht
Haine, die ergötzend blühn, uns erneuend im Gemüt.
Waldespracht, neu gemacht Alles neu, frisch und frei
nach des Winters Nacht. macht der holde Mai. v. Kamp.
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107. Maiglöckchen und die Blümelein.
Maiglöckchen läutet in dem Tal, Den Junker Reif verdroß das sehr;
das klingt so hell und fein: er kommt ins Tal hinein!
So kommt zum Reigen allzumal, Maiglöckchen spielt zum Tanz nicht
ihr lieben Blümelein. mehr;
Die Blümchen blau und gelb und 2
weiß, Dochkaum der Reif das Tal verläßt,
die kommen all' herbei, da rufet wiederum
Vergißmeinnicht und Ehrenpreis, Maiglöckchen zu dem Frühlingsfest
Zeitlos' und Akelei. und läutet bim, bam, bum.
Maiglöckchen spielt zum Tanz im Nun hält's auch mich nicht mehr
Nu, zu Haus,
und alle tanzen dann, Maiglöckchen ruft auch mich;
der Mond sieht ihnen freundlich zu, die Blümchen gehn zum Tanz hinaus,
hat seine Freude dran. zum Tanze geh' auch ich.
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
108. Wie das Käferchen ins Wirtshaus geht.
Käferchen hat Durst, und zum Weibchen sagt's: „Will eins
trinken, bin bald wieder da.“ Die Flügel schwingt's, schaut sich um,
da ist ja ein stattlich Haus, schön weiß von außen, und drinnen schön
gelbe Bänke! „Zur Lilie“ heißt 's Haus, und darinnen gibt ein
Englein zu trinken. Käferchen tritt ein, und der Engel sagt: „Was
wär' dir lieb?“ — „Hab' Durst gehabt zu Hause, wollt' gern eins
trinken, und vom Fliegen ist mir der Hals noch trockener geworden.“
— „Hier hast was,“ sagt 's Engelein, und Käferchen trinkt; 's ist
ihm wohl, und es brummt ein Liedchen vor sich hin. „Was bin ich
schuldig?“ sagt Käferchen, als es getrunken. — „Es lostet nichts.
Doch wolltest mir 'n Gefallen tun, nimm das Blumenmehl da und
bring's ins Nachbarhaus, hab' lang' auf 'ne Gelegenheit gepaßt; er
hat zwar selber, was er braucht, doch freut's ihn, und er schickt mir
auch oft 'ne Hand voll Mehl und manchmal ein Tröpflein Morgentau,
und sag einen schönen Gruß von mir.“ — „Ja freilich, ja, das will
ich tun, wenn du damit zufrieden bist. Vergelt's Gott!“ Und es
nimmt das Mehl und bringt's ins Nachbarhaus, und da ist auch ein
so guter Engel. Käfer spricht: „Grüß dich Gott! Ich komm' vom
Nachbar her, er schickt dir hier auch Blumenmehl!“ — „Da kommst du
eben recht,“ sagt der Engel, „du hättest nicht gelegener kommen
können. Nun lad ab!“ Und Käferchen ladet ab, und der Engel
schenkt ihm ein und sagt: „Da trink eins, wenn du willst.“ — „Das
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122
kann geschehen,“ sagt 's Käferchen und trinkt und brummt sein altes
Trinklied vor sich hin, so ganz leise nach seiner Art in einem Ton.
Englein aber haben ein feines Gehör, und Englein hat's doch ver—
standen, was Käferlein gesungen, und so lautet's:
„Wir Käferlein sorgen
für heut' nicht und morgen;
der Gott, den wir haben,
der kann uns wohl laben, laben, ja laben.“
Nach Hebel.
109. Gefunden.
Ich ging im Walde so für mich hin,
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich ein Blümchen stehn,
wie Sterne leuchtend, wie Auglein schön.
Ich wollt' es brechen, da sagt' es fein:
„Soll ich zum Welken gebrochen sein?“
Ich grub's mit allen den Würzlein aus,
zum Garten trug ich's am hübschen Haus.
Und pflanzt' es wieder am stillen Ort;
nun zweigt es immer und blüht so fort.
Wolfgang v. Goethe.
110. Der Löwenzahn.
Alle Kinder pflücken gern auf dem grünen Anger die weiben,
wolligen Köpfehen der Butterblume ab, die auf glatten, runden
Stielen aus grünen Blättern hervorschauen. Jedes Früchtechen
hat ein feines Stielehen und oben einen zarten, weiben Peder—
kranz. So ziehen sie als Reisende weithin durch die Luft. Die
Blüte war ihr Vaterhaus, jetzt geht die Reise fort durceh die weite
Welt. Die einen lassen sich auf der Wiese, die andern an dem
Wege nieder; jene ziehen sogar über den breiten Fluß, steigen
heimlich über den Zaun und schlüpfen in den verschlossenen
Garten zwischen Rosen und Levkojen, während wieder andere auf
der Mauer sifzgen bleiben oder in das Dorf und in das Städtchen
reisen und sich hier an den Plätzen und auf den Straben zwischen
den Pflastersteinen ansiedeln. Was tut nun das Früchtchen, wenn
seine Reise zu Ende ist? Der VWind weht Staub darüber, der Regen
bringt Wasser herzu, und nun beginnt das Körnchen seine Arbeit.
Sturm und Wolken sind ihm Helfershelfer, die ihm Stoff zum
Bauen schaffen. Unten senkt es eine starke Wurzel in die Erde.
Mit dieser hält sich's fest, dabß nicht ein neuer Windstob es
2 —
weiter treibt; denn es gefällt ihm hier, und es mag nicht wieder
reisen. Die Wurzel ist der Grund, den eès zu seinem Hause legt.
Zarte Fasern dringen nach allen Seiten in die Erde und schaffen
Nahrung her. Nun formt die Pflanze einen Kran-z von grünen
Blättern, die stehen wie die Strahlen eines Sternes oder einer
Sonne, rund im Kreiss — von einem Punkte hin nach allen
Seiten. Jedes dieser Blätter ist lang und schmal, an beiden Seiten
mit groben Zähnen eingeschnitten. Davon erhielt das Pflänzchen
auch den Namen „Löwenzahn““, jedoch sind die Zühne weich und
harml LEin runder, glatter Schaft kommt aus der Nitte der
Blätter hervor und erhält oben eine goldene Blüte. Innen ist er
hohl und läßt so sich bequem zu Ringen biegen und zusammen-
stecken, die dann Ketten zum heitern Spiel der Kinder liefern.
Die Blüte ist aus Hunderten von Blütchen zusammengesetzt, sie
ist eine Blumenstadt. Eine grüne Mauer umgibt sie, das ist der
Keleh. Der weibe Blütenboden ist das Strabenpflaster, die
Blütchen sind die Hãuser, aus purem Golde gefertigt. Viele Fremde
reisen ab und zu. Käferlein und Bienen vergnügen sich in dieser
goldnen, honigreichen Stadt, die nur bei schönem Wetter ihre
Tore öffnet, bei Regen und bei Nacht sie sorgsam schliebt. Manche
Guste herbergen auch hier zur Nacht; oft legen bunte Fliegen
sich mitten hinein, wie in ein weiches Bett und schlafen wounl.
beschũtzt, bis der Sonne warmer Strahl sie wiederum zum süben
Schmause weckt. Nach kurzer Zeit verblüht die Blume. Die gelben
Blütchen fallen ab, und wieder steht ein Wollkopf fertig da, von
dem tausend junge Pflänzehen wiederum nach allen Seiten auf
Reisen gehen. Der Löwenzahn bietet nicht nur reichen Schmuck
an Blatt und Blüten, er gibt auch Nahrung den Kühen und Honig
den Bienen. Naeh Hermann Wagner.
111. Ermahnung.
Herrlich ist's, an Maientagen Wenn verwelkt des Frühlings
durch den grünen Wald zu ziehn, Blüten
wenn die lieben Vöglein schlagen in dem Wald und auf der Au,
und so viele Blumen blühn. und im Nest die Vöglein brüten,
Emsig magst du dann dich reifen Beeren rot und blau.
bücken Beeren suchend dann zu streifen
nach den Blumen bunt und schön. durch den Wald, wie ist es schön!
Aufgeblühte darfst du pflücken, Aber pflücke mir die reifen
aber laß die Knospen stehn. und die andern laß mir stehn..
Johannes Trojan.
112. Nur nieht verzagt.
Da ist nun der NMai! es ist die arme Schnecke. —
Da grünen die Pelder, Ob sie deshalb sssioh sobämt, —
die Gurten, die Wälder; wohl gar darum sieh grämt?
da rauschen die Quellen: O nein, sie denkt mit Lachen:
da singen und springen „Es wird sioh doch noch machen!“
die Vögel herbei; Sie denkt's sioh so und so,
da laufen die Kinder, und endlieh ruft sie frohb:
die Mädehen, die Buben, „Ja, ja, so wird sich's schicken!
aus Kammern und Stuben Ich nehm' mein Haus auf den
hinaus, hinaus aus dem engen Rucken!“ —
Haus! — Und ricehtig, es geht,
Ein einzig Lierlein dort, und die Schnecke, seht,
wie sehr es auch sich strecke, Kkann nun mit allen andern
kann nieht vom Hause fort, vergnügt in den Frühling wandern.
Robert Reiniek.
113. Die Schwalbe.
Im Frühjahre, wenn das Eis und der Schnee weggeschmolzen
sind, warme Lenzeslüfte wehen, und Mücken tanzen, und Fliegen
summen, dann kommen die Schwalben zu uns. Wo waren sie im
Winter? Von wannen kommen sie? Aus einem anderen Weltteile,
Afrika genannt, weit her, viele hundert Meilen weit über ein großes
Meer, über Berge und Täler und weite Landstrecken. Wer hat ihnen
gesagt, daß bei uns wieder Frühlingsluft weht, daß wieder Mücken
und Fliegen in der Luft ihr Wesen treiben und zu ihrer Speise bereit
sind? Wer zeigt ihnen den Weg durch die Luft, wo keine Straße ab—
gesteckt, kein Wegweiser hingestellt ist? Und doch verliert keins den
Weg, jedes kommt wieder am rechten Orte an und zu rechter Zeit.
Ein Naturforscher band einem Paar Schwalben, die in seinem Hause
nisteten, einen Seidenfaden an die Beine, um sie wiederzuerkennen;
und siehe, sie kehrten 18 Jahre lang in dieselben Nester zurück, die
so gut angelegt waren, daß selten eine Ausbesserung vorgenommen
wurde.
Wenige Vögel wissen so schnell und geschickt zu fliegen wie die
Schwalbe. Da sie vom Schöpfer auf einen fortwährenden Aufenthalt
in der Luft angewiesen ist und ihre Nahrung nur im Fluge erhascht,
124
so hat sie lange, an festen Muskeln befindliche Flügel bekommen, mit
denen sie sehr leicht die Luft durchschneidet und schnell zu segeln ver—
mag. Zu schnellen Wendungen macht der geteilte, gabelförmige
Schwanz besonders geschickt. Wenn man erwägt, wieviel tausendmal
so ein Vöglein seine Flügel den Tag hindurch schwingen muß und doch
bis zum Abend frische Kraft behält, so muß man die weise Hand,
welche in die kleinen Muskeln soviel Kraft und Ausdauer legte, an—
dächtig bewundern. Fast jeder große Vogel vermag in einem Tage
125 Meilen zurückzulegen; die Schwalbe fliegt aber in einer Stunde
10 Meilen, also 240 Meilen in einem Tage. Da bei der Schwalbe
die Flügel entschieden die Hauptsache sind, da sie wenig zum Sitzen
kommt, noch weniger zum Gehen, so sind auch ihre Füße demgemäß
nur klein und schwach gebildet, um den Flug so wenig als möglich
zu behindern. Dieselbe Weisheit, welche dem Huhne Gangfüße, dem
Spechte Kletterfüße, dem Falken die starken Fänge, dem Storche die
langen Beine zum Waten verliehen hat, sie hat auch die Beine der
Schwalbe so zart und klein gebildet. Ebenso ist der Schnabel, welcher
nur leichte, winzige Nahrung aufzunehmen hat, sehr klein und dünn,
dabei ungebogen und pfriemförmig, um desto besser die Luft zu durch⸗
schneiden, und so weit zum Aufsperren, daß der ganze Schwalben⸗
kopf in die Offnung hineinginge. Es sollen ja in die geöffnete
Schnabelhöhle möglichst leicht die Insekten hineinspazieren.
Im Herbste versammeln sich die Schwalben in großen Scharen,
üben sich einige Wochen vorher, als wollten sie sich auf die große
Reise vorbereiten, und verschwinden dann plötzlich über Nacht. Ge⸗
wöhnlich geschieht die Abreise im September, ist die Witterung mild,
im Oktober. Zuweilen werden einige, wenn sie der Insekten wegen
an Sümpfen und Flüssen zu lange verweilen, von der Kälte ereilt,
erstarren und versinken in dem Schlamme.
Die Schwalben gehören zu den allernützlichsten Vögeln, obwohl
wir sie weder essen, noch sonst etwas von ihnen benutzen. Sie ver—
tilgen eine Menge schädlicher Insekten, und wenn sie hin und wieder
ein Bienchen wegschnappen, so will das nicht viel sagen, zumal da sie
nur Drohnen und niemals die mit einem Stachel versehene Arbeits—
biene nehmen. Der gemeine Mann erkennt dankbar den Nutzen an,
indem er sie hegt und pflegt und es gerne hat, wenn sie in seinem
Hause oder an seiner Scheuer nisten; sie sind ihm geheiligte, un—
verletzliche Vögel. *be.
125
9
114. Waldkonzert.
Konzert ist heute angesagt Das jubiliert
im frischen, grünen Wald; und musiziert,
die Musikanten stimmen schon; — das schmettert und das schallt!
hör, wie es lustig schallt! das geigt und singt
Das jubiliert und pfeift und klingt
und musiziert, im frischen, grünen Wald!
das schmettert und das schalllt! Der Kuckuck schlägt die Trommel
das geigt und singt gut,
und pfeift und klingt die Lerche steigt empor
im frischen, grünen Wald! und schmettert mit Trompetenklang
Der Distelfink spielt keck vom voll Jubel in den Chor!
Blatt Das jubiliert
die erste Violin'; und musiziert,
sein Vetter Buchfink nebenan das schmettert und das schallt!
begleitet lustig ihn. das geigt und singt
Das jubiliert, und pfeift und klingt
und musiziert, im frischen, grünen Wald!
das schmettert und das schalll! Musikdirektor ist der Specht,
das geigt und singt er hat nicht Rast noch Ruh',
und pfeift und klingt schlägt mit dem Schnabel spitz und
im frischen, grünen Wald! lang
gar fein den Takt dazu.
Frau Nachtigall, die Sängerin, Das jubiliert
die singt so hell und zart; und musiziert,
und Monsieur Hänfling bläst dazu das schmettert und das schallt!
die Flöt' nach bester Art. das geigt und singt
Das jubiliert und pfeift und klingt
und musiziert, im frischen, grünen Wald!
uenen biß schaut! Verwundert hören Has' und Reh
in und sinn das Fiedeln und das Schrein
und pfeift und klingt u Irdeln und n
im frischen, grünen Wald! und Biene Mir und gasarlein
die stimmen surrend ein.
Die Drossel spielt die Klari— Das jubiliert
nett', und musiziert,
der Rab', der alte Mann, das schmettert und das schallt!
streicht den verstimmten Brummel— das geigt und singt
baß, und pfeift und klingt
so gut er streichen kann. im frischen, grünen Wald!
G. Ch. Dieffenbach.
126
115. Das Vogelnest.
In meines Nachbars Garten hatte eine Grasmücke ihr Nest
gleich am Eingang rechter Hand in einem Stachelbeerbusche. Der
Nachbar und seine Frau hatten ihre Freude darüber; denn sie schützten
alles in ihrem Gehege gern, und wo keine Nachtigallen sind, gilt
die Grasmücke Nummer eins. Nur hatten beide Sorge wegen der
Kinder, daß sie das Nest nicht störten. Der Vater sagte: „Laß nur
unsern Jungen und die Mädchen das Nest nicht gewahr werden!“
Die Mutter aber hatte eine andere Ansicht von der Sache. „Unserm
Jungen und den Mädchen wollen wir das Nest lieber selber zeigen,“
sprach sie; „denn sie finden es am Ende doch, und dann ist's mehr in
Gefahr.“ Und die Mutter hatte recht wie alle guten Mütter. Das
Nest also kannten die Kinder von den Eiern an. Aber sie wußten
auch, was ihnen die Mutter am Neste gesagt hatte. „Wollt ihr ein
Vogelnest sehen?“ „Ja, ja!“ hatten alle gerufen. Nun traten sie
um den Busch und sahen sich's ordentlich an. Der Vogel war ge—
flohen und sah ängstlich aus dem Zaune. „Kommt,“ rief die Mutter
nach einer Weile, „sonst werden die Eier kalt. Und wenn ihr wieder
hingeht, so seht den Vogel nicht so scharf an; der kleine Schelm fürchtet
sich vor euren großen Augen.“ So wurden die Eier geschont und
erhalten.
Als nun die Jungen ausgekrochen waren und darinnen lagen so
nackt und klein und so hungrig die gelben Schnäbel aufsperrten, da
standen die Kinder wieder dort, und die Mutter mit und sagte: „So
arme kleine Dinger waret ihr auch, und so ein Nest haben wir euch
auch gebaut und haben euch zugedeckt in der Wiege und haben euch
warm gehalten in Pfühl und Kissen und haben euch was in den Mund
gegeben; und der Vater ist ausgegangen und hat das Brot heim—
gebracht; und wenn's regnete, und wenn's finster und kalt draußen
wurde, da haben wir euch mit in unser Bett genommen, husch, husch!
— Kinder, tut mir den kleinen Dingern nichts!“ — Das war die
Mutterpredigt am Grasmückenneste, nicht eben lang, aber etlichemal
bei derselben Gelegenheit wiederholt. Und das Nest ward erhalten,
und die fünf Jungen sind gestern ausgeflogen
Oldenburger Volksbote
127
128
116. Wie ist doeh die Erde so sehönl
Wie ist doch die Erde so schön, so schön!
Das wissen die Vögelein;
sie heben ihr leicht Gefieder
und singen so fröhliche Lieder
in den blauen Himmel hinein.
Wie ist doch die Erde so schön, so schön!
Das wissen die Flüss' und Seen;
sie malen in klarem Spiegel
die Gärten und Städt' und Hügel
und die Wolken, die drüber gehn.
Und Sänger und Maler wissen es
und Kinder und andere Leut';
und wer's nicht malt, der singt es,
und wer's nicht singt, dem klingt es
in dem Herzen vor lautfer Freud'. Robert Reiniek.
117. Im Dorn.
Ein Dornbusch auf der Heide steht
von ganz gemeiner Art,
und wer daran vorübergeht,
vernimmt ein Stimmlein zart;
„Es lebt sich gut im Baumgeäst
und gut im grünen Korn;
doch sichrer ist gewiß kein Nest
als das im grünen Dorn.
Der hält zurück jedweden Feind
mit scharfer Spitzen Wehr;
und wenn der holde Mai erscheint,
setzt Rosen auf auch er.“ Johannes Trojan.
118. Das Grab der Nachtigall.
Vermag des Tieres Schmerzenslaut
und Weheschrei dich nicht zu rühren,
dann wirst du auch zu keiner Zeit
des Bruders Schmerz im Elend spüren!
Die Vögel sind die Lieblinge der Natur. Keine andere Schöpfungs⸗
gruppe ist in so reichem Maße mit Reizen und herzgewinnenden
Eigenschaften ausgestattet worden wie sie. Wenn die Hecken und
Sträucher im Frühlinge ihre saftschwellenden Knospen entfalten und
die Blüten ihre bunten Kronen zur Sonne emporstrecken, dann flöten
und trompeten, schmettern und wettern sie ihre vielstimmigen Jubel—
weisen durch Garten, Wiese, Wald und Feld, daß Alten und Jungen
das Herz im Leibe dabei lacht. Man sollte nicht meinen, daß es
noch Menschen gäbe, die sich nicht scheuen und schämen, mit roher
Hand in das Lebensglück dieser nützlichen und liebenswürdigen Tiere
einzugreifen und ihre Lebensfreudigkeit zu vernichten. Und doch ist
dem leider so.
Ich besaß ein kleines Gärtchen, durch das ein helles Bächlein
floß. An seinen Ufern standen Erlen, Rüstern und Weiden, in deren
dicht belaubten Zweigen viele unserer besten Sänger ihr munteres
Wesen trieben und sich häuslich eingerichtet hatten. In dem großen
Orchester, das täglich seine bunten Weisen in dem blütenduftenden,
lauschigen Garten aufspielte, nahm eine Nachtigall den ersten Platz
ein. Sie war mein Liebling. Stundenlang saß ich nach vollbrachtem
Tagewerke vor der Tür meines Häuschens und erquickte mich an den
wunderherrlichen Liedern, die meine Sangeskönigin wie holde Freund⸗—
schaftsgrüße durch die liebliche Maiennacht schmetterte. Da die Nachti—
gall empfand, daß sie in mir einen treuen Freund gefunden hatte, so
benahm sie sich bald äußerst zutraulich gegen mich, kam furchtlos in
meine Nähe und nahm sogar Leckerbissen von mir an. Und als die
Zeit heranrückte, an die Einrichtung eines Kinderstübchens zu denken,
suchte sie nicht ängstlich nach einem Versteck im Garten, sondern baute
das lose zusammengefügte Nest ganz frei ins Gras. Über diese
Zutraulichkeit war ich hoch erfreut, empfand aber auch zugleich eine
gewisse Besorgnis. Wußte ich doch, daß es in meinem Dorfe rohe
Buben gab, die Freude daran empfanden, die Nester unserer lieben
Sänger zu zerstören. Deshalb verwahrte ich das Nachtigallennest
durch Zweige, die ich von benachbarten Sträuchern heranzog und
dachartig zusammenbog. Anfangs machte meine Freundin große
Augen, als sie mich bei meinen Hantierungen beobachtete. Bald
schien ihr aber der Zweck meiner Arbeit klar zu sein. Als ich die
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe. 9
129
—
kleine Laube fertig hatte, flog sie herzu, beäugelte sie, schwang sich
dann sichtbar erfreut auf die Spitze eines Erlengebüsches und brachte
mir ein köstliches Danklied dar.
Das Weibchen legte Eier und brütete fleißig, und schon nach
kurzer Zeit guckten sechs muntere Nachtigallenkinder aus dem nied—
lichen Nistkörbchen heraus. Ich hatte meine helle Freude daran, zu
sehen, wie sich die kleinen Dingerchen unter dem Schutze und bei
der liebevollen Pflege ihrer Eltern von Tag zu Tag entwickelten.
— Es war Mitte Juni, als ich eines Morgens klägliche Angstrufe
meiner Schützlinge vernahm. Nichts Gutes ahnend, lief ich voller
Hast in den Garten. Dort erhaschte ich zwei Knaben, die sich eben
aus dem Staube machen wollten.
Was mußte ich sehen? — Mein Nachtigallennest war gänzlich
zerstört. Das treue Vogelmütterchen lag erwürgt, die junge Brut
tot umhergestreut am Boden. Heftiger Schmerz erfaßte mich beim
Anblick dieses Bildes. Ich zitterte vor Zorn und Entrüstung. Ohne
zu reden, packte ich die beiden nichtswürdigen Buben fester am Kragen,
führte sie im Sturmschritt vor mir her und verabfolgte ihnen eine
Tracht Prügel, wie sie bisher noch keiner von mir erhalten hatte.
Dann warf ich sie zum Garten hinaus auf die Straße, wo sie heulend
das Weite suchten.
Als ich wieder in den Garten trat, sah ich, wie das Nachtigall—
männchen verzweiflungsvoll hin und her flog. Mit zitternden Händen
suchte ich die Trümmer des Nestes zusammen und legte das Weibchen
samt den erdrosselten Jungen hinein. Mein unglücklicher Freund
umflatterte mich und zwitscherte so eigenartig, als ob er mir sein
Seelenleid schildern und klagen wollte. Als ich mich auf einige
Schritte entfernt hatte, schwebte er still zur Bahre seiner geliebten
Toten hernieder, verweilte dort einige Augenblicke in stummer Trauer,
setzte sich dann in ihrer Nähe auf einen Strauch und stimmte eine
seltsame Weise an. Ein langgezogener, klagender Ton klang durch
den Frieden des Gartens. Bald folgte ein zweiter, ein dritter, und
bald verknüpften sich mehrere zu einem Gesange, den ich nicht be—
schreiben kann. Es waren Töne tiefen Schmerzes und bitteren Wehes,
die selbst das Herz des Lieblosesten ergreifen und wehmütig stimmen
mußten. Mit wenigen kurzen Unterbrechungen sang das Vöglein
den ganzen Tag. Und die Weise zog mit jeder Stunde trauriger
und rührender durch die Büsche dahin. Je länger das Tierchen sang,
desto seltsamer ward mir's zumute. Es trieb mich, meinem trauern—
den Freunde beizustehen. Er saß immer noch auf demselben Zweige,
in der Nähe seiner hingemordeten Lieben. Als ich ihm seine Lieb—
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131
lingskost zuwarf, die er sonst so dankbar aus meiner Hand angenommen
hatte, flog er herzu, beäugelte sie, rührte aber nichts an, sondern
flog wieder auf den erwähnten Strauch und sang seine Klagelieder
weiter. Wäre es überhaupt möglich, entflohene Geister zurückzu⸗
rufen, so hätten sich die starren Körper der Vöglein im Neste unter
dem Einflusse dieser ergreifenden Klänge wieder beleben müssen.
Aber nein, sie rührten und regten sich nicht. Die Augen, die sonst
so freundlich und dankbar zu ihrem treuen Ernährer emporschauten,
blieben geschlossen. Die Schnäblein, die ihm bei seiner Heimkehr
fröhliche Grüße entgegenzwitscherten, blieben stumm. Die Herzen,
die beim Klange seiner seelenvollen Weisen lustiger pochten und heller
schlugen, standen still, auf immer still.
Gegen Abend besuchte ich abermals den Sänger und näherte
mich ihm bis auf wenige Schritte. Wehmütig blickte er zu mir
herüber, als ob ich ihn trösten, ihm helfen sollte. Leiser, immer
leiser erklangen des Trauernden Töne. — Endlich verstummten
sie ganz. — Da ward's still, so seltsam still um mich her. — Ein
Frösteln rieselte über meinen Rücken. Ich harrte einige Minuten,
um zu hören, ob der Gesang noch einmal beginnen würde. Es blieb
still. Vorsichtig näherte ich mich nun der Stätte, auf der das arme
Vöglein gesessen hatte. Da lag es — stumm, kalt, tot neben seinem
Weibchen. Es war mir unmöglich, beim Anblick dieses Bildes meinen
Schmerz zurückzuhalten. Ich weinte, weinte bitterlich, wie um einen
geliebten Freund.
Am Morgen grub ich ein Grab im grünen Rasen und legte sie
alle hinein, die sich so innig, so treu geliebt hatten.
Wolf-Harnier.
119. Der Kuckuck.
Wer von uns hätte ihn nicht schreien hören, den lustigen Vogel,
der schon Mitte April seinen Frühlingsruf anstimmt, ehe noch der
Wald vollständig belaubt ist, und nur Anemonen und Primeln blühen?
„Nuckuck!“ ruft er, daß es weit über das Feld schallt bis hinein in das
Dorf und bis in die Stadt. Wer hätte nicht vor Freude getanzt und
wohl auch gezählt, wievielmal er seinen Ruf wiederholt? Was doch
der Vogel mit seinem Ruf wohl will? Was hat er denn alles zu zeigen,
daß er immerfort schreit: „Guck, guck!“? Zum ersten meint er: „Sieh
mich selbst an!“ Aber wenn wir der wunderlichen Stimme folgen
und den eitlen Vogel beschauen wollen, wie sein Gesicht und seine
Kleidung beschaffen sind, so flieht er von Baum zu Baum, von Busch
zu Busch und läßt sich nimmer nahen. Er ist ein gar schlauer Gesell;
9*
weit hinweg lockt er dann das wißbegierige Kind vom elterlichen Hause,
und wenn es an den Heimweg denkt, ruft er ihm warnend zu mit
seinem letzten „Kuckuck“: „Sieh doch ja zu, daß du den Rückweg nicht
verfehlst!“
Glückt es aber einmal, den Vogel näher zu beschauen, so zeigt er
sich uns etwa so groß wie eine Taube, obenher und an der Seite
einfach grau gefärbt, Brust und Bauch weiß, mit dunkeln Querstreifen
geschmückt. Er hätte es nun gerade nicht nötig, seiner Federn wegen
soviel Rufens zu machen; sie sind durch keine bunten Farben geziert,
nur seine Füße sind goldgelb und mit vier Zehen versehen. Drei von
diesen stehen nach vorn und eine nach hinten; doch kann er die eine
auch so wenden, daß nach jeder Richtung hin zwei sind. Viel Ähnlich⸗
keit hat der Kuckuck in seiner Farbe mit einem Raubvogel, dem
Sperber; und manche Leute haben ihn in den Verdacht eines Zauberers
gebracht und gesagt, er vermöge sich zu verwandeln, werde den Winter
über ein Räuber, der Tauben und Hühner fräße, und den Sommer
hindurch ein Kuckuck. Gegen diesen schlimmen Verdacht wehrt sich
unser Vogel aus Leibeskräften, indem er jedem zuruft: „Guck, guck!
Sieh mich genau an! mein Schnabel ist dünn und gerade, und der
Schnabel des Sperbers ist wie ein Haken, scharf und krumm. Unser
Rock ist ziemlich gleichfarbig, doch unser Gesicht ist verschieden. Die
Krallen meiner Zehen sind schwach und stumpf, diejenigen des
Sperbers gleichen mörderischen Dolchen.“ Nun, nachdem wir ihn
selbst besehen haben, ruft er doch wieder: „Guck, guck!“ und da wir
ihm schon soweit gefolgt sind, so schauen wir uns auch in seiner
Wohnung ein wenig um. Draußen der grüne Wald ist sein Haus,
jeder Baum ist ein Zimmer, jeder Busch ist ein Kämmerchen. Un—
ermüdlich streift er wie ein aufmerksamer Hauswirt den ganzen Tag
durch seine Gemächer und sieht, ob alles in Ordnung ist. Doch zeigt
er sich als ein Geizhals, niemals nimmt er Besuch an. Sperlinge
sitzen beisammen, Tauben schmausen in Gesellschaft, und Enten segeln
miteinander über die klare Flut — der Kuckuck aber mag am liebsten
allein sein; einsam fliegt er mit schnellen Flügeln durch das dichtere
Waldtal und über den sonnigen Berg und späht, ob irgend ein fremder
Kuckuck sich in sein Revier verirrt hat. Er betrachtet den Wald als
sein Eigentum; weder Mietsleute noch Gäste mag er leiden. Hort
er den Ruf eines andern — und wenn es sein Bruder oder Vater
wäre, so schreit er ihm ganz erbost zu: „Kuckuck! siehst du nicht, daß
ich hier Herr bin? Flieh schnell aus meinem Gebiet!“ Dann gibt's
einen hitzigen Kampf, die Federn fliegen umher; der Schwächste muß
weichen und sich ein anderes Wäldchen zur Wohnung suchen: „Wo⸗
132
mit einer sündigt, damit wird er gestraft;“ so wird denn auch dem
Quckuck seine Unverträglichkeit und sein Jähzorn zum Fallstrick.
Der Jäger und der Vogelsteller kennen seinen Gebrauch; sie
ahmen mit dem Mund und der hohlen Hand oder mit einer be—
sonderen Pfeife seinen Ruf täuschend nach; dann vergißt er seine
sonstige Vorsicht, kommt eilig herbei, um den fremden Gast aus
seinem Hause zu treiben — und bald fällt er, tödlich getroffen, durch
die Flinte des Jägers.
Doch warum ist er wohl so unverträglich? Es wird uns bald
klar, wenn wir, seinem Rufe gemäß, noch weiter zusehen, was auf
seine Tafel gelangt, was er zu Mittag und zu Abend wohl speist!
Räupchen und Käfer, Schmetterlinge und Fliegen sucht er unermüdlich
vom frühesten Morgen bis in die späte Nacht; denn sein Magen und
sein Hunger sind groß und die Insekten gar klein. Den ganzen Tag
zieht er deshalb umher, sein täglich Brot zu erwerben; im schnellen
Fluge schnappt er die Raupen, die auf den Kräutern der Waldwiesen
sitzen, oder er streift durch die Wipfel der Eichen und befreit die
jungen Blätter von ihren Feinden. Er frißt zur Strafe sie alle,
die ihm sein grünes Haus verderben. Viele dieser Raupen sind aber
mit langen schwarzen Haaren besetzt; diese stechen sich in den Magen
des Kuckucks ein, ohne ihm jedoch zu schaden, so daß solcher Kuckucks—
magen inwendig aussieht wie ein Stückchen Pelz, und man zuerst
glaubt, es seien diese Haare darauf gewachsen. Gerade von diesen
behaarten Raupen sind viele Arten schlimme Waldverwüster und
kommen in manchen Jahren in großen Mengen vor. Die meisten
andern Waldvögel wollen aber mit diesen rauhen Gesellen nichts
zu tun haben, sondern lieben glatte Bissen. Deshalb wird der Kuckuck
für den Wald eine Wohltat, und der verständige Forstmann tut ihm
nie etwas zuleide. — Ist ein Wald von großen Mengen Raupen
heimgesucht, so stellen sich gelegentlich auch Kuckucke in bedeutender
Anzahl ein und räumen unter ihnen tüchtig auf. In solchem Falle
verträgt sich auch ein Kuckuck recht gut mit dem andern, sowie er
auch im Vogelhaus mit andern kleinen Vögeln ganz friedlich bei—
sammen lebt und keinem einzigen etwas zuleide tut.
Männchen und Weibchen sind beim Kuckuck sich ganz ähnlich in
der Kleidung, nur jung ist das letztere braun und wird erst später
grau; ihre Stimmen sind aber verschieden: der Vogel, welcher, Kuckuck“
ruft, ist stets ein Männchen; das Weibchen vermag nur ein Geschrei
zu machen, das einem Lachen sehr ähnlich klingt, fast wie Kwickwickwick!
Die beiden treiben nun ein wunderliches Spiel Sobald die übrigen Zug—
vögel sich aus den fernen Landen wieder eingefunden haben, in denen
132
124
sie den Winter verlebten, und nun anfangen, ihre Nester zu bauen
und auszubessern, sieht der Kuckuck mit seinem Weibchen ihnen zu.
Jene tragen Halme und Moos, Reiser und Wolle zusammen und be—
reiten alles sauber, weich und warm und freuen sich über das wohl—
gelungene Werk. Der alte Kuckuck aber baut kein Nest — er ist der
einzige Vogel bei uns, der es nicht tut — sondern ruft pfiffig und
schlau bloß sein „Kuckuck!“ und sein Weibchen lacht. Die Rot—
kehlchen, Grasmücken und andern Waldsänger legen ihre kleinen
Eier in die fertigen Nester und fliegen aus, um noch einen guten
Bissen zu nehmen oder einen frischen Trunk zu tun, ehe sie sich
niedersetzen, um zu brüten. „Guck! guck!“ ruft der Schelm seinem
Weibe zu! Das fliegt leise herbei und schaut genau zu, ob es auch
ein Nest von einem solchen Vogel sei, dessen Nahrung für ihr eigenes
Kind aut tauge. Hat das Kuckucksweibchen ein passendes Nest ge—
funden, dann wirft es, wenn schon mehrere Eier darin sind, meist
einige heraus, um Platz zu schaffen. Nun ist aber ein Kuckuck viel
zu groß und schwer, um sich auf das zarte Nest eines Singvogels setzen
zu können. Aus diesem Grunde legt das Weibchen sein Ei, welches
aber auch nicht größer ist als das der kleinen Singvögel, erst auf
den Boden und trägt es dann mit dem Schnabel in das fremde Nest,
fliegt fort und lacht über den Tausch. Die kleinen Vöglein kehren
zurück. „Guck, guck!“ ruft spaßend der schlaue Alte; — aber sie
sind zu harmlos, sehen nicht zu, merken's gar nicht, daß ihre eigenen
Eier zerbrochen unten im Busch liegen und ein fremdes im Nest ist,
sitzen und brüten so emsig und freuen sich im voraus auf die niedlichen
Jungen. Die jungen Rotkehlchen schlüpfen aus den noch übrigen
Eiern aus, der junge Kuckuck auch; nun eilen die alten Rotkehlchen
nach Futter, um die hungrigen offenen Schnäbel zu füllen; doch der
junge Kuckuck ist der größte, er schlingt schreiend jeden Bissen hinweg.
Die armen kleinen Nestbrüder verschmachten; ja, wenn er größer ge—
worden ist, und der Platz ihm zu eng wird, drängt er sie unbarm—
herzig hinaus. Dann kommen die hülflosen Kleinen im nassen, kalten
Grase um oder werden von Katzen und Wieseln gefressen. Je größer
der junge Kuckuck wird, desto unartiger zeigt er sich. Er gehorcht
seinen Stiefeltern nicht und beträgt sich sehr schlimm gegen seine
Wohltäter. Außerordentlich groß ist seine Freßgier, und nicht selten
erfaßt er sogar den Kopf des Vögleins mit seinem Schnabel, wenn
er den Wurm erschnappen will, den dieses ihm bietet. Naht sich dem
Neste ein Kind, das Erdbeeren und Blumen im Walde sucht und will
sich über das junge Vöglein freuen, dann sträubt es seine Federn. Der
junge Kuckuck sieht mit den dunkeln Federstoppeln, die anfänglich
5
—
wie Stacheln ringsum stehen, nicht schön aus. Er wächst jedoch sehr
rasch. Sind ihm endlich Federn und Flügel gewachsen, so wagt er
sich aus dem Neste, das ihm jetzt viel zu eng ist, hüpft von Zweig zu
Zweig, und seine Pflegeeltern tragen ihm trotz seiner Unart emsig
noch Futter zu, bis er seiner eigenen Flügel hinlänglich mächtig ist
und sich selbst die Nahrung suchen kann. Mitunter kommt es vor,
daß der Kuckuck gar nicht aus dem Neste heraus kann, nämlich
dann, wenn dieses in einem Baumloch mit engem Eingange be—
findlich ist. Der gefangene Kleine wird aber so lange von den
Pflegeeltern gespeist, bis ihm auf irgend eine Weise Hülfe kommt,
oder sie selbst durch den eintretenden Herbst zum Fortziehen ge—
zwungen werden. In letzterem Falle geht der Kuckuck freilich zu—
grunde. So müssen die kleinen Vögel des Waldes dem alten Kuckuck
die Kinder erziehen, ohne Dank dafür zu ernten. In jedes Nestchen
legt das Kuckucksweibchen nur ein Ei, nach einigen Tagen in ein
anderes Nest wieder eins, so nacheinander 5 bis 8. Wenn die
Eier sämtlich untergebracht sind, trennt sich der alte Kuckuck auch
wieder von seinem Weibchen. Jedes lebt wieder einsam für sich,
leidet auch das eigene Kind nicht, wenn es erwachsen ist und in
die Nähe kommt. So lernt der junge Kuckuck nie Vater und Mutter
kennen, denn bald ziehen diese wieder hinweg nach andern Ländern,
in welche kein Winter kommt, und wo ihnen die Nahrung nicht fehlt.
Im Herbst finden sich auch die jungen Kuckucke der Gegend zu—
sammen und machen sich auf die Reise, bleiben so lange entfernt,
3
bis bei uns von neuem ihr Tisch im Frühling gedeckt ist, und
ihr vielbedeutender Ruf uns aus den Winterstuben hinaus in den
Wald lockt, Kuckucksblumen zu suchen. Hermann Wagner.
120. Eine Sage vom Kuckuck.
Als alle Vögel geschaffen waren, vom Kondor herab bis zu
dem leinsten Honigvogel, wies der Engel Raphael einem jeden
seinen Standort an: dem Aar die Zinnen des Hochgebirges und der
Grasmũucke den niederen Stachelbeerstrauch, dem Vogel Straub
den Sand und der Ente das Wasser, der Lerche den Acker und
dem Kiebitz das Ried, der Schwalbe das Haus und dem Storch
das Dach. Und allen war es recht, nur dem Kuckuck nicht. Denn
der Fels stand ihm zu hoch und der Strauch zu nieder, der Sand
war ihm zu trocken und das Wasser zu nab, der Acker zu fest
und das Ried zu weich, das Haus zu dumpf und das Dach zu
luftig. Nirgends wollte es ihm gefallen. — Da wurde der Engel
über den Kuckuck zornig und sprach: „So suche dir nun selbst
einen Ort, der dir gefällt.“ Und seitdem wandert der Kuckuck von
Ort zu Ort, von Land zu Land, und hat noch nirgends gefunden,
wo es ihm länger als einen Sommer gefallen hätte. Er schläft jede
Nacht auf einem andern Baume, und seine Eier legt er das eine
dahin und das andere dorthin und gehet wieder fort und kenut
seine Kinder nicht, und seine Kinder kennen ihn nicht, sondern
halten Fremde für ihre Väter und Nütter. Wilhelm Curtman.
121. Abendfeier.
Wie ist der Abend so traulich, doch, stille Beter, neigen
wie lächelnd der Tag verschied; sie alle das Haupt zur Erd'!
wie singen so herzlich erbaulich Und alles betet lebendig
die Vögel ihr Abendlied! um eine selige Ruh',
Die Blumen müssen wohl und alles mahnt mich inständig:
schweigen, O Menschenkind, bete auch dul
kein Ton ist Blumen beschert; Philipp Spitta. (Gekürzt.)
122. Rätsel.
Auf einer großen Weide gehen Er treibt sie aus zu goldnen Toren,
viel tausend Schafe silberweiß; er überzählt sie jede Nacht
wie wir sie heute wandeln sehen, und hat der Lämmer keins verloren,
sah sie der allerältste Greis. so oft er auch den Weg vollbracht.
Sie altern nie und trinken Leben Ein treuer Hund hilft sie ihm leiten,
aus einem unerschöpften Born; ein muntrer Widder geht voran.
ein Hirt ist ihnen zugegeben Die Herde, kannst du sie mir deuten?
mit schön gebognem Silberhorn. und auch den Hirten zeig' mir an!
Friedrich v. Schiller.
136
2. Sommer.
123. Sommergesang.
Geh aus, mein Herz, und suche das Schwälblein speist ihr' Jungen;
Freud der schnelle Hirsch, das leichte Reh
in dieser lieben Sommerzeit ist froh und kommt aus seiner Höh'
an deines Gottes Gaben; ins tiefe Gras gesprungen.
chau n ber nen rlen dier Die unverdroßne Bienenschar
und siehe, wie sie mir und dir uun 9
adeschmucket haben. tug hin un her, such hier und dar
sich ausg ihr' edle Honigspeise;
Die Bäume stehen voller Laub, des süßen Weinstocks starker Saft
das Erdreich decket seinen Staub kriegt täglich neue Stärk' und Kraft
mit einem grünen Kleide. in seinem schwachen Reise.
Narzissen n bie pu Der Weizen wächset mit Gewalt,
die ziehen sich viel schöner an dunber t
als Salomonis Seide. anper numaet ung und an
und rühmt die große Güte
Die Lerche schwingt sich in die Luft, des, der so überflüssig labt
das Täublein fleugt aus seiner Kluft und mit so manchem Gut begabt
und macht sich in die Wälder; das menschliche Gemüte.
be hohbeai⸗ Rutiunll Ich selber kann und mag nicht ruhn,
ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Verg Hugel, Tal und Felder des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
Die Glucke führt ihr Völklein aus, ich singe mit, wenn alles singt,
der Storch baut und bewohnt sein und lasse, was dem Höchsten klingt,
Haus, aus meinem Herzen rinnen.
Paulus Gerhardt.
124. Am Morgen.
Horch, wie der Wind im Baum sich regt,
horch, wie das Vöglein draußen schlägt!
Die Sonn' ist ja schon längst herauf
und scheint so hell! Steh auf! steh auf!
Die Blumen stehn so klar im Tau.
so lustig ist's auf grüner Au.
Das Bächlein geht so muntern Schritt,
auf, komm heraus und freu dich mit!
Johannes Trojan.
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125. Der Hahn.
Der Hahn ist gar ein getreuer ob man dem Prieden trauen dart,
Mann, ob nicht vielleicht denselben Tag
der Haus und Hof bewachen kann. noch Regen kommt und Hagel-
Wenn alles noch in Pedern liegt, sohlag.
er schon aus seiner Stiege fliegt Und wenn er so was hat erspäht,
und guekt nach rechts und guekt dann fliegt er schnell aufs Dach und
nach links, kräht — bibkeriki!
besieht die ganze Gegend rings, Der Hahn ist gar ein gefäll'ger
ob nicht der Wächter sechläft viel- Mann,
leicht, der. tut aus Liebe, was er Lann.
ob Sultan nicht vom Posten sohleicht, Er kratzt und scharrt mit vieler Müh'
und findet er, daß alles recht, für seine Hennen spät und früh,
so weckt er Kutscher, Magd und und findet er ein Weizensehrot,
Knecht — kikerikil ein Würmohen oder Krümchen Brot,
Der Hahn ist gar ein gelehrter dann ruft er seinen schönsten Grub,
Mann, macht einen hübschen RKratzefub:
der sagt vorher das Wetter an. „Kommt her und pickt, ihr Hennen
Wenn droben hell die Sonne steht, jetzt!
die Wipfel rubn, kein Lüftehen weht, Ihr kommt zuerst, ich komm' zu-
er weiß es und bemerkt es scharf, letzt — bikeriki!“
Rudolt Löwenstein.
126. Der Hühnerhof.
Welche Gesellschaft ein'ge mit Schöpfen,
ist hier zu sehn! aber alle ein bissel dumm.
Mehe seporrien Und von den Gänsen
ach, das ist schön!
ß welches Geflatter,
Hühner und Hähnchen
ausen umher welches Geschnatter!
7
müssen sehr eifrig sein, Wenn ich nur wühl
haben es schwer. was kann sin
Hier ein Korn, da ein Korn duß sie so schrei n een,
wird zwar ein Haufen, ob es wohl immer was Wichtiges ist?
aber den ganzen Tag Täubchen und Tauber
muß man auch laufen. kommen geflogen,
Ach, wieviel' Entchen sind angezogen
wackeln herum! so nett und sauber.
Schneeweiß die einen, Gehn auf und nieder
andre mit feinen mit hellen Blicken,
goldgrünen Köpfchen, nicken und picken,
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139 —
flattern dann wieder Nein, keinen Tollern
heim in ihr Haus. gibt's auf der Welt.
Niedlich sehn auch die Perlhühner der uhn
Ein hübsches Graubunt laus! dod der ure
Der ganze Hof
einfach und echt!
7 ist ihm untertan.
F rntag wie Wort ino Fürst und Gebieter
kleidet's nicht schlecht.
äßt er sich nennen,
Doch die Fasanen —
da hilft kein Sperren is der Aler
der edeln Hennen.
sind hohe Herren, I
machen sich breit, Bedächtig schreitet
haben auch Grund dazu, er auf und nieder,
gehen im goldnen und prchtig breitet
und silbernen Kleid. er sein Gefieder.
Was muß ich schau'n,
Der alte Puter, was macht er jetzt?
das sag' ich immer, Hat sich gesetzt
der ist kein Guter, hoch auf den Zaun.
der ist ein schlimmer, Nun sieht er sich stumm
falscher Patron, und gebietend um.
das kleinste Entchen Nun schlägt er mit Macht
ärgert ihn schon. seine Flügel — gebt acht!
Gleich muß er kollern, und reckt seinen Hals,
und wie er geht, und auf einmal erschallt's:
wie er sich bläht, Kikeriki!
wie er sich stellt! Ale meine Hühner, wo sind denn die?
Johannes Trojan.
127. Die Sperlinge.
O welch ein Geschnatter, was ist denn los?
Ach nichts, es haben die Sperlinge bloß
Bürgerversammlung auf Nachbars Zaun,
wohl an dreihundert sind dort zu schau'n!
Die höchsten Interessen der Sperlingsschaft
bereden sie dort mit großer Kraft:
Wie die Erbsen stehn und der Kopfsalat
und was sich sonst ereignet im Staat.
Ein jeder schnattert auf seinem Zweig,
sie reden alle und reden zugleich,
sie jilpen und schilpen und machen Skandal
und zetern, als hätten sie Reichstagswahl! —
140 —
Mit einmal reckt sich auf seinem Platz
ein Alter und warnt: „Terr, terr, die Katz!“
Hurr, burr, sind sie mit einmal fort,
und Nachbars Katze hat das Wort! Heinrich Seidel.
128. Der Igel.
Wir belauschen das Tier an einem Augustabend am Rande eines
Hages. Ein Rascheln auf dem Laubboden lenkt unser spähendes Auge
nach jenem aufgeschichteten Heckenreisig im Gebüsche. Dort regt es sich
an mehreren Stellen, und deutlich tritt zunächst ein alter Igel in den
Abendsonnenschein. Die Nase gesenkt und nach allen Richtungen hin
Blätter, Wurzelausschläge, bemooste Steine und Vertiefungen be—
schnüffelnd, rückt er dem zwischen Büschen sich hinschlängelnden Wege
näher. Da gewahrt er eine Maus. Wie eine Bildsäule steht er still,
mit gespanntem Gehöre und haftendem Blicke, bis die Beute nur
noch ein halbes Meter von ihm entfernt ist. Dann springt er,
rascher zufahrend, als das seither beobachtete täppische Auftreten
vermuten läßt, der im Zickzack ausweichenden Maus behende nach
und hält im nächsten Augenblicke den quiekenden Nager zwischen den
Zähnen. Nun raschelt es lebhafter im Laube, und auf einen leisen
Murkston der Igelmutter kommen hinterdrein fünf halbwüchsige
Igelchen, von denen die beiden vordersten sich über die entgegen—
gebrachte Beute hastig, aber keineswegs friedlos herstürzen. Während
diese die Maus zerreißen, mischen sich die drei nachkommenden Ge—
schwister unter die Schmausenden. Unterdessen hat sich, von sicht—
licher Unruhe getrieben, die Igelmutter wieder nach dem Platze be—
geben, wo sie soeben die Maus gefangen. Das Rüsselscheibchen ist
emsig tätig und wühlt jetzt im Laube am Rande des Weges; unter der
Beihülfe der scharfnageligen, grabenden Füße hebt sich die Erde,
und jetzt erfolgt ein zufahrender Ruck des Vorderleibes, und dann
wird das Quieken einer Maus hörbar. Wirklich eine zweite Maus
hängt zwischen dem Gebisse des Räubers und ist zutage gefördert.
Das Verkriechen im seichten unterirdischen Gange hat ihr nicht
geholfen; der aufmerksame Igel hatte sie beim Fange ihrer Ge—
fährtin bemerkt, und darum trieb ihn der Eifer sogleich zur Fort—
setzung der Jagd. Diesmal wird die Maus von den gleichzeitig der
Mutter entgegenkommenden Jungen verzehrt. Da knackt unter
unsern Füßen ein dürres Reis, und wie ein elektrischer Schlag durch—
zuckt es die Panzermuskeln der Igelfamilie, und da liegen sechs zu—
sammengerollte Kugeln vor uns. Noch weichen wir nicht vom Platze
und stehen regungslos. Nach wenigen Minuten entrollt die Alte
— 141 —
ihren Stachelmantel, und vertraut folgen ihrem Beispiele die Kleinen,
die erst seit kurzem befähigt sind, den Mantel über die verletzbaren
Körperteile zu ziehen, der Familienwohnung zutrippelnd. Hier war
indessen die Geburtsstätte der Kleinen nicht. Diese war ein seit Jahren
unterhöhlter Hügel, ungefähr hundert Schritte von dieser Wohnung
entfernt, mitten im Gestrüppe, Gestein und Genist. Dort hatten wir
die tagalten Kleinen entdeckt. Beim Untersuchen der Wohnung hörten
wir die ängstlich besorgte Mutter ein trommelartiges Knurren aus—
stoßen, ähnlich wie es der Dachs hören läßt. Die nackten Jungen mit
verschlossenen Ohren und Augen konnten kaum 7 em lang sein, und
die in weichzelliger, dehnbarer Hautlage steckenden weißen Stacheln
waren eben im Durchbrechen. Das Nest, welches äußerlich aus einer
festeren Laub- und Moosschicht bestand, war inwendig mit feineren
Gras-⸗, Genist- und Moosstoffen ausgelegt. Wir griffen zur Schonung
der Jungen sehr behutsam in das Familienheiligtum ein und ent—
fernten uns alsbald wieder, nachdem wir die äußere Ordnung her—
gestellt hatten.
Nach einigen Tagen sahen wir zum zweitenmal nach den Igeln
und fanden die Stacheln derselben schon ziemlich weit der Haut ent—
wachsen. Acht Tage später zeigte sich uns das Nest leer. Nach
längerem Suchen fanden wir die ganze Familie hier in neu errichtetem,
aber sehr lose und nachlässig geformtem Nachtlager. Die besorgte
Alte hatte ihre Jungen in Sicherheit gebracht, unzweifelhaft im
Maule hierhergeschleppt. Sehr rührig war die Pflegerin, die mehrere
Wochen alten Kleinen mit von außen zugetragener Nahrung zu
versehen, obgleich ihnen das Gesäuge noch lange nicht entzogen wurde.
Hier wurde Puppe, Käfer, Schnecke und Wurm erbeutet, dort nach
Engerlingen und Mäusen gewühlt, dort endlich Grille, Heuschrecke,
Eidechse und eine Blindschleiche gefangen. Bei allen diesen Unter—
nehmungen offenbart sich ein scharfer Geruch- und Gehörsinn. Unter
treuer Mühewaltung, Pflege und Anleitung bis zum Herbste gelangen
die jungen Igel zur vollkommenen Selbständigkeit und gehen nun
getrennt ihre Wege. Adolf u. Karl Müller.
129. Das Spinnlein.
Nein, schaut mir doch das Spinnlein an,
wie's zarte Fäden spinnen kann!
Frau Muhme, du spinnst auch wohl fein;
doch das möcht' wohl noch feiner sein.
Es macht es so subtil und nett,
möcht' nicht, daß ich's zu haspeln hätt'!
142 —
Wo nahm es her den Flachs so fein?
wer mag der Hechelmeister sein?
Es ziehet lange Fäden aus
und spinnt 'ne Brück' ans Nachbarhaus;
ein breiter Weg ist's in der Luft,
der morgens hangt voll frischem Duft.
In freien Lüften wogt's und schwankt's,
und an der lieben Sonne hangt's
und sitzt in ihrem Licht so warm.
Wie wohl ist's ihm! In großem Schwarm
sieht's Mücklein tanzen, jung und fett,
und denkt: „Wenn ich doch eines hätt'!“
Wie hast du Spinnlein mich entzückt,
so klein und doch auch so geschickt!
Wer hat dies alles dich gelehrt? —
Ich denk': Er, der uns alle nährt,
er gibt auch dir, was dir gebricht;
sei ruhig, er vergißt dich nicht! Nach Hebel.
130. Wozu die Kröõte gut ist.
Kein Mensch mag die Kröte leiden, weil sie gar zu häblich
aussieht. Ihren Vetter, den Laubfrosch, hält man wohl zum Ver—
gnügen im Wasserglase und achtet ihn als einen Wetterpropheten.
Er ist ein schlauer und flinker Geselle mit hübschem, hellgrünem
WVams. Vor der Kröte aber schreckt jedermann zurück, wo man
ihr auch begegnet.
Im Sumpfe ist die Kröte jung gewesen und groß geworden.
WVie das trübe Wasser des Morastes, sieht auch sie düster, grau
oder braun aus. Breit und plump ist ihr Leib, dick, wie ge-
schwollen. Ihre Fübße sind ebenfalls dick und unförmlich und
taugen nicht zu so zierlichen Sprüngen, wie sie Tanzmeister
Frosch mit Leichtigkeit ausführen kann. Die Kröte vermag nur
langsam zu kriechen; sie humpelt, anstatt wie ihre Vettern zu
hbüpfen. Andere Tiere wollen mit ihr auch nicht gern etwas zu
tun haben; denn ihre Haut sondert einen Saft aus, der ätzend
scharf ist und weder dem Fuchs noch sonstigen Raubtieren
schmecken will. Der Kröte ist dies freilich eben recht, dab sie
von solchen gefährlichen Gesellen nicht sonderlich gesucht wird.
Sie macht sich auch nicht gern bemerkbar, sondern verkriecht
143 —
sich bei Tage am liebsten in Schlupfwinkel und Verstecke. PErst
wenn es Nacht wird, kommt sie hervor.
Was macht sie aber im Finstern draußen im Garten, auf
dem feuchten Wiesengrunde und in den Gebüschen und Hecken?
Das lab dir erzählen!
Zur Nachtzeit kommt gar mancherlei Getier zum Vorschein,
welches das Tageslicht scheut. Auch die Nacktschnecken werden
alsdann lebendig und marschieren in groben Scharen nach den
Kohlpflanzen, den Salatstauden und nach dem, was sonst noch
der Gärtner auf den Beeten sorgsam als Gemüse pklegt.
Bei Tage haben die Singvögel den Polizeidienst im Garten
und lesen die Raupen von den Blättern ab. In der Nacht schlafen
sie aber im Neste, und das Gesindel hätte ungestörtes Spiel —
wenn die Kröten nicht wären. Die sind die Nachtwächter im
Gemũüsegarten. Sie kriechen den Schleimstrahen nach, welche die
Sschnecken als Spuren ihrer Wanderung hinterlassen, undl
schnappen die gefräbigen Tieère weg. Diejenigen, welche ihnen in
der ersten Nacht entgingen, werden sie in der folgenden Nacht
lassen.
Ehedem verfolgte der Gärtner die Kröten, die sich im Garten
plicken lieben. Es dünkte ihn doch zu eklig, wenn so häbliche
Tiere neben Blumen und Gemüse herumkröchen. Er schlug sie
tot und warf sie weg. Heutzutage verfährt man anders. Wie man
die Katzen im Hause hält zum Schutze gegen die diebischen Mäuse,
so hegt man im Garten die nũützlichen Kröten, diess unermüdlichen
Vertilger des schädlichen Ungeziefers. Ja, man erzählt, daß die
Gärtner in Paris und London geradezu Kröten kaufen, um sie in
ihren Gärten laufen zu lassen. Auch geschieht es wohl, daß man
die so verachteten Tieére über das Meer nach anderen Ländern
versendet. So kann ein Geschöpf grundhäßlich sein und doch
mitunter mehr nützen als ein anderes, das schmuck und niedlich
von Ansehen ist. Hermann Wagner.
131. Ein lästiger Bummler.
Leider hat nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern auch
die Tierwelt ihre Bummler. Einer derselben verfolgt uns im Sommer
überallhin. Kaum haben wir uns in der schattigen Laube nieder—
gelassen, so ist er da. Er ißt mit uns und liebt gute Bissen; er schaut
in die Milchtöpfe, in die Zuckerdose; er dringt in unser Wohnzimmer
ein, läuft auf den Tischen, Spiegeln, Bildern, ja sogar an der Decke
herum. Dabei ist er so frech, daß er keine Person achtet. GEr setzt
144 —
sich auf die Stirne des Kaisers wie auf die Nase des Bettlers; ja er
ist sogar so frech, daß er brummt und summt, wenn man ihn fortjagt.
Ihr erratet wohl, wen ich meine. Es ist die Stubenfliege, die
den Großpapa so oft in der Mittagsruhe stört und euch schon manches
Krümchen Zucker vom Kuchen gestohlen hat. Ihr möchtet wohl böse
auf sie sein. Aber ihr werdet Achtung vor ihr bekommen, wenn ihr
sie euch näher, vielleicht durch ein Mikroskop, beseht. Ihr werdet
staunen über die Weisheit und Liebe des Schöpfers, die auch an diesem
kleinen Tierchen sich offenbart.
Die Fliege ist, wie ihr wißt, ein Insekt. Sie trägt ein schwärz—
liches Kleid, hat sechs Beine, mit denen sie sehr schnell fortstrampelt,
einen Saugrüssel und zwei Fühler. Aber das Merkwürdigste an ihr
sind die Augen. Jedes derselben ist wie eine Kuppel gewölbt und
besteht aus Tausenden von sechseckigen Flächen. Mit diesem Auge,
welches eigentlich aus vielen einzelnen Augen besteht, wird es der
Fliege möglich, nicht nur nach vorn, sondern auch nach den Seiten
und allerwärts zugleich hinzusehen. Daher entgeht sie auch der Ge—
fahr leicht, weil sie ihren Feind sofort wahrnimmt, wenn er sich ihr
nähert. Durch die Flügel und andere Körperteile gehen Röhrchen,
die sich mit Luft füllen und ihr das Schweben und Fliegen leicht
machen.
Freilich ist die Fliege ein furchtbarer Näscher und verschont nichts
in der Küche. Es geht ihr dann aber oft recht schlimm; sie gerät
über Gift. Mitunter fällt sie auch in den Kaffee, in die Milch und
muß elend sterben. Wie ein Geck beschäftigt sie sich viel mit Putzen
und mit ihrem Äußern. Mit den feinen Borsten ihrer Beine bürstet
sie jedes Stäubchen von sich ab; aber wie macht sie es denn in
unserem Zimmer? Da hat die reinliche Hausfrau gar viel über sie zu
klagen, weil sie überall Schmutz hinträgt.
Doch wir wollen uns mit ihr aussöhnen. Sie ist doch viel harm—
loser und ungefährlicher als ihre schlimmen Verwandten, die Mord—
und Raubfliegen, die Stechfliegen, Schmeißfliegen, und wie sie sonst
heißen mögen. Sie kitzelt und krabbelt uns höchstens wie ein kleiner
Schäker, sticht aber nie.
Und nun denkt nur, was sie alles kann! Sie ist ein gewandter
Seiltänzer, sie läuft an den schmalsten Kanten hin. Sie kann sich
sogar an der Decke halten und an der glattesten Glasfläche umher—
spazieren, weil sie feine Härchen oder Haarläppchen an den Füßen
hat. Sie ist ein kühner Luftschiffer, der lange Zeit sich schwebend
erhält. Sie ist ein großer Chemiker, der jedes Körnchen Zucker durch
eine Flüssigkeit auflöst, damit es ihm besser munde. Sie ist ein Freund
145 —
des Lichtes, sie fliegt um die Lampe herum, versengt sich aber leider
oft dabei die Flügel. Die Vermehrung dieser Bummler ist in jedem
Jahre außerordentlich groß. Sie legen viele Eier, aus welchen
weiße, gefräßige Maden herauskriechen. Diese verwandeln sich in
ein rötlichbraunes Tönnchen, aus welchem die geflügelte Fliege heraus—
kommt.
Natürlich hat sie, weil sie so lästig ist, viele Feinde. Nicht nur
die Menschen suchen sie durch Räuchern, durch Fliegenpapier, durch
mit Leim bestrichene Stäbe und durch gläserne Fliegenfänger zu ver—
tilgen, auch die Spinnen, die Fliegenschnäpper, die Rotkehlchen, Bach⸗
stelzen und andere Vögel machen Jagd auf sie. Karl Pilz.
132. Der Ursprung der Rose.
Den Rosenzweig benagt ein cämmchen auf der Weide;
es tut's nur sich zur Cust, es tut's nicht ihm zuleide.
Dafür hat Rosendorn dem Lämmchen abgezwackt
ein Flöckchen Wolle nur, es ward davon nicht nackt.
Das Flöckchen hielt der Dorn in scharfen Fingern fest;
da kam die Nachtigall und wollte bau'n ihr Nest.
Sie sprach: „Tu auf die Hand und gib das Flöckchen mir!
und ist mein Nest gebaut, sing' ich zum Danke dir.“
Er gab, sie nahm und baut', und als sie nun gesungen,
da ist am RVosendorn vor CLust die RVos' entsprungen.
Friedrich Rückert.
133. Ein Brief über den Regen.
Lieber Vetter!
Hiermit tue ich Dir zu wissen, dabß unser Herrgott uns nach
langem Warten heute mit einem gnädigen Regen heimsuchte. Seit
einer Stunde regnet's in hellen Güssen und jetzt noch immerfort,
daß das Land dampft. Ieh bin schon zehnmal in den Garten
gelaufen, zu sehen, wie alles sich in die Höhe gerichtet hat und
frisch und fröhlich steht, und möchte es immer wieder aufs neue
tun, möchte sogar wie in meinen jungen Jahren vor Preuden
meinen Rock ausziehen und mich beregnen lassen, wenn's für
meinen grauen Kopf noch pabte. Denn was soll ieh nun in der
Stube anfangen? Den 103. Psalm habe ich schon gelesen, und
es regnet noch immerfort. — Ieh setze mich hin und schreibe einen
Brief an Dich, damit ich nur meine Freude so etwas ausweiten
kann.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
10
146 —
Ihr Städter wißt eigentlich gar nieht, was ein Regen ist.
Wenn bei Eueh unser Herrgott seinen Brunnen aufschließt, s0
spannt Ihr den Regenschirm auf, daß Euch kein Tropfen auf den
Leib kKommt. Dazu läuft's von Eurem Steinpflaster so rasch ab,
als es gekommen ist, und nach ein paar Stunden sieht kein Mensch
mehr, dabß unser Herrgott dagewesen ist. Was läßt denn die Erde
bei Euch für allerlei grünes Kraut aufgehen? Höchstens habt Ihr
ein halbes Dutzend Blumentöpfe im Fensterbrette, und die nehmt
Ihr wohl gar noch bei einem Regen herein und mebt ihnen ihr
Pflichtanteil an Wasser mit der Giehkanne zu.
Das ist bei uns anders. Da habe ich mich eben noch einmal
in den Garten gemacht und mit meiner Feldhacke in den Gurken-
beeten gescharrt, wie tief der Regen schon eingedrungen sei, und
es geht bereits über Hand und Daumen hoch durch und regnet
immer noch. Vetter, es ist doch noch was ganz anders, wenn
unser Herrgott die Gießkanne nimmt! „Einmal geregnet ist besser
als zehnmal gegossen,“ sagt eine alte Bauernregel. Denn beim
Regen kriegt jedes Hälmchen und Gräschen auf meilenweit in der
Runde sein Teil so gut mit zugemessen wie die Levkojen und der
Goldlack auf dem Paradebeete mitten im Garten.
Und wenn ich dann bei meinen Bohnen oder Kartoffeln stehe,
so kann ich nicht wegßommen. Erst mub ich zusehen, wie alles
auf einmal so frisch und dunkelgrün wird, was vor wenigen
sstunden noch ganz verschmachtet an der Erde lag, und wie der
Regen auf die vollen, straffen Blätter niederrauscht.
Hei, wie das jetzt wieder anhebt! — Nun, morgen mub ich
durehs Feld. Bin neugierig, was meine Kohlpflanzen dazu sagen,
und ob's dem Weizen nicht zuviel geworden ist! —
Jetzt läßt's nach. Gott sei Lob und Dank für alle seine
Gnadel! Wenn's nur allerwegen hingekommen ist! Hab' ich doch
gehört, daß in einigen Gegenden das Korn wegen der Dürre recht
verkommen sein soll. Sollte mir von Herzen leid tun; doch ist's
vielleicht nicht so arg, wie man's macht. Bei uns steht noch alles
fröhlich in Hoffnung. Unser Herrgott beschere uns eine gesegnete
Erntel — Ich will meinen 103. Psalm noch einmal lesen, und dann
mub ich hinaus in den Garten.
Lebe wohll Wenn Du meinst, daß mein Brief diesmal das
Postgeld nicht wert sei, so hast Du Dich auch noch nicht von
ganzem Herzen über einen Regen gefreut.
Dein getreuer Vetter.
Nach G. Jahn.
— 147 —
134. Rätsel.
Von Perlen baut sich eine Brücke und scheint, wenn du ihr nahst, zu
hoch über einen grauen See; fliehn.
sie baut sich auf im Augenblicke, Sie wird erst mit dem Strom und
und schwindelnd steigt sie in die Höh'! schwindet,
Der höchsten Schiffe höchste Masten sowie des Wassers Flut versiegt.
ziehn unter ihrem Bogen hin; So sprich, wo sich die Brücke findet,
sie selber trug noch keine Lasten und wer sie künstlich hat gefügt?
Friedrich v. Schiller.
135. Schulze Hoppe.
Es war einmal ein Schulze, der hieß Hoppe, dem konnte es der
liebe Gott nie recht machen mit dem Wetter; bald war's ihm zu
trocken, bald regnete es zuviel, und da sagte der liebe Gott endlich:
„Im nächsten Jahre sollst du das Wetter selbst machen.“ So geschah
es denn auch, und der Schulze Hoppe ließ nun abwechselnd regnen
und die Sonne scheinen, und das Getreide wuchs, daß es nur eine
Freude war, mannshoch. Als es nun aber zur Ernte kam, waren
alle ÄAhren taub; denn der Schulze hatte den Wind vergessen, und der
muß doch wehen, wenn das Getreide sich ordentlich besamen und
Frucht tragen soll. Seit der Zeit hat Schulze Hoppe nicht mehr
uͤbers Wetter gesprochen und ist zufrieden damit gewesen, wie es unser
Herrgott gemacht hat. Kuhn und Schwartz.
136. Waldlied.
Im Walde möcht' ich leben Wie sich die Vögel schwingen
zur heißen Sommerzeit! im hellen Morgenglanz!
Der Wald, der kann uns geben und Hirsch' und Rehe springen
viel Lust und Fröhlichkeit. so lustig wie zum Tanz.
In seinen kühlen Schatten Von jedem Zweig und Reise,
winkt jeder Zweig und Ast; hör nur, wie's lieblich schallt!
das Blümchen auf den Matten Sie singen laut und leise:
nickt mir: Komm, lieber Gast! Kommt, kommt in grünen Wald!
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
137. Das Moos.
Unten am Waldesboden lebt ein winziges Geschlecht, be—
scheiden und harmlos: das Moos. Seine Pflänzehen sind die Zwerge
der Pflanzenwelt. Die größten davon sind nicht viel länger als ein
10
148
binger. Viele sind nicht größer als ein Nadelknopf. Wie zierlich
überziehen sie den Grund des Waldes! Hier bilden sie dichte
Polster von dunkelgrüner Farbe, dort stehen andere in hellgrünem
Gewande. Mehr als hundert verschiedene Arten von Moosen leben
still in Wald und Sumpf, an Stämmen und Felsenwaänden, an
Mauern und Dächern.
Wie schwach ist doch solch ein kleines Pflänzchen! Sein
Stengel ist von zart und schön geformten Blättchen dicht umhüllt
und kaum so stark wie ein Zwirnsfaden. Der PFubtritt eines
Vögleins wirft es um, ja ein RKäfer, der vorbeiläuft, stößt das
einzeln stehende zu Boden. Darum hat der liebe Gott es auch
stets in Gesellschaft wachsen lassen. Tausend und aber tausend
solcher Pflänzchen stehen nahe beisammen. Diese kleinen Zwoerg-
lein richten in Gesellschaft gar manches aus. Wenn im rauhen
Herbst die Bäume ihre gelben Blätter verlieren, dann ist das Moos
am schöõnsten und wächst am besten. Es füngt die Eicheln und die
Nüsse der Buchen und Haseln auf und umhbüllt sie weich und
warm. Die tausend Käfer des Sommers suchen sich Verstecke
zum Schutze vor dem rauhen Herbstwind. Sie kriechen hinein
ins weiche, warme Lager von Moos und schlafen darin den ganzen
langen Winter durch. Hier liegen runde Häufchen Spinneneier,
dort ähnliche von Schmetterlingen. Hier hat sich eine Bãrenraupe
ihr Vinterlager ausgesucht, dort ruht zusammengerollt eine Blind-
schleiche.
Jetzt taut der Schnee. Die Dropfen eilen hurtig nach dem
Bache. „Halt!“ ruft das Moos den Flüchtigen zu und hält mit
seinen hundert Armchen ihrer viele fest. „Ich habe viele Kinder,“
sagt es, „dio brauchen Morgentrank!“ Das Moos reicht jedem von
ihnen sein Tröpfehen: der Eichel, der Haselnuß, dem Samen-
körnchen von der Flockenblume und vom Vergißmeinnicht. Sie
wachen auf und trinken und keimen, und das Moos schützt die
zarten Sprossen vor dem kalten Märzhauch. Sobald es aber
wärmer wird, kommen die Pflänzchen überall hervor, die Käfer
kriechen heraus, die Schnecken schlüpfen ans Tageslicht, und
aus den Puppen kommen schöne Schmetterlingo.
Aus fernen Ländern kehren Rotfkehlchen und Nachtigallen
wieder und beginnen, ihre Nester zu bauen. Sie tragen Reischen
in den neubelebten Busch und flechten sie ineinander. Nun febhlt
es noch an einem weichen Bettchen für die Eier und die künftigen
jungen Vöglein. Da fliegen die Alten zum weichen Moos und
bitten um seine Hülfe. Gutwillig gibt es seine Pflänzehen her,
m
damit die Vögel ihre Nester damit ausfüttern können. Bald
kommen auech das Häslein und das Reb und suchen ein
sicheres, trauliches Versteck, in dem sie die jungen Häschen
und Rehe pflegen können. Für sie breitet sich das Moos als
weicher Teppich aus, auf dem sie alle ein weiches Lager haben.
Als schöner, grüner UÜberzug bekleidet anderes Moos die Ab—
hünge der Waldberge. Es bildet Ruhekissen und Sofas und ladet
die Kinder zur angenehmen Ruhe ein, wenn sie vom Erd- und
Heidelbeersuchen ermüdet sind. Da pflücken sie das Moos und
winden daheim zum Gebartstag der Mutter Lauhgewinde und
Kränze, die jahrelang grün bleiben.
Das kleine Moos lehrt den schwachen Menschen, sich freund-—
lich an andere anzuschlieben, wenn er sich allein zu schwach
fühlt. In Gemeinschaft mit andern kann er dann viel Grobes aus—
richten, was dem einzelnen nicht möglich wäre.
Naceh Hermann Wagner.
138. Das Bächlein.
Du Bächlein, silberhell und klar,
du eilst vorüber immerdar;
am Ufer steh' ich, sinn' und sinn':
Wo lommst du her? wo gehst du hin? —
„Ich komm' aus dunkler Felsen Schoß;
mein Lauf geht über Blum' und Moos;
auf meinem Spiegel schwebt so mild
des blauen Himmels freundlich Bild.
Drum hab' ich frohen. Kindersinn;
es treibt mich fort, weiß nicht wohin.
Der mich gerufen aus dem Stein,
der, denk' ich, wird mein Führer sein.“
Karoline Rudolphi nach Goethe.
139. Die BVachstelze.
Welch ein flinkes, allerliebstes Wesen ist die Bachstelze! Wie
schlicht und doch wie sauber und kleidsam ist ihre Tracht! Bläulich—
grau das Röckchen, weiß das Mieder, schwarz der Haubenstreif, der
den Nacken hinabgeht, schwarz die Pantöffelchen und schwarz mit
weißem Saume hinten die lange Schleppe. Oben am Dachgiebel
steht ihr Nest, kunstlos, aber reinlich. Von da aus singt sie ihre ein—
fachen Melodien, mit denen sie die dünneren Stimmen der Grasmücke
14
150
und des Hänflings übertönt. Plötzlich stößt sie hinab. Nun trippelt
sie mir mitten im Hofe vor den Füßen umher, jagt in zierlichem,
schnellem Laufe der Fliege nach, immer mit dem Köpfchen nickend
und mit dem rastlosen Schwänzchen auf und ab schnellend. Nicht
lange, dann schießt sie in kurzen, wellenförmigen Schwingungen über
den Teich dem Brachfelde zu und folgt emsig und nie gesättigt dem
Pfluge, der ihr aus der Erde Larven und Würmer in Fülle zuwirft.
Oder sie läßt sich auf den Uferwiesen nieder, wo die Rinder weiden,
denen sie dreist das Insekt vom Rücken wegliest. Aber am liebsten
mag ich die Bachstelze doch am Wasser. Sie läuft am Ufer hin,
so schnell, daß das Auge ihren Schrittchen kaum folgen kann, und
dabei untersucht sie mit scharfen Blicken jeden Halm, jeden Winkel,
der ihr kriechende oder ruhende Beute verbirgt. Jetzt tritt sie auf
einen blankgespülten Stein; sie badet, sie trinkt. Auf einmal wirft
sie sich mit Schwung und Sprung in die Höhe, die schwärmende
Mücke zu fassen. Kurz, unter dem kleinen Federvolke ist außer der
Schwalbe kein Vogel anmutiger, beweglicher, gewandter und zu—
tunlicher als die Bachstelze. Hermann Masius.
140. Das Reh.
Es herrscht tiefe Waldesstille. Da knackt es in den Zweigen.
Ein Rehbock, erst mit halbem Leibe sichtbar, tritt aus dem
Waldesdunkel. Das Haupt mit seinem kräftigen, doch nicht viel-
zackigen Geweih ist keck emporgerichtet. Die groben, hellen
Augen rollen nach allen Seiten, ob alles sicher und ohne Gefahr
sei. Er zieht sich wieder zurück, kommt noch einmal und prütt,
und nun erst gibt er den Seinen das Sicherheitszeichen. Im Nu
ist das Reh mit seinen beiden Kälbehen ihm zur Seite, und in
munteren Sprüngen geht es hinab ins Tal und auf die betfaute
Waldwiese. In den drolligsten, mutwilligsten Sätzen umkreisen
die netten, weihgefleckten Zicklein die Mutter, entfernen sich von
ihr, sind mit Blitzesschnelle wieder da, tändeln mit ihr und
werfen sich nieder, um zu saugen. Bald kommen noch mehrere
der muntern Tiere hinzu; schon ist ein ganzes Rudel beisammen.
Da schlagen die Hunde bei der in der Ferne dureh den Wald
läutenden Kuhherde an; im Nu ist der Haufe auseinander. In
wilden Sprüngen setzen die Tiere durch die Fichtenschonung,
und bergauf, bergab geht die Plucht.
Das Reh ist ein munteres, gewecktes und schönes Tier. In.
allen seinen Bewegungen zeigt sich eine Leichtigkeit, in seinem
Lu
—
Laufe eine Flüchtigkeit, die Staunen erregt. Seine vollen, glänzen-
den Augen beseelt ein frisches und mildes Feuer, das ganz mit
geinem zierlichen Bau, mit seinen raschen Bewegungen und der
Behendigkeit im Springen übereinstimmt. Sein heiterer Jugend⸗
sinn meidet feuchte und sumpfige Stellen und hohe, finstere Eichen-
und Buchenwaldungen. Es liebt mehr lichte Schläge, die an Saat-
felder stobhen. Es ist listiger und viel flüchtiger als der Hirsch
und läßt den verfolgenden Hund bald hinter sich. Es weiß diesen
dureh mannigfaltige Umwege, durch verdoppelte Kreuzsprünge
irrezuführen, macht mitten im Laufe einen starken Absprung zur
Sgeite, duckt sich wie ein Hase nieder und läßt die ganze Meute
seiner aufgehetzten, bellenden Feinde vorüberziehen. Die Jungen
verbirgt das Reh im Gestrüpp und zeigt sich lieber selbst dem
Jüger, um die Feinde von ihnen abzulenken; doch bald kehrt
es auf weiten Umwegen unversehrt zu denselben zurück. Stöht
dem Rehbock etwas unvermutet auf, so stutzt er im ersten Augen-
blick, ist dann aber blitzschnell davon und warnt die Seinigen
dureh Pfeifen, das er dreimal wiederholt, und das weithin schallt.
Jung aufgezogen, sind die Rehe allerliebste Geschõöpfe; allein die
Bõcke nur so lange, bis sie ein tüchtiges Gehöõrn aufgesetzt haben.
Dann fühlen sie ssich und versuchen, mit ihrem Geweih zu stoben.
Wunderlieh.
16
152
141. Im Waldfrieden.
Weißt noch? Es war zur Sommers⸗ Rehvater sah aus einem Strauch
zeit, hervor und spähte scharf umher,
da gingst du in den Wald mit mir. ob alles wohl in Ordnung auch,
Ich sprach: „Ist's dir nicht gar zu und alles rings auch sicher wär'.
weit, Ein Weilchen sahn wir ihnen zu,
so zeig' ich heut' was Hübsches dir.“ und da — o wär' es nicht geschehn
Ablenkten wir vom Wege bald in deine Händchen klatschtest du
und schritten über weiches Moos. und riefest: „O, wie wunderschön!“
„O,“ sagtest du, „wie ist der Wadd Im Augenblick — kaum sah man
so herrlich doch und ist so groß!“ wie —
Auf einmal auf die Schulter legt' verschwanden auch schon alle vier;
ich dir die Hand und flüstert': „Still! in großen Sprüngen eilten sie
Was dort im Farnkraut sich bewegt, fort in ein anderes Revier.
das ist's, was ich dir zeigen will.“ Wirstanden still und lauschten noch,
Undsieh, zweiRehlein sprangen da als längst entflohn das scheue Wild.
umher, zwei Kälbchen, bunt gefleckt; Nicht wahr, es gibt nichts Hübsch'res
Rehmutter stand dabei und sah doch
vergnügt, wie sich ihr Pärchen neckt. im Wald, als so ein friedlich Bild?
Johannes Trojan.
142. Die Gäste der Buche.
Mietegäste vier im Haus Weiter oben hat der Specht
hat die alte Buche. seine Werkstatt liegen,
Tief im Keller wohnt die Maus, hackt und zimmert kunstgerecht,
nagt am Hungertuche. daß die Späne fliegen.
Stolz auf seinen roten Rock Auf dem Wipfel im Geäst
und gesparten Samen, pfeift ein winzig kleiner
sitzt ein Protz im ersten Stock, Musikante froh im Nest. —
Eichhorn ist sein Namen. Miete zahlt nicht einer.
Rudolf Baumbach.
143. Der Specht.
Es gibt auch unter den Vögeln reiche und arme Leute, Vornehme
und Geringe, Fürsten und Könige und schlichte Handwerker. Der
Habicht und der Falke ziehen mit krummen Schnäbeln und scharfen
Klauen auf die Jagd; der Kranich und der Reiher gehen als Fischer—
153
leute zu dem Teiche; die Schwalbe baut als Maurer sich aus Erde
das feste Nest, und tief im Walde wohnt der Holzhauer und Zimmer—
mann der Vögel: der arme Specht. Vier Brüder sind es, die alle
das gleiche Handwerk treiben. Der größte heißt von seinem schwar—
zen Rocke der Schwarzspecht. Er hat ein feuerrotes Käppchen auf
dem Kopfe. Schön grün und rot ist der zweite, er heißt nach seinem
Kleide der Grünspecht, und die beiden anderen sind schwarz und weiß,
als sei ihr Kleid aus Flicken und Flecken zusammengesetzt, wie es bei
armen Leuten wohl der Fall ist; einer derselben ist größer, der andere
kleiner; dies ist der große und der kleine Buntspecht. Kümmerlich
ist die Nahrung dieser Vögel. Nichts Gebratenes und nichts Gesottenes
kommt auf ihren Tisch; Würmer und Maden sind ihre Kost einen
Tag wie den andern. Doch ist der Vogel dabei lustig und guter
Dinge. Kaum graut der Tag, so eilt er an die Arbeit. Er fliegt
in den dichten, finstern Wald, dorthin, wo die ältesten und stärksten
Bäume sind, und sieht mit klugen Augen sie alle nach der Reihe an.
Jetzt bemerkt er einen, der ihm tauglich scheint, und eilt auf ihn zu.
Mitten am Stamme klammert er sich an der rauhen Rinde fest.
Zwei von seinen Zehen hält er nach vorn und zwei nach hinten.
Die Nägel an denselben sind ihm dabei von großem Vorteil. Sein
Schwanz ist ziemlich kurz, und die Federn, die denselben bilden, sind
steif und hart. Er ist sein Stühlchen, auf dem er fest an des Baumes
Borke ruht. Die Arxt des sonderbaren Vogels ist sein fester Schnabel.
Dieser ist ganz ähnlich einem Keil, wie ihn der Holzhauer in den
Baumstamm schlägt, den er zerspalten will; nur ist er vorn mehr
zugespitzt. Er sitzt an harten, starken Knochen des Kopfes, und mit
ihm ist der Vogel nun imstande, tief in die Rinde und das Holz des
Baumes einzuhauen. Oft pickt er nur durch die Vorke und zieht
die Käfermaden hervor, die in ihr wohnen. Diese leben manchmal
zu Hunderten in einem Stamm und fressen das Mark des Baumes,
der sich gegen diese heimlichen Feinde nicht wehren kann. Wenn
der Vermehrung dieser Würmer nicht Einhalt getan wird, zernagen
sie den Stamm so, daß bald die Äste absterben, die Knospen verwelken,
der Baum weder Blatt noch Blüten treibt und dann als toter
Stumpf traurig dasteht. Der Obstgärtner und der Forstmann sehen
diese verborgenen Feinde nicht eher, bis sie am Absterben des Baumes
ihre Gegenwart erkennen, wenn es zu spät ist. Da kommt ihnen
der Specht zu Hülfe. Sein Auge erkennt gar leicht den schädlichen
Gesellen; sein kräftiger Schnabel spaltet das mürbe Holz, fingerlange
Splitter fliegen umher, und die Baumverderber erhalten ihre wohl⸗
verdiente Strafe. Plötzlich hält der fleißige Arbeiter mit seinem
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Hämmern inne und läuft behende auf die andere Seite des Stammes
hier sieht er aufmerksam sich jedes Ritzchen an. Warum tut er dies
wohl? Will er etwa sehen, ob er mit seinem Loch bald fertig ist,
ob es bald durch den Baum hindurchgeht? Nein, die Würmer, die
noch bis dahin seinem Schnabel entgangen waren, flohen, von ihrem
eifrigen Verfolger erschreckt, nach der entgegengesetzten Seite des
Baumes und wähnen sich hier sicher; doch er eilt auch dorthin, und
sie werden hier seine Beute.
Alle Teile des Spechtes sind auf seine Lebensart berechnet. Seine
Zunge ist lang und dünn, und er vermag sie sehr weit aus dem
Schnabel vorzustrecken. Sie ist nicht wie andere Zungen fleischig und
weich, sondern hart und spitz, so scharf wie eine Nadel. Dazu ist sie
wie ein Pfeil mit vielen feinen Widerhaken versehen. Mit dieser
sonderbaren Waffe sticht er blitzesschnell in die kleinen Wurmlöcher,
spießt die Käferlarven an, zieht sie heraus und verzehrt sie mit
großem Wohlbehagen. Im Winter fehlt ihm freilich diese Fleisch—
nahrung, und er muß sich nach anderer Kost umsehen. Dann sucht
er Nüsse von Buchen und Haselsträuchern oder faßt mit den Füßen
die Tannenzapfen und pickt die Samenkörnchen heraus.
WViele von den Löchern, welche der Specht bei seinem Würmer—
suchen in die Bäume einhaut, kommen anderen kleinen Vögeln sehr
erwünscht, welche sie als Wohnung benutzen. Meisen und Stare
bauen in dieselben ihre Nester. So ist der Specht recht eigentlich der
Vögel Zimmermann, der ihnen Häuser baut. Doch vergißt er auch
nicht, für sich selbst zu sorgen. Im Frühjahr sucht er in Gemeinschaft
mit seinem Weibchen sich einen geeigneten Baum und hackt in ihn
ein tiefes Loch wohl zwei Spannen lang schräg hinein, erweitert
es dann nach innen und glättet ganz sauber die Wände dieses sicheren
Gemaches. Vorsichtig trägt er alle Späne ein gutes Stück vom Baume
weg, damit kein böser Knabe es an ihnen merken soll, daß er hier
seine Eier und Jungen habe. Auf den seinen Holzspänen oder
dem Wurmmehl legt das Weibchen dann schöne weiße Eier.
Hermann Wagner.
144. Die Kreuzotter.
Die Kreuzotter ist die einzige Giftschlange unserer Heimat. Wir
haben aber auch an dieser einen mehr als genug. Wegen ihres
giftigen Bisses wird sie mit Recht gefürchtet, und schon manches
Menschenleben ist ihr zum Opfer gefallen. Auf Wiesen, im Walde, im
Moore und in der Heide weiß sie sich einzurichten; oft kommt sie
15.
in gefährlicher Menge vor. Überall siedelt sie sich an, wo sie gute
Schlupfwinkel, genügende Nahrung und Sonnenschein findet. Als
Wohnung ist ihr jede Höhlung in der Erde recht. Löcher unter
den Wurzeln der Bäume, Risse im Gestein, ein Mäuse- oder Maul—⸗
wurfsloch, ein verlassener Fuchs- oder Kaninchenbau sind ihr will—
kommen, wenn in der Nähe ein kleines freies Plätzchen sich befindet,
auf welchem sie sich sonnen kann. Während des Tages entfernt sie
sich niemals weit von ihrer Höhle. Tellerförmig zusammengeringelt
verbringt sie hier in träger Ruhe den Tag. Jede Störung ver—
setzt sie in Wut, der sie durch heftiges Zischen Ausdruck verleiht;
sie beißt nach allen Gegenständen, die ihr nahe kommen, dabei den
Hals 15—30 em vorschnellend. Das Barfußlaufen auf Wiesen, in
Heiden und Mooren, in denen die Otter haust, kann sehr gefährlich
werden. Ebenso gefährlich wird unsere bissige Giftschlange den großen
und kleinen Bickbeerenpflückern, wenn sie nicht mit Vorsicht den Platz
vorher nach Schlangen untersuchen. So groß ist die sinnlose Wut
der Otter, daß sie sogar nach ihrem eigenen Schatten beißt; klug
ist sie also nicht.
Ihre Arbeit, die Jagd nach Mäusen, beginnt erst am Abend.
Während wir des Tages arbeiten und des Nachts ruhen, ruht die
Kreuzotter am Tage und verrichtet ihre Arbeit während der Nacht.
Kreuzotternfänger wissen das und machen's ihr nach. Sie zünden
in der Nacht ein Feuer an, und nicht lange dauert's, so lockt der un—
gewohnte Schein die jetzt munteren Tiere herbei; sie kriechen bis
an das Feuer heran, starren verwundert in die Glut und entschließen
sich scheinbar schwer, wieder umzukehren. Und was will man, so
könnte jemand fragen, mit den Kreuzottern? Nun, zum Vergnügen
wird sie niemand halten, dazu sind sie zu gefährlich; sie lassen sich
nicht zähmen und fressen in der Gefangenschaft selten; töten will
man sie. Denn wenn ihr Nutzen als Mäusefänger auch nicht gering
ist, so ist doch der Schaden, ein Menschenleben zu vernichten, viel
zu groß. Schade nur, daß die niedliche, ganz ungefährliche und sehr
nützliche Ringelnatter für die Kreuzotter mit büßen muß; und doch
könnte jeder die Ringelnatter so leicht von der immer mit einem
Zickzackbande gezeichneten Kreuzotter unterscheiden.
Während des Winters liegt diese an geschützten Stellen unter der
Erde halb erstarrt; erst die sonnigen Tage des März oder des April
locken sie aus der Erde hervor. Keine Spur von Eltern-, Kinder—
und Geschwisterliebe zeigt sich bei ihr. Sobald die Kleinen das Tages—
licht erblickt haben, gehen sie, ohne die geringsten Ansprüche an die
Liebe ihrer Mutter zu machen, welche sich auch nicht um ihre Kinder
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kümmert, und ohne einen freundlichen Blick mit ihren Geschwistern zu
wechseln, ihren Weg.
Das Männchen ist vielfach kleiner als das Weibchen; während
das erstere höchstens eine Länge von 60 em erreicht, sieht man zu—
weilen Weibchen mit der stattlicheren Größe von 72 em.
Hat jemand das Unglück, von der Kreuzotter gebissen zu werden,
so schwebt sein Leben in Gefahr. Schnelle Hülfe tut not. Das
wirksamste der vielen Gegenmittel ist, Rum oder Branntwein in
sehr großen Mengen zu genießen. Die durch einen Otternbiß er—
krankten Menschen verspüren auch nach einem unmäßigen Genuß
von Branntwein von einem Rausche nichts. Nötig ist aber in jedem
Falle, daß so schnell wie möglich ein Arzt geholt werde.
Nach Brehm.
145. Zottelohr.
Zottelohr oder Zottel war der Name eines jungen Häschens.
Es verdankte diesen Zunamen einem aufgerissenen Löffel, den es
aus seinem ersten Abenteuer davontrug. Zottelohr lebte mit seiner
Mutter in Olifants Moor.
Das rauschende Schilf am Teichesrand verbarg das warme,
trauliche Nest, wo Zottelohrs Mutter ihren Einzigen versteckt hielt.
Sie deckte ihn mit zarten Grashalmen warm zu, und ihr letzter mütter—
licher Rat war wie immer: „Bleib still liegen und halte den Mund,
mag kommen, was da will.“ Zottelohr, obwohl im warmen Bettchen,
dachte natürlich nicht an Schlafen, und mit seinen klugen Äuglein
musterte er das Stück seiner kleinen, grünen Welt, das sich über ihm
auftat. Eine Goldammer erwischte einen blauen Schmetterling kaum
sechs Zoll vor seiner Nase, und ein purpurrot und schwarz getüpfelter
Marienkäfer machte einen langen Spaziergang einen Grashalm hin—
auf, einen anderen hinab, quer durch das Nest und gerade über
Zottels Nase. Jedoch Zottelohr rührte sich nicht und überwand es
sogar, zu blinzeln oder zu niesen.
Nach einer Weile hörte er ein Rascheln im Laub des nahen
Dickichts, und obwohl er es bald hier, bald dort vernahm — es
kam näher und näher, aber Tritte waren es nicht. Zottel hatte sein
ganzes Leben (er war dazumal drei Wochen alt) im Moore zu—
gebracht, und dennoch hatte er niemals etwas Derartiges gehört.
Seine Neugierde war natürlich aufs höchste gespannt. Die Mutter
hatte ihm zwar anbefohlen, still liegen zu bleiben, aber nur im Falle
einer Gefahr, und dieses fremdartige Geräusch ohne vernehmbare
Tritte konnte gewiß nichts Gefährliches bedeuten.
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Das leise Rascheln ging dicht an ihm vorüber, dann zur Rechten,
dann wieder zurück und schien sich schließlich zu entfernen. Zottel
wußte sofort, was er zu tun hatte. Es war seine Pflicht als Hase,
zu erfahren, was es da gab. Er erhob langsam seinen weichen, rund—
lichen Körper auf den kurzen Beinchen, schob den dicken Kopf über
die schützende Wand des Nestes und lugte neugierig hinaus in den
Wald. Da er nichts Besonderes entdecken konnte, machte er einen
Schritt vorwärts und befand sich Auge in Auge mit einer großen,
schwarzen Schlange.
„Mama,“ kreischte Zottelohr vor Schrecken, als das Ungeheuer
auf ihn zuschoß. Mit aller Kraft seiner schwachen Beinchen versuchte
er zu laufen. Aber wie der Blitz hatte ihn die Schlange am Ohr
und wickelte sich voll gieriger Lust um das hülflose kleine Häschen,
das sie sich zum Mittagsmahl auserkoren.
„Mama, Mama,“ keuchte der arme Kleine, als das grausame
Ungetüm begann, ihn langsam zu Tode zu würgen. Bald, gar bald
würde des Kleinen Schrei verstummt sein; aber da erschien Hülfe in
der Not; mit langen Sätzen kam die Mutter durch den Wald. Sie
war nicht mehr eine scheue, furchtsame Häsin, die Mutterliebe war
in ihr erwacht. Der Hülfeschrei ihres Einzigen hatte sie mit der
Tapferkeit einer Heldin erfüllt, und — hopp, setzte sie über den ekel—
haften Wurm. Beim Sprunge schlug sie mit ihren starken, scharf—
bewaffneten Hinterläufen kräftig aus und versetzte der Schlange einen
solchen Schlag, daß sie sich vor Schmerzen krümmte und vor Wut zischte.
„Mama,“ wimmerte ganz schwach ihr Kleinod. Und die Mutter
wiederholte ihre Sprünge wieder und wieder und schlug heftiger und
ungestümer bei jedem Satz, bis die Schlange Zottels Ohr fahren
ließ und nach der Alten schnappte, aber alles, was sie erwischen
konnte, war ein Flöckchen Wolle. Die Hiebe der Häsin fingen an,
ihre Wirkung zu zeigen; denn lange blutige Striemen waren in die
Haut des schwarzen Ungetüms gerissen.
Die Sache begann der Schlange ungemütlich zu werden, und in—
dem sie sich für den nächsten Angriff vorbereitete, entwischte ihr das
kleine Häschen und verschwand im Niederholz. Es war ganz außer
Atem und zu Tode entsetzt, aber unversehrt bis auf sein linkes Ohr,
das vom scharfen Zahn arg zerfetzt war.
Die Mutter hatte nun alles erreicht, was sie wollte. Sie wollte
nicht um Ruhm oder Rache kämpfen; so verschwand auch sie im Wald,
und das befreite Häschen folgte ihrer weißen Blume, wie einem
Leuchtturme, bis sie in einer sicheren Ecke des Moores angelangt
waren. E. S. Thompson.
146. Matten Haus.
Luũtt Matten de Has. Kumm, lat uns tosam
de mal sis en Spaß, ik kann as de Dam/
he weer bi't Sudeern, De Krei, de spelt Hitel,
dat Dangen to lehrn, denn geit dat kanditel,
un dans gans alleen denn geit dat mal schöõn
op de adentersten been op de achtersten Been!“
Keem NHeinke de Voß Lũtt Matten geo Pot.
un dache , Das en Kost!“ De Voß beet em dot
Un seggt. Lttje Matten, un sett sis in Schatten,
so flink oppe Padden? gerspis de lũtt Matten:
und danast hier alleen de Krei, de hreeg een
op de adchtersten Been? oun de achtersten Been.
Hlaus Grotli.
147. Das Abenteuer im Walde.
Es regnete, was herunter wollte. Die Tannen schüttelten den
Kopf und sagten zueinander: „Wer hätte am Morgen gedacht, daß es
so kommen würde!“ Es tropfte von den Bäumen auf die Sträucher,
von den Sträuchern auf das Farnkraut und lief in unzähligen kleinen
Bächen zwischen dem Moose und den Steinen. Am Nachmittage hatte
der Regen angefangen, und nun wurde es schon dunkel, und der Laub—
frosch, der vor dem Schlafengehen noch einmal nach dem Wetter sah,
sagte zu seinem Nachbar: „Vor morgen früh wird es nicht aufhören.“
Derselben Ansicht war eine Ameise, die bei diesem Wetter unterwegs
war. Sie war am Vormittage mit Eiern in Tannenberg auf dem
Markte gewesen und trug jetzt ihren Erlös in einem kleinen blauen
Beutel nach Hause. Bei jedem Schritte seufzte und jammerte sie.
„Das Kleid ist hin,“ sagte sie, „und der Hut auch! Hätte ich nur
den Regenschirm nicht stehen lassen, oder hätte ich wenigstens die
Galoschen angezogen. Aber mit Zeugschuhen in solchem Regen ist
gar kein Weiterkommen!“
Während sie so sprach, sah sie gerade vor sich in der Dämmerung
einen großen Pilz. Freudig ging sie darauf zu. „Das paßt,“ rief
sie, „das ist ja ein Wetterdach, wie es nicht besser bestellt werden
kann! Hier bleibe ich, bis es aufhört zu regnen. Wie es scheint,
wohnt hier niemand — desto besser! Ich werde mich sogleich ge—
158
— 109) —
mütlich einrichten.“ Das tat sie denn auch und war eben daran, das
Regenwasser aus den Schuhen zu gießen, als sie bemerkte, daß
draußen eine kleine Grille stand, die auf dem Rücken ihr Violinchen
trug. „Höre, Ameischen, ist es erlaubt, hier unterzutreten?“ — „Nur
immer herein! Es ist mir lieb, daß ich Gesellschaft bekomme.“ —
„Ich habe heute im Heidekruge zur Kirmes aufgespielt. Es ist dabei
spät geworden, und nun freue ich mich, daß ich hier die Nacht bleiben
kann, denn das Wetter ist ja schrecklich, und wer weiß, ob ich noch ein
Wirtshaus offen finde.“
Also trat Grillchen ein, hing ihr Violinchen auf und setzte sich zu
der Ameise. Noch nicht lange saßen sie, als sie in der Ferne ein
Lichtchen schimmern sahen. Als es näher kam, wies es sich als ein
Laternchen aus, das ein Johanniswürmchen in der Hand trug. „Ich
bitt' euch,“ sagte das Johanniswürmchen höflich grüßend, „laßt mich
die Nacht hier bleiben. Ich wollte eigentlich nach Moosbach zu meinem
Vetter, habe mich aber im Walde verirrt und weiß weder aus noch ein.“
„Nur immer zu!“ sagten die beiden. „Es ist ein Vorteil für uns, daß
wir Beleuchtung bekommen.“
Der Schein des Lichtes führte ihnen bald einen Wanderer zu, der
ziemlich ungeschickt über Laub und Moos herangestolpert kam. Es
war ein Käfer von der großen Art. Ohne guten Abend zu sagen,
trat er ein. „Aha!“ rief er, „so bin ich doch recht gegangen, und
dies ist die Zimmergesellenherberge.“ — Mit diesen Worten setzte er
sich, holte seinen Schnappsack hervor und begann sein Abendbrot zu
verzehren. „Ja, ja,“ sagte er, „wenn man den ganzen Tag über
Holz gebohrt hat, dann schmeckt das Essen!“ — Als er mit dem
Essen fertig war, stopfte er sich eine Pfeife und ließ sich vom Johannis—
würmchen Feuer geben, zündete sie an und fing an, ganz gemütlich zu
rauchen.
Unterdessen war es draußen ganz dunkel geworden, und das
Wetter schlimmer als vorher. Da kam zur allgemeinen Verwunderung
noch ein später Gast an. Schon seit längerer Zeit hörte man in der
Ferne ein eigentümliches Schnaufen; das kam langsam näher und
näher, und endlich erschien unter dem Pilze eine Schnecke, die ganz
außer Atem war. „Das nenne ich laufen!“ rief sie; „wie ein Tausend⸗
fuß bin ich gehetzt; ordentlich das Milzstechen habe ich bekommen. Ich
will nur sogleich bemerken, daß ich im nächsten Dorfe einen Brief
bestellen muß, der Eile hat. Aber niemand kann über seine Kräfte,
besonders, wenn er sein Haus trägt. Wenn die Gesellschaft erlaubt,
will ich hier ein paar Stündchen rasten, dann kann ich wieder
55
p 5 —
galoppieren, als gelte es, die Eisenbahn einzuholen.“ Niemand hatte
etwas dagegen, daß sich die Schnecke ein gemütliches Plätzchen
aussuchte.
Da nahm die Ameise das Wort und sprach: „Warum sitzen wir
so trübselig beieinander und langweilen uns, da wir uns doch die Zeit
auf angenehme Weise verkürzen könnten? Ich sehe, daß die Grille
ihre Violine bei sich hat. Wenn sie nicht gar zu müde ist, möcht' ich
sie bitten, uns ein lustiges Stücklein zu spielen, damit wir eins tanzen
können.“ — Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Die Grille
stellte sich in die Mitte und spielte das lustigste Tänzchen, welches
sie auswendig wußte, während die andern um sie herumtanzten. Nur
die Schnecke tanzte nicht mit. „Ich bin,“ sagte sie, „an das Herum—
wirbeln nicht gewöhnt, mir wird es leicht schwindelig. Aber tanzt,
soviel ihr wollt, ich sehe mit Vergnügen zu.“ — Die andern ließen
sich denn auch gar nicht stören, sondern vollführten ihren Jubel, daß
man es auf drei Schritte Entfernung hören konnte. Aber ach! durch
ein furchtbares, ungeahntes Ereignis wurde plötzlich ihr Fest unter—
brochen.
Der Pilz, unter welchem die lustige Gesellschaft tanzte, gehörte
leider einer alten Kröte. An schönen Tagen saß sie oben auf dem
Dache; wurde aber schlechtes Wetter, so kroch sie unter den Pilz, und
es konnte ihretwegen regnen von Pfingsten bis Weihnachten. Diese
Kröte nun war am Nachmittage nach dem nächsten Moore zu ihrer
160—
— —
Base, einer Unke, gegangen und hatte derselben so viel zu erzählen
gewußt, daß es darüber dunkel geworden war. Jetzt am Abend kam
sie ganz leise nach Hause geschlichen. Als sie in ihrem Hause den
Jubel hörte, trat sie noch leiser auf; so kam es, daß die Leutchen
drinnen sie nicht eher gewahr wurden, als bis sie mitten unter
ihnen stand.
Das war eine unerwartete Störung! Der Käfer fiel vor Schreck
auf den Rücken, und es dauerte fünf Minuten, ehe er wieder auf die
Beine kommen konnte. Das Leuchtkäferchen dachte erst zu spät daran,
daß es hätte sein Laternchen auslöschen sollen, um in der Dunkelheit
zu entwischen. Die Grille ließ mitten im Takte ihr Violinchen fallen;
die Ameise sank aus einer Ohnmacht in die andere, und selbst die
Schnecke, die sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen ist, bekam
ein Herzklopfen. Sie wußte sich aber schnell zu helfen; sie kroch in ihr
Häuschen, riegelte die Tür hinter sich zu und sprach zu sich: „Was
da will, kann kommen! Ich bin für niemand zu Hause.“
Nun hättet ihr aber hören sollen, wie die Kröte die armen
Leutchen heruntermachte. „Da hat sich ja ein schönes Lumpengesindel
zusammengefunden! Ist das hier eine Herberge für Landstreicher und
Dorfmusikanten? Nicht aus dem Hause kann man gehen, gleich
geht der Unfug los! Augenblicklich packt jetzt nur eure Siebensachen
ein und dann fort mit euch, oder ich will euch schon Beine machen!“ —
Was war zu tun? Die armen Leute wagten gar nicht erst, sich
aufs Bitten zu legen, sondern nahmen schnell ihre Sachen auf, riefen
der Schnecke durchs Schlüsselloch zu, daß sie nachkommen sollte, und
als auch diese sich fertig gemacht hatte, zogen sie alle zusammen von
dannen, voran das Johanniswürmchen, um auf dem Wege zu leuchten,
dann der Käfer, dann die Ameise, dann die Grille und zuletzt die
Schnecke. Als sie ein Stück gegangen waren, merkten sie, daß die
Schnecke nicht mehr bei ihnen war. Sie riefen alle zusammen in den
Wald zurück: „Schnecke, Schnecke! komm doch!“ — erhielten aber
keine Antwort. Sie war schon soweit zurückgeblieben, daß sie die
Rufe nicht mehr hören konnte. Die andern zogen betrübt weiter,
und nach langem Umherirren fanden sie unter einer Baumwurzel
ein leidlich trocknes Plätzchen. Da brachten sie die Nacht zu unter
großer Unruhe und ohne viel zu schlafen. Wenn sie auch mit heiler
Haut davongekommen waren, so blieb es doch immerhin ein schlimmes
Abenteuer, und die mit dabei gewesen sind, werden daran denken,
solange sie leben. Johannes Trojan.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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11
148. Der Sommerabend.
O sieh, wie ist die Sonne müd',
sieh, wie sie still nach Hause zieht!
O sieh, wie Strahl um Strahl verglimmt,
wie sie ihr Tüchelchen da nimmt,
ein Wölkchen, blau mit rot vermischt,
und sich damit die Stirne wischt!
Wahr ist es, sie hat schlimme Zeit,
im Sommer gar! Der Weg ist weit,
und Arbeit find't sie überall. —
In Haus und Feld, in Berg und Tal
drängt alles sich nach ihrem Schein
und will von ihr gesegnet sein.
Manch Blümlein hat sie ausstaffiert,
mit Farben prächtig ausgeziert.
Dem Bienchen gab sie einen Trunk
und sagt zu ihm: „Hast auch genung?“
Kam noch ein Käferchen in Eil',
gewiß bekam es auch sein Teil.
Manch Samenhülschen sprengt sie auf
und holt den Samen draus herauf.
Wie bettelten die Vögelchen,
wie wetzten sie die Schnäbelchen!
Und keins geht hungrig doch zu Bett,
das nicht sein Teil im Kröpfchen hätt'.
Der Kirsche, die am Baume lacht,
hat rote Backen sie gemacht.
Und wo im Feld die Ahre schwankt
und wo am Pfahl die Rebe rankt,
gleich kümmert sich die Sonne drum,
hängt ihnen Laub und Blüten um.
Und auf der Bleiche, seht doch an,
macht sie sich Arbeit, wo sie kann.
Das hat dem Bleicher schon behagt;
doch hat er nicht „Gotts-Lohn“ gesagt.
Ist irgend Wäsche wo im Ort,
sie trocknet hier, sie trocknet dort.
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Und wirklich wahr: allüberall,
wo irgend nur die Sens' im Tal
durch Gras und durch die Halme ging,
da macht sie Heu. Wie geht das flink!
Es will was sagen, meiner Treu!
am morgen Gras, am Abend Heu.
Drum ist sie jetzt so schrecklich müd'
und braucht zum Schlaf kein Abendlied.
Kein Wunder ist es, wenn sie schwitzt!
Sieh, wie sie auf dem Berg da sitzt!
„Schlaft alle wohl!“ so ruft sie jetzt
und lächelt noch zu guter Letzt.
Da ist sie weg! Behüt' dich Gott!
Der Hahn am Kirchturm, seht, wie rot!
Er guckt ihr noch ins Haus hinein.
Du Naseweis, so laß das sein! —
Da hat er es, in guter Ruh'
zieht sie den roten Vorhang zu.
Die gute Frau, wie schade drum!
Ihr Hauskreuz trägt sie auch herum.
Sie lebt mit ihrem Mann nicht gut!
Kommt sie nach Haus, nimmt er den Hut.
Paßt auf, paßt auf! jetzt kommt er bald. —
Da sitzt er schon im Fichtenwald.
Er macht so lang, der närr'sche Wicht,
es scheint, er traut dem Frieden nicht.
So komm! Sie ist ja nicht mehr da!
Ein Augenblick, dann schläft sie ja.
Jetzt steht er auf und schaut ins Tal,
da grüßt der Frosch ihn überall.
Ich denk', wir gehen auch ins Nest.
Wen sein Gewissen ruhig läßt,
schläft sicher ein, auch ohne Lied,
die Arbeit macht von selber müd'.
So manches ist doch heut' vollbracht.
Gott geb' uns eine gute Nacht!
Peter Hebel.
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*
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3. Herbst.
149. Herbst.
Da steigt der Herbst frisch von den Bergen nieder!
Und wie er wandert durch den grünen Wald,
gefällt's ihm nicht, daß überall das Laub
dieselbe Farbe hat; er sagt: „Viel hübscher
ists's rot und gelb, das sieht sich lustig an!“
So spricht er, und gleich färbt der Wald sich bunt; —
und wie der Herbst drauf durch den Garten geht
und durch den Weinberg, spricht er: „Was ist das?
Der Sommer tat so groß mit seiner Hitze,
und Wein und Obst hat er nicht reif gemacht?
Schon gut, so zeig' ich, daß ich's auch versteh'!“
Und kaum gesagt, so haucht er Wein und Obst
mit seinem Atem an, und, siehe da!
die Äpfel und die Pflaumen und die Trauben,
zusehends reifen sie voll Duft und Saft. —
Drauf kommt der Herbst zur Stadt und sieht die Knaben
in ihrer Schule sitzen voller Fleiß.
Da ruft er ihnen zu: „Grüß' Gott, ihr Buben!
Heut' ist Sankt Michaelistag, da gibt
es lange Ferien. Kommt zu mir aufs Land,
ich hab' dem Wald sein Laub schön bunt geblasen,
ich hab' dem Apfel rot gefärbt die Backen,
ich will euch klar und blank die Augen wehen,
und eure Backen will ich tüchtig bräunen,
wie sich's für Jungen schickt. Versteht ihr mich?“ —
So spricht der Herbst, und jubelnd ziehn die Knaben
auf seinen Ruf durch Berg und Wald und Feld
und kehren heim mit neuer Lust zur Arbeit.
Robert Reinick.
150. Einkehr.
Bei einem Wirte wundermild, da war ich jüngst zu Gaste;
ein goldner Apfel war sein Schild an einem langen Aste.
Es war der gute Apfelbaum, bei dem ich eingekehret,
mit süher Kost und frischem Schaum hat er mich wohl genähret.
Es kamen in sein grünes Haus viel leichtbeschwingte Gäste;
sie sprangen frei und hielten Schmaus und sangen auf das beste.
leh fand ein Bett zu süber Ruhb' auf weichen, grünen Matten;
der Wirt, er deckte selbst mich zu mit seinem kühlen Schatten.
Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit; da schüttelt' er den Wipfel.
Gesegnet sei er allezeit von der Wurzel bis zum Gipfel!
Ludwig Uhland.
151. Der Kirschbaum.
Zum Frühling sagt der liebe Gott:
„Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch!“
Gleich treibt der Kirschbaum Laub an Laub,
viel tausend Blätter grün und frisch.
Das Würmchen ist im Ei erwacht,
es schlief in seinem Winterhaus;
es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf
und reibt die blöden Augen aus.
Und darauf hat's mit stillem Zahn
an seinen Blätterchen genagt;
es sagt: „Man kann nicht weg davon!
Was solch Gemüs' mir doch behagt!“ —
Und wieder sagt der liebe Gott:
„Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!“
Da treibt der Kirschbaum Blüt' an Blüt',
viel tausend Blüten weiß und frisch.
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Und 's Bienchen sieht es in der Früh'
im Morgenschein und fliegt heran
und denkt: „Das wird mein Kaffee sein;
was ist das kostbar Porzellan!
Was sind die Täßchen rein gespült!“
Es steckt sein Züngelchen hinein,
es trinkt und sagt: „Wie schmeckt das süß,
da muß der Zucker wohlfeil sein!“ —
Zum Sommer sagt der liebe Gott:
„Geh, deck dem Spatz auch seinen Tisch!“
Da treibt der Kirschbaum Frucht an Fruch.,
viel tausend Kirschen rot und frisch.
Und Spätzchen sagt: „Ist's so gemeint?
Ich setz' mich hin, ich hab' App'tit;
das gibt mir Kraft in Mark und Bein
stärkt mir die Stimm' zu neuem Lied.“ —
Dann sagt zum Herbst der liebe Gott.
„Räum fort! sie haben abgespeist.“ —
Drauf hat die Bergluft kühl geweht,
und 's hat ein bissel Reif geeist.
Die Blätter werden gelb und rot,
eins nach dem andern fällt schon ab,
und was vom Boden stieg hinauf,
zum Boden muß es auch herab.
Zum Winter sagt der liebe Gott:
„Jetzt deck, was übrig ist, mir zu!“
Da treibt der Kirschbaum Frucht an Frucht,
nun danket Gott und geht zur Ruh'!
Johann Peter Hebel.
152. Die Einführung der Kartoffel.
Ich mochte wohl, erzählt Nettelbeck, ein Bürschchen von fünf
oder sechs Jahren sein und noch in meinen ersten Höschen stecken —
also etwa um das Jahr 1743 oder 1744 — als es hier bei uns in
Kolberg und weit im Lande umher eine so schrecklich knappe und teure
Zeit gab, daß viele Menschen vor Hunger starben.
Es kamen von landeinwärts her viele arme Leute nach Kolberg,
die ihre kleinen, hungrigen Würmer auf Schiebkarren mit sich brachten,
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um Korn von hier zu holen, weil man Getreideschiffe in unserm
Hafen erwartete, die der grausamen Not steuern sollten. Alle Straßen
bei uns lagen voll von diesen unglücklichen ausgehungerten Menschen.
Meine Großmutter, bei der ich erzogen ward, ließ täglich mehrere
Körbe voll Grünkohl in unserm Garten pflücken und kochte einen
Kessel voll nach dem andern für unsere verschmachtenden Gäste. Ich
durfte ihnen diese Speise in kleinen Schüsselchen, nebst einer Brot—
schnitte, zutragen. Da rissen mir denn Alte und Junge meinen
Napf begierig aus der Hand, ja sie rissen sich denselben wohl unter—
einander selbst vor dem Munde weg.
Im folgenden Jahre erhielt Kolberg, aus des großen Friedrich
vorsorgender Güte, ein Geschenk, das hierzulande völlig unbekannt
war. Ein großer Frachtwagen voll Kartoffeln langte nämlich auf
dem Markte an, und durch Trommelschlag erging in der Stadt die
Bekanntmachung, daß jeder Gartenbesitzer sich zu einer bestimmten
Stunde vor dem Rathause einzufinden habe, indem des Königs
Majestät ihnen eine besondere Wohltat zugedacht habe. Man kann
sich denken, wie alles und jedes in eine stürmische Bewegung geriet,
und das um so mehr, weil man nicht wußte, was es mit diesem Ge—
schenk zu bedeuten habe.
Die Herren vom Rate zeigten nunmehr der versammelten Menge
die neue Frucht vor, die hier noch nie ein menschliches Auge erblickt
hatte. Daneben ward eine umständliche Anweisung verlesen, wie diese
Kartoffeln gepflanzt und bewirtschaftet, desgleichen wie sie gekocht
und zubereitet werden sollten. Die guten Leute nahmen die hoch—
gepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten und
leckten daran, kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern; man
brach sie voneinander und warf sie den Hunden vor, die daran
herumschnüffelten und sie verschmähten. Nun war ihnen das Urteil
gesprochen. „Die Dinger,“ hieß es, „riechen nicht und schmecken
nicht, und nicht einmal die Hunde mögen sie fressen. Was wäre
uns damit geholfen?“ Am allgemeinsten war dabei der Glaube,
daß sie zu Bäumen heranwüchsen, von welchen man zu seiner Zeit
ähnliche Früchte herabschüttle. Alles dies ward auf dem Markte, dicht
vor meiner Eltern Tür, verhandelt.
Inzwischen ward des Königs Wille vollzogen und seine Segens—
gabe unter die anwesenden Garteneigentümer ausgeteilt nach Ver—
hältnis ihrer Besitzungen, jedoch so, daß auch die Geringeren nicht
unter einigen Metzen erhielten. Aber fast keiner hatte die erteilte
Anweisung zu ihrem Anbau recht begriffen. Wer sie also nicht
geradezu in seiner getäuschten Erwartung auf den Kehrichthaufen
165
1883 —
warf, ging doch bei der Auspflanzung so verkehrt als möglich zu
Werke. Einige steckten sie hie und da einzeln in die Erde, ohne sich
weiter um sie zu kümmern; andere, und darunter war auch meine
liebe Großmutter, glaubten das Ding klüger anzugreifen, wenn sie
die Kartoffeln beisammen auf einen Haufen schütteten und mit etwas
Erde bedeckten.
Nun mochten aber wohl die Herren vom Rat gar bald in Er—
fahrung gebracht haben, daß es unter den Empfängern viele lose Ver—
ächter gegeben, die ihren Schatz gar nicht einmal der Erde anvertraut
hätten. Darum ward in den Sommermonaten durch den Ratsdiener
und Feldwächter eine allgemeine und strenge Kartoffelschau veran—
staltet und den widerspenstig befundenen Leuten eine kleine Geld—
buße aufgelegt. Das gab wiederum ein großes Geschrei und diente
auch eben nicht dazu, der neuen Frucht Gönner und Freunde zu er⸗
wecken.
Das Jahr nachher erneuerte der König seine wohltätige Spende
durch eine ähnliche Ladung. Allein diesmal verfuhr man dabei
höhern Orts zweckmäßiger, indem zugleich ein Landreiter mitgeschickt
wurde, der als geborner Schwabe des Kartoffelbaues kundig und
den Leuten bei der Auspflanzung und weiteren Pflege behülflich war.
So kam die Kartoffel zuerst ins Land und hat seitdem durch
immer vermehrten Anbau kräftig gewehrt, daß nie wieder eine
Hungersnot so allgemein und drückend bei uns hat um sich greifen
können. Dennoch erinnere ich mich gar wohl, daß ich erst volle
vierzig Jahre später bei Stargard die ersten Kartoffeln im freien
Felde ausgesetzt gefunden habe. Joachim Nettelbeil.
153. Die Zugvögel.
Die Störche ziehen im Herbste fort, weil sie im Winter keine
Eidechsen, Schlangen, Frösche, Bienen u. dergl. bei uns finden würden
und eno verhungern müßten. Der rauhe und unfreundliche Winter
gefällt ihnen auch überdem nicht. Außer den Störchen gibt es aber
auch noch viele andere Zugvögel, z. B. die Schwalben, die Stare,
die Wachteln, die wilden Tauben. Ehe sie fortziehen, versammeln
sie sich in großen Scharen, die Störche auf einer Wiese, die Schwalben
in einem Dorfe, die Stare im Schilf eines Weihers. Ist endlich
ihre Zeit gekommen, so treten sie bei günstigem Wetter die Reise an,
lassen den traurigen Winter hinter sich und suchen einen ewigen
Frühling auf. Selbst die zahmen Störche wollen dann nicht bleiben,
6
— 169 —
auch wenn sie Futter genug haben. Unruhig laufen sie hin und her
und schreien ihren fortziehenden Kameraden den Abschiedsgruß nach.
Du weißt, daß viele Leute die Wachteln in den Käfig sperren. Wenn
nun die Wachteln im Oktober ihre Reise antreten, da will auch die
gefangene Wachtel mitziehen. Setz ihr das beste Getreide und den
besten Salat vor, sie verschmäht deine Leckerbissen und verlangt mit
ihren Kameraden zu ziehen. Ihr Verlangen ist so groß, daß sie
die ganze Nacht hindurch in ihrem Gefängnis hin und her läuft;
ja, sie fliegt dann mit solcher Gewalt gegen die Decke des Käfigs,
daß sie oft besinnungslos niederfällt. Bricht der Tag an, so wird
sie wieder ruhig; aber sie ist dann traurig, müde und schläfrig. Diese
Unruhe dauert dreißig Tage fort. „O, die arme Wachtel!“ hör' ich dich
ausrufen, „warum läßt man sie nicht mit ihren Kameraden fort—
ziehen?“ Ja, liebes Kind, wenn ich eine Wachtel hätte, und ich
sähe ihr Verlangen und ihre Unruhe, so müßte ich sie ziehen lassen.
Aber wohin ziehen diese Vögel? und wer zeigt ihnen den Weg?
— Wenn ich dich auf diese Wiese hinstellen und zu dir sagen würde:
„Mach eine Reise nach Afrika!“ so würdest du mir antworten: „Ich
weiß keinen Weg.“ Wenn ich aber mit dir reisen wollte, so müßten
wir viele hundert Stunden weit gehen, bis wir ans Meer kämen,
und dann wären wir noch nicht in Afrika. Wir müßten ein Schiff
besteigen und noch weit übers Meer fahren. Wie wunderbar! die
Störche, die Schwalben, die Wachteln, die Nachtigallen machen im
Herbste diese weite Reise nach Afrika, und niemand zeigt ihnen den Weg.
Sie müssen über Wälder, Berge, Flüsse und Seen, ja zuletzt übers
Meer ziehen; und doch verfehlen sie ihren Weg nicht und kommen alle
wohlbehalten in Afrika an, wenn sie unterwegs kein Unglück trifft.
Die lange Reise beendigt die schnelle Schwalbe schon in vier bis
fünf Wochen. Dabei ruht sie des Nachts im Schilfrohr der Sümpfe und
Teiche, und wenn sie übers Meer fliegt, setzt sie sich auf die Mast—
bäume und Segelstangen der Schiffe. Schlimmer als den Schwalben
geht es den Wachteln, welche zwar hurtig laufen, aber nicht gut
fliegen können. Sie ruhen oft aus, und wenn sie ans Meer kommen,
so fliegen sie von Insel zu Insel, und zwar immer auf demselben
Wege. Wenn sie auf den Inseln ankommen, so sind sie vom langen
Fluge so müde, daß man sie mit den Händen fangen kann. Tausende
schlägt man tot und salzt sie ein; ganze Flüge fallen ermüdet auf
die Schiffe; andere Schwärme wirft der Sturm ins Meer, daß sie
ertrinken müssen. Und doch will keine einzige Wachtel bei uns
bleiben; alle wollen sie nach Afrika ziehen und dort den Winter
zubringen. Wenn aber bei uns der Frühling angeht, dann ziehen
170 —
alle diese Vögel wieder aus Afrika fort, und jede Schwalbe findet
das Dorf, das Haus, ja das Nest wieder, worin sie im vorigen
Jahre gebrütet hat.
Und nun sage mir, wer ist ihr Wegweiser nach Afrika? wer sagt
ihnen, wann sie wieder fortziehen sollen in ihre Heimat? wer zeigt
ihnen ihren Weg zu ihrem alten Neste? Du weißt es, wer der ist,
der keins seiner Geschöpfe vergißt, ohne dessen Willen kein Sperling
vom Dache fällt. Siehe, er zeigt ihnen den Weg nach Afrika und
bringt sie wieder in ihre Heimat; er bestimmt ihnen die Zeit ihrer
Reise. Wenn du die Störche, die Schwalben, die Stare, die Wachteln
kommen siehst, dann denk an ihn! Jubitz.
154. Wir bleiben daheim.
„Scherre, Dieb und Doria! „Ohne Zweifel bleib ich da,
Was sind das für Sachen? — wo mir alles teuer!
Alles will nach Afrika. Eine Fahrt nach Afrika
Ist das nicht zum Lachen? — scheint mir nicht geheuer!
Überall, wohin man sieht, An dem alten, heil'gen Nil,
schnüren sie den Ranzen! wo auf leichten Sohlen
Keiner flötet mir ein Lied, schleicht das Riesenkrokodil,
niemand will noch tanzen! gibt's nicht viel zu holen!
Möchte wissen, was sie nur Eh' mich dort beim Wüstenmahl
dort im Süden suchen? — schmutz'ge Geier kröpfen,
Wächst denn in der fremden Flur oder Löwe und Schakal
auf den Bäumen Kuchen? — nach Belieben schröpfen,
Meinetwegen zieht hinaus! lieber will bei Sturm und Frost
Niemand wird euch hindern! ich im Hofe stehen
Vater Spatz bleibt hübsch zu Haus, und bei allzuschmaler Kost
bleibt bei Weib und Kindern! fleißig betteln gehen!“
Reich darauf mir deine Hand, „Recht, du alte, brave Haut,
alter Bruder Rabe: ganz wie ich gesonnen!
Unserm lieben Vaterland Wer so fest sich selbst vertraut,
Treue bis zum Grabe! der hat stets gewonnen!
Sieht's auch manchmal traurig aus, Bringen Fleiß und Bettelei
droht uns oft Verderben, nicht die nöt'gen Bissen,
besser doch, im Vaterhaus, nun, dann muß man nebenbei
als da draußen sterben!“ sich zu helfen wissen!“
Wolf-Harnier.
— 171 —
155. Grüne Vögelein.
Es kamen grüne Vögelein die Tropfen rannen nieder
geflogen her vom Hhimmel vom grünenden Gefieder,
und setzten sich im Sonnenschein und desto grüner wurde das.
in fröhlichem Gewimmel Da kam am Tag derscharfe Strahl,
all an des Baumes Aste ihr grünes Kleid zu sengen,
und saßen da so feste, und nächtlich kam der Frost einmal,
als ob sie angewachsen sei'n. mit Reif es zu besprengen.
Sie schaukelten in Lüften lau Die armen Vöglein froren,
auf ihren schwanken Zweigen; ihr Frohsinn war verloren,
sie aßen Licht und tranken Cau ihr grünes Kleid war bunt und fahl.
und wollten auch nicht schweigen; Da trat ein starker Mann zum
sie sangen leise, leise Baum,
auf ihre stille Weise hub an, ihn stark zu schütteln,
vonssSonnenschein und Himmelsblau. hom obern bis zum untern Raum
Wenn Wetternacht auf Wolken mit Schauer zu durchrütteln;
saß, die bunten Vöglein girrten
so schwirrten sie erschrocken; und auseinander schwirrten;
sie wurden von dem Regen naß wohin sie flogen, weiß man kaum.
und wurden wieder trocken; Friedrich Rückert.
156. Das Lied vom Samenkorn.
Der Sämann streut aus voller das Körnlein kann ihm nieht ent—
Hand gehn,
den Samen auf das weiche Land, es mub in VWind und Wetter stehn.
und wundersam, was er gesät,
das Körnlein wieder aufersteht. Doeh sehadet ihm kein Leid noch
Die Erde nimmt es in den Schob — Weh;
— der Himmel deckt mit weibem
und wicekelt es im stillen los;
ein zartes Keimlein Kommt hervor Sehnee
22 der Erde nacktes Kindlein zu:
und hebt sein rötlich Haupt empor. —
dann sehlummert es in süher Ruhb'.
Es steht und frieret, naekt und
klein, Bald fleucht des Winters trübe
und fleht um Tau und Sonnenschein; Nacht;
die Sonne schaut von hoher Bahn die Lerche gingt, das Korn erwacht;
der Erde Kindlein freundlion an. der Lenz heibt Bäum' und Wiesen
Bald aber nahet Prost und Sturm, blühn
und seheu verbirgt sich Mensch und und schmücekt das Feld mit frischem
—11
Unrr Grün
— 172 —
Voll krauser Ahren, seoblank undd die Erde ruhbt in stillem Glanz,
sohön, WR mit goldnem Ahren-
mubß nun die Halmensaat erstehn, kranz.
ung vis ein grünos atillos Meer Die Ernte naht, die Sichel klingt,
im Winde wogt sie hin und her. dje Garbe rauscht; gen Himmel
Dann schaut vom hohen Himmels- dringt
zelt der Freude lauter Jubelsang,
die Sonne auf das Abrenfeld; des Herzens stiller Preis und Dank.
Friedrien Adoli Krummacher.
157. Der Hühnerhabicht auf der Jagd.
Vor dem den Busch durchstreifenden Jäger steht ein Hase auf und
rennt über das frisch gepflügte Feld dem nahen Walde zu. Da
dringt plötzlich heftiges Rauschen aus der Höhe dem Schützen zu
Ohr, und kaum hat der Überraschte den Blick in die Höhe gerichtet,
saust schon ein Hühnerhabicht wenige Meter über dem ahnungslosen
Hasen und schlägt ihm im nächsten Augenblick seine Fänge in die
Weichen. Der Hase bricht unter der Gewalt des Anpralls zu—
sammen und klagt laut in dem ihm eigentümlichen näselnden Ton.
Doch sucht er sich zu erheben und die Last abzuwerfen. Mit den
Hinterläufen schlägt er aus, schnellt den Leib mit Anstrengung aller
Kräfte empor, überschlägt, wälzt sich, rafft sich abermals auf und
strebt, bald rutschend, bald auf die Läufe gekommen, vorwärts. Der
Habicht sitzt fest, mit ausgebreiteten Schwingen deckt er zum großen
Teil den Hasen, mit dem Schnabel sucht er ihn zu verwunden und
zu betäuben. Zuweilen wird er von dem Hasen geradezu zu Boden
geworfen; aber wenn auch die Wolle in Fetzen sich löst, so daß ein
Fang des Räubers von dem Hasen abgleitet, so schlägt er ihn mit
voller Kraft von neuem in den Balg ein, um sich sein Opfer zu
sichern. Wild funkeln seine Augen, Wut und Mordgier fesseln ihn
an das Opfer. Doch jetzt wird die Aufmerksamkeit des Beobachters
durch eine neue Erscheinung geteilt. Einige Krähen kommen eilend
mit lautem Feldgeschrei herbeigeflogen. Die Klagetöne des Hasen
hat ihr scharfes Gehör vernommen, und ihr weitschweifender Blick
entdeckte aus der Ferne die feindliche Szene. Ihr Zorn, ihr tief—
gewurzelter Haß gegen den Räuber der Lüfte gibt sich sogleich bei
ihrer Ankunft durch jähen Angriff zu erkennen. Sie erheben sich
mehrere Meter über den Kampfplatz und richten herabstoßend ihre
Schnabelhiebe auf den Habicht. Doch dieser beugt den Kopf zurück
und wehrt den Angriffen mit freigehaltenem Fang. Das macht die
— 17—
Krähen vorsichtig, so daß es selten eine derselben wagt, dicht genug
auf ihn zu stoßen, um mit Erfolg einzuhauen. Die Lage des Habichts
wird jedoch eine immer schwierigere. Verzweislungsvoll klammert
er sich an den widerstrebenden Hasen an, und wuchtig schlägt er auf
die eindringenden Krähen los. Mancher Schlag trifft, so daß Federn
davonfliegen, und die eine und andere Krähe zu Boden muß oder
gar vom Nachdruck der Abwehr sich überschlägt. In buntem Durch—
einander wird der Kampf so eine Zeitlang mit aller Erbitterung einer—
seits und nicht weniger mit Hartnäckigkeit andererseits fortgeführt.
Endlich kann sich der Habicht in seiner Doppelstellung nicht mehr
halten; er muß den Hasen fahren lassen, und mit dem Aufgeben der
Beute ist auch sein vollständiger Abzug vom Schlachtfelde verbunden.
Aber die Krähen, noch nicht zufrieden mit ihrem Sieg, verfolgen den
abziehenden Feind unter stets erneuerten Angriffen, wobei der Habicht
sich nur selten zur eigentlichen Wehr setzt, sondern sein ganzes Streben
darauf richtet, außerhalb des Bereichs der feindlichen Zeugen seines
Raubanfalls und seiner ungestümen Dränger zu kommen. Weithin
wird er von ihnen gejagt, und nun erst kehren sie nacheinander zu—
rück. Wäre der Hase von den Fängen des Habichts tödlich getroffen
worden, unfehlbar würden die Krähen ihn nun zerfleischen, wie sie es
mit anderer Beute auch machen, welche sie den Räubern abjagen.
Adolf u. Karl Müller.
158. Am Rande des Waldes.
Der rote Vollmond war hinter den Tannen aufgegangen und
stand nun mit seiner großen Scheibe am Himmel, und seine Strahlen
fielen durch die Zweige einer riesigen Buche, die am Waldrande
stand. Allerlei Namen waren in ihre graue Rinde geschnitten,
und manche von ihnen glichen dicken Narben und hatten durch das
Wachstum des Buchenstammes eine ganz verzerrte Form bekommen.
Unten am Stamme, wo die dicken Wurzeln sich in die Erde drängten,
war an einer Stelle ein kleines Mauseloch. Der Abendwind säuselte
in der Krone, sonst war nichts zu hören und Stille nah und fern.
Da blickten plötzlich aus dem Loche am Fuße der Buche zwei
kleine, kluge, schwarze Augen, und ein winziger Kopf mit einer
schnuppernden Nasenspitze war zu sehen. Zwei Ohren lauschten an—
gestrengt nach allen Seiten, einen langen Augenblick schien der Kopf
wie starr zu sein, und dann kam ein graues Mäuslein hervor—
geschlüpft. Das hopste über die eine Baumwurzel, lief auf den
Fahrweg, der am Waldrande hinführte, sprang in eine tiefe Wagen—
spur und huschte geräuschlos und gewandt darin entlang. Ungefähr
7
— 174 —
hundert Meter weit fand es eine Eichel, nagte daran, sprang dann
quer über den Weg und wühlte sich in einen Haufen welker Eichen—
blätter. Lange blieb es darin verborgen, und nur wer aufmerksam
zusah, merkte an ganz schwachen Bewegungen, daß ein Tier unter
den Blättern war.
Endlich kam die Maus wieder hervor. Sie putzte sich den Pelz
ab, strich sich mit den Vorderpfoten über den Kopf und machte sich
auf den Heimweg. Der aber wurde ihr plötzlich durch einen herab—
gefallenen, trockenen Zweig versperrt. Da bog sie schlank den Rücken,
um darüber weg zu kriechen. In demselben Augenblick aber, wie
sie sich dazu anschickte, spürte sie plötzlich einen furchtbaren Schmerz
im Rücken. Mit den beiden Vorderpfoten umklammerte sie den Zweig
vor sich, und dann wurden Maus und Zweig hoch in die Luft ge—
hoben. Mit lautlosem Flügelschlage war eine Eule den Waldrand
entlang geflogen, hatte das Mäuslein an der Erde gesehen, mit dem
Schnabel erfaßt und wollte nun mit ihm davonfliegen. Weil es
sich aber an den Zweig festgeklammert hatte, nahm die Eule auch
diesen mit in die Luft. Das war eine ungewöhnliche Last. Die
Maus ließ den Zweig fahren, die Eule mochte glauben, die beste
Beute verloren zu haben, öffnete den Schnabel und machte Kehrt,
um ihn wieder zu packen. Der Zweig zerbrach, die Eule flog mit
lautem „U —hu—u“ davon, das Mäuslein aber war mit blutigem
Rücken, zu Tode erschöpft, in einen Dornbusch gefallen.
Das alles hatte sich viel rascher abgespielt, als ich es erzählen
kann. Die Maus kroch durch die Stachelzweige bis an die Erde,
stolperte über den höckerigen Weg und wollte auf ihm entlang nach
Hause, zu seinem Gange unter der dicken Wurzel der Buche huschen.
Unterwegs aber versagten ihm die Kräfte. Es blieb schon nach
wenigen Sprüngen wie tot liegen.
Am andern Morgen, als die Sonne auf den einsamen Waldweg
schien, lag in einer Vertiefung die tote Maus mit dem aufgerissenen
Rücken. Die Sonnenstrahlen konnten sie nicht wieder beleben. Sie
war schon steif und kalt. Die Bäume rauschten, die Vögel sangen,
ein Bauer mit der Pfeife im Munde und einer Sense auf der Schulter
ging des Weges, aber niemand beachtete die Maus. Die lag auf
der Erde und der Körper fing an schlecht zu werden und begann zu
riechen. So lag sie den ganzen Tag und die folgende Nacht. Als
dann aber am nächsten Tage die Sonne hoch am Himmel stand und
heiß herunterbrannte, kamen die Fliegen und versuchten an dem
blutigen Rücken zu saugen. Immer mehr kamen, und zuletzt war er
ganz mit Fliegen bedeckt.
— 150 —
Da flog ein Käfer durch die Luft über den Weg. In einem
großen Bogen flog er um die tote Maus, er ließ sich auf ihr nieder,
verjagte die Fliegen durch seine Ankunft, krabbelte auf der Maus
entlang, und der rote Streifen, der sich quer über seine Flügeldecken
zog, leuchtete im Sonnenscheine. Der Käfer kroch unter die Maus.
Die Fliegen aber, die sich immer von neuem wieder auf ihr nieder—
ließen, wurden alle Augenblicke von ihm aufgescheucht, denn er, der
darunter saß, krabbelte und wühlte, und die Maus senkte sich bald
nach dieser, bald nach jener Seite hin. Nach einer halben Stunde
kam noch ein Käfer von derselben Art angeflogen und dann noch
einer. Auch sie verschwanden unter dem toten Körper und begannen
wie der erste zu wühlen und zu scharren. An den Seiten wurde
Erde aufgeworfen, während die Maus immer tiefer und tiefer sank
und zuletzt ganz in der Erde lag. Drei Totengräber waren gekommen,
um sie zu begraben. Als nichts mehr von ihr zu sehen war, kamen die
Käfer wieder herausgekrabbelt, putzten sich und flogen davon.
Nun war die Luft wieder rein. Auch die feinste Nase roch
nichts von dem toten Tiere. Es war begraben und konnte ohne
Schaden in der Erde verwesen. Das tat es auch. Was aber mochten
das für winzige feine Glasperlen sein, die am Leibe der toten Maus
klebten? Ganz feine, helle Glaskugeln saßen daran, die waren mit
klarem Wasser gefüllt, und in jeder schwamm ein feines Pünktchen
herum. Das Pünktchen wurde größer und größer mit jedem Tage
und wuchs zu einem Komma. Ja, wenn man es unter ein Ver—
größerungsglas gelegt hätte, hätte man sogar sehen können, daß es
sich langsam bewegte. Immer mehr schwand das Wasser und immer
größer wurde das Komma. Zuletzt war es so gewachsen, daß es kaum
Platz darin hatte, und als es sich wieder einmal stark bewegt und
herumgedreht hatte in seiner Glaskugel, da bekam diese plötzlich
einen Sprung und heraus kroch ein weißes Würmchen, das war so
klein, daß es kaum zu sehen war. Das Würmlein saß nun an der
toten Maus, deren Fleisch schon stark verfault war. Aber das Würm—
chen kümmerte sich nicht darum. Es mochte wohl nichts von dem
schlechten Geruche merken, denn es fing an, an dem faulen Fleische
zu saugen und sog und sog und fraß sich tief hinein. Jeden Tag
wurde es dicker und fetter. Das faule Fleisch bekam ihm anscheinend
ganz gut. So war es nach einigen Wochen so gewachsen und hatte
so viel gegessen, daß es sich nicht mehr zu rühren vermochte und
sein weißes Kleid ihm zu eng wurde. Da hörte es auf zu essen
und kroch aus der toten Maus heraus tiefer nach unten in die Erde,
machte sich eine Höhle zurecht und legte sich still hin, als wenn es
2*
m———
sterben wollte. Ja, sein Kleid war ihm zu eng geworden, und als
es sich noch ein paarmal bewegte, um sich noch bequemer zu legen,
da platzte ihm die Haut der Länge nach auf, und — in der kleinen
Höhle lag ein gelbbraunes Tier ohne Arme und Beine, ohne Kopf
und Augen und Mund. Wie eine Tonne mit einem spitzen Ende
lag es da und konnte sich nicht rühren noch regen. Nur das spitze
Schwanzende konnte es ein wenig nach beiden Seiten bewegen. Und
hätte es das nicht gekonnt, würde man überhaupt nicht glauben,
daß noch Leben in ihm sei. So lag es in der Erde und kümmerte
sich um nichts. Es merkte nichts davon, daß die Bäume gelbes Laub
bekamen, merkte nichts von der dichten, raschelnden Decke herab—
gefallener Blätter, fühlte nichts von den ersten Nachtfrösten, es lag
und schlief und hörte nicht den Sturm durch den winterkahlen Wald
brausen, es wußte nichts von dem vielen Schnee, der Baum und
Busch und Feld und Wald bedeckte. Es verschlief den ganzen
Winter.
Als aber die warme Frühlingssonne die Erde erwärmte und die
neue Wärme auch bis in sein kühles Lager drang, da wurde es ihm zu
ungemütlich in dem Gefängnis und gar manches Mal schlug es
ungeduldig mit dem spitzen Ende seines Körpers hin und her. Und
bei einer solchen Gelegenheit geschah es, daß ihm wieder sein Kleid
platzte, und heraus kam diesmal — ein Totengräber. Ein Käfer
kroch heraus, dem unter der geplatzten braunen Hülle Kopf, Flügel und
Beine gewachsen waren. Der arbeitete sich nun aus der dunklen,
schwarzen Erde heraus und kam eines schönen Frühlingstages ans
Licht, machte sich sauber und flog davon. —
Merkt ihr nun, was das für Glasperlen waren, die an der toten
Maus klebten? Wißt ihr nun, wer die Perlen dahin gebracht hatte?
Wißt ihr auch, warum die Totengräber sich so abquälten, um die
Maus zu begraben? H. Scharrelmann.
159. Der Rabe.
Seht dort den Raben an, wie er so abgemessenen Schrittes
in seinem pechschwarzen Kleide hinter dem Pfluge einher—
schreitetl Er setzt seine sfämmigen Beine weit voneinander und
tritt schwer auf. Seine Schultern sind breit, und sein dicker
sschnabel mit den Kanten und der gebogenen Spitze scheint ganz
darauf eingerichtet zu sein, um eine füchtige Portion verschlingen
zu können. Gewib sucht er sich etwas; denn aus Kurzweil macht
76
177
er den beschwerlichen Weg in den Furchen nicht so oft hin und
her. Sieh nur! er ist sehr aufmerksam und dreht seinen Kopf
bald rechts, bald links und guckt dann wieder bedachtsam in die
Furche. Aha, da haben wir es! Ein Mäuschen hat er erwischt!
Dummes Tierchen, dab du gerade jetzt aus deiner Wohnung
schlüpfen mubtest! Wie es winselt! Aber darum kümmert sich
der Rabe nicht. Er läbßt es sich herrlich schmecken, und schon
ist er damit fertig. Ein paar Engerlinge nimmt er auech noch zu
sich und — schon wieder ein Mäuschen! Das heibe ich einen
Hunger! Wenn das den Tag so fortgeht, so kann er was 2u-
sammenbringen.
Dort sitzt ein anderer auf dem Pfahle am Wege und verdaut
wahrscheinlich seine genossene Mabhlzeit. Er ist sehr vorsichtig
und läßt niemand nahe kommen; denn die Raben sind für ihr
Leben gar sehr besorgt. Ei, was für eine Stimme der hatl Schön
ist sie nicht, das könnte ich nicht sagen, aber laut ist sie, dab
einem die Ohren gellen.
Nun, was ist das für ein Geschrei mit einem Male, und wo
ist die Menge Raben so plötzlich hergekommen? Ist ein Streit
ausgebrochen? Die Burschen sind ja toll und wütend und fliegen
wie besessen umher! Ein Raubvogel verursacht den Lärm. Ein
Glück für ihn, daß er so hoch fliegen kKann und daß seine Feinde
ihim nicht so hoch nachfolgen können. Hui, wie sie grimmig auf
ihn losschieben und ihm eins zu versetzen suchen! Er weicht aber
geschickt aus. Jetzt ist der Zorn abgekühlt, und sie zerstreuen
sich nach und nach.
In die Gipfel hoher Bäume bauen die Raben das Nest aus
Reisern, Baumwurzeln, Dornzweigen und füttern es mit Moos,
Federn und Haaren aus. Da hinein legen sie drei, vier, fünt
grünliche, braungefleckte Eier. Kommt der Winter, so machen sie
Besuche in Dörfern und Städten, nicht aber, um sich nach dem
Befinden der Einwobner zu erkundigen, sondern um etwas für
ihren Magen zu holen. Schlachtet ein Bauer, so zeigen die Raben
eine grohe Teilnahme an diesem Ereignisse. Können sie keinen
Bissen erwischen, so ergötzen sie sich wenigstens am Geruch;
denn riechen können sie, obgleich ihre Nasenlöcher mit Borsten
verdeckt sind. Mit dem Frühjahr ziehen sie wieder ab, ohne Ab—
schied zu nehmen. Es sehnt sich aber auch kein Mensch nach
ihnen; höchstens freut man sich, wenn sie eine gute Feder ver—
lieren, weil man sie zum Zeichnen gebrauchen kann.
Walthoer.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
12
3 —
160. Schützenlied.
Mit dem Pfeil, dem Bogen, durch Gebirg' und Klüfte
durch Gebirg' und Cal herrscht der Schütze frei.
mmnt der Shüs gezogen Ihm gehört das Weite,
früh am Morgenstrahl. was sein Pfeil erreicht;
Wie im Reich der Lüfte das ist seine Beute,
König ist der Weih — was da kreucht und fleugt.
Friedrich v. Schiller.
4. Winter.
161. Gottes Lob im Winter.
Singt Gottes Lob im Winter auch! Er ist so treu und gut,
er nimmt vor Frost und Sturmeshauch die Saat in seine Hut;
er deckt sie mit dem Schnee so dicht, so weich und sicher zu;
sie merkt den harten Winter nicht und schläft in stiller Ruh'.
Singt Gottes Lob zur Winterzeit! Er ist so treu und gut,
er schenkt dem Sperling warmes Kleid und warmes, rasches Blut;
er zeiget ihm sein Futter an, ein Körnlein hie und da,
und führt ihn, daß er's finden kann, auf Wegen fern und nah.
O, lobet Gott den Winter lang! Er ist so treu und gut
und führt auch eurer Füße Gang und gibt euch frohen Mut
und schenkt euch guter Gaben viel für euren Leib und Geist,
schenkt Kraft zum Fleiß und Lust zum Spiel und Glauben allermeist.
Wilhelm Hey.
162. Zum neuen Jahr.
Weiß schimmernd kommt das neue Jahr,
Schneespuren folgen seinem Schritt.
Streng ist und rauh der Januar,
doch rote Wangen bringt er mit.
Der Februar stellt auch sich an
als ein recht frostiger Gesell;
doch schon drängt sich der März heran,
der weckt die Veilchen auf am Quell.
April bringt Blumen mannigfalt,
die streut er auf die Wiesen hin.
Der Mai schmückt wundervoll den Wald
und sagt: Jetzt, Nachtigall, beginn!
17*
159
Im Juni blühn die Rosen hold,
das Korn schlägt Wellen wie ein Meer;
im Juli reift der Ähren Gold,
daß sie herab sich neigen schwer.
August trägt, was in Julis Glut
gereift ist, froh in Scheun' und Fach.
Ihm geht September wohlgemut
mit dem gefüllten Fruchtkorb nach.
Oktober bringt zu guter Letzt
den Wein und macht den Nußbaum leer.
November spricht: Ich schüttle jetzt
das Laub herunter ringsumher.
Dann kommt aufs neu' mit Winterschnee
Dezember und mit langer Nacht,
bis daß ein Licht aus Himmelshöh'
des Weihnachtsfestes Glanz entfacht.
So sorgt und schafft das ganze Jahr
in seiner Monde langer Reih',
gar viele Tage sind es zwar,
jedoch wie schnell gehn sie vorbei!
Sorg, daß du nicht in träge Ruh',
in eitlen Müßiggang versinkst!
Sieh, daß im Lauf des Jahrs auch du
etwas Rechtschaffnes vor dich bringst.
Rein sei dein Herz, dein Auge klar,
Unwahres rede nicht dein Mund —
Gott aber halt' durchs ganze Jahr
dich froh, zufrieden und gesund! Johannes Trojan.
163. Untertänigste Bittssehrift unserer lieben Vögelein.
Gegeben „Unter dem Himmel“, 1. Februar 19—.
Gedrängt von der schweren Zeitlage, haben sich die ge
horsamst Unterzeichneten in diesen Tagen im Luftschlob zu
„Himmelsblau“ versammelt, um miteinander weislich zu beraten,
wie der dringenden Nahrungsnot am ersten abzuhelfen sei. Es
wurde mancherlei vorgeschlagen. Specht, Meise und Amsel er—
klärten: „Wir wandern aus. Wenn es den Menschen da unten nicht
gefällt, so gehen sie nach Amerika, Australien oder Afrika. Drum
laht uns auch gen Süden ziehen, wie es unsere vorsorglichen Ge—
schwister, dié Zugvögel, schon längst getan. Wir haben keine
Lust, weiter mit den leidigen Nahrungssorgen zu kämofen.“
7
44
124*
30 —
„Mit nichten!“ erwiderten die Geschwister Fink: Buch- Blut-
und Distelftinß. Hört's, ihr lieben Mitvögel,“ rief der Buchfink,
„wir müssen bleiben, wohin unser Stand und Beruf uns weist.
Dafür sind wir nun einmal Standvögel, dab wir standhalten, wenn
es uns auch nicht immer nach Wunseh geht. Ich bin alt und
grau geworden und habe noch nie Mangel gehabt. Habt ihr's nicht
alle auch erfahren, dab der himmlische Vater uns ernähret, ob wir
schon nicht säen, nicht ernten und nicht in die Scheunen sammeln?
Gehf's auch einmal knapp her, das schadet nichts. Auch der harte
Winter wird vorübergehen. Nur nicht gleich verzagt! Ich für
mein Leil bleibe im Lande und nähre mich redlich.“
Die Rede des Buchfinken machte tiefen Eindruck in den
kleinen Vogelherzen. Auch der Eisvogel erklärte: „Wir wollen
bleiben! Nur keine Sorgen! Die ganze Erde ist überdeckt mit
einem blendend weiben Tuche — meint ihr, das habe nichts zu
bedeuten?“ „Ach,“ klagten Rotkehlchen und Schwarzköpfehen,
„das ist's ja gerade; drum können wir eben gar nichts finden,
kein Würmchen, kein Körnchen, nichts! Der Schnee ist unser
Feind, nicht unser Freund.“ „O ihr Kleingläubigen!“ entgegnete
der Eisvogel. „Der uns da den Tisch gedeckt mit der prächtigen
Schneedecke, der wird uns auch schon etwas daraufstreuen, dab
wir nicht zu darben brauchen. Ist er doch ein reicher Herr. Wir
wollen ihn bitten, dab er die Herzen der Menschenkinder zum
Mitleid gegen uns lenke.“
„Ja,“ sagte der schüchterne Hänfling, ‚wenn wir das nicht
versädmen, wird es uns gewiß nimmer fehlen. Wir dürfen aber
aueh die Flügel nicht ruben lassen, oder, wie die Menschen sagen
würden, die Hände nicht in den Schobß legen. Ich schlage eine
Bittschrift an die Menschen vor. Viele werden uns gewib gern
helfen.“
„Bravo, lieber Hänflingl“ rief der schlaue Spatz. „Also eine
Bittschrift! Es gibt noch viele weichherzige Menschen, die uns
gerne ein Brösamlein schenken. Wir Spatzen wissen das ganz
genau. Wir kommen ja oft in ihre Nähe. Sie schelten zwar oft
über die frechen Spatzen, ja, manche stellen uns sogar mit Flinte
und Schrot nach. Aber das merken wir doch, daß viele ihre
Freude haben an dem übermütigen Spatzenvolk. Besonders unter
den Kindern haben wir Vögel unsere besten Freunde. Wibt ihr's
denn nicht mehr, wie dort unten vor jenem schönen Hause liebe
Kinder ihren Christbaum hinaus vors Penster gestellt, während
alles mit Schnee bedeckt war? Viele Nubschälchen hingen daran
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mit lauter vortrefflichen Brosamen, Kuchenkrumen und Zucker—
werk. Ha, wie das schmecktel leh möchte die lieben Vogel-
freunde, von denen wir zuweilen nur die gefüllte Hand sehen,
küssen und ans Herz drücken, wenn ich nicht ein gar ängstliches
Spatzengemüt wäre. leh unterstütze also aufs lebhafteste den
Antrag auf eine Bittschrift.“
Des Spatzen Rede fand ungeteilten Beifall. zum Zeichen der
Zustimmung erhoben sich alle mit flafterndem Geräusche. Zaun-—
könig, der Vorsitzgende, lieb noch darüber abstimmen, und es wurde
einstimmig beschlossen, folgende Bittschrift abgehen zu lassen:
Ihr lieben Menschenkinder!
Es ist jetzt kalter Winter und schwere Zeit für uns arme
Vögelein. Was draußen gewachsen, habt Ihr selbst schon ein—
geerntet. Auf der Erde hat jetzt der liebe Gott sein grobes Schnee-
tischtuch ausgebreitet, nicht dab wir jetzt zu kurz kommen, son-
dern daß Ihr uns etwas daraufstreut und uns mitteilet von dem,
was er Euch gegeben. Zwar heißt man uns Lufttiere. Doch
können wir ebensowenig wie Ihr von der Luft allein leben. Wir
wollen auch mit dem Geringsten zufrieden und für alles herzlich
dankbar sein.
*
m
Wir haben unsern Schriftführer Spatz bevollmächtigt, Euch
diese untertänigste Bittschrift zu übermitteln. Labt Euch rühren
und nehmt Euch unser an! Streut Krumen und Körner vor
Fenster und Türen! Deckt uns den Tisch in Hof und Garten!
Helft alle, alle, groh und klein! Vergebt uns nicht! Ja, sehet die
Vögel unter dem Himmel an und gebt ihnen von den vielen Bro—
samlein, die von Eurem Tische fallen! Ihr sollt gar kein be—
sonderes Opfer bringen. Sammelt uns nur Eure übrigen Brocken,
daß nichts umkomme. Ach, es kommt so manches Krümchen
um, daran manch hungriges Vöglein sich laben könnte! Gott lobn's
Euch, was Ihr an uns Geringsten tut!
In tiefster Ehrfurcht verharren:
Zaunkõönig, Vorsitzender, Dr. Spatz, Sschriftfũhrer,
Blutfink. Buchfink, Distelfink, Meise, Amsel, Goldammer,
Rotkehlehen, Rotbrüstchen, Schwarzköpfchen, Specht,
Eisvogel und Genossen.
Deutscher Kinderfreund.
164. Winterlied.
Rauhe Tage, frische Herzen! Hei, das ist ein lustig Leben,
Überall an Tür und Haus blinkt der Schnee, und blitzt das Eis;
hängt der Frost die starren Kerzen hart gefroren, blank und eben
ei, was macht ein Bub' sich draus! ist die Bahn, man fährt sich heiß.
Rauhe Tage, frohe Kinder! Fest nur halt dich, sieh, schon
Nur kein wimmernd Weh und Ach! fliegen
Saust der Schneewind, nur ge- wir im sturmgeschwinden Schritt;
schwinder selbst der Hofhund, vor Vergnügen
sausen wir ihm munter nach. bellt und läuft er wacker mit.
Hermann Kletke.
165. Hase und Fuchs.
Ein Hase und ein Fuchs reisten miteinander. Es war Winterzeit,
es grünte kein Kraut, und auf dem Felde kroch weder Maus noch
Laus. „Das ist ein hungriges Wetter,“ sprach der Fuchs zum Hasen,
„mir schnurren alle Gedärme zusammen.“ — „Jawohl,“ antwortete
der Hase. „Es ist überall Dürrhof, und ich möchte meine eigenen
Löffel fressen, wenn ich damit ins Maul langen könnte.“
Hungrig trabten sie miteinander fort. Da sahen sie von weitem
ein Bauernmädchen kommen, das trug einen Handkorb, und aus dem
Korbe kam dem Fuchse und dem Hasen ein angenehmer Geruch ent—
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gegen, der Geruch von frischen Semmeln. „Weißt du was 7 sprach
der Fuchs, „lege dich hin der Länge nach und stelle dich tot! Das
Mädchen wird seinen Korb hinstellen und dich aufheben wollen, um
deinen armen Balg zu gewinnen, denn Hasenbälge geben Handschuhe.
Unterdessen erwische ich den Semmelkorb uns zum Troste.“
Der Hase tat nach des Fuchses Rat, fiel hin und stellte sich tot,
und der Fuchs duckte sich hinter eine Windwehe von Schnee. Das
Mädchen kam, sah den frischen Hasen, der alle viere von sich streckte,
stellte richtig den Korb hin und bückte sich nach dem Hasen. Jetzt
wischte der Fuchs hervor, erschnappte den Korb und strich damit
querfeldein. Gleich war auch der Hase lebendig und folgte eilend
seinem Begleiter. Dieser aber stand gar nicht still und machte keine
Miene, die Semmeln zu teilen, sondern ließ merken, daß er sie allein
fressen wollte.
Das vermerkte der Hase sehr übel. Als sie nun in die Nähe
eines kleinen Weihers kamen, sprach der Hase zum Fuchse: „Wie wäre
es, wenn wir uns eine Mahlzeit Fische verschafften? Wir haben dann
Fische und Weißbrot wie die großen Herren. Hänge deinen Schwanz
ein wenig ins Wasser, so werden die Fische, die jetzt auch nicht viel
zu beißen haben, sich daranhängen. Eile aber, ehe der Weiher
zufriert!“
Das leuchtete dem Fuchse ein, er ging hin an den Weiher, der
eben zufrieren wollte, hing seinen Schwanz hinein, und in einer
kleinen Weile war der Schwanz des Fuchses fest angefroren. Da
nahm der Hase den Semmelkorb, fraß die Semmeln vor des Fuchses
Augen ganz gemächlich, eine nach der andern, und sagte zum Fuchse:
„Warte nur, bis es auftaut, warte nur bis ins Frühjahr, warte nur,
bis es auftaut!“ und lief davon, und der Fuchs bellte ihm nach wie
ein böser Hund an der Kette. Ludwig Bechstein.
166. Ein Lied hinterm Ofen zu singen.
Der Winter ist ein rechter Mann, Er zieht sein Hemd im Freien an
kernfest und auf die Dauer; und läßt's vorher nicht wärmen
sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an, und braucht sich über Fluß in Zahn
er scheut nicht süß noch sauer. und Gliedern nicht zu härmen.
War je ein Mann gesund, ist er's! Aus Blumen und aus Vogelsang
er krankt und kränkelt nimmer, weiß er sich nichts zu machen;
er badetk sich am Eis des Meers ein warmes Herz, das ist sein Drang,
und schläft im kalten Zimmer. sonst haßt er warme Sachen.
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Doch wenn die Füchse bellen sehr, Sein Schloß von Eis liegt ganz
wenn's Holz im Ofen knittert, hinaus
und an dem Ofen Knecht und Herr beim Nordpol an dem Strande,
die Hände reibt und zittert; doch hat er auch ein Sommerhaus
Wenn Stein und Bein vor Frost im lieben Schweizerlande.
zerbricht Da ist er dann bald dort, bald hier,
und Teich' und Seeen krachen: gut Regiment zu führen,
das klingt ihm gut, das haßt er nicht, und wenn er durchzieht, stehen wir
dann will er tot sich lachen. und sehn ihn an und frieren.
Matthias Claudius.
B. Auf der Wanderung durch Heimat
und Vaterland.
167. Wenn du noch eine Heimat hast.
Wenn du noch eine Heimat hast,
so nimm den Ranzen und den Stecken
und wandre, wandre ohne Rast,
bis du erreicht den teuren Flecken.
Und strecken nur zwei Arme sich
in freud'ger Sehnsucht dir entgegen,
fließt eine Träne nur um dich,
spricht dir ein einz'ger Mund den Segen, —
Ob du ein Bettler, du bist reich;
ob krank dein Herz, dein Mut beklommen,
gesunden wirst du alsogleich,
hörst du das süße Wort: Willkommen!
Und ist verweht auch jede Spur,
zeigt nichts sich deinem Blick, dem nassen,
als grün beras't ein Hügel nur
von allem, was du einst verlassen —
O, nirgend weint es sich so gut,
wie weit dich deine Füße tragen,
als da, wo still ein Herze ruht,
das einstens warm für dich geschlagen. Albert Träger.
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168. Die Ilmenau.
So recht ein Fluß unserer lieben Lüneburger Heide ist die
Ilmenau. Sie sammelt ihr Wasser aus den Hügellandschaften in
der Umgebung Uelzens. Ihre eigentliche Quelle hat sie in der
Nähe von Bodenteich, wo sie einfach „Aue“ heißt. Bei Uelzen nimmt
sie eine Anzahl anderer „Auen“ auf. Die wichtigsten derselben
sind die Stederau und die Wipperau auf der rechten, die Gerdau mit
der Schwienau und Hardau auf der linken Seite. Erst von Uelzen
ab führt der Fluß den Namen Ilmenau.
Alle diese Heidbäche fließen in lieblichen Tälern schnell dahin.
An ihren Ufern liegen Heidedörfer, deren Gehöfte im Schmuck ge—
waltiger, alter Eichen einen stattlichen Anblick gewähren. Überall
finden wir saftige Wiesen, zu deren Bewässerung jedes Bächlein aus—
genutzt wird. Das sanft abfallende Gelände zeigt zum Teil frucht—
bare Ackerfluren; die üppigen Getreide- und Zuckerrübenfelder er—
regen gerechte Bewunderung bei dem Fremden, der die Lüneburger
Heide gewöhnlich als ein armseliges Land sich vorstellt. Finden wir
doch in Uelzen eine der bedeutendsten Zuckerfabriken unserer Heimat—
provinz! Die zwischen den „Auen“ sich hinziehenden Hügelketten
haben nicht unbedeutende Höhen; der Blaue Berg z. B. erreicht eine
Höhe von 130 mm. Sie sind meistens mit Nadel-, teilweise auch mit
Laubwald bedeckt. Die hier früher hin und wieder vorhandenen
nackten Heideflächen verschwinden infolge von Aufforstung mehr und
mehr.
Uelzen (etwa 9000 E.), am Kreuzungspunkte zweier wichtiger
Eisenbahnlinien gelegen, ist eine wohlhabende Landstadt, welche die in
der Umgegend gewonnenen landwirtschaftlichen Produkte an Vieh, Ge—
treide und Kartoffeln meistens nach Hamburg hin ausführt. In dem
Fürstenhause wurde hier im Jahre 1497 Ernst der Bekenner ge—
boren. In der Nähe Uelzens liegt an der Wipperau das frühere Kloster
Oldenstadt, jetzt eine Domäne und der Sitz eines Landratsamtes. An
der Hardau liegt das Dorf Suderburg, dessen Bewohner seit über
hundert Jahren den künstlichen Wiesenbau gepflegt und in ferne
Gegenden, bis in Rußland und Osterreich hin, verpflanzt haben. Seit
1854 besteht in diesem Orte eine mit einer landwirtschaftlichen Fort—
bildungsschule verbundene Wiesenbauschule. In fruchtbarer Gegend
liegt an der Schwienau der freundliche Flecken Ebstorf mit einer gut
besuchten Ackerbauschule und einem sehenswerten alten Kloster.
Auf ihrem weitern Laufe eilt die Ilmenau in engem Tale
zwischen meist bewaldeten Heidhügeln und Ackerflächen dahin. Sie
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bildet an den Stellen, wo sich, wie bei dem Kloster Medingen in der
Nähe des freundlichen Fleckens Bevensen und zwischen Bienenbüttel
und Lüneburg, Laubwälder an ihren Ufern hinziehen, ein freundliches
Landschaftsbild, das wohltuend gegen die weite Heide absticht. Den
Glanzpunkt des Tales aber bildet das alte Lüneburg, die Perle der
Heide, der wir einen flüchtigen Besuch abstatten müssen. Die Ilmenau
hat zu der Größe der Stadt viel beigetragen; denn von hier ab wird
sie schiffbar, und noch heute bildet sie eine lebhafte Verkehrsstraße
nach der Elbe mit den großen Handelsplätzen Magdeburg, Hamburg
und Harburg. So konnte sich Lüneburg zu einem Stapelplatz für die
von Hamburg kommenden, auf der großen Heerstraße nach Süden
weitergehenden Waren entwickeln. Beim Betreten der Stadt grüßt
uns gleich ein gewaltiger Zeuge des einstigen Glanzes der alten
Hansastadt, der 111 m hohe Johannisturm. Viele alte Häuser in
eigenartig schönem Baustil erzählen dem staunenden Fremden noch
heute von dem Wohlstande und dem Kunstsinn der vergangenen Ge—
schlechter. Ein Gang über den „Sand“ und durch die Heiligengeist—
straße führt uns zu der Geburtsstätte der Stadt, der 1000jährigen
Sülze, von der Lüneburgs Wohl und Wehe in erster Linie abhing.
In großen Siedehäusern wird die fast gesättigte Sole gesotten. Mehr
als 1300 Zentner Salz werden täglich gewonnen. Dicht dabei erhebt
sich der weit und breit bekannte Kalkberg, ein steil ansteigender Gips—
felsen, der einst die feste Burg der Billinger trug. Ein schöner Aus—
blick auf die Stadt und ihre schöne Umgebung lohnt das Besteigen
des Berges. Der Kalkberg bildete früher den stärksten Punkt der
Befestigung der Stadt. Den besten Einblick in den Kunstsinn der
früheren Bewohner erhalten wir in dem am Markt belegenen Rat—
hause. Hier stehen wir in andächtiger Bewunderung vor den un—
vergleichlich feinen Holzschnitzereien im alten Sitzungszimmer, freuen
uns über die prächtigen Glasmalereien in der Gerichtslaube, be—
dauern den Verkauf des alten, kostbaren Silberschatzes nach Berlin
und erheitern uns beim Anblick des in einem Glaskasten aufbewahrten
Schinkenknochens des Schweines, das einst die Sülze entdeckt haben
soll. Ein kurzer Gang durch die Bardowiekerstraße, vorbei an der
schönen Nikolaikirche, führt uns an den Hafen. Wir sehen, wie
große Lastkähne englische Steinkohlen oder böhmische Braunkohlen,
Roheisen, Hau- und Pflastersteine löschen und dafür Zement, Salz
und fertige Eisenwaren laden.
Fahren wir mit einem solchen Kahne die Ilmenau abwärts, so
kommen wir zuerst an dem alten Kloster Lüne vorbei, das in seinem
Innern wertvolle Kunstschätze, besonders Stickereien, bietet. Eine
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Stunde weiter treffen wir das einst so blühende Bardowiek, das im
Jahre 1189 von Heinrich dem Löwen zerstört wurde. Hier tritt
der Fluß in die Niederung, die mit der Elbmarsch eine weite Ebene
bildet. Eine lange Leidensgeschichte könnte diese Ebene erzählen.
Durch Eindeichung der Vierlande auf der rechten Seite der Elbe
wurde vor Jahrhunderten die Elbe stark nach Süden gedrängt, und
und nun trat bei jedem Hochstande des Flusses eine üÜberschwemmung
der ganzen Niederung ein, die den Ackerbau schwer schädigte, ja
fast gänzlich vernichtete. Um diesen Übelstand abzustellen, hat man
in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Ilmenau von
Wittorf ab begradigt und den Fluß an der rechten Seite mit einem
slarken Deiche versehen. Dadurch ist die weite Marsch zwischen Ilmenau
und Elbe vor Überschwemmungen geschützt. Zugleich ist der Schiffahrts—
weg stark verkürzt. Um genügende Fahrtiefe in der Ilmenau zu er—
zielen, sind bei Wittorf und Fahrenholz Schleusen angelegt. Eine
halbe Stunde vor der Mündung nimmt die Ilmenau von links die
Luhe auf. An derselben liegt das freundliche Landstädtchen Winsen,
mit einer bedeutenden Papierfabrik. Bei Hoopte mündet die Ilmenau
in die Elbe. Th. Thiele und G. Meyer.
169. Der Esel mit dem silbernen Hufbeschlag.
In dem Kreuzgange des Lüner Klosters, dessen Fenster mit
Wappen und anderen Darstellungen nebst Namen alter Geschlechter
verziert sind, nimmt das Bild eines Esels die Aufmerksamkeit der
Jugend besonders in Anspruch. Das Tier ist mit einem gefüllten
Kornsacke beladen und hebt einen der weißglänzenden Hufe empor,
als wenn es ihn zeigen wollte.
Einst war eine Mißernte gewesen, und die Kornlieferungen, auf
welche das Kloster angewiesen war, blieben aus. Aber wie groß auch
die Not wurde, die fromme Äbtissin versammelte in gewohnter Weise
die Nonnen zum Gebete und ermahnte zum Vertrauen auf Gott, der
auch Israel in der Wüste nicht habe verschmachten lassen. Als aber
das Wetter ungünstig blieb und der Hunger das ganze Land umher
drückte, da schüttelte manche hoffnungslos das Haupt und fragte wohl
die Äbtissin: „Wo ist nun dein Gott, dem du vertrauet hast allezeit?“
Aber die blieb still und hoffte auf des Herrn Hülfe und hielt an am
Gebet. Da brachte man eines Tages nach dem Abendgebet die Nach—
richt, draußen stehe vor der Tür ein Esel, beladen mit einem Sack
Korn. Die fromme Frau zweifelte nicht, daß es die Hülfe sei, um die sie
so lange gefleht hatte. Der Sack wurde herabgenommen, geöffnet,
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und es war vollkörniger, gelber Weizen darin, und nun hatte die
Not ein Ende. Aber der Esel war währenddessen verschwunden, und
niemand wußte, wohin und woher er gekommen war. Das wieder—
holte sich gerade so am folgenden Tage, am dritten und weiter fort,
viele Wochen jeden Tag, nur nicht am Sonntage, denn man soll vor
dem Sabbat an die leibliche Nahrung denken. Da mehrte sich bald die
Fülle »s Korns auf allen Böden, so daß die Bauern aus der Um—
gegend und die Bürger aus Lüneburg kamen in der Not und gespeist
und » dalten wurden während der ganzen Zeit der Teuerung. Da
sprach die fromme Äbtissin: „Der Herr hat uns erhört, und wir
haben ihm gedanket für alle Gnade, die er uns erwiesen hat; aber
sollten wir des treuen Tieres vergessen, das uns die schöne Frucht
herzugetragen?“ Darum befahl sie, daß man am folgenden Tage
den Esel festhalte und ihm die Hufe mit Silber belege. Das geschah
auch, aber von dem Tage an kam der Esel nicht wieder.
170. Ritter Zarenhusen.
Zwischen den Dörfern Munster und Amelinghausen, in jener
Gegend, wo Ortze und Luhe ihre Quellen haben, liegt ein großer
Wald — die Raubkammer. Nahe an dem Wege, der sich an der
Raubkammer hinzieht, steht ein Stein, an welchen sich folgende Sage
knüpft.
In alter Zeit wurde jene Gegend durch einen Heckenritter, wie
man ihn nannte, sehr unsicher gemacht; es war dies der wilde Ritter
Tzarenhusen, der nicht weit von Amelinghausen die Burg Bockum sein
eigen nannte. Von hier zog er aus und belästigte als Wegelagerer
besonders die Leute, bei denen er Geld zu finden hoffte. Ein Krämer
aus Munster war einmal mit seiner Marktbude auf dem Markte in
Amelinghausen und gedachte noch an demselben Abend mit seinem Ge—
spann nach Hause zurückzukehren. Sein Weg führte ihn aber in die
Nähe von Bockum, und es wurde ihm darum von den Bekannten ge—
raten, die Rückreise nicht zur Abendzeit zu machen, weil der Ritler
Tzarenhusen heute sicherlich auf Marktleute, die Geld bei sich hätten,
lauern würde. Der Krämer ließ sich aber nicht abhalten; man weiß
nicht mehr, was ihn nach Hause rief. „Laßt mich nur sorgen,“
sprach er, und damit zog er seiner Straße.
Er kam auch glücklich an der Burg Bockum vorüber. Als er
dieselbe hinter sich hatte, hieb er auf seine Pferde ein und fuhr in
raschem Trabe weiter. Eben war er bei der Raubkammer angelangt
und glaubte sich schon geborgen, als er plötzlich in der Ferne eine
Reiterschar hinter sich hersprengen sah. Das war gewiß der Tzaren⸗
husen. An ein Entrinnen war nicht zu denken. Schnell nahm der
Krämer seine Donnerbüchse zur Hand, lud dieselbe mit einer neuen
Kugel, die er aus der Bleieinfassung eines Kirchenfensters gegossen
hatte — „damit dat Dings dreppt“ — und schloß die Ladung dann
mit einer dünnen Speckscheibe Kaum war er damit fertig, als Tzaren—
husen auch schon mit seinen Mannen bei dem Wagen anlangte und
dem Krämer ein „Halt!“ zurief. Dieser brannte nun seine Donner—
büchse ab, und der Ritter fiel, mitten ins Herz getroffen, tot vom
Rosse. Der Krämer aber trieb seine Pferde an, und es gelang ihm,
den Mannen des Ritters, die um ihren Herrn bemüht waren, glück—
lich zu entwischen.
Die Ritterknechte legten den Toten, den letzten seines Stammes,
auf einen ledigen Gaul und führten ihn heim nach Bockum, wobei
einer von den Knechten in den Bart brummte: „Tzarenhusen, Tzaren—
husen, hebbe ick et nicht schon lange seggt, dat et mal sau komen
wolle.“ An der Stelle, wo Tzarenhusen gefallen ist, hat man nahe
am Wege jenen Stein errichtet. Nach Wilhelm Rustmann.
171. Der Bickelstein.
Unweit der Dörfer Ehra und Boitzenhagen im Kreise Isen—
hagen liegt der Bickel- oder Bickenstein auf einem Hügel in der
Heide. Hier hat zur Zeit des groben Religionskrieèges eine Schlacht
stattgefunden, und das eine Heer, an dessen Spitze nur ein kleiner
hürst stand, hatte sich bei diesem Stein gelagert. Nun hatte sich
aber der Fürst, der von vielen Anstrengungen sehr ermüdet war,
bei diesem Steine niedergelegt und bei Todesstrafe verboten, dab
man ihn wecke. Es begab sich aber, dab, während er schlief,
plötzlich der Feind heranrückte und, da niemand ihn zu wecken
wagte, immer näher und näher kam; endlich, als die Gefahr schon
aufs höchste gestiegen war, warf man seinen Hund auf ihn. Da
erwachte der Fürst und, eingedenk seines Verbots, erschlug er den
Hund auf der Stelle, erkannte aber auch die grobe Gefahr, in der
er mit seinem Heere schwebte, und verzweifelte so sehr daran, dab
alles noch einen guten Ausgang nehmen könne, dabß er ausrief:
„So wahr mein Schwert nicht diesen Stein spalten und mein Pferd
nicht hineintreten kann. so wahr werden wir auch nicht siegen,“
und damit sehlug er, indem er auf den Stein sprengte, sein Schwert
hinein; aber es drang tief ein, und seines Rosses Huf drückte eine
scharxfeé Spur ein, so dab er sogleich neuen Mut fabte, seine
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Soldaten zur Schlacht führte und den Sieg gewann. Noch heute
aber sind die Kreuzhiebe, die der Fürst auf den Stein geführt,
sowie drei Eindrücke von Hufeisen auf demselben sichtbar.
Fast ebenso lautet die Sage von dem Karlsteine im Rosen-
garten, Landkreis Harburg. Bei dem Steine schlief dort, der Sage
nach, der Sachsenführer; die Feinde waren Franken unter RKarl
dem Groben. A. Kuhn.
172. Die Beerenpflücker der Heide.
Wenn Mitte Juni die Heidel- oder Bickbeeren zu reifen beginnen,
dann zieht Sonntags die liebe Dorfjugend unserer Heide in die Wälder
hinaus, um die ersten reifen Beeren dieser köstlichen Frucht zu naschen.
Welche Freude, wenn die munteren Scharen der Kinder dann schon
recht viele schwarze Beeren finden! Sorgfältig werden die dichter
mit ihnen behangenen Sträucher zu einem Strauße gebrochen, um
den Eltern daheim zum Beweise für den Stand und die Aussichten
der nahen Beerenlese zu dienen. Die einzeln gepflückten Beeren
wandern sogleich in den Mund, gegen Ende des Ausflugs auch,
zwischen den Fingern zerquetscht, um den Mund, damit das mit
ihrem Safte bemalte Gesicht für den Erfolg der Waldfahrt bei jeder—
mann, der den Heimkehrenden begegne, Zeugnis ablege. Und welch
ein Heimweg ist das! Den Strauß in der Hand und die dunkel rot—
blaue Zeichnung im Gesicht, geht's jubelnd zurück.
„Bickbeern, Bickbeern dür,
Lepel vull 'n Matthier“
hallt es jetzt aus den jungen Kehlen durch Wald und Feld. Die
Sänger denken wohl kaum daran, daß dieser alte Reim es aus
ihrem Munde in alle Ohren ruft, daß von diesen Vorschwärmen
der Beerenpflücker noch nicht viel gefunden worden ist und heimgebracht
wird.
Nun noch 8 bis 14 Tage; dann beginnt das Pflücken der Heidel—
beeren zum Verkauf. Längst ist gegen 5 Pf. in der nächsten Försterei
ein Pflückeschein gelöst worden, ohne den in königlichen Forsten nicht
gepflückt werden darf, und nun geht alles, was frei ist und pflücken
kann, in den Wald, Knaben und Mädchen, Kinder und Erwachsene,
vor allem die Frauen der ärmeren Dorfbewohner, oft auch ihre
Männer, und nicht selten auch die erwachsenen Töchter wohlhabenderer
Familien. Wie belebt da Wald und Heide ist! Hin und her ziehen
die Suchenden von einem Fundort zum andern, oft stundenweit, in
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die Kreuz und Quere. Am wenigsten sieht man die alten erfahrenen
Pflücker, am meisten die Kinder von einer Fundstelle zur andern
laufen; die letzteren glauben immer noch bessere Plätze finden zu
können, jene aber wissen, daß wenig pflückt, wer viel läuft. Nur
selten wird eine kleine Pause gemacht, um ein mitgebrachtes Butter—
brot zu einer Handvoll Heidelbeeren zu verzehren oder einen Schluck
kalten Kaffees zu trinken. Nicht eindringlich genug können alle
Pflücker ermahnt werden, nicht barfuß in den Wald zu gehen und
ja beim Pflücken auch der Kreuzotterngefahr zu gedenken.
Wieviel von dem einzelnen an einem Tage gepflückt wird, hängt
ganz von seinem Fleiß, seiner Fertigkeit im Pflücken und der Menge
der gewachsenen Beeren ab. Selbst bei mittlerer Ernte pflücken
fleißige Kinder täglich bis zu 10 Pfund, erwachsene Mädchen und
Frauen 20 Pfund und darüber, das ist bei einem durchschnittlichen
Preise von 10 Pf. für ein Pfund ein Tagesgewinn bis zu 2 Mark
und mehr. Gleich abends werden die gepflückten Beeren auf die
Ankaufsstellen vor dem Walde oder in den Dörfern gebracht, und
die Händler schaffen die aufgekaufte Ware, in Körben wohl verpackt,
noch in derselben Nacht durch ihre Fuhrwerke auf die nächsten Bahn—
höfe, um sie von dort aus in die großen Städte zu verschicken. So
geht es Tag für Tag und Woche für Woche: Ende Juni und Juli
ist es die Bickbeerenernte, Ende Juli und Anfang August die Krons—
oder Preißelbeerenlese Von geringerer Bedeutung ist die gleich—
zeitige Himbeer- und die etwas spätere Brombeerlese. Es gibt fleißige
Kinder unserer Heidedörfer, welche sich im Laufe des Sommers mit
dem Beerenpflücken 30 bis 40 Mark verdienen, und Erwachsene,
deren Erlös aus dieser Nebenbeschäftigung sich in guten Jahren
auf 80 bis 100 Mark beläuft. Der durchschnittliche jährliche Gewinn
unserer ganzen Heidelandschaft aus ihrem Beerenreichtum beläuft sich
auf Hunderttausende von Mark. Überdies geben allen Beerenpflückern
der Heide die gesammelten Früchte des Waldes ihr wichtigstes Ein—
gemachtes. Selbst in der einfachsten Mietswohnung sieht man im
Herbste auf dem Schranke im Flur oder auf dem Bört in der Speise—
kammer oder im Keller eine Reihe von Flaschen mit eingekochten Bick—
beeren und einen Topf mit eingemachten Kronsbeeren, und auf dem
Mittagstisch findet man dort nicht selten weiter nichts als Pfann—
kuchen und Bickbeeren oder gestampfte Kartoffeln und Kronsbeeren,
zwei gern gegessene Gerichte.
Eigenartig ist es, daß die Kronsbeere sich auf dem Nordostgebiete
der Lüneburger Heide, dem Entwässerungsgebiete der Elbe, fast gar
nicht findet; ihr Hauptfundort ist der Kreis Celle. Sie liebt den
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Waldesrand und die Lichtungen im Walde, besonders gern abgeholzten
Waldboden; ja sie findet sich nicht selten auf offener Heide, viel auch
in Brüchen, und oft selbst am Rande der Moore. Bemerkenswert ist
auch, daß sie nicht nur eine Sommerfrucht trägt, sondern in günstigen
Jahren auch noch eine Herbstbeere zeitigt. Ihr Strauchwerk ist viel
niedriger als das der Heidelbeere; es ist dem der Stadtjugend ja
hinreichend bekannten jungen Buchsbaum nicht unähnlich. Viel ver—
breiteter als die Kronsbeere ist der Strauch der Heidelbeere. Er
findet sich fast überall in den Waldungen der Heide. Er gedeiht
auch im dichteren Walde noch; doch die vollsten und schmackhaftesten
Beeren trägt auch er dort, wo er am Waldesrand und in den Lich—
tungen der Wälder im Angesichte der Sonne den Waldboden über—
kleidet. Heinrich Brammer.
173. Fischzucht in der Heide.
Zwei alte Nebenerwerbe vieler Landwirte in der Lüneburger
Heide sind in den letzten Jahrzehnten sehr zurückgegangen, die Bienen—
und die Schafzucht. Im Jahre 1861 gab es in unserm Bezirke noch
über 80000 eingewinterte Bienenstöcke; jetzt ist kaum noch die Hälfte
davon vorhanden. Vor nicht gar langer Zeit zählte man für die
Heide noch über eine halbe Million Schafe; ums Jahr 1900 aber
waren es nur noch gut 170000. Das Zurückgehen beider Erwerbs—
zweige steht in engem Zusammenhange mit der vermehrten Aufforstung
und Urbarmachung der Heide. Die Schafzucht leidet überdies sehr
unter dem Wettbewerb ausländischer Wolle und dem Verdrängen
der Wolle überhaupt durch die Baumwolle. Den Niedergang der
Bienenzucht helfen auch die zum Teil veralteten Formen ihres Be—
triebes und das Vordrängen des Kunsthonigs beschleunigen. Unter
solchen Verhältnissen kann der Landmann das, was die Haltung
einer Schafherde oder eines Bienenstandes kostet, gewinnbringender
für andere Betriebe verwenden. Da bietet ihm die Möglichkeit einer
lohnenden Fischzucht willkommenen Ersatz für das Aufgegebene.
Die Fischzucht wird in der Heide seit dem Jahre 1880 in stets
steigendem Umfange betrieben. Unsere Landschaft hat viele kleine
Wasserläufe, Rinnsale, Moorgräben und Bäche, die sich recht gut
zur Anlegung von Fischteichen eignen und seit dem genannten Jahre
auch vielfach schon zur Einrichtung von solchen benutzt worden
sind. Der Landkreis Celle allein hat heute schon über 300 Fisch⸗
teiche mit über 3200 Morgen Fläche und mehr als 60000 Mark
jährlichem Reinertrag. Von diesen Teichen sind ungefähr 70 mit
Forellen und die meisten andern mit Karpfen besetzt. Als Beibesatz
wird mehrfach die Schleie gewählt, weil sie ihre Nahrung dem schlam—
migen Grunde des Teiches entnimmt, wohin der Karpfen nicht kommt.
Ein großer Fischzüchter des Auslandes, der die Beschaffenheit unserer
Heide kennen lernte, äußerte sich dahin, daß die Zahl der Fischteiche
sich hier noch sehr vermehren lasse; man möge an den verschiedenen
kleinen Wasserläufen nur viele kleine Talsperren anlegen, wodurch
das Wasser zu genügend großen Teichen aufgestaut werden könne.
Die Besetzung der Teiche mit junger Fischbrut geschieht im Früh—
jahr, die Abfischung der nach mehrjähriger Pflege verkaufsfähigen
Fische im Herbste. Seine Absatzgebiete findet der Teichbesitzer in
den größeren Städten; dorthin sendet er den Fang lebendig in be—
sonders eingerichteten, nur mit frischem Wasser gefüllten Tonnen.
Zur Hebung der Fischzucht in der Heide findet sich unter anderen in
Bienenbüttel bei Lüneburg eine Fischbrutanstalt; dort werden die
jungen Besatzfische aus Fischeiern durch sorgsame Pflege heran—
gezogen und dann an die Inhaber von Teichen verkauft. Zur Ein—
richtung solcher Teiche und betreffs der richtigen Behandlung und
Ernährung der eingesetzten Fische bedarf es besonderer Belehrung des
Unternehmers durch sachkundige Männer. Niemand, der sonst Ge—
legenheit zur Einrichtung eines Fischteiches hat, sollte diese kleine
Mühe scheuen; dann kann bald die Fischzucht unserer Heide das wieder—
geben, was ihr durch das Zurückgehen der Schafzucht verloren ge—
gangen ist. Heinrich Dehning.
174. Des Sängers Wanderlied.
Wer schauen und erfahren will, O sel'ge Lust, zu wandern
wie schön und weit die Welt, im goldnen Himmelsschein!
der muß den Stab ergreifen, Das Wandern, das Wandern,
durch Städt' und Länder streifen, das soll gepriesen sein!
durch Wald und grünes Feld. Und wer so recht erfahren will
O sel ge Lust. zu wandern der Heimat süßes Gltic
im goldnen Himmelsschein! der geh' in fremde onde
Das Wandern, das Wandern, hald ziehen iausend Bande
das soll gepriesen sein! zur Heimat ihn zurück!
Wer alles Leid vergessen will O sel'ge Lust, zu wandern
und allen Sorgenstaub, im goldnen Himmelsschein!
der muß dem Haus entfliehen Das Wandern, das Wandern,
und frisch die Welt durchziehen das soll gepriesen sein!
beim ersten Frühlingslaub. G. Chr. Dieffenbach.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
193
18
— —
175. Eine Fahrt auf der Elbe von Lauenburg
nach Hamburg.
Wir hatten einen Nachmittag in den großen Ferien gewählt, um
einmal die Elbe in ihrem Laufe von Lauenburg nach Hamburg zu ver—
folgen. Ein flinkes Motorboot brachte uns von der Station Hohnstorf
nach dem am Abhange der Elbberge schön gelegenen Lauenburg. Zur
Rechten, in der Nähe der großen Elbbrücke, konnten wir den Anfang
des Elbe-⸗Trave-Kanals erblicken, der die Elbe mit der Ostsee verbindet.
Da der Elbdampfer nach Hamburg noch nicht abfuhr, benutzten wir die
Zeit, um von dem hochgelegenen Bellevuegarten aus einen Blick auf
die gegenüberliegende hannoversche Marsch zu tun. Bis an die letzten
Ausläufer der Lüneburger Heide, hinter denen die schlanken Türme
Lüneburgs emporragten, dehnen sich die gesegneten Fluren mit ihren
wogenden Kornfeldern, ihren grünenden Wiesen und viehbedeckten
Weiden aus. Mit geringen Unterbrechungen reiht sich hinter dem
Elbdeiche Dorf an Dorf. Doch wir mußten die engen Treppen
wieder hinabeilen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. In
wenigen Minuten befanden wir uns auf dem Dampfer mitten im
Strom. An badenden Knaben vorbei, die uns jauchzend begrüßten,
vorüber an Fischern, die mit weiten Schleppnetzen dem Brachsen
oder auch wohl dem Stör nachstellten, zur Rechten die schön be—
waldeten Elbberge, ging die Fahrt stromabwärts. Bald tauchten am
rechten Ufer die rauchenden Schornsteine der Dynamitfabrik Krümmel
auf, die wegen ihrer häufigen Explosionen eine stete Gefahr für
die Umgegend bildet.
Etwas weiter, bei dem freundlichen hamburgischen Landstädtchen
Geesthacht, hören auch am rechten Ufer die Berge auf, und die Deiche
beginnen. Diese verdecken nach beiden Seiten hin die Aussicht, so daß
man von den vielen hinter ihnen liegenden Häusern wenig mehr als
die Dächer sieht. Doch unser Blick wird von andern Dingen an—
gezogen. Fast bei jedem Dorfe legt der Dampfer an, um Personen
oder Waren an Bord zu nehmen oder auszuladen. Besonders sind es
die 20 und 30 Liter fassenden Milchkannen, die nach Hamburg geschickt
werden. Allmählich finden sich mehrere Hunderte dieser großen Gefäße
an Bord zusammen. Kleinere Dampfer fuhren in früher Morgen—
stunde von beiden Ufern, besonders aber aus den Vierlanden, dem
Obst- und Gemüsegarten Hamburgs am rechten Ufer, Beeren, Gemüse
und Obst in ungeheuren Mengen nach der Weltstadt. Mehrfach
fuhren wir an großen Dampfbaggern vorbei, die den angeschwemmten
Sand fortschaffen, damit die Schiffe nicht fesffahren. Um genügende
19
125 —
Fahrtiefe zu erhalten, sind an beiden Seiten schmale Landzungen in
den Fluß hineingebaut, „Buhnen“ genannt, die den Strom nach der
Mitte hindrängen. Schon seit einiger Zeit bemerkten wir die dicken
Rauchwolken eines Schleppdampfers. Als wir näher kamen, sahen
wir, daß er 8 Riesenkähne, alle beladen, die Elbe hinaufzog. Von der
Menge der Waren, die ein solcher Dampfer fortschleppt, kann man
sich einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß ein einziger der
fortgezogenen Kähne mehr Waren faßt als ein langer Güterzug.
Am linken Ufer bei dem Dorfe Hoopte sahen wir bald darauf unsre
liebe Ilmenau einmünden. Daheim kam sie uns recht breit vor, hier
erscheint sie wie ein schwaches Bächlein im Vergleich zu dem ge—
waltigen Strom. Nach einer weiteren Fahrt von einer Stunde er—
reichten wir die Insel Wilhelmsburg, welche den Fluß in die Norder—
und Süderelbe teilt. Während diese nur sehr wenig befahren wird,
wird jene immer belebter. Endlich legten wir im Gewühl des
Oberländerhafens in Hamburg am Stadtdeich an. Wir mußten uns
beeilen, um den letzten Zug zu erreichen, der uns zur Heimat zurück—
brachte. Hermann Koch.
176. Die Seeräuber und die Bunte Kuh.
Vor 500Jahren wurden die nordischen Meere durch Schwärme
von Seeräubern unsicher gemacht. Diese Unholde werden oft
Vitalienbrücler genannt. Sie sind auf folgende Weise zu dem
absonderlichen Namen gekommen: Die Königin Margarele von
Dänemark führte einen groben Krieg gegen den Schwedenkönig,
besiegte ihn und belagerte seine Hauptstadt Stockholm. Alle Zu—
kuhr von Lebensmitteln schnitft sie der Stadt ab, so dab bald grobe
Not daselbst entstand. Da tat sich eine Zahl kühner Seefahrer
zusammen und führte der bedrängten Stadt für schweres Geld
Lebensmittel zu. Bei ihren wiederholten Fahrten gerieèten sie mit
dänischen Schiffen in Kampf, siegten aber und machten Beute.
Nun mebrte sich ihre Zahl sehr schnell. Da sie Stockholm mit
Lebensmitteln oder Viktualien versorgten und im Kampfe gegen
die Dänen brüderlich zusammenbhielten, so nannte man sie
Viktualienbrüder oder Vitalienbrüder. Sie griffen bald nach ihren
ersten Siegen die däünischen Küsten an, fügten den Dänen Schaden
zu, wo und wie sie nur konnten, und wurden von Tag zu Tag
müchtiger. Ihr Beutemachen setzten sie auch nach dem Kriege
fort, lauerfen den Handelsschiffen aller Art auf und nahmen
Schiff und VWare weg. Die Küsten Dänemarks, Norwegens, Schwe-
dens und Deutschlands hatfen viel von ihnen zu leiden. Schon
18
196 —
wWaren sie so müchtig geworden, daß sie Burgen eroberten, Städte
üherfielen und Staaten zwangen, Verträge mit ihnen zu schlieben.
Als es durch grobe Anstrengungen gelang, die schlimmen
Gesellen aus der Ostsee zu verdrängen, wandten sie sich ganz der
Nordsee zu und trieben hier ihr Wesen um so ärger. Klaus
Störtebeker und Godeke NMichels, das soll heiben Gottfried
Michaelsen, waren die beiden tollkühnen Hauptleute der Piraten
und der Schrecken aller Kaufleute, Schiffer und Küstenbewohner.
Störtebeker war sehr grob und stark und konnfe unmensch-
lich viel Wein trinken, ohne daß es ihm schadete. Er hafte,
wie man erzählt, einen Becher von ungewöhnlicher Gröbe, den
or sich bei festlichen Gelagen bis zum Rande füllen lieb und,
ohne abzusetzen, herunterzustürzen pflegte. Von diesem Gebrauch
hieb er nur der Becherstürzer oder Störtebeker. Er und NMichels
hatten sich fester Burgen an der Nordsee bemächtigt, wohin
sie ihren Raub brachten, und woselbst sie gefangene Kaufleute
kesthielten, bis ein hohes Lösegeld gezahlt wurde. Von wem
kein Lskauf zu erwarten war, mit dem wurden keine Umstände
gemag?. Man warf ihn über Bord und überlieb ihn dem Meere.
Manchem Hamburger Kaufmann haben sie die Börse erleichtert,
manchen Hamburger Seemann ins Wasser geworfen und manches
Hamburger Schiff davongeführt. Dabei hielten es die Seeleufe
der aufgegriffenen Schiffe meist für einen unnützen Versuch,
sieh gegen den sehlimmen Störtebeker und Michels zu wehren;
denn beide galten ihnen für unverwundbar, weil es ihnen gelungen
war, aus Spanien Bilder des heiligoen Vincent zu rauben, welehe
sie auf der bloben Brust frugen. Die beiden Männer waren aber
sehr stark und gewandt und schlugen jedweden sofort zu Boden,
der sieh zur Wehr setzen wollte. Störtebeker besab so unmensch.
liche Kraft, daß er eine eiserne Kette zerrib, als wäre sie Bindfaden.
Es wurde in Hamburg bekannt, daß Störtebeker die Iusel
Helgoland genommen habe und nun mit seinen Schiffen vor der
Ebmündung den Englandfahrern auflaure, die von Hamburg
kommen würden. Da rüsteten die Hamburger schnell eine Kriegs
flotté und lieben dieselbe gegen die Seeräuber auslaufen. Unler
den Hamburger Schiffen war eines, welches gröber und schöner
wWar als alle anderen. Sein Bugspriet war mit einer aus Hol-
schön geschnitzten und bunt bemalten Kuh mit starken Hörnern
geschmückt, wovon das ganze Schiff den Namen „Bunte Kuh“
erhielt. Es gehörte dem Simon von Utrecht, einem jungen See-
helden, der mehrere Jahre vorher aus Flandern eingewandert war.
197
Gegen Abend kamen die Hamburger in die Nähe der See—
räuber, und am nächsten Morgen bei Tagesgrauen begann der
Kampf. Auf beiden Seiten wurde mit unvergleichlicher Dapferkeit
gestritten. Heil wie sausten die Schwerter der Hamburger auf die
Seerduber nieder, so oft es einem ihrer Schiffe gelang, sich an
eines der Feinde zu legen. Aber diese wehrten sich mit ver—
zweifeltem Mute, und manchem braven Hamburger wurden
schwere Wunden geschlagen. Hin und her wogte der Kampf;
bald waren die Hamburger im Vorteil, bald wieder die Seeräuber;
noch konnte kein Mensch sagen, wie das enden würde. Da ver—
richtete die Bunte Kuh, deren Befehlshaber das Schiff meisterlich
zu leiten verstand, ihr bestes Stück Arbeit. Sie ging brausend
durch die wilde See gerade auf das gröbte der Piratenschiffe los,
und ehe dieseès sich drehen und wenden konnte, krachl da sab
der Stob, dab dem Räuberschiff das Vorderteil zerbarst. Noch
ein paar Augenblicke, da war das Schiff versunken, und die
Mannschaft lag im Wasser. Die Bunte Kuh aber wandte sich
schon wieder gegen einen andern Feind. Wie rasend wütete sie
unter den Gegnern; wunderbare Taten vollbrachte sie. Ihr war es
zumeist zu danken, dabß die Hamburger überall die Oberhand be—
hielten. Ein Teil der Seeräuber floh; viele wurden erschlagen
und in das Wasser geworfen, andere überwältigt und gebunden.
Unter den letzteren war Störtebeker, der sich wie ein Löwe
gewebhrt hafte. 70 Räuber wurden mit ihm gefangen. Die Ham—
burger hatten einen herrliechen Sieg erfochten; alle rühmfen die
Laten der Bunten Kub.
Kurze Zeit darauf traf man den andern Schwarm, welchen
Godeke Michels führte. Auch er wurde von den siegeszuversicht—
lichen Hamburgern überwunden. Der Führèr mit 80 Mann fiel in
Gefangenschaft. Wieder hatte sich die Bunte Kuh vor allen andern
schiffen hervorgetan. Das gab einen unendlichen Jubel in Ham-
burg. Die Seeräuber sind besiegt, der Störtebeker ist gefangen!
Die frohe Nachricht ging von Mund zu Munde. In den Reller des
Rathauses brachte man ihn in ein sicheres Gewahrsam. Er voer—
sprach viel Gold, wenn man ihn freiliebe; doch schon am folgen-
den Tage mubte er seinen letzten Gang zum Grasbrook gehen.
Dort wurde er mit den übrigen Piraten geköpft. Als man sein Schiff
genau durchsuchte, ergab sich, so wird erzählt, daß der dieke
Masfhaum ausgehöhlt und mit glänzgendem Golde gefüllt war.
THoentze.
177. Die Kirschenernte im Alten Lande.
Zur Zeit der Obstblüte lockt das Alte Land, das Land der
Kirschen, durch seine Blütenpracht Tausende von Fremden an. Schön
ist aber auch das Land während der Kirschenernte, wenn die rot—
und schwarzwangigen Früchte aus dem dunklen Laube hervor—
schimmern.
Wie sehnsüchtig haben die Kinder hinaufgeschaut, wenn die Sonne
mit ihren reifenden Strahlen die Wangen der Kirschen mehr und
mehr rötete. Unterdes regten sich überall fleißige Hände, um die
Vorbereitungen für die nahende Ernte zu treffen. Die langen,
schlanken Leitern, welche auf der Diele unter dem Boden aufgehängt
waren, sind heruntergenommen. Sie werden frisch geteert und sorg⸗
fältig auf ihre Tragfähigkeit untersucht. Auch die übrigen zur
Kirschenernte erforderlichen Geräte, wie Kiepen, Haken und Körbe,
werden instand gesetzt. An den Körben sind farbige weiße oder rote
Merkmale angebracht; auch tragen sie meistens als Kennzeichen die
Anfangsbuchstaben des Besitzers. Diese farbigen Zeichen werden er—
neuert und somit neu kenntlich gemacht.
Endlich ist Ende Juni der Tag gekommen, an dem das „Pflücken“
beginnt. Von nun an ist jede Hand geschäftig, um den Segen ein—
zuernten. Zunächst wird an den Baum, dessen Früchte geerntet
werden sollen, eine entsprechend hohe Leiter gestellt. Die zweck⸗
mäßige Aufstellung einer solchen Leiter erfordert besondere Kraft
und Geschicklichkeit, denn sie muß so angebracht werden, daß sie sicher
genug steht, und daß gleichzeitig die Zweige an der betreffenden
Seite des Baumes erreicht werden können. Nun besteigt der Pflücker,
mit einer „Kiepe“ und einem Haken versehen, die Leiter. Die Kiepe
ist aus Weidengeflecht in Form und Größe eines Eimers hergestellt.
Sie ist mit einem Haken versehen, mittels dessen sie an die Leiter
gehängt wird. Der Haken dient dazu, die biegsamen Zweige heran—
zuholen. Der Pflücker schiebt den einen Arm um einen Leiterbalken,
um so dem Körper die nötige Sicherheit in der Stellung zu geben;
dadurch werden beide Hände für die Arbeit frei. Sobald eine Kiepe
gefüllt ist, wird sie gegen eine andere vertauscht. Ein fleißiger Mann
pflückt täglich wohl 150 bis 200 Pfund Kirschen. Aber nicht nur
die Erwachsenen, sondern auch die Kinder sind in dieser Zeit geschäftig.
Sie sind entweder damit beauftragt, die Stare oder „Sprehn“ von
den Kirschbäumen zu verscheuchen oder sie tragen die gefüllten Kiepen
in das Haus.
198
So sorgfältig die Stare überall geschont werden, und so sehr man
bemüht ist, diesen nützlichen Tieren anderswo den Nestbau zu er—
leichtern, so sehr ist der Altländer auf die Verscheuchung und Ver—
nichtung dieser Tiere bedacht, welche sich in großen Scharen auf die
Kirschbäume stürzen und in wenigen Minuten die Früchte eines
ganzen Baumes vernichten. Wohl sichert man die Kirschen durch
Vogelscheuchen und Klappermühlen, welche in den Kirschbäumen an—
gebracht werden, aber die Tiere gewöhnen sich bald an diese Schreck—
mittel. Deshalb sind die Kinder damit beauftragt, die Stare durch
Schreien oder durch das Schlagen an eine Sichel zu vertreiben. So
kommt es, daß die Obstgärten von lautem Geschrei widerhallen.
Hier und dort fallen sogar Schüsse, welche die Stare vertreiben und
auch töten.
Die gefüllten Kiepen werden, wie schon bemerkt, in das Haus
getragen, wo die Hausfrau die schlechten Kirschen aussondert und die
brauchbaren in Körbe zum Versand schüttet. Auf jeden Korb wird ein
Zettel, „Plitt“ genannt (wohl von Billet), gelegt, auf welchem das
Gewicht des Korbes angegeben ist. So haben sich im Laufe des
Tages je nach dem Ausfall der Ernte im Hause wohl bis zu 500 Pfund
Kirschen angesammelt, die nun zum Versand, meistens nach Hamburg,
bereit stehen. Die Versendung erfolgt gewöhnlich zu Schiff. Der
Führer des Schiffes ruft weithin hörbar den Namen des Obstgarten—
besitzers. Dann werden die gefüllten Körbe über den Deich getragen
und verladen. Am nächsten Morgen stehen dann die Körbe in
Hamburg auf dem Hopfenmarkte, einem Platze vor der Nikolai—
kirche, wo der Gemüsemarkt abgehalten wird. Manchmal übernimmt
der Eigentümer selbst den Verkauf oder „er steht selbst zu Markt“,
häufig ist ein Sohn des Hauses oder auch ein Makler damit beauftragt.
Die Kirschen des Alten Landes werden weithin versandt; namentlich
findet eine rege Ausfuhr nach England statt.
Diese geschäftige Zeit dauert mehrere Wochen. Auf die Ernte
der frühreifen Kirschen, des sogenannten „Maiguts“, folgt die der
weichen Kirschen von schwarzer oder bunter Farbe. Zuletzt werden
die Kirschsorten geerntet, welche hartes Fleisch haben. Zu diesen ge—
hören die „Blanken“ und die „Laten“ (Späten).
Wenn die Kirschenernte zu Ende ist, so reifen die Pflaumen und
ersten Birnen. Den Schluß der reichen Obsternte des Alten Landes
bildet die Apfelernte, die im Oktober ihren Abschluß findet. Die
Anzahl der Obstbäume wird auf 400000 geschätzt, welche einen jähr—
lichen Ertrag von 11/, bis 2 Millionen Mark liefern.
Heinrich Wilkens.
199
178. Helgoland.
Acht Meilen von Cuxhaven, 22 Meilen von Hamburg entfernt,
liegt draußen in der Nordsee, von Sturm und Wellen umtost, das
deutsche Inselchen Helgoland. Im Sommer täglich, im Winter wöchent⸗
lich fährt von Hamburg ein großer Raddampfer nach Helgoland und
zurück, so daß die Helgoländer in steter Beziehung zu Hamburg
stehen. Diese Beziehung ist sehr wichtig für sie. Wenn die Ver—
bindung mit Hamburg plötzlich unmöglich würde, so könnten die
Helgoländer in große Not geraten. Von Hamburg her bekommen
sie Mehl, Fleisch, Kaffee, Bier und fast alle anderen Lebensmillel.
Denn das kleine Inselchen kann die Bewohner seines Städtchens,
etwa 2000 an der Zahl, nicht selbst ernähren. Ja, die Erträgnisse
der Fischerei, des Austern⸗ und Hummerfanges und der Verdienst
durch das Lotsenwesen reichen nicht aus, um die Bedürfnisse der
Helgoländer zu befriedigen; aber über Hamburg und durch Ham—
burgs Vermittelung fließt ihnen eine andere bedeutende Einnahme zu.
Mit Hamburger Schiffen kommen alljährlich viele Vergnügungs⸗
reisende nach Helgoland, welche die Insel einmal sehen und eine kleine
Seereise machen wollen. Je mehr Personen das Schiff bringt, desto
freudigere Gesichter machen die Helgoländer; denn sie erhalten ein
gut Stück Geld dafür, daß sie mit ihren Ruderbooten die Leute ans
200
291 —
Land holen und an Bord des Schiffes zurückbringen. Noch mehr
verdienen sie an jedem Gaste dürch Nachtquartier, Essen und Getränk.
Es ist teuer auf Helgoland, und ich rate dir, tue Geld in deinen Beutel,
wenn du nach Helgoland fahren willst. Das Pfingstfest bringt den
Helgoländern eine besonders reiche Grnte. Jedes ankommende Schiff,
wenn es tausend Personen an Bord hat, bedeutet für Helgoland einen
baren Verdienst von dreitausend Mark, und wenn die Pfingstsonne
recht freundlich lacht, so lacht sie den Helgoländern durch die Hände der
Fremden zehntausend Mark auf ihr Inselchen. — Wieviel verdienen
sie wohl erst an jedem Badegaste, der über Hamburg zu ihnen kommt
und vier Wochen oder länger dort weilt! Helgoland ist ein sehr
beliebtes Bad mit völlig staubfreier Luft und herrlichem Strande. Es
wird von vielen vornehmen und reichen Leuten besucht. Aus diesem
Grunde ist auch das Konversationshaus, wo viele Badegäste wohnen
und speisen, sehr schön eingerichtet.
Man badet nicht an der Insel selbst, sondern an der Düne, welche
ein Stückchen davon im Südosten liegt und aus schneeweißem Sande
besteht. Die Badegäste werden in Booten hin- und zurückgefahren.
An der Insel unterscheidet man das Oberland und das Unter—
land. Das Unterland ist ein Streifen Sand an der meist windstillen
Südostseite der Insel, das Oberland dagegen ein roter Tonsteinfelsen,
welcher dreimal so hoch als ein großes Etagenhaus aus dem Meere
senkrecht aufsteigt. Das Städtchen der Insel liegt teils auf dem
Oberlande, teils auf dem Unterlande. Vom letzteren führt eine breite
Steintreppe von 189 Stufen und ein Fahrstuhl zum Oberlande
hinauf. Weithin wird das rote Eiland von den Schiffern erkannt;
seine Nähe aber wird wegen der Strandungsgefahr sorgfältig ver—
mieden. Nachts warnt das Licht des Leuchtturmes vor zu großer An—
näherung. An der West- und Nordseite, woher die großen Stürme
brausen, und die See zuzeiten brüllend an die Insel schlägt, sind die
Ufer erschrecklich zerklüftet und unterwaschen. Ein paar große Fels—
blöcke sind von der Insel losgetrennt und stehen verlassen im Wasser.
Einen anderen, der noch vor zwanzig Jahren dastand, als wollte
er weitere hundert Jahre in ehrlichem Kampfe aushalten, haben die
wilden Wogen einer großen Flut gestürzt und der Länge nach zu
Boden geworfen. Man erkennt sogleich, daß Helgoland in früheren
Zeiten viel größer gewesen ist und daß die See dereinst das
Zerstörungswerk vollenden und das Inselchen gänzlich zertrümmern
und hinwegspülen wird, welches jetzt schon so klein ist, daß man es auf
seinem Uferrande in einer Stunde bequem umschreiten kann.
Wenn der Boden des Oberlandes auch nicht unfruchtbar ist, so
*
2
gedeiht daselbst doch weder Getreide noch Obst. Man hat es mit
Obstbäumen versucht; aber sie sind jämmerliche Zwerge geblieben.
Der Sturm, dem das Ländchen so ganz preisgegeben ist, hat die
armen Dinger in so garstiger Weise zerzaust, daß sie den Mut zum
Großwachsen verloren haben. An Feldfrüchten wird fast nur die
Kartoffel angebaut. Der größte Teil des Inselchens ist mit Gras
bewachsen und wird von Schafen beweidet, welche aber nicht etwa
als eine Herde zusammen und nach eigenem Gelüste hierhin und
dahin gehen können. Jedes Schaf ist einzeln an einen Pfahl ge—
bunden und kann sich von demselben nicht weiter entfernen, als seine
Leine es gestattet. Diese Schafe sind die Kühe der Helgoländer; man
melkt sie und trinkt ihre Milch. Neben den Schafen war gewöhnlich
noch eine wirkliche Kuh vorhanden, welche dem Statthalter der Insel
gehörte. Seit einiger Zeit haben die Helgoländer Kinder auch das
ganz besondere Vergnügen, Pferde sehen zu können, wirkliche, lebendige
Pferde, während ihnen bis dahin das Pferd nur durch Bilder und
Beschreibungen bekannt war.
An den Ufern der Inseln nisten große Scharen von Seevögeln,
und im Herbste, wenn die Zugvögel aus den nördlichen Ländern
dem Süden zufliegen, ist Helgoland ihnen eine hochgeschätzte Ruhe—
stätte. Leider finden nachts viele der kleinen gefiederten Wanderer
durch den Leuchtturm ihren Tod. Von seinem Lichte geblendet,
fliegen sie mit ganzer Gewalt gegen das Drahtgitter, welches man
angebracht hat, um die Glasscheiben des Turmes gegen sie zu schützen.
Hunderte von toten Vögeln werden an manchem Herbstmorgen von
dem Turmwärter aufgelesen. Die Insel, deren Bewohner nieder—
deutschen Stammes sind und eine unserm Plattdeutsch ähnliche Mund—
art sprechen, hat lange Zeit den Dänen und danach den Engländern
gehört, ist aber durch unseren jetzigen Kaiser im Jahre 1890 wieder
zu Deutschland gekommen. Sie ist jetzt sehr stark befestigt. Die
Verteidigungsmannschaft kann vom Unterlande durch einen in den
Felsen getriebenen Gang mittelst eines Fahrstuhlaufzuges leicht auf
das Oberland gelangen und auch Geschütze und Geschosse auf diesem
Wege erhalten. Unsere Helgoländer Geschütze tragen so weit, daß
ihre Geschosse fast den halben Weg nach Cuxhaven bestreichen, so
daß kein feindliches Kriegsschiff ungefährdet das Meer zwischen Cux—
haven und Helgoland befahren kann.
Die Helgoländer haben es niemals gern gesehen, daß ihre Insel
dänisch und dann englisch war. Freilich sind sie sich früher auch ihrer
Zugehörigkeit zu Deutschland wenig bewußt gewesen. Sie wollien am
liebsten helgoländisch sein. Mit Stolz zeigen sie ihre grün⸗rot⸗weiße
20
Fahne, welche den drei Farben entspricht, die an der Insel am meisten
hervortreten: m
Grün ist das Land,
rot ist die Kant,
weiß ist der Sand;
das sind die Farben von Helgoland.
C. Hentze.
179. Ebbe und Flut.
Ein sonderbares Schauspiel ist an den Küsten der Nordsee die
täglich zweimal eintretende Ebbe und Flut. Da stürzen sich, wenn die
Ebbe eintritt, in eiliger Hast Ströme und Flüsse ins Meer hinaus.
Alle Gewässer sind in Bewegung, aus allen Kanälen, Gräben und
Zweigadern des Landes strömt es heraus wie in den Straßen einer
Stadt nach einem heftigen Regen. Überall wachsen trockene Länder
aus dem Meere heraus und nehmen zusehends an Umfang zu. Jede
Insel, an der man vorüberfährt, umgibt sich mit einem breiten
Gürtel Vorland, das sich sofort mit Menschen bevölkert, die den
Krabben und anderen im Schlamme zurückgebliebenen Seetieren nach—
stellen. Im Schlamme bezeichnet man noch Stellen, wo einst blühende,
jetzt vom Meere verschlungene Orte gestanden haben sollen. Ge—
woöhnlich um 4 mm, zuweilen auch um 6 mm wird in der Ebbe der
Wasserspiegel erniedrigt.
Endlich entsteht ein Stillstand in den Strömen. Es scheint, als
wären alle während der Ebbe so rasch eilenden Flüsse in ruhige
Seen verwandelt. Allmählich aber kommt wieder Leben und Reg—
samkeit in die versiegenden Gewässer. Das Meer drängt erst leise
rückwärts. Die süßen Gewässer, welche aus dem Innern des Landes
her sich einen Ausgang erringen wollen, geraten mit ihm in Streit,
aus welchem an vielen Punkten mächtige Wirbel entstehen. Endlich
siegt das Meer. Seine Schulter hebt sich gewaltig, und es zieht sieg—
reich zu allen Toren des Landes ein. Alle großen und kleinen Kanäle
des Landes füllen sich mit flüssigem Stoffe, und viele schwellen bis
an den Rand. Die weiten, kahlen Sandbänke schmiegen sich wieder
unter die feuchte Decke des Meeres, zu dessen Gebiete sie gehören,
wie Untertanen sich den Armen ihres Herrschers fügen. Die Fischer,
Austern- und Krabbensucher, die Strandspaziergänger ergreifen die
Flucht und verbergen sich hinter ihren Dämmen und Deichen. Die
Vorlande der Inseln verschwinden wieder, und diese selbst schmelzen
auf die Hälfte ihres Gebietes zusammen. Kleine Landesteile, die
noch eben mit dem Festlande zusammenhingen, lösen sich und werden
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204 —
zu Inseln. Die Hafendämme der Städte, vorher riesengroß, schrumpfen
fast zu nichts zusammen. Alle Gräben, Kanäle, alle Meeres⸗ und
Flußarme füllen sich bis an den Rand der Deiche. Das Schiff, auf
dem wir etwa fahren, hebt sich mächtig in die Höhe, und wir schauen
hinweg über die Dämme ins Innere des tiefen und niedrigen Landes.
Seichte Gräben werden selbst für große Schiffe fahrbar. Alle Schiffe,
welche die Ebbe auf den Sand setzte, und die, schief auf die Seite ge—
neigt, traurig dalagen, richten sich gemach wieder empor und erheben
sich allmählich wie arme Kranke, die man der frischen Luft zurückgab.
Endlich lösen sie sich völlig aus dem klebrigen Boden und schweben
beweglich und schwankend empor auf dem klaren Elemente wie flüch⸗
tende Enten, die vom unbequemen Festlande auf den glatten Teich
sich gerettet. Nun wird in allen Häfen und an allen Ufern gerüstet.
Schiffe aller Größen und Arten spannen die Segel auf, lösen sich
vom Strande und tragen ihre Reisenden und ihre Waren von Ufer zu
Ufer. Auch die großen Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme
den Augenblick der Fluthöhe erwarteten, ziehen landeinwärts und
schwimmen mit gebauschten Segeln und vollem Wasser in die sicheren
Tore des Festlandes ein.
Die Ebbe gewährt ein noch anziehenderes Bild als die Flut. Da
liegt das arme Schiff gestrandet am Ufer und erweckt unser Mitleid.
Da kriecht das arme Volk der Küstenstädte, die zerlumpten Kinder und
die armen Muschelsammler und Krabbenfänger, hervor und schleicht an
den Bollwerken der Häfen herum, an denen seine Ernte gereift ist,
nämlich die Muscheln, die das Meer hier säete und pflanzte. Mit der
Flut ist nur der Reiche und Glückliche im Bunde, der seine stolzen
Schiffe auf ebener Bahn entsendet. Die Ebbe enthüllt aber auch eine
Menge Geheimnisse der Tiefe, welche die Flut mit Wasser überzieht.
Da kommen die hübschen Muscheln und die Ungetüme des Meeres
zutage, die sich bei Eintritt der Ebbe versäumten. Da sieht man
die versandeten Wracks und Balken der ehemals gestrandeten Schiffe;
da zeigen sich im Sonnenscheine die Korallen und Kräuter, die in der
dunklen Tiefe des Meeres wachsen. Selbst in der Luft herrscht zur
Zeit der Ebbe regeres Leben, denn die Vögel machen sich heran, um
der Ebbe zu folgen. Auch sie finden ihre Tafel auf den Sandbänken
reichlich gedeckt. Die Strandläufer, die Möwen, selbst die Schnepfen
und Störche flattern oder wandeln am Strome oder auf den entblößten
Lagunen (Untiefen), um auf das Seegewürm Jagd zu machen.
Während der Flutzeit, die ihnen einen Teil ihrer Nahrung entzieht,
sitzen sie dann ruhig am Lande, auf den Wiesen, hinter den Deichen,
um der Verdauung zu pflegen.
Kohln
180. über Berg und Tal.
J.
In der Heimat ist es doch gar zu schön, wo jeder Baum uns als
alter Bekannter grüßt, jeder Weg und Steg uns bekannt ist und
Wald und Flur auf Schritt und Tritt mit all ihren Reizen uns an—
lachen. Und wenn Fremde sie auch nicht schön finden, — sie kennen
sie nicht; wir aber wissen's, die wir da geboren sind, du und ich. Doch
„jenseit des Berges wohnen auch Leute“, sagt das Sprichwort; denn
die Welt ist groß, und an vielen Orten auf Gottes weiter Erde ist's
schön, oft sehr schön, und wahr ist es deshalb auch, was wir singen:
„Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
den schickt er in die weite Welt,
dem will er seine Wunder weisen
in Berg und Wald und Strom und Feld.“
Darum reisen wir auf Tage oder Wochen auch einmal in fremde
Gegenden, um sie kennen zu lernen und uns an ihren Schönheiten zu
erfreuen. Aber dann zieht es uns wieder nach der Heimat zurück, wo
unsre Lieben uns erwarten und nun von uns hören wollen, wie's in
der Fremde war. Denn wer gereist ist, der kann und muß daheim
erzählen, und wer viel will erzählen können von Land und Leuten,
der muß reisen, „ein Sträußchen am Hute, den Stab in der Hand“.
Das wußte schon Herr Urian, als er seinerzeit um die Welt reiste;
daher beginnt er denn auch seinen Reisebericht:
„Wenn einer eine Reise tut,
so kann er was erzählen;
drum nahm ich meinen Stock und Hut
und tät das Reisen wählen.“
So wollen auch wir denn heute einmal eine Reise machen,
heraus aus den engen Grenzen unserer Heimat und hinein in die
weiten Gaue unsers deutschen Vaterlandes über „Berg und Wald und
Strom und Feld“ Aber wohin? Wir können doch nicht auf einer
Reise gleich alles sehen und durchwandern wollen? Nun wohl, heute
nach Süden, ein andermal nach Osten, Westen, Norden.
Wenn wir von unserer Heimat im norddeutschen Tieflande,
zwischen der unteren Elbe und Weser südwärts wandern, treffen wir
bald auf das hannoversche Bergland. Vom Harz an, seinem gewal—
tigen südöstlichen Eckpfeiler, dehnt es sich in nordwestlicher Richtung zu—
nächst als Leine-, dann als Weser- und zuletzt als Ems-Hase-Bergland
205
aus. Mit Ausnahme des Harzes bleiben alle seine Höhen unter
der 600 m-Grenze. Es sind Bergrücken, Bergkuppen und Hoch—
flächen, welche von herrlichen Laub- und Nadelwäldern bedeckt sind,
und auf denen hier und da Ruinen alter Schlösser und Burgen
emporragen. Aber auch Bauwerke neuester Zeit krönen vielfach die
höchsten Punkte der Berge. Meistens sind es Aussichtstürme, von denen
aus man hinwegschaut über Berg und Tal, oft bis in weite Fernen,
und hinunter blickt man von ihnen in die fruchtbaren Täler und
Kessel zwischen den Gebirgen und Bergen, wie sie von Flüssen gleichwie
von silbernen Bändern durchzogen werden und von Dörfern und
Städten inmitten grünender Weiden und Fluren übersät sind. In
dieses schöne Bergland an den Ufern der Leine und Weser und vieler
anderer Flüsse also gelangen wir auf unserer Wanderung nach dem
Süden; aber wir können es auf einer Ausfahrt nicht gut ganz durch—
wandern und nehmen deshalb nur einen Teil desselben als unser Ziel,
zwei seiner schönsten und denkwürdigsten Punkte.
IL.
Wir sind von den Eisenbahnstrecken Hamburg-Hannover oder
Bremen⸗Hannover aus über Wunstorf nach Minden an der Weser
gefahren. Schon vor dieser Stadt sahen wir vom Zuge aus im
Süden lange Bergrücken aufsteigen; es ist die hier westwärts ziehende
Kette des Wesergebirges. In Minden wendet sich unser Zug direkt
nach Süden; wir fahren gerade auf das Gebirge zu. Es scheint sich
in einem mächtigen Tore zwischen seinem westlichen und östlichen
Flügel für unsere Durchfahrt öffnen zu wollen. Immer näher kommt
die hier durchbrochene Gebirgskette, immer höher wird sie, und immer
weiter wird die Pforte, welche uns durchlassen will. Noch einige
Augenblicke, und der Zug hält. Wir sind in Porta, einer Station
gerade da, wo die Weser ihren Weg quer durchs letzte Gebirge an
ihren Ufern erhalten hat, um dann ruhigen Laufes durchs nord—
deutsche Tiefland zu strömen. Im Lande der alten Westfalen liegt
dieser Punkt, daher sein Name: Westfälische Pforte. Jäh fällt zu
beiden Seiten der Bergzug nach dem Ufer der Weser hin ab, rechts
der Jakobsberg, links der Wittekindsberg, jener kaum 200 und dieser
noch nicht 300 m hoch über dem Meeresspiegel, und beide auch nicht
als besondere Spitzen aus dem ganzen Gebirge hervorragend, Berge
also nur von der Porta aus. Unser Zug fährt am rechten Weser—
ufer, also am Jakobsberge durch die Pforte hindurch; kaum hat er
Platz, zwischen Berg und Strom dahinzukommen. Doch wir sind hier
an unserm ersten Reiseziel und steigen aus.
206
Wir besteigen zunächst den steil aufstrebenden Jakobsberg. Unter—
wegs sehen wir, wie Steinbrecher tiefe Höhlen in den Berg gebrochen
haben und noch immer weiter in ihn vordringen. Sie gewinnen hier
einen vorzüglichen Sandstein zum Bau von Kirchen und Häusern
oder auch für andere Zwecke. Oben angekommen, betreten wir vor—
sichtig den fast senkrecht zur Weser abfallenden Felsen der Jakobsklippe
und halten von hier aus Umschau. Ein herrlicher Ausblick! Tief
unter uns die durch die Porta dahinflutende Weser. Zwischen Bergen
kommt sie aus dem Süden durch lachende Wiesen und Felder daher—
gezogen, und im weiten Tieflande verliert sich ihr Lauf nach Norden
zu. Wir erheben jetzt unsern Blick zu dem uns gegenüberliegenden
Wittekindsberge, den herrlichster Buchenwald vom Fuße bis zur Höhe
wie ein wallender grüner Mantel umkleidet. Aus diesem Waldes—
dome erhebt sich gerade vor uns turmhoch ein Denkmal Kaiser
Wilhelms J. Die Westfalen haben es ihm zu Ehren hier an dem
Eingangstore von der norddeutschen Tiefebene ins deutsche Gebirgs—
land errichtet. Das Denkmal ist so gewaltig groß, daß wir von
unserm mehr als 2 km entfernten Standorte aus sehen können, wie
der Kaiser, unter dem Kronentempel des Denkmals als einem riesen—
zroßen Baldachin stehend, ostwärts ins Herz unsers Vaterlandes
blickt, die eine Hand auf das siegreiche Schwert gestützt, die andere, sein
Volk segnend, erhoben, ein starker Schirmherr des Friedens. Auf
dem Wittekindsberge steht das Denkmal. Der Name erinnert uns
an alte Tage, an den tapferen Sachsenherzog Wittekind, an Karls des
Großen Kämpfe mit unsern alten Vorfahren. Aber noch weiter
zurück in die Vergangenheit werden unsere Gedanken von unserer
Stätte aus geleitet. Wir wenden unser Auge vom Wittekindsberge
ab nach Südwesten und erblicken fern am Horizonte die Linien
eines anderen Gebirgsrückens. Es ist der Teutoburger Wald. Um
ihn klarer zu erkennen, nehmen wir ein Fernrohr zur Hand. Obwohl
das Gebirge 5 bis 6 Meilen weit von uns entfernt ist, erblicken wir
jetzt durch das Fernrohr auf einer höheren Kuppe des Gebirges, der
Grotenburg in der Nähe von Detmold, die Umrisse eines andern Denk—
mals, des Hermannsdenkmals im Teutoburger Walde zur Erinnerung
an den Sieger über die Römer im Jahre Nn. Chr. Diesem Denk—
male gilt unsere weitere Reise. Noch einen Blick um uns auf die
schöne Landschaft, und wir steigen den Jakobsberg hinunter. Der
Zug, welcher uns aus Porta nach Detmold führen soll, kommt in—
dessen erst in gut 2 Stunden an; wir haben daher noch Zeit genug,
über die Weserbrücke zu schreiten und den Wittekindsberg zu be—
steigen, um das Kaiserdenkmal auch aus unmittelbarer Nähe zu be—
207—
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trachten. Von den großen Terrassen vor demselben aus blicken wir
hinauf zum eigentlichen Denkmal und gewinnen nun erst einen voll—
ständigen Eindruck von seiner gewaltigen Größe.
Hermannsdenkmal im Teutoburger Walde zur Erinnerung an den Sieg
über die Römer im Jahre 9n. Chr.
II
Detmold! Aussteigen! — Entschuldigen Sie, mein Herr; können
Sie uns nicht den nächsten Weg zum Hermannsdenkmal zeigen? —
Gehen Sie nur diese Straße entlang und fragen Sie dann wieder
jemanden! — Sonderbar, schon stundenweit vor Detmold sahen wir
den Hermann, und jetzt, kaum eine Stunde von ihm entfernt, ist
er verschwunden. Die Grotenburg hat ihn mit ihren Waldungen
eingehüllt. Nach etwa einstündigem Bergsteigen zeigt uns ein Gast—
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
209
14
209 —
hof auf dem Berge die Nähe des Denkmals an, aber noch immer
entzieht der Wald dasselbe unsern Blicken. Wir folgen jetzt einem
Pfad rechts am Gasthof vorbei und gelangen bald an eine lange, nach
dem andern Ende hin ansteigende Waldbahn, welche von hohen Tannen
eingefaßt ist. An unserm Ende der Bahn dicht vor uns steht ein
kaum mannshoher einfacher Stein mit einem Bildnis aufder Vorderseite.
Wir treten neugierig näher und sehen, daß es unsern großen ersten
Reichskanzler, den Fürsten Bismarck, darstellt. Was will der hier?
Wir folgen dem Blick seiner Augen und erhalten Antwort; er schaut
bewundernd und ernst hinauf zu dem Denkmal des großen deutschen
Helden aus alten Tagen, welches auch wir jetzt am andern Ende der
Waldbahn erblicken. Unser Bild zeigt es uns. Auf großem kuppel—
förmigen Unterbau erhebt sich in gewaltiger Größe die Gestalt Her—
manns 19 m hoch, ein mehr als 7 m langes Schwert in der erhobenen
Rechten emporstreckend und, die Linke gestützt auf den starken Schild,
als ein treuer Wächter über des Vaterlandes Freiheit nach Welsch—
land hinüberschauend. Das ganze Denkmal hat eine Höhe von über
50 m. An der Waldbahn sehen wir auch noch die einfache Bauhütte
des Bildhauers Ernst von Bandel, des Schöpfers des Hermanns—
denkmals, seines Lebenswerkes. Nach jahrzehntelangem Mühen konnte
er sein Werk im Jahre 1875 vollenden und in Gegenwart Kaiser
Wilhelms J. enthüllen als eine Gabe an das deutsche Volk, eine
Mahnung an uns,
„zu leben und zu sterben fürs heil'ge Vaterland“.
Wir kehren zurück. Wir haben genug geschaut. Der eilende
Zug führt uns der trauten Heimat wieder zu. Aber immer wieder
ruft die Erinnerung die geschauten schönen Landschaften unsers Vater—
landes in uns wach, und sinnend gedenken wir noch manchmal der
großen Männer unsers Volkes, deren Denkmalsstätten im Weser—
und Ems-Berglande wir besuchten. Heinrich Brammer.
181. Der Rosenstock zu Hildesheim.
Vor mehr als tausend Jahren war dort, wo jetzt die Stadt Hildes—
heim liegt, ein unermeßlich großer Wald, in welchem Kaiser Ludwig
der Fromme gern jagte. Eines Tages war der Kaiser wieder mit
seinem Jagdgefolge zu Holze gefahren und verfolgte hitzig einen
weißen Hirsch. Der Kaiser hatte das schnellste Pferd und die schnellsten
Hunde, aber noch schneller war der Hirsch; der lief über Berg und
Tal, sprang in die Innerste und schwamm durch. Der Kaiser, immer
hinterdrein, sprang auch ins Wasser, verlor aber dabei sein Pferd
2
72*
211
und seine Hunde. Der Hirsch entkam, und der Kaiser schleppte sich
müde und matt noch eine Strecke weiter unter einen hohen Baum,
um auszuruhen.
Da lag nun der verirrte hohe Herr mutterseelenallein in der
Wildnis; er stieß in sein Jagdhorn, um das Gefolge herbeizurufen,
aber alles Blasen und Rufen war vergebens; er erhielt keine Ant—
wort, denn sein schnelles Pferd hatte ihn meilenweit von den Be—
gleitern fortgetragen. Da wurde es dem Kaiser doch recht bang ums
Herz; er nahm von seiner Brust ein goldenes Kreuz an kostbarer
Kette, hing es vor sich an einen wilden Rosenstrauch und betete
davor inbrünstig, daß ihn Gott doch nicht hier in der Wildnis ver—
kommen lassen, sondern am Leben erhalten und wieder zu Menschen
führen möchte. Gleich darauf fiel der Kaiser in einen tiefen Schlaf,
und als er wieder erwachte, sah er zu seiner großen Verwunderung
vor sich den Platz mit Schnee bedeckt, während ringsumher alles in
grüner Sommerpracht stand; auch das Kreuz, welches er in den
Rosenbusch gehängt hatte, war darin festgefroren, und dennoch blühten
am Busch die Rosen weit schöner und voller, als sie vorher geblüht
hatten. Da merkte der Kaiser, daß Gott hier ein Wunder getan habe,
und gelobte, auf der Stelle, wo der „heilige Schnee“ gefallen war,
eine Kirche zu bauen. Noch sann er über diesen frommen Vorsatz
nach, als Hundegebell und Waldhörner durch den Wald erklangen;
sein Jagdgefolge kam herbei und war hocherfreut, den Herrn gesund
und frohgemut wiederzufinden. Nun erzählte der Kaiser, welchen
Wink ihm Gott gegeben habe, und befahl, auf der heiligen Stätte
sofort eine Kapelle zu bauen; der wilde Rosenstock aber, an dem das
Kreuz gehangen habe, solle nicht fortgenommen werden. So geschah
es: es entstand als das erste Gebäude von Hildesheim die kleine
Kapelle am Dom, die noch heute steht. Auch der Rosenstock grünt
und blüht noch heute an der uralten Mauer. Karl Seifart.
182. Der Bergmöneh im Harz.
Zwei Bergleute arbeiteten immer gemeinschaftlich. Linstmals,
als sie an ihren unterirdischen Arbeitsplatz kamen, sahen sie, dab
sie nicht genug Ol zu einer Schicht auf den Lampen hatten. „Was
fangen wir da an?“ sprachen sie miteinander, „geht uns das Ol
aus, so dah wir im Dunkeln sollen zu Tag fahren, sind wir gewiß
unglücklich, da der Schacht schon geführlich ist. Fahren wir aber
jetzt gleich aus, um von Haus Ol zu holen, so straft uns der Steiger
und das mit Lust, denn er ist uns nicht gut.“ Wie sie also be—
14*
212
sorgt standen, sahen sie ganz fern in der Strecke ein Licht, das
ihnen entgegenkam. Anfangs freuten sie sich; als es aber näher
kam, erschraken sie gewaltig, denn ein ungeheurer, riesengrober
Mann ging ganz gebückt in der Strecke herauf. Er hatte eine
grobe Kappe auf dem Kopf und war auch sonst wie ein Mönch
angetan, in der Hand aber trug er ein mächtiges Grubenlicht.
Als er bis zu den beiden, die in Angst da stillstanden, geschritten
war, richtete er sich auf und sprach: „Fürchtet euch nicht, ich
will euch kein Leids antun, vielmehr Gutes,“ nahm ihre Lampe
und schüttete Ol von seiner Lampe darauf. Dann aber ergriff er
ihr Arbeitsgerät und arbeitete ihnen in einer Stunde mehr, als sie
selbst in der ganzen Woche bei allem Fleiß herausgearbeitet
hätten. Nun sprach er: „Sagt's keinem Menschen je, daß ihr mich
gesehen habtl“ und schlug zuletzt mit der Faust links an die Seiten-
wand; sie tat sich auseinander, und die Bergleute erblickten eine
lange Strecke, ganz von Gold und Silber schimmernd. Und weil
der unerwartete Glanz ihre Augen blendete, so wendeten sie sich
ab; als sie aber wieder hinschauten, war alles verschwunden.
Hätten sie ihre Hacke oder sonst irgend nur einen Teil ihres Werk-
zeuges hineingeworfen, so wäre die Strecke offen geblieben und
ihnen viel Reichtum und Ehre zugekommen; aber so war es vor—
bei, wie sie die Augen davon abgewendet.
Doch blieb ihnen auf ihrer Lampe das Ol des Berggeistes,
das nicht abnahm und darum noch immer ein grober Vorteil war
Aber nach Jahren, als sie einmal am Sonnabend mit ihren guten
Preunden im Wirtshaus zechten undl sieh lustig machten, erzählten
sie die ganze Geschichte, und am Montagmorgen, als sie einfuhren,
war kein Ol mehr auf der Lampe, und sie mubten nun jedesmal
wieder wie die andern frisch aufschütten. Brüder Grimm.
183. Die Roßtrappe.
Wo die Bode bei Thale aus dem Harz tritt, fällt das Gebirge
in senkrechten Felswänden zu ihrem tiefen Bette ab. Die Felsen am
rechten Ufer bilden oben den Hexentanzplatz, die der linken Seite die
Roßtrappe. Auf dem Hexentanzplatze haben nach alter Sage in
früheren Zeiten die bösen Geister des Gebirges, die Hexen, ihre
Tänze aufgeführt; von der ihm gegenüberliegenden Roßtrappe aber
gibt es folgende Sage.
Vor tausend und mehr Jahren war das Land rings um den
Harz von Riesen bewohnt. Einer derselben, Bodo, warb um die
Tochter eines Königs in Böhmen. Aus Furcht vor des Riesen Macht
und Stärke willigte der König ein. Emma, die Königstochter, wollte
aber eines andern Frau werden, der aus dem Stamme der Menschen
war, und den sie sehr lieb hatte, daher widersetzte sie sich dem Ritter
Bodo und dem Willen ihres Vaters. Da wollte der König Gewalt
gebrauchen und setzte die Hochzeit gleich auf den nächsten Tag fest.
Mit weinenden Augen klagte Emma das ihrem Geliebten und ver—
einbarte mit ihm schnelle Flucht in der kommenden finsteren Nacht
auf des Riesen eigenem Pferde. Des Riesen ungeheurer Rappe stand
in einem für ihn besonders erbauten Stalle. Er lag an einer ge—
waltig dicken Kette, die ihm als Halfter diente und mit einem großen
Schlosse verwahrt war, dessen Schlüssel der Riese bei sich trug. Die
Nacht kam. Die Prinzessin Emma und ihr Geliebter waren zur
Flucht bereit. Letzterer stellte eine Leiter an den sechs Ellen hohen
Rappen des Riesen und hieß die Königstochter aufsteigen. Dann
zerhieb er die Kette mit seinem Schwerte und schwang sich selbst
hinten aufs Roß. Von den Sporen getrieben, flog nun der Rappe über
Berge, Klippen und Wälder durch Thüringen in die Gebirge des
Harzes. Die kluge Jungfrau hatte ihre Kleinodien mitgenommen,
dazu ihres Vaters goldene Krone aufs Haupt gesetzt.
Während die Königstochter mit ihrem Geliebten floh, fiel's dem
Riesen ein, in der Nacht auszureiten. Der Mond schien hell, und er
stand auf, sein Roß zu satteln. Erstaunt sah er den Stall leer. Es
gab Lärm im Schlosse, und als man die Königstochter aufwecken
wollte, war auch sie verschwunden. Ohne sich lange zu besinnen,
bestieg der Bräutigam das erste beste Pferd und jagte über Stock
und Block. Ein großer Spürhund witterte den Weg, den die Ge—
flohenen genommen hatten. Nahe am Harzwalde kam der Riese hinter
sie. Da hatte aber auch die Jungfrau den Verfolger erblickt, wandte
den Rappen flugs und sprengte waldein, bis der Abgrund, in welchem
die Bode fließt, ihren Weg durchschnitt. Angstvoll blickte Emma in die
Tiefe; denn mehr als tausend Fuß ging senkrecht die Felsenmauer
hinab. Tief unten rauschte der Strom und kreiste in furchtbaren
Wirbeln, und der entgegenstehende Fels schien so fern. Der Rappe
stutzte einen Augenblick; da stößt sie ihm mutig die Sporen in die
Seite, und das Roß springt über den Abgrund glücklich auf den
gegenüberliegenden Felsen und schlägt seinen Huf vier Fuß tief in
das harte Gestein, daß die Funken stieben. So entstand die Roß—
trappe, welche dem Fremden noch jetzt auf dem Felsen gezeigt wird.
Emma war nun gerettet; aber die zentnerschwere Königskrone
fiel während des Sprunges von ihrem Haupte in die Tiefe. Bodo
213
214 —
wollte gleichfalls den kühnen Sprung ausführen, aber er stürzte mit
seinem Pferde in die Strudel des Flusses, der nach ihm jetzt benannt
wurde. Seit der Zeit bewacht Bodo als großer Hund mit glühenden
Augen die Krone im Bette der Bode. Nach Brüder Grimm.
184. Die Kinder zu Hameln.
Im Jahre 1284 lieb sich zu Hameln ein wunderlicher Mann
sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an,
weshalben er Bunting soll geheihen haben, und gab sich für einen
Rattenfunger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die
stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger
wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten
ohn. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifehen heraus und
pfiff; da Kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern
hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum, Als er nun
meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze
Haufe folgte ihim, und so führte er sie an dié Weser; dort schurzte
er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Liere
folgten und hineinstürzend ertranken.
Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute
sie der versprochene Lohn, und sie weigerten ibhn dem Manne
unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging.
Am 26. Juni, auf Johannis und Pauli Tag, morgens früh sieben
Uhr, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschreck
lichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und lieb
seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht
Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom
vierten Jahr an, in grober Anzahl gelaufen, worunter auch die
schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze
sschwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg,
wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kindermädehen ge—
sehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nach—
gezogen war, danach umkehrte und das Gerücht in die Stadt
brachte:. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten
mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jümmer—
liches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu
Wasser und zu Land an alle Orte herumgeschiekt, zu erkundigen,
ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber vergeblich.
Is waren im ganzen hundertunddreißig verloren. Zwei sollen,
wie einige sagen, sich verspäüfet und zurückgekommen sein, wo-
von aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also dab das
blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie
sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort ge⸗
wiesen, ob es gleich nichts gehört. Ein Knäblein war im Hemd
nachgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es
dem Unglück entgangen; denn als es zurückkam, waren die andern
schon in der Grube eines Hügels, die noch gezeigt wird, ver—
schwunden. Brüder Grimm.
185. Mein Vaterland.
Dem Land, wo meine Wiege stand, und freundlich spiegelt Burg und
ist doch kein andres gleich; Dom
es ist mein liebes Vaterland sich in der blauen Flut.
und heißt: das Deutsche Reich. Mein Kaiser aber thront als Held
Wie lieblich sind hier Berg und in tapfrer Heldenschar
Tal, und führt in seinem Wappenfeld
die Wälder, wie so schön, den sieggewohnten Aar.
wie lockend auch im Sonnenstrahl Drum fragt man mich nach
die rebumkränzten Höh'n! meinem Land,
An Städten rauscht vorbei der brennt mir das Herz sogleich,
Strom, und stolz dem Frager zugewandt,
trägt reicher Kaufherr'n Gut, ruf' ich: Das Deutsche Reich!
Julius Sturm.
186. Ein Besuch in den preußischen Königsschlössern
in Potsdam und Umgebung.
Ungemein viel ist von jeher über die Mark Brandenburg ge—
spottet worden. Man nannte sie verächtlich die „Erzstreusandbüchse“
des Reiches. Mit Unrecht. Denn wenn sie auch viele sandige Stellen
zeigt und im ganzen einen einförmigen Eindruck macht, so bietet sie
doch an den vielen Seen und seenartigen Erweiterungen der Havel
und Spree viele Landschaften, die zu den schönsten der norddeutschen
Tiefebene gehören. Das wissen die Berliner am besten, die besonders
des Sonntags die Ufer dieser Gewässer förmlich umlagern. Das
wußten auch die preußischen Könige, als sie in Potsdam und Um—
gegend ihre Sommerschlösser erbauen ließen. Kein Fremder sollte
es versäumen, diesen einen Besuch abzustatten. Wir fahren mit der
Eisenbahn durch den Grunewald nach dem Wannsee, einer see⸗
artigen Ausbuchtung der Havel, die von prachtvollen Landhäusern
215
216
der Berliner Millionäre umsäumt ist. Ein Dampfer führt uns durch
diese paradiesische Gegend nach der Pfaueninsel mit ihrem Schlößchen
und einfachen, aber hübschen Gartenanlagen, in denen Friedrich Wil—
helm III. und Luise so gern mit ihren Kindern verweilten.
Doch wir haben keine Zeit, auszusteigen, und fahren bis zur
Glienicker Brücke, von wo uns ein Weg von 20 Minuten nach
Babelsberg bringt. Auf einem ziemlich hoch über dem Spiegel
der Havel belegenen Hügel ist hier durch die kundige Hand des
Gärtners ein herrlicher Park geschaffen worden, in dessen Mitte sich
das Schloß erhebt. In Hinsicht auf äußere Pracht und innere Aus⸗
stattung wird es von mancher Villa am Wannsee übertroffen. Und
doch ergreift uns ein eigenartiges Gefühl der Ehrfurcht, wenn wir
die einfachen, prunklosen Räume betreten, in denen unser großer
alter Kaiser Wilhelm J. einen großen Teil seines Lebens mit seiner
Gemahlin wohnte, in denen Kaiser Friedrich mit seiner Schwester
spielte; wenn uns der Spazierstock gezeigt wird, den der Kaiser
sich selbst im Parke schnitt, und den er fast ein halbes Jahrhundert
hindurch benutzte. Wir verlassen das Schloß mit dem Bewußtsein,
daß wahre Größe nicht von äußerem Glanze abhängt. Vor dem
Schlosse hat man durch einen Parkeinschnitt einen wundervollen
Blick auf die Havel und das am jenseitigen Ufer liegende Marmor—
palais.
Doch uns treibt es, nach dem Schlosse des großen Kaisers auch
das des großen Königs zu sehen. Deshalb fahren wir mit der
Pferdebahn nach Sanssouci (d. i. Sorgenfrei). Am Eingange des
Parks befindet sich neben der Friedenskirche das Mausoleum Kaiser
Friedrichs, in dem der große Held und edle Dulder, einst Deutsch⸗—
lands größte Hoffnung, mit seiner Gemahlin und zweien seiner Kinder
der Auferstehung entgegenschläft. Nicht weit davon beginnen die
Gartenanlagen Friedrichs des Großen, die sog. Terrassen, die sich
bis zum Schlosse hinziehen. Wiederum sind wir erstaunt, daß der
große König, der halb Europa im Kampfe niederzwang, in diesem
einfachen, einstöckigen, wenn auch künstlerisch schönen Schlosse am
liebsten weilte. Wenige Zimmer genügten dem einsamen Könige.
Am liebsten war er in dem kleinen, aber wunderschönen Bibliothek—
zimmer unter seinen Büchern, oder er spielte auf dem langen Gange
Flöte oder saß auf der obersten Terrasse, umspielt von seinen Wind—
hunden, und sah der scheidenden Sonne nach. Ein schönes Marmor—
denkmal in einem der Zimmer erinnert daran, daß hier Preußens
größter König starb. Dicht beim Schlosse steht noch heute die Wind—
mühle, die der damalige Besitzer dem Könige nicht verkaufen wollte.
217
Durch schöne Parkanlagen führt uns ein kurzer Spaziergang nach
dem „Neuen Palais,“ das ebenfalls von Friedrich dem Großen erbaut
wurde. In diesem Schlosse wohnt unser jetziger Kaiser mit seiner
Familie während der Sommermonate. Die kaiserlichen Gemächer
dürfen wir nicht betreten, dafür erfreuen wir uns an der eigenartigen
Pracht des Muschelsaales, dessen Wände von Muscheln und kostbaren
seltenen Steinen aller Art erglänzen. Vom Neuen Palais gelangen
wir in kurzer Zeit zum Potsdamer Stadtschloß. Seine Räume
erzählen dem Beschauer ein gutes Stück preußischer Geschichte vom
Großen Kurfürsten an. Ein Blick aus dem Fenster zeigt uns den
Lustgarten, der seit Friedrich Wilhelm J. als Exerzierplatz benutzt
wird. Nicht weit vom Schlosse steht eine Linde, die im Volke die
„Bittschriftenlinde“ heißt, weil sich hier regelmäßig die Leute auf—
stellten, die Friedrich dem Großen eine Bittschrift überreichen wollten.
Doch wir müssen Abschied nehmen und kehren mit der Eisenbahn
nach Berlin zurück, voll von Bewunderung über die Einfachheit der
großen preußischen Herrscher und gestärkt in der Liebe zu unserm
teuren Herrscherhause. Hermann Koch.
187. Aus dem Reiche Rübezahls.
Wer bei Hamburg den mächtigen Elbstrom überschaut, wie er
in dem weiten Flußbett seine gewaltigen Wassermassen langsam zum
Meere wälzt, der ahnt wohl, daß so ein Fluß eine lange Reise hinter
sich haben muß. Ja, wenn die Elbe erzählen könnte, was sie auf
ihrer weiten Fahrt alles vom deutschen Vaterlande gesehen hat, es
müßte das eine lange hübsche Geschichte werden. Das Merkwürdigste
aber ist ihr, als sie noch ein ganz kleines Flüßchen war, im Reiche
Rübezahls, oben am Riesengebirge passiert. Dort vollbringt sie ein
Kunststück, das wir uns an Ort und Stelle einmal anschauen müssen.
Um ins Riesengebirge zu gelangen, fahren wir mit der Eisenbahn
über Berlin, oder auch über Magdeburg, Leipzig, Dresden nach
Hirschberg in Schlesien; in etwa 12 Stunden sind wir am Ziel.
Wir übernachten in Hirschberg und machen uns am andern Morgen
rechtzeitig auf den Weg. Da liegt das Gebirge wie eine gewaltige
Mauer vor uns. Kannst du bergsteigen? Nun, dann vorwärts!
Zuerst geht's immer im Tannenwalde bergan. In der Ferne
ertönt zuweilen die Axt des Holzhauers, oder ein Vöglein zwitschert
im Dickicht, sonst ringsum tiefe Stille. Wir bleiben einen Augenblick
stehen und ruhen aus; dann geht's wieder frisch aufwärts. Halt, was
kommt uns da vom Gebirge herunter entgegen! Ein Wagen? Nein,
ein Schlitten ist's, ein Schlitten mitten im Sommer! und ein Schimmel
233
davor. Auf dem Schlitten liegt ein leeres Bierfaß, und auf dem
Faß sitzt der Fuhrmann. Er kommt von der Schneegrubenbaude,
das ist ein Gasthaus für Touristen oben auf dem Kamm des Ge—
birges. Seht doch, wie der Schimmel seine Last gemächlich zutal
gleiten läßt. Armer Schimmel, wie wird dir's nachher mit dem
vollen Faß bergan gehen! Zwei Stunden steigen wir nun bereits;
der Wald hat aufgehört. Zwischen riesigen Felsblöcken und dichtem
Kieferngestrüpp geht's noch eine Viertelstunde aufwärts, und wir
haben den Kamm des Gebirges erreicht. Wir sind im Reiche Rübe—
zahls. So nennen die Leute spottweise den Herrn des Riesengebirges,
der gewöhnlich in seinem unterirdischen, dunklen Reiche lebt, wo die
Erdgeister seine ungeheuren Schätze bewachen. Dort wandert er von
Höhle zu Höhle und freut sich seines Reichtums. Manchmal aber kommt
er auch auf die Oberwelt und treibt sein Wesen auf dem Gebirge.
Er liebt es dann, die Menschen auf allerlei Weise zu necken, oder sich
ihnen auch hülfreich zu erweisen. Er ist nämlich ein eigener Kauz:
bald launisch, schadenfroh und grob gegen den, der ihn bei seinem
Spottnamen ruft, dann aber auch wieder sehr gutmütig und edel; in
einem Augenblick ganz weich von Herzen und im andern so hart wie
Stein; heute ist er dein Feind, morgen dein Freund, wie's ihm gerade
einfällt. — Heute aber ist der Berggeist bei guter Laune. Sein Gebirge,
das er oft genug in dichten Nebel hüllt, liegt in hellem Sonnenschein
vor uns. Von nah und fern ertönt das liebliche Geläut der Herden—
glocken. Überall auf den Bergwiesen grasen bunte Kühe, die sich die
saftigen Gräser und kräftigen Bergkräuter wohlschmecken lassen. Der
Hirt sitzt dort oben auf einem Felsblock und bläst die Flöte. Den
ganzen Sommer über, der hier oben freilich nur etwa vier Monate
dauert, bleibt die Herde draußen. Wenn aber im Oktober die ersten
Schneestürme über den Kamm brausen, treibt der Hirt sie heim. Die
Gebirgsbewohner leben hier nicht in Dörfern beieinander, sondern
wohnen in zerstreut liegenden Häusern, die man Bauden nennt. So
eine Baude, die niemals auf dem Kamme, sondern immer an irgend
einer geschützten Stelle am Abhange steht, ist gewöhnlich aus Steinen
erbaut und mit Schindeln gedeckt. Sie enthält die nötigen Wohn—
und Schlafräume für die Familie des Besitzers, Küche, Keller und
Stallungen für das Vieh.
Aber wir wollten doch die Elbe aufsuchen. Richtig, da müssen
wir aber erst noch eine Strecke auf dem Kamme weitergehen. — Sieh,
dort unten rechts am Abhang auf der Elbwiese liegt ihre Quelle.
Ein schmaler Fußpfad führt hinab an ihre Wiege. Kaum ist sie
dem Schoß der Erde entsprungen, so hüpft und tanzt sie hurtig den
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219
Berg hinab. Plötzlich kommt sie an den Rand einer ungeheuren
Schlucht. — Was soll sie tun? Sie faßt sich ein Herz und wagt den
kühnen Sprung in den 50 m tiefen Felsenkessel hinein. O wie das
da unten braust und schäumt und spritzt! Wahrlich, ein feines Kunst—
stück, das ich ihr nicht nachmachen möchte. Schnell sammelt sie in der
Tiefe ihre Wasser und eilt von dannen. Wir wünschen ihr Glück zu
ihrer weiten Reise, tragen ihr einen Gruß auf an die Heimat und
wenden . uns wieder dem Kamme zu.
Wir sind müde von unserer langen Wanderung. — Dort steht
eine Baude am Wege. Wir treten ein und bitten um Nachtquartier.
Der freundliche Wirt ist gern bereit, uns zu beherbergen. Oben
auf dem Heuboden will er uns eine Lagerstatt bereiten. — Morgen
steigen wir noch auf die Schneekoppe, und dann geht's heim. Aber
noch ist's zu früh, das Nachtlager aufzusuchen. Wir setzen uns im
Wohnzimmer mit den Baudenbewohnern um den großen Kachel⸗
ofen, der auch im Sommer geheizt wird, und die alte Großmutter
im Lehnstuhl erzählt uns folgende hübsche Geschichte von Rübezahl:
Bauer Veit.
Unten im Gebirge lebte einmal ein Bauer namens Veit in großer
Not. Durch Unglücksfälle war er immer tiefer in Schulden geraten,
und ein hartherziger Gläubiger hatte ihm die letzte Kuh aus dem
Stalle geführt. Was sollte er nun mit den Seinigen anfangen?
Fünf Kinder saßen daheim und hungerten, und er konnte ihnen nicht
einmal ein Stücklein Brot geben. Da sprach sein Weib: „Drüben
jenseit des Gebirges, im Böhmerland, hab' ich noch Verwandte wohnen.
Die sitzen gut in der Wolle, haben einen schuldenfreien Hof und im
Stalle eine Reihe schöner Kühe und zwei blanke Pferde. Weißt du
was, mach dich auf und erzähle ihnen unsere Not. Sie werden dir
gewiß für einige Jahre hundert Taler leihen.
Der Mann war's zufrieden und machte sich andern Tages in
aller Frühe auf den Weg. Nach langem Marsch kam er endlich müde
und hungrig auf dem Hofe an, bestellte die Grüße seiner Frau und
brachte sein Anliegen vor. Aber da hättet ihr die langen Gesichter sehen
sollen, die die Verwandten machten. Zuerst erwiderten sie kein Wort,
räusperten sich und husteten verlegen; dann aber sagte der Mann rund
heraus: Nein, er habe sein Geld auch nicht auf der Straße gefunden;
Veit möge nur ordentlich arbeiten, dann würde er sich schon selber
helfen können. Damit verließ er die Stube und schlug die Tür hinter
sich zu. Dem armen Veit blieb nun nichts anderes übrig, als sich auf
den Heimweg zu machen.
—2.) —
„Was werden meine armen Kinder sagen, wenn ich nichts mit—
bringe!“ dachte er bei sich, und es schnürte ihm das Herz zusammen,
wenn er an ihren Hunger dachte. „O Gott!“ rief er verzweislungs—
voll aus, „ist denn niemand, der unser Elend sieht und uns beisteht?“
Da plötzlich fiel ihm etwas ein. „Halt,“ dachte er, „du bist hier oben
im Reiche Rübezahls; wie wär's, wenn du ihn um Hülfe ansprächest.
Er hat doch schon so vielen in der Not beigestanden. Gedacht, ge—
tan. Mit lauter Stimme rief er dreimal: „Rübezahl! Rübezahl!
Rübezahl!“
Da stand der Berggeist in Riesengestalt vor ihm und rief mit
Donnerstimme: „Was willst du, Wicht? Wie kannst du mich bei diesem
Namen rufen?“ „Ach Herr, verzeiht,“ sprach Veit zitternd, „wenn
ich Euch nicht beim rechten Namen genannt habe, ich wußte eben keinen
andern; und bin doch in so großer Not.“ „Was willst du denn?“
sprach Rübezahl. Da erzählte der ehrliche Veit sein ganzes Unglück,
und wie er bei den Verwandten seiner Frau Hülfe gesucht habe, aber
schmählich von ihnen abgewiesen worden sei. „Lieber Herr,“ fuhr
er fort, „Ihr habt schon so manchem unglücklichen Menschenkinde
geholfen, helft doch auch mir und leiht mir für drei Jahre hundert
Taler. Pünktlich sollt Ihr sie samt Zinsen zurückerhalten. Denkt
an mein armes Weib und an meine hungernden Kinder!“
Da sprach Rübezahl: „Komm, folge mir!“ Nun gingen sie
miteinander tiefer ins Gebirge und standen bald vor einer dunklen
Höhle. Rübezahl zündete eine Fackel an und dann traten sie ein.
Weit, weit führte die Höhle in den Berg. Wohl eine halbe Stunde
mochten sie gegangen sein, da kamen sie an ein mächtiges eisernes
Tor. Der Berggeist zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete das
Tor und schritt hinein. Geblendet schlug Veit die Augen nieder; denn
von den Wänden, von der Decke, von allen Seiten blitzte und funkelte
es von Gold und Edelsteinen. Im Hintergrunde aber stand eine
schwere eiserne Kiste. Rübezahl trat hinan, öffnete sie und sprach zu
Veit: „Hier ist Geld, nimm, so viel du tragen kannst; über drei Jahre
kannst du's mir wiederbringen. Ich werde an der Stelle, wo du mich
heute riefest, anzutreffen sein.“ Da langte Veit zu, aber er nahm in
seiner Bescheidenheit nicht mehr, als er nötig hatte, nämlich hundert
Taler. Darauf bat er Rübezahl um Feder und Papier und stellte
ihm einen Schuldschein über das Geld aus. Rübezahl steckte den
Schein lächelnd in die Tasche, begleitete den glücklichen Veit bis an
den Eingang der Höhle und nahm dann freundlich Abschied von ihm.
Nun hättet ihr aber den Veit sehen sollen, wie er dahinschritt!
Das war kein Gehen mehr, das war ein Laufen. Als er sein Heimat—
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— 2454
dorf erreicht hatte, machte er vor einem Kramladen Halt, ging hinein
und kaufte Reis, Zucker und Zimt; denn sein Weib sollte noch heute
abend einen süßen Brei für die Kinder kochen. So bepackt kam er
zu Hause an. Mit Jubel liefen ihm die Kinder entgegen, und sein
Weib sah ihm ängstlich fragend ins Gesicht. „Kommt alle heran an
den Tisch!“ rief Veit und zählte die blanken Taler in langen Reihen
vor den erstaunten Augen der Seinen hin.
„Ja, ja, ich hab's immer gesagt,“ sprach die Frau zu ihrem
Manne, „meine Verwandten drüben im Böhmerland haben ein gutes
Herz und helfen jedem gern.“ Veit ließ sie bei dem Glauben und
sprach lächelnd: „Ja, du hast recht, so eine Verwandtschaft findet
man selten; ich hätte es wahrhaftig nicht geglaubt.“
Bald war der Brei gekocht, und die Mutter trug ihn in einer
großen Schüssel auf den Tisch, streute Zucker und Zimt darauf und
hieß die Kinder beten. Als sie ihr Gebet verrichtet hatten, fuhren
die hungrigen Seelen gar tapfer in die Schüssel. Dem guten Veit und
seinem Weibe liefen die Freudentränen über die Wangen, als sie ihre
Kinder so essen sahen.
Mit Veit ging es von da ab zusehends besser. Es war gerade, als
wenn von dem Gelde unendlicher Segen ausging. Schon nach zwei
Jahren hatte er seine sämtlichen Schulden bezahlt, hatte Kühe und
Pferde im Stalle, und dabei die hundert Taler richtig abgezählt liegen,
um sie zur bestimmten Zeit seinem Gläubiger zurückzuzahlen.
Als endlich der verabredete Tag herankam, ließ Veit seinen Wagen
anspannen und fuhr mit Weib und Kind früh morgens ins Gebirge.
Als sie auf der Höhe angekommen waren, stieg er mit den Seinen
aus und hieß den Kutscher auf der Landstraße warten, bis sie zurück—
kämen. Nun ging's zu Fuß weiter ins Gebirge hinein, der Vater
vorauf, Mutter und Kinder hinterdrein. „Wo willst du nur hin?“
fragte die Mutter den voraneilenden Vater. „Gedulde dich nur,“
erwiderte Veit, „du wirst es bald sehen!“ Endlich kamen sie an den
Ort, wo Veit vor drei Jahren den Berggeist um Hülfe angerufen
hatte. Er blieb stehen und befahl seinen Kindern, die Mützen abzu—
nehmen. Dann aber sprach er: „Was ich bis jetzt verheimlicht habe,
will ich euch nun, hier auf dem Eigentum des mächtigen Berggeistes,
verkünden. Ihr habt bisher alle geglaubt, ich hätte die hundert Taler
von unserer Verwandtschaft in Böhmen erhalten, und wir gingen nun
dorthin, das Geld zurückzubringen. Dem ist aber nicht so. Denn
von den Verwandten habe ich keinen roten Heller erhalten, ja mit
Schimpf und Schande haben sie mich vom Hofe gewiesen. Nein,
Rübezahl, den ich in meiner Not hier anrief, hat mir das Geld gegeben.
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Seht, er ist es gewesen, der uns vom Verderben errettete. Darum
habe ich euch heute alle mitgenommen, daß ihr ihm dankt für alles
Gute; ich aber will ihm die mir geliehene Summe zurückgeben.
Wartet nur, bald wird er erscheinen!“
Aber der Berggeist kam nicht, so lange sie auch warten mochten.
Du mußt ihn wieder rufen, dachte Veit und rief, so laut er konnte:
„Rübezahl! Rübezahl! Rübezahl!“ Aber niemand ließ sich sehen
und hören. Da sprach der Vater tiefbekümmert zu den Seinen:
„Kommt, Kinder, wir müssen heimgehen; Rübezahl will unser Geld
nicht haben.“ So gingen sie denn den Weg wieder zurück, den sie
gekommen waren. Als sie aber die Landstraße betraten, erhob sich
plötzlich ein gewaltiger Sturmwind. Staub und dürre Blätter wirbel—
ten über die Straße, und Fritz, Veits ältester Sohn, rannte den
Blättern nach, um sie zu haschen. Auf einmal sah er ein Blatt Papier,
vom Winde geweht, dahinrollen. Er sprang hinterdrein, ergriff's
und brachte es dem Vater. Was war's? — Der Schuldschein.
Darunter aber stand klar und deutlich geschrieben:
Zu Dank bezahlt. Rübezahl.
Daheim hat Veit den Schuldschein unter Glas und Rahmen
bringen lassen und ihn in der besten Stube über dem Sofa auf—
gehängt zum ewigen Angedenken für Kind und Kindeskinder.
Nach F. Goebel.
188. Was die Kinder aus Thüringen erhalten.
Der Thüringer Wald ist nicht nur das schönste Waldgebirge, der
„Park“ Deutschlands, den Sommerfrischler und andere Reisende gern
aufsuchen, sondern aus den Händen seiner fleißigen Bewohner gehen
auch zahlreiche Erzeugnisse in alle Welt hinaus, die diese Landschaft
zu einer der bekanntesten unseres Vaterlandes machen. Besonders
viel Schönes und Nützliches erhalten die Kinder aus dem Thüringer
Lande.
Am Südende des Thüringer Waldes liegt die Stadt Sonneberg,
der Mittelpunkt der thüringischen Spielwarenindustrie, deren Erzeug—
nisse ihren Weg in alle Weltteile gefunden haben. Hier ist das Wunder—
land für die Freuden der Kinderwelt, denn hier wird das herrliche
Spielzeug geschaffen, das Tausende von Händen aus Holz und Papier,
Glas oder Porzellan, aus Marmor oder Steinen hervorbringen.
Die Spielwarenindustrie wird meist als weitverzweigtes Haus—
gewerbe betrieben, in der Sonneberger Umgegend in mehr als dreißig
Ortschaften. Die Leute arbeiten mit Frau und Kindern in ganz ge—
2
— 223 —
wisser, sich immer gleichbleibender Arbeitsteilung, wodurch allein eine
große Schnelligkeit und die Möglichkeit erzielt wird, gut und zu außer—
ordentlich billigen Preisen zu liefern. So machen z. B. die Schnitzer
die Holzteile zu Puppen, zu Tieren, die Gestelle und Räder für die
fahrenden Spielsachen usw. Andere wieder befassen sich mit der Her—
stellung von Schachteln, Griffel- und Farbenkasten und anderen Be—
hältern aus Holz, in denen die Waren verpackt werden. In und um
Sonneberg sind allein etwa 2500 Frauen und Mädchen mit dem
Nähen von Puppenkleidern, oft nach den neuesten Moden, beschäftigt.
Wie fleißig aber auch alle sind, sie verdienen dennoch wenig, da sie
die Erzeugnisse billig an Fabriken abzugeben haben, welche aus den
fertigen Einzelteilen die Spielzeuge zusammensetzen und sie dann in
alle Welt hinein verkaufen. In diesen Fabriken gibt es alles Er—
denkliche, was das Kindergemüt erfreut: Flinten und Kanonen,
Büchsen, Armbrüste, Blasrohre, Schießscheiben, Instrumente, die ent—
weder Musik oder doch wenigstens Lärm machen, Kaufmannsläden,
Puppen, Puppenstuben, Puppenküchen, Puppenmöbel sowie Holz—
pferde. Dazu kommen noch alle möglichen Tiere mit und ohne
Stimme und viele Millionen Märbeln (Marmeln) aus marmorähn—
lichem Kalk oder Glas. Eine jede Fabrik pflegt allerdings meistens
ein ganz bestimmtes Gebiet der Spielwarenindustrie; häufig stellen
die Fabriken auch schon ihre Spielwaren allein her, ohne Mithilfe
der Hausindustrie. Die Tätigkeit des ganzen Gewerbes drängt sich
auf die Monate vor Weihnachten zusammen; dann wird oft Tag und
Nacht gearbeitet. Nach Weihnachten herrscht Arbeitsstille. Der jähr—
liche Umsatz im Spielwarengeschäft des Sonneberger Gebietes wird
auf über zehn Millionen Mark geschätzt.
Nicht weit von diesem Spielwarenlande entfernt wohnen die
Thüringer Griffel- und Tafelmacher. Der Griffelschiefer wird in
besonderen Schieferbrüchen gewonnen. Der Stein muß leicht spaltbar
und weich sein. Auch beim Griffelmachen müssen alle Familienglieder
mithelfen. Der Vater bricht den Stein, sägt und zerspaltet ihn; das
Runden, Bemalen oder Bekleben und Spitzen besorgen Frau und
Kinder. Eine Griffelmacherfamilie fertigt wöchentlich 12000 bis
15 000 Griffel an; aber auch hier wird wegen des billigen Verkaufs—
preises an die Händler kaum das tägliche Brot verdient. Wie die
Herstellung so vieler Spielwaren im Thüringer Walde ihre Haupt—
ursache in dem Holzreichtum des Gebirges hat, so hängt die An—
fertigung von Griffeln und Schreibtafeln mit dem Vorkommen von
ausgezeichnetem Schiefergestein in seinen Bergen zusammen.
Nach A. Scobel.
5—
2*
224
189. Der Binger Mäuseturm.
Zu Bingen ragt mitten aus dem Rhein ein hoher Turm, von
dem nachstehende Sage umgeht. Im Jahre 974 war große Teurung
in Deutschland, daß die Menschen aus Not Katzen und Hunde aßen,
und doch viele Leute Hungers starben. Da war ein Bischof zu
Mainz, der hieß Hatto der Andere, ein Geizhals, dachte nur daran,
seinen Schatz zu mehren, und sah zu, wie die armen Leute auf der
Gasse niederfielen und bei Haufen zu den Brotbänken liefen und
das Brot nahmen mit Gewalt. Aber kein Erbarmen kam in den
Bischof, sondern er sprach: „Lasset alle Armen und Dürftigen sammeln
in einer Scheune vor der Stadt, ich will sie speisen.“ Und wie sie in
die Scheune gegangen waren, schloß er die Tür zu, steckte mit Feuer
an und verbrannte die Scheune samt den armen Leuten, jung und alt,
Mann und Weib. Als nun die Menschen unter den Flammen wim—
merten und jammerten, rief Bischof Hatto: „Hört, hört, wie die
Mäuse pfeifen!“ Allein Gott der Herr plagte ihn bald, daß die
Mäuse Tag und Nacht über ihn liefen und an ihm fraßen, und ver—
mochte sich mit aller seiner Gewalt nicht wider sie zu behalten und
zu bewahren. Da wußte er endlich keinen andern Rat, als er ließ
einen Turm bei Bingen mitten in den Rhein bauen, der noch heutiges—
tags zu sehen ist, und meinte sich darin zu fristen; aber die Mäuse
schwammen durch den Strom heran, erklommen den Turm und
fraßen den Bischof lebendig auf. Brüder Grimm.
190. Eine Rheinfahrt von Bingen bis Vonn.
Bei Bingen tritt der Rhein in die enge, selbstgeschaffene Scharte,
in der er 100 km, bis Bonn, verbleibt. Wir besteigen in Bingen
einen der prächtigen Rheindampfer, um stromabwärts zu fahren.
Es ist die besuchteste Flußstrecke der Welt. Nachdem wir an dem
sagenberühmten Mäuseturm vorbei und durch das der Schiffahrt
gefährliche „Binger Loch“ gefahren sind, steigen auf beiden Seiten
die Felsen steil hinan, 100, 200, 300 m hoch. Wein- und Obstgärten
decken in großer Menge die Gehänge; oft aber starren uns auch
die nackten Wände entgegen. Altersgraue Ruinen, häufig von Efeu
überkleidet, Schlösser und Villen sind an den Fels gleichsam an—
geklebt oder schauen oben vom Bergrand herab. Stolz thront auf
einem 80 m hoch über dem Spiegel des Flusses gelegenen Felsvor—
sprung, der schroff zum Rheine abstürzt, das Schloß Rheinstein,
in dessen Nähe einst Rudolf von Habsburg ein strenges Gericht über
— 255 —
die Raubritter der rheinischen Burgsitze abhielt. Auf die Fürsprache
eines Mächtigen gab er die Antwort: „Diese sind nicht Ritter, sondern
Räuber und Diebe. Wer die Ehre bricht, soll auch ehrlosen Todes
sterben.“ Am Fuße der Bergwände bleibt mitunter, namentlich am
rechten Ufer, kaum genügend Platz für die Eisenbahn; häufig durch—
bricht diese in langen Tunnels die Felsvorsprünge. Ein solcher Vor—
sprung ist der Loreleifelsen. Wie ein finstrer Riese stellt er sich dem
Fluß in den Weg, der gezwungen ist, ihn in scharfem Bogen zu um—
gehen. Zugleich wird dieser auf 166 m eingeengt, während er durch—
Blick von Bingen.
schnittlich mehr als 400 m breit ist. Der Fuß des Felsens setzt sich
in Klippen unter dem Wasser fort, hinüber zum andern Ufer. Die—
selben wurden früher von den Schiffern noch mehr gefürchtet als das
Binger Loch. Mit dem Ausdruck „Lei“ bezeichnet man am Rhein
die Schieferklippen. „Lurlei“ ist also vielleicht eine Klippe, an der das
Wasser „lurlt“, d. h. wirbelt und brandet. Allbekannt ist die Sage,
die sich an diesen Felsen knüpft:
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar,
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
Ihrem Sange lauschend, versäumt der Schiffer, auf die Klippen
zu achten, die dann ihm und seinem Schiffe zum Verderben werden.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Lorelei getan. (H. Heine.)
An den Städten Oberwesel und St. Goar, den Ruinen Katz und
Maus vorbei geht die Fahrt nach der starken Festung Koblenz an
der Moselmündung. Ihr stärkstes Werk ist der gegenüberliegende
Ehrenbreitstein, ein 118 m hoher, stark befestigter Bergblock. Koblenz
war ein Lieblingsaufenthalt der Kaiserin Augusta, der Gemahlin
Wilhelms J. Ihr verdankt der Ort die herrlichen Rheinanlagen,
die sich eine halbe Stunde weit südlich erstrecken. Auf der spitzen
Landzunge, die durch Rhein und Mosel gebildet wird, haben die Rhein—
länder ihr Kaiser-Wilhelm-Denkmal errichtet, ein Reiterstandbild
mit mächtigem Unterbau, dessen Gesamthöhe diejenige des Nieder—
walddenkmals noch um einige Meter übertrifft.
Unterhalb der Stadt entfernen sich die Berge weiter voneinander
und lassen einen großen Kessel mit ebenem, teilweise sumpfigem Boden
frei, das Neuwieder Becken. An der Ahrmündung vorbei gelangen
wir zum Siebengebirge. Wie bei Bingen ein gewaltiges Eintrittstor,
so hat der Rhein bei Bonn ein gewaltiges Austrittstor. Dasselbe
wird gebildet durch das Siebengebirge und den gegenüberliegenden
Felsen Rolandseck. Der am nächsten an den Rhein gerückte Berg ist
der Drachenfels, auf dessen Gipfel eine Zahnradbahn führt. An dem
Drachenfels soll der Sage nach Siegfried den Drachen erschlagen
haben. Daher wird der feurige Wein, der am Abhange des Berges
wächst, noch heute „Drachenblut“ genannt. Die reichen Steinbrüche
lieferten die Steine zum Kölner Dom.
Wir sind am Ende unserer Rheinwanderung. Das Rheintal
von Mainz bis Bonn ist der schönste Fleck Deutschlands, einer der
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herrlichsten Erdwinkel überhaupt. Wer seine Seele füllte mit den
schönsten Eindrücken, dem geht es leicht, wie dem Dichter, wenn er
richt: „Vo ich bin, wo ich gehe, mein Herz ist am Rhein.“
Nach H. Harms.
191. Alpenwirtschaft.
Auf den Bergwanderungen kehren wir in die Sennhütten ein,
um uns zu erquicken; die Hütte ist roh aus Balken und Steinen zu—
sammengefügt, die Fugen sind mit Moos verstopft. Stühle zum
Niedersetzen gibt es nicht außer den Melkstühlen mit einem Fuße.
Wir müssen auf dem Boden Platz nehmen, wenn nicht ein Holzklotz
aufzutreiben ist. In der einen Ecke hängt der große Käsekessel über
dem Feuer, dessen Rauch zur Tür hinauszieht oder durch Ritzen
oder Spalten Nebenwege sucht. Auf der andern Seite endet die
Hütte in einem Stall, dessen Bewohner sich durch Grunzen zu er—
kennen geben. Auf der Decke des Stalles ist Heu ausgebreitet: ein
paar grobe leinene Tücher oder Säcke verraten bald ihre Bestimmung:
— hier ist das Bett des Sennen. Dieser holt aus einer Höhle,
die im Hintergrunde der Hütte gegraben ist, Milch, Butter und
Käse und ermahnt, tapfer zu essen, denn beim Bergsteigen bekomme
man Hunger, — und daß er recht hat, beweisen wir. Aber welcher
Wohlgeschmack, diese Milch und diese Butter! Wer noch nie in den
Bergen gewesen ist, kann es gar nicht glauben, daß sie so ganz anders
schmecken als in den Ebenen. Da wachsen aber freilich auch ganz
andere Futterkräuter als im Tale; betrachte einmal den Rasen der
Alpe (so nennt der Senne seine Bergweide), wie dicht, unter dem
Fußtritte anschwellend wie ein grünes Sammetpolster; da sieht man
keine hochgeschossenen dürren Halme, keine Disteln und Herbstzeit—
losen, aber verschiedene Arten von Klee mit roter, gelber und weißer
Blüte und andere Kräuter, welche die Ebene nicht kennt.
Schon Anfang Mai ziehen die Sennen mit Ziegen und
Schafen auf die Alp; vier Wochen später langen dann auch die Kühe an,
gewöhnlich in Zügen von 24 Stück mit einem Stier, welche man
ein Senntum heißt. Gemeiniglich befinden sich dabei auch 2 bis
3 Schweine und 3—6 Ziegen. Erfreulich ist der Anblick einer Auf—
fahrt auf die Alpen, das heißt der Auszug einer Herde, wenn sie im
Beginn des Sommers auf die Berge geht. Hirt und Herde sind
voll Lust. Es ist, als wüßten es die Kühe, so jubelnd verlassen sie
ihr Dorf, und so munter steigen, ja klettern sie bergan, wenn auch
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228 —
der Weg mühsam ist. Dabei hat der Zug eine gewisse Ordnung, und
an Putz und Jubel fehlt es nicht. Im Appenzeller Land am Säntis
geschieht es so: Der Senne, mit sauberm Melkeimer auf der Achsel
und mit Bändern geschmückt, eröffnet den Zug, der Hund zur Seite,
einige weiße Ziegen vorauf. Dann folgen drei Kühe, die schönsten
der Herde, mit mächtig großen Glocken am Halse. Hinter ihnen kommt
der Handbub als Gehülfe des Sennen, auch mit sauberm Melkeimer,
und führt die ganze Kuhherde, deren Reihe der Stier, mit einbeinigem
Melkstuhl auf den Hörnern, beschließt. Alles Vieh trägt Glocken,
oft in harmonischem Geläut. Damit nichts von der Herde sich ver—
läuft, kommt ein Hausknecht hintennach, und erst tags darauf wird
aus der Ortschaft das nötige Gerät, als hölzerne Milchkumpen oder
Zuber, der kupferne Käskessel u. dergl. auf einem Saumrosse zur
Sennhütte geschickt. Butter wird droben wenig gemacht; Käserei ist
das Hauptgeschäft und wird im großen getrieben, wodurch es sehr
einträglich wird. Die kleinsten Schweizerkäse wiegen an 20, die
größten an 50 kg, und Tag für Tag wird in jeder Sennhütte ein
solcher Käse angefertigt, wozu man sämtliche am Morgen und am
vorigen Abend gemolkene Milch nimmt. Man verfährt so: Der
große an einem Kran hängende Kessel wird übers Feuer gerückt. Die
laulich gewordene Milch bringt man durch ein Stück Lab (gedörrter
und gegorner Kalbsmagen) zum Gerinnen und rührt so lange, bis
die Zersetzung der Milch fertig ist. Dann wird mit einem großen
Leintuch der fette Kästeig herausgehoben und in eine platte, runde
Form getan, worin er bis zum folgenden Tage liegen bleibt. Aus
dem übrigbleibenden Käswasser (Molken) scheidet man nochmals eine
magere Käsmasse, Zieger genannt, die der Senne zur Nahrung ge—
braucht. An einigen Orten versteht man solchen Zieger durch Ein—
mischung gedörrten und gepulverten Alpenklees gar schmackhaft und
wohlriechend zu machen, besonders im Glarner Land, dessen grüner
Kräuterkäse (Schabzieger) im Auslande sehr beliebt ist. Die ganze
Verfahrungsart zieht den Zuschauer an, aber vielleicht noch mehr
die ganze Lebensweise von Menschen und Vieh auf einer Alp. Jede
Kuh kennt ihre Glocke und ihren Namen, und Kühe und Ziegen ver—
stehen den Ruf ihres Sennen. Man nennt die wenigen auf- und ab—
steigenden Töne, die der Senne zu singen pflegt oder auf einer Schalmei
bläst, den Kuhreigen. Er klingt im Gebirge gar lieblich, und die
Seele des Bergbewohners hängt so daran, daß er in fernen Ländern
leicht das Heimweh bekommt, wenn er ihn blasen hört. Selbst Kühe,
die einmal auf der Alp gewesen, werden zuweilen wild, wenn sie den
Kuhreigen hören.
X
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229
Der Senne bleibt bis in den September auf den Bergeshöhen,
kommt während der ganzen Zeit vielleicht nicht ein einziges Mal in
sein Dorf herab, wird nur besucht, wenn man den Käse abholt, oder
wenn einer seiner Angehörigen ihm Brot oder irgend ein Werkzeug
bringt. Seine Nahrung ist Milch und magerer Käse, und er behilft
sich oft wochenlang ohne Brot; zeigt aber ein Reisender, der bei ihm
einkehrt, Schinken, kalten Braten oder gar eine Weinflasche, so sieht
man den sonst so genügsamen Mann vor Begierde zittern, so sehr
verlangt ihn nach jenen Nahrungsmitteln, und gern gibt er Butter,
Käse und Milch die Fülle für den ihm überlassenen Anteil. — Die
Kleidung des Sennen ist so einfach als möglich: zwillichne Hosen,
die bis über die Kniee reichen, und ein blauer Kittel; er geht barfuß
oder auf hölzernen Sohlen; auf dem Kopfe sitzt ein schwarzes,
ledernes Käppchen, und eine kleine Pfeife läßt er selten aus dem
Munde; schon die Buben rauchen, und sollten sie die Pfeife mit dürren
Heublumen füllen müssen. Man trifft unter den Sennen häufig
große Männer von kräftigem Körperbau; in der Regel ist der Appen—
zeller mehr untersetzt gebaut, stark geschultert, braun- und blond—
haarig; aus den grauen Augen, dem breiten Gesicht spricht Schalk—
heit und trotzige Derbheit. Er ist stolz auf seine Heimat, seinen Be—
ruf und selbst auf seine Lebensweise. Nach Bumüller und Schacht.
192. Lieb Heimatland, ade!
1. Nun ade, du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand, lieb Heimatland, ade! Und
so sing' ich denn mit frohem Mut, wie man singet, wenn man
wandern tut, lieb Heimatland, ade!
2. Wie du lachst mit deines Himmels Blau, lieb Heimatland,
ade! Wie du grüßest mich mit Feld und Au, lieb Heimatland, ade!
Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn; doch jetzt zur Ferne zieht's
mich hin, lieb Heimatland, ade!
3. Begleitest mich, du lieber Fluß, lieb Heimatland, ade! Bist
traurig, daß ich wandern muß, lieb Heimatland, ade! Vom moos'gen
Stein am wald'gen Tal, da grüß' ich dich zum letztenmal, lieb Heimat—
land, ade! A. Disselhoff.
—
C. Aus der Sage und Geschichte unsers
deutschen Volkes.
193. Auf einem Gehöft unserer alten Vorfahren.
Die alten Deutschen legten Haus und Hof am liebsten in einem
fruchtbaren Tale an; da, wo eine Quelle, eine Wiese, ein Gehölz
dazu einlud, gründeten sie ihr Heim. Unregelmäßig zerstreut, wie
wir es noch jetzt in manchen Dörfern finden, lagen ihre Behausungen.
Ein brusthoher, aus Holz geflochtener Zaun umschloß, eine uralte
Eiche, die wie alle ihres Geschlechts dem Donar geweiht war, beschattete
den Hof. Das Hauptgebäude desselben war die Wohnhalle, wie die
übrigen Gebäude von einfacher Bauart. Auf dem Unterbau von
großen, wenig oder gar nicht behauenen Steinen ruhte das aus
festeni Eichenholz gezimmerte Ständerwerk, dessen Fächer mit Ruten—
geflecht ausgefüllt und mit Lehm beworfen wurden. Manches alte
Haus unserer Heimat erinnert noch jetzt an die einfache Art, in der
die alten Deutschen die Wände ihres Hauses herstellten. Das Dach
bestand aus dichten Lagen von Schilf; es schützte mehr als ein Ziegel—
dach der Jetztzeit vor der Kälte des Winters und den ermattenden
Sonnenstrahlen heißer Sommertage.
Eben kehren die Männer von der Jagd heim. Der Hofherr
schreitet durch das niedrige Tor voran; Mitglieder seiner Familie
und Gäste folgen ihm. Es sind hohe, kräftige Gestalten. Fessellos
wallt das lange, rötliche Haar auf die Schultern herab oder ist in
einen Knoten geknüpft. Die Kleidung des Hofherrn besteht aus
einem hemdartigen Unterkleide und Hosen aus Leinwand. über die
Schulkern hat er ein viereckiges Stück Wollzeug als Mantel geworfen,
doch daß der rechte Arm frei bleibt. Im Winter tritt Pelzwerk
an die Stelle des Zeuges. Den Mantel hält vorn eine Spange zu—
sammen. Ärmere begnügen sich mit einem Dorn. Die Füße stecken
in groben, haarigen Schuhen aus einem Stück Leder und sind mit
Riemen festgeschnürt. In dem reich verzierten Wehrgurte steckt rechts
das kurze Schwert in einer Scheide aus Holz oder Metall. An einer
Halskette trägt er Eberzähne, an den Armen kostbare Spangen, in
der Hand den Speer mit der Spitze von Stein oder Eisen. Manche
Jagdgenossen des Hausherrn tragen Pelzkleidung und haben den
Mantel abgelegt.
Dem Hofherrn kommt grüßend die stattliche Hausfrau entgegen.
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Sie trägt ein kurzes linnenes Ober-⸗ und ein langes Unterkleid. Ringe,
Spangen und andere Schmuckstücke zieren Hals, Hände, Arme und
Gürkel. An diesem hängt auch die große Eisenschere als Zeichen des
häuslichen Fleißes. Im Arm hält sie ein nacktes, rundes Büblein.
Das wurde nach der Geburt, wie es gebräuchlich, dem Vater vor die
Füße gelegt. Er hob es auf zum Zeichen, daß er's für gesund und
lebensfähig halte. Wäre es krank oder ein Schwächling gewesen, so
hätte er es liegen lassen und es dadurch dem Tode geweiht, denn nur
in Leben in Gesundheit und Kraft erschien den alten Deutschen
lebenswert. Etliche Tage nach der Geburt wurde das Kind in kaltes
Wasser getaucht und erhielt in Gegenwart eines Zeugen seinen Namen.
In freier Luft und durch kalte Bäder werden die Kinder abgehärtet
und frühzeitig in den Waffen geübt. Die Hausfrau führt die Auf—
sicht über das Gesinde, das alle Arbeiten auf dem Hofe, auf dem
Felde, auf der Wiese und im Hause verrichtet. Da ist ein gekaufter
oder im Kriege erbeuteter Knecht mit geschorenem Haupte und in
schlechter Kleidung, der trägt Früchte des Feldes in einen kellerartigen
Raum, andere brechen das Land mit dem Hakenpfluge um oder
roden Bäume des Waldes aus. Nach der Ernte bleibt das Land als
Weide liegen; an Düngen denkt niemand. An der Handmühle auf
dem Hofe arbeitet eine mit einem Schaffell bekleidete Magd. Durch
einen kreisenden Stein zerreibt sie in der Höhlung eines festliegenden
Steines die nahrhaften Körner von Gerste und Hafer. Andere spinnen,
weben und nähen. Alle Geräte des Hauses werden durch das Gesinde
hergestellt. Der Mann kümmert sich nicht um die Haus⸗ und Feld—
arbeit. Traurig ist das Los der Alten. Müßig sitzen sie in der
Sonne oder im Winkel des Hauses und erzählen den Enkeln von ver—
gangenen Tagen.
Die Jäger ziehen zu lautem, frohem Gelage in die Halle. Die
Diele ist festgestampfter Lehm. Mitten brennt das Herdfeuer. Der
Rauch zieht aus den Offnungen des Daches und der Wände. Schorn—
steine und Glasfenster kennt man noch nicht. An den Wänden stehen
hölzerne Bänke, nahe dem Herde ist der Hochsitz des Herrn. Auf roh
gezimmerten Tischen stehen die Speisen: Haferbrei, wildes Obst,
Rettiche, Milch, Butter und Wildbret. Mit Met oder Bier gefüllte
und mit Silber verzierte Trinkhörner kreisen fleißig unter der Tisch—
gesellschaft. Sänger singen Heldenlieder, Jünglinge führen den
Schwertertanz auf. Nach genossener Mahlzeit beginnt das Würfel⸗
spiel und damit oft Lärm und Zank.“ Mancher verspielt Hab und
Gut, Weib und Kind und auch wohl seine eigene Freiheit, so daß er
von nun an als Knecht im Dienste eines andern Herrn in freudeloser
731
2
Arbeit die Tage seines Lebens verbringen muß. Gern folgten die
alten Deutschen den Boten, die von Hof zu Hof eilten, um die
Mannen zu Krieg und Streit zu rufen. Nach Polacl.
194. Siegtrieds Scehwert.
Jung Siegfried war ein stolzer Knab',
ging von des Vaters Burg herab,
Wollt' rasten nicht in Vaters Haus,
wollt' wandern in alle Welt hinaus.
Begegnet' ihm manch Ritter wert
mit festem Schild und breitem Schwert.
Siegfried nur einen Stecken trug,
das war ihm bitter und leid genug.
Und als er ging im finstern Wald,
kam er zu einer Schmiede bald.
23
Da sah er Lisen und Stahl genug,
ein lustig Feuer Flammen schlug.
„O Meister, liebster Meister mein!
laß du mieh deinen Gesellen sein;
Und lehr du mich mit Fleiß und Acht,
wie man die guten Schwerter macht!“
Siegfried den Hammer wohl schwingen kunnt'
er schlug den Ambob in den Grund.
Er schlug, daß weit der Wald erklang
und alles Eisen in Stücke sprang.
Und von der letzten Eisenstang'
macht' er ein Schwert, so breit und lang.
„Nun hab' ich geschmiedet ein gutes Schwert,
nun bin ich wie andere Ritter wert.
Nun schlag' ich wie ein andrer Held
die Riesen und Drachen in Wald und held.“
Ludwig Uhland.
195. Der gehörnte Siegfried.
In den Niederlanden wohnte vor vielen hundert Jahren ein
König, der einen einzigen Sohn hatte, Siegfried geheißen.
Der Knabe Siegfried war groß und stark, gab nichts auf Vater
und Mutter, sondern dachte nur darauf, wie er ein freier Mann
werden möchte. Damit machte er seinen Eltern große Sorge. Sieg—
fried konnte die Zeit nicht erwarten, bis ihn der Vater ausgestattet
hatte. Er ging ohne Urlaub auf Abenteuer aus. Indem er nun
durch Gehölz und Wildnis zog, sah er ein Dorf liegen. Vor dem—
selben wohnte ein Schmied. Ihn sprach Siegfried an, ob er einen
Jungen oder Knecht nötig habe, denn er hatte nichts gegessen und
war zu Fuß eine große Strecke gegangen. Als der Schmied sah,
daß Siegfried ein wackeres und gesundes Aussehen hatte, ließ er sich's
gefallen. Er gab dem Knaben zu essen und zu trinken, dessen Sieg—
fried wohl bedurfte. Weil es nun spät am Tage war, ließ er ihn
zu Bett weisen. Am andern Morgen stellte er ihn als Jungen an und
führte ihn zur Arbeit, denn er wollte sehen, ob er sich auch zum
Handwerk schicke. Als er ihm aber den Hammer in die Hand ge—
geben, da schlug Siegfried mit so gewaltiger Stärke auf das Eisen,
daß dieses entzweiging und der Amboß beinahe in die Erde sank.
Der Meister erschrak darüber und wurde ärgerlich. Er nahm den
533
— 234 —
jungen Siegfried beim Haare und zausete ihn ein wenig. Dieser
aber, der solches Dinges nicht gewohnt war, nahm den Meister
beim Kragen und warf ihn auf den Erdboden nieder, daß er sich ge—
raume Zeit nicht besinnen konnte. Sowie der aber zu sich selber
kam, rief er seinen Knecht zu Hülfe. Diesen empfing jedoch Siegfried
wie seinen Herrn. Der Meister aber sann nun auf Mittel und Wege,
wie er den ungefügen Jungen wieder loswerden möchte.
Am nächsten Morgen rief er den Siegfried wieder zu sich und
sprach zu ihm: „Da ich gerade jetzt der Kohlen so sehr benötigt bin,
so mußt du in den Wald gehen und mir einen Sack voll holen, denn es
wohnt dort ein Köhler, mit dem ich allezeit Geschäfte habe.“ Des
Schmiedes heimliche Meinung aber war, der furchtbare Drache, der
sich in dem Walde bei einer Linde aufhielt, sollte ihn töten. Sieg—
fried ging ohne alle Sorge in den Wald und dachte nicht anders,
als daß er Kohlen holen sollte. Wie er aber zu der Linde kam, schoß
der ungeheure Drache auf ihn los und sperrte den Rachen auf, ihn
zu verschlingen. Siegfried bedachte sich nicht lange. Den ersten
Baum, der ihm zu Händen kam, riß er aus der Erde und warf den—
selben auf den Drachen. Dieser verwickelte sich mit seinem Schweife
in die Aste und Zweige des Baumes. Er konnte nicht wieder los—
kommen. Siegfried riß nun einen Baum nach dem andern heraus und
warf sie auf den Drachen. Dann lief er schnell in des Köhlers Hütte
und holte sich Feuer. Mit diesem zündete er die Bäume über dem
Untiere an, daß sie alle samt dem Drachen verbrannten. Da floß
unter den brennenden Stämmen und Ästen das Fett wie ein Bächlein
dahin. Siegfried tauchte den Finger in das Drachenfett, und wie
es erkaltet war, da wurde es hartes Horn. Als er solches gewahr
wurde, zog er sich sogleich aus und überstrich mit dem Drachenfett
seinen ganzen Leib, mit Ausnahme zweier Flecke an der Schulter,
wohin er nicht gelangen konnte. Und dies ist die Ursache, warum
er später der gehörnte Siegfried genannt wird. Gustav Schwab.
196. Bonifatius und die Donareiche bei Geismar.
Unter den Missionaren, welche unsern Vorfahren, den alten
Deutschen, das Evangelium gepredigt haben, wird Bonifatius als
einer der bedeutendsten genannt. Er predigte besonders unter den
Thüringern und Hessen. Dort trug sich einst folgendes zu.
Bei dem Dorfe Geismar in Niederhessen stand eine Eiche von
ungeheurer Größe, welche die Deutschen ihrem Gotte Donar ge—
weihet hatten. Der Baum galt als besonders heilig, und aus der
Nähe und Ferne wallfahrtete man zu ihm. Bonifatius beschloß im
Vertrauen auf den Beistand des Herrn, einen kühnen Streich gegen
das Heidentum zu führen. In gewaltiger Rede schilderte er zuerst
den Heiden die Torheit ihres Aberglaubens. Um ihnen nun zu
zeigen, daß ihre Götter tote Götzen seien, legte er die Art an die
Wurzel des Baumes. Seine Genossen halfen zuschlagen, und ein
Sturmwind, vom Herrn gesandt, stürzte den Baum, daß er in vier
Stücke zersplitterte. Dem Volke entfuhr ein Schrei wilden Schreckens.
Sie erwarteten, ihr Gott werde den Frevler züchtigen und mit einem
Blitzstrahl vernichten. Als das aber nicht geschah, erkannten sie die
Ohnmacht ihrer Götzen und ließen sich taufen. Aus dem Holze,
welches der gefällte Baum des Aberglaubens gab, erbaute Bonifatius
ein Bethaus zu Ehren des Apostels Petrus.
Bonifatius erlitt im Jahre 755 im hohen Alter im Dienste für
seinen Heiland unter dem Volke der Friesen den Märtyrertod.
Nach Ahlfeld.
197. Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt.
Als Kaiser Karl zur Schule kam und wollte visitieren,
da prüft' er scharf das kleine Volk, ihr Schreiben, Buchstabieren,
ihr Vaterunser, Einmaleins, und was man lernte mehr;
zum Schlusse rief die Majestät die Schüler um sich her.
Gleich wie der Hirte schied er da die Böcke von den Schafen,
zu seiner Rechten hieß er stehn die Fleißigen, die Braven.
Da stand im groben Linnenkleid manch schlichtes Bürgerkind,
manch Söhnlein eines armen Knechts von Kaisers Hofgesind'.
Dann rief er mit gestrengem Blick die Faulen her, die Böcke,
und wies sie mit erhabner Hand zur Linken in die Ecke.
Da stand in pelzverbrämtem Rock manch feiner Herrensohn,
manch ungezognes Mutterkind, manch junger Reichsbaron.
Da sprach nach rechts der Kaiser mild: „Habt Dank, ihr frommen
Knaben,
ihr sollt an mir den gnäd'gen Herrn, den güt'gen Vater haben;
und ob ihr armer Leute Kind und Knechtessöhne seid,
in meinem Reiche gilt der Mann und nicht des Mannes Kleid.
Dann blitzt' sein Blick zur Linken hin, wie Donner klang sein Tadel:
„Ihr Taugenichtse, bessert euch, ihr schändet euren Adel!
Ihr feinen Püppchen, trotzet nicht auf euer Milchgesicht,
ich frage nach des Manns Verdienst, nach seinem Namen nicht.“
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Da sah man manches Kinderaug' in frohem Glanze leuchten,
und manches stumm zu Boden sehn, und manches stumm sich feuchten.
Und als man aus der Schule kam, da wurde viel erzählt,
wen heute Kaiser Karl gelobt, und wen er ausgeschmält.
Und wie's der große Kaiser hielt, so soll man's allzeit halten
im Schulhaus mit dem kleinen Volk, im Staate mit den Alten;
den Platz nach Kunst und nicht nach Gunst, den Stand nach dem
Verstand,
so steht es in der Schule wohl und gut im Vaterland.
Karl Gerok.
198. Wittekinds Taufe.
Darauf sprach Landolf — ein Missionar unter unsern Vor—
fahren, den alten Sachsen — zu den Versammelten: „Warum wollt
ihr nicht Christen werden? Eure Götter taugen nichts, sie können
euch nicht helfen, sie haben nicht bestehen können vor dem Christengott.
Wo sind eure tapfern Herzöge Wittekind und Albion? Sie sind
jetzt Karls Freunde und Lehnsleute geworden, sie sind Christen! Meint
ihr, Karl habe sie besiegt? Nein, ein höherer, der Christengott hat
sie besiegt. Karl hat sie wohl oft überwunden, aber der Christengott
hat sie besiegt. Wißt ihr, wie es zugegangen ist? Ich habe es ge—
hört, ich will es euch erzählen: Nach der letzten verlorenen Schlacht
— ihr wißt noch davon, auch eure jungen Männer haben da ge—
blutet, ehe der Friede geschlossen war — sprach der tapfere Wittekind
zu seinem Waffenbruder Albion: „Auf, laßt uns gehen, wir wollen
Karl in seiner Burg besuchen und sehen seine Macht, denn er ist der
Höchste in seinem Lande.“ Da zogen die kühnen Helden hin, ein
Bettlergewand verhüllte ihre starken Glieder, sie wollten unerkannt
sein und selber sehen und prüfen. Furcht war nicht in ihren mutigen
Herzen. Sie wanderten und wanderten manchen Tag, und wo sie
hinkamen, die Christen speisten sie. Da fragten sie einander: „Sind
das die Christen?“ Sie mußten manche Nacht auf der Wander—
schaft zubringen, und wo sie hinkamen, die Christen beherbergten
sie, und sie waren Bettler. Da fragten sie einander: „Sind das
die Christen?“ Sie verirrten sich manchmal in den Städten, in den
Dörfern und Feldern, die Christen wiesen sie zurecht, und sie fragten
erstaunt: „Sind das die Christen?“ Endlich kamen sie in Ingelheim
an. Sie gingen durch die Stadt, sie bewunderten die schönen Häuser
und prächtigen Straßen; da kamen sie an ein großes Haus, das größte
von allen, die sie gesehen hatten. „Das muß Karls Wohnung sein,“
sprachen sie, „er ist ja der Größte in seinem Volk.“ Sie gingen
236
— 227 —
hinein, sie hörten Gesang, als käme er vom Himmel her. Sie gingen
weiter, da stand oben auf dem Chore ein Mann in weißem Kleide (es
war ein Priester in weißem Kirchengewande), der sprach: „Höret, ihr
Gläubigen, frohe Botschaft: Der große Gott im Himmel hat euch
lieb, er hat euch so lieb, daß er seinen lieben Sohn Jesum Christum
gesandt hat zu euch. Jesus Christus ist vom Himmel gekommen,
Gottes Sohn ist euer Bruder geworden, so arm, so klein, daß er in
einer Krippe lag, im Stall der Tiere. Als er groß geworden war,
hat er gepredigt allenthalben und gesagt: „Ihr Sünder, bekehret
euch, ich will euch selig machen.“ Er hat die Lahmen gehend gemacht
und die Blinden sehend und die Kranken gesund, er hat die Toten
aufgeweckt, die in den Gräbern lagen. Er hat für die Sünder sein
Blut vergossen, die Sünder haben ihn gemordet. Er ist im Tode
freundlich geblieben und hat für die Mörder gebetet: „Vater, ver—
gib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!“ Er ist begraben. Aber
kann Gott im Grabe bleiben? Siehe, nach dreien Tagen bebte die
Erde, und die Felsen splitterten: Jesus stand auf aus dem Grabe,
Jesus fuhr auf gen Himmel, er sitzet nun wieder auf Gottes, seines
Vaters Stuhl, er herrschet, er gebietet: „Tut Buße und bekehret
euch, so will ich euch selig machen, ihr sollt in meinen Himmel kommen
und mit mir herrschen.“
So predigte der Priester. Da staunten die beiden Helden, aber
sie sollten noch mehr staunen. Siehe, es schreitet ein hoher Mann
daher mitten durch die Kirche auf den Altar zu, wo der Priester
stand, eine Krone war auf seinem Haupte. Es war König Karl.
Die Helden kannten ihn und kannten ihn doch wieder nicht. War
das der starke Held, dessen blitzendes Schwert im Kampfe traf und
tötete? War das der Mann, dessen Auge funkelte vom Zorn der
Schlacht? Hier trägt er kein Schwert, sein Auge leuchtet in Frieden.
Als er vor dem Altare steht, nimmt er demütig seine Krone ab und
legt sie auf den Boden; dann beugt er seine Kniee auf den Stufen
des Altars und betet zu Jesus Christus, dem Christengott, und
alles Volk fällt auf die Kniee und betet, und die himmlische Musik
des Lobgesanges ertönt von neuem: „Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Da
steht Karl auf und setzt sich auf einen Stuhl, und der Mann im
weißen Kleide predigt von Jesu, der gekommen ist, die Sünder
selig zu machen, und Karl beugt sein hohes Haupt, so oft Jesu Name
genannt wird. Da segnet der Priester die Gemeine, der Gottes—
dienst ist aus.
Es war nicht Karls Haus, in dem sie gewesen, es war Gottes
4
—
Haus, in welchem Karl gebetet hatte. Gott ist größer als Karl,
darum mußte auch Gottes Haus das größte sein in der Stadt. Die
Waffenbrüder gingen aus der Kirche. Vor der Kirchtür stand ein
großer Haufe Bettler, in gleichem Gewande, wie sie es anhatten.
Karl geht mild und freundlich zu den Armen und gibt jedem ein
Stücklein Geld und sagt: „Gott segne es euch, meine Kinder, betet auch
für mich!“ „Ist das König Karl?“ fragten sich die erstaunten Blicke
der Helden. Da tritt der König auch zu ihnen, sieht sie freundlich an
und spricht: „Ihr seid noch nicht hier gewesen, meine Freunde,
kommt in mein Haus, da will ich euch auch geben euer Teil.“ Er
geht, und sie folgen ihm. Sie kommen in sein Haus, das war
kleiner als Gottes Haus. Sie treten in seine Stube, da heißt er die
Diener hinausgehen und geht auf Wittekind und Albion zu und
reicht ihnen wie ein Bruder die Hand und spricht: „Willkommen,
ihr starken Helden der Sachsen, in meiner Burg! Gott hat mein
Gebet erhört, meine Feinde werden nun meine Freunde. Leget weg
eure Lumpen, ich will euch fürstliche Kleider anziehen.“ Und er
läßt ihnen fürstliche Kleider anziehen und sagt weiter: „Nun seid
ihr meine Gäste und bald auch, hoffe ich, meines Herrn Gottes
Gäste.“ Das hatten die beiden Helden nicht erwartet, daß Karl sie
in ihrer Verkleidung erkennen würde, und das noch viel weniger, daß
er sie so großmütig und brüderlich behandeln würde. Vierzehn Tage
darauf hat der Priester im weißen Gewande sie getauft auf den
Namen Gottes des Vaters, Sohnes und des heiligen Geistes, und sie
haben Treue geschworen dem Heiland Jesu Christo.“
Ludwig Harms.
199. Heinrich der Vogler.
Herr Heinrich sitzt am Vogelherd recht froh und wohlgemut;
aus tausend Perlen blinkt und blitzt der Morgenröte Glut.
In Wies' und Feld und Wald und Au, horch, welch ein süßer Schall!
der Lerche Sang, der Wachtel Schlag, die süße Nachtigall!
Herr Heinrich schaut so fröhlich drein: „Wie schön ist heut' die Welt!
Was gilt's, heut' gibt es guten Fang!“ Er lugt zum Himmelszelt.
Er lauscht und streicht sich von der Stirn das blondgelockte Hhaar:
„Ei doch! was sprengt denn dort herauf für eine Reiterschar ?“
Der Staub wallt auf, der Hufschlag dröhnt, es naht der Waffen Klang.
„Daß Gott! die Herr'n verderben mir den ganzen Vogelfang!“
„Ei nun! was gibt's?“ — Es hält der Troß vor'm Herzog plötzlich an;
Herr Heinrich tritt hervor und spricht: „Wen sucht Ihr Herr'n? sagt an!“
Da schwenken sie die Fähnlein bunt und jauchzen: „Unsern Herrn! —
hoch lebe Kaiser Heinrich! — Hoch des Sachsenlandes Stern!“
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Dies rufend, knien sie vor ihm hin und huldigen ihm still,
und rufen, als er staunend fragt: „'s ist Deutschen Reiches Will'.“
Da blickt Herr Heinrich tief bewegt hinauf zum Himmelszelt:
„Du gabst mir einen guten Fang: Herr Gott, wie's dir gefällt!“
Johann Nepomuk Vogl.
200. Otto der Große und Hermann Billung.
Einst hütete nicht weit von Hermannsburg ein dreizehn- bis
vierzehnjähriger Knabe die Rinderherde seines Vaters auf der Weide;
da kam ein prächtiger Zug von gewappneten Rittern dahergezogen,
stolz zu Roß. Der Knabe sah mit Lust die blinkenden Helme und
Harnische, die glänzenden Speere und die hohen Reitersleute an.
Aber plötzlich biegen die Reiter von der sich krümmenden Straße ab
und kommen querfeldein auf die Weide zugeritten, wo er hütet.
Das ist ihm zu arg, denn das Feld ist keine Straße, und es gehört
seinem Vater. Er besinnt sich kurz, geht den Rittern entgegen,
stellt sich ihnen in den Weg und ruft ihnen entgegen: „Kehrt um,
die Straße ist euer, das Feld ist mein!“
Ein hoher Mann, auf dessen Stirn ein majestätischer Ernst
thront, reitet an der Spitze des Zuges und sieht ganz verwundert
den Knaben an, der es wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. Er
hält sein Roß an und hat seine Freude an dem mutigen Jungen,
der so kühn und furchtlos seinen Blick erwidert und nicht vom Platze
weicht. „Wer bist du, Knabe?“ „Ich bin Hermann Billungs ältester
Sohn und heiße auch Hermann, und dies ist meines Vaters Feld, Ihr
dürft nicht hinüberreiten.“ „Ich will's aber, Knabe,“ erwiderte der
Ritter mit drohendem Ernst; „weiche, oder ich stoße dich nieder!“
dabei erhebt er den Speer. Der Knabe aber bleibt furchtlos stehen,
sieht mit blitzendem Auge zu dem Ritter hinauf und spricht: „Recht
muß Recht bleiben, und Ihr dürft nicht über das Feld reiten, Ihr
reitet denn über mich hinweg.“ „Was weißt du von Recht, Knabe?“
„Mein Vater ist der Billing, und ich werde es nach ihm,“ antwortet
der Knabe, „vor einem Billing darf niemand das Recht verletzen.“
Da ruft der Reiter noch drohender: „Ist das denn recht, Knabe,
deinem König den Gehorsam zu versagen? Ich bin Otto, dein
König.“ „Ihr seid Otto, unser König, Deutschlands Hort und der
Sachsen Zierde, von dem mein Vater uns soviel erzählt, Otto, Hein—
richs des Sachsen Sohn? Nein, Ihr seid es nicht! Otto, der König,
schützt das Recht, und Ihr brecht das Recht; das tut Otto nicht,
sagt mein Vater.“ „Führe mich zu deinem Vater, braver Knabe!“
antwortet der König, und eine ungewöhnliche Milde und Freund—
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lichkeit erglänzt auf seinem ernsten Angesichte. „Dort ist meines
Vaters Hof, Ihr könnt ihn sehen,“ sagt Hermann, „aber die Rinder
hier hat mein Vater mir anvertraut, ich darf sie nicht verlassen,
kann Euch also auch nicht führen. Seid Ihr aber Otto, der König,
so lenkt ab vom Felde auf die Straße, denn der König schützt das
Recht.“
Und der König Otto der Erste, der Große genannt, gehorchte
der Stimme des Knaben, denn der Knabe hatte recht, und ritt
zurück auf die Straße. Bald wurde Hermann vom Felde geholt;
denn der König ist bei seinem Vater eingekehrt und hat zu ihm ge—
sagt: „Billing, gib mir deinen ältesten Sohn mit, ich will ihn bei
Hofe erziehen lassen; er wird ein treuer Mann werden, und ich
brauche treue Männer.“ Welcher treue Sachse konnte einem Könige
wie Otto etwas abschlagen?
So sollte denn der mutige Knabe mit seinem Könige ziehen,
und als Otto ihn fragte: „Hermann, willst du mit mir ziehen ?“
da antwortete der Knabe freudig: „Ich will mit dir ziehen, du bist
der König, denn du schützest das Recht.“ König Otto nahm also den
Knaben mit, um aus ihm einen treuen, tüchtigen Diener zu machen.
Zuerst ließ er ihn durch seinen Freund, den Erzbischof von Bremen,
erziehen. Einen besseren Lehrer konnte Hermann nicht bekommen.
Er wuchs in Bremen zu einem frommen Jüngling heran, der seinen
Heiland von Herzen lieb hatte, aber auch in Waffenübungen und
Staatsgeschäften unterrichtet war. Dann nahm Otto Hermann an
seinen Hof. Bald nannte der König den jungen, tüchtigen Mann
seinen treuesten Freund, ja seinen Sohn. Später machte ihn der
König wegen seiner hervorragenden und treuen Dienste zum Herzoge
des Sachsenlandes, welches er an Ottos Statt regieren mußte. Her⸗
mann ist den Sachsen ein tapferer und treuer Herzog gewesen, der
sie vor allem auch gegen die Einfälle der heidnischen Wenden schützte
und eifrig um die Ausbreitung des Christentums bemüht war. Er
starb im Jahre 973, in demselben Jahre, da sein großer Freund und
Wohltäter Otto starb. Ludwig Harms.
201. Editha, Ottos J. Gemahlin.
Mitten in seiner Glücksbahn hatte König Otto ein gewaltiger
Schlag des Schicksals getroffen und ihn an die Hinfälligkeit aller
irdischen Herrlichkeit mit vernichtender Härte gemahnt.
Im Januar des Jahres 946 wurde ihm durch den Tod seine
Gemahlin Editha entrisson. Unerwartet nahm der Tod sie von
— 241 —
Ottos Seite, als sie zwei Kinder, die sie ihm geboren hatte, lieblich
erblühen sah. Achtzehn Jahre hatte die angelsächsische Königs—
tochter unter den Deutschen gelebt, und alle beweinten ihr Ende,
da sie mehr gleich einer liebendden Mutter, denn als eine Königin
unter dem Volke gewaltet hatte. Schon ihre Zeit verehrte sie wie
eine Heilige; denn reine, wahre und innige Frömmigkeit wohnte in
ihrer Seele und gab sich in edlen Werken christlicher Liebe kund.
Oft soll ihr Gebet den König aus grober Bedrängnis gerettet haben,
oft milderte ihre Fürbitte seinen heftigen Sinn. So stürmisch sein
Zorn war, das zarte Weib beschwichtigte ihn. Als er einst seine
Mutter wegen ihrer Mildtätigkeit schalt, und diese sich tiefgekränkt
vom Hofe entfernte, rührte Editha das Herz des Gemahls, und
reuig bat er die Mutter um Verzeihunge
Auch der Editha selbst soll Otto bisweilen ihre grobe Nild—
tätigkeit verargt und ihr einmal im Zorn verboten haben, ihre
Hand ferner den Armen zu öffnen. Um sie zu prüfen, ezählt die
Sage, trat er einst an einem Peiertage selbst als Bettler vermummt
an die Kirchentür, als sich gerade die Königin im Festschmuck
nahte. Dringend sprach er sie um ein Almosen an. Sanft ver—
weigerte sie es; sie habe nichts, sagte sie, als ihre Kleider, Noch
dringender hielt er sie am Mantel zurück. „Nur ein Fetzen hier—
von,“ sagt er, „würddé mir Armen helfen.“ Und sie, der Rührung
nicht mehr gebietend, erlaubt ihm, einen Armel des kostbaren Ge—
wandes zu nehmen, Als sie darauf an des Königs Tafel erscheint,
trägt sie einen andern Mantel als am Morgen, und scheinbar er—
ztaunt fragt sio der König, warum sie die Tracht gewechselt. Ver—
legen sucht sie nach einer Ausflucht. Da läbt der König den ab—
gelegten Mantel holen, um sie zu beschämen; denn er trug den
Armel bei sich, den sie ihm gegeben hatte. Aber siehel ein
WVunder: als das Gewand gebracht wurde, fanden sich beide Armol
an ihm, und der König bekannte, die er habe erproben wollen,
habe der Himmel erprobt gefunden.
In solchen Erzählungen lebte jahrhundertelang das Andenken
der guten Königin fort und vererbte sich von Kind auf Kindeskind.
sssie fand ihr Grab zu Magdeburg in dem Kloster des heiligen
Moritz, welehes Otto auf ihrem Wittum nach ihrem ausdrücklichen
Wunsche im Jahre 937 errichtet hatte. Ihr Denkmal sah man
dort einst auf der Nordseite der alten Kirche; jetzt verherrlicht
sie ein stattlicher Sarkophag in dem prachtvollen Dome, der dort
einige Jahrhunderte nachher als eines der erhbabensten Werke
deutscher Kunst erbaut ist.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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Mächtig ergriff Otto der Tod des gelliebten Weibes, und mehr
als bisher wandte sich des Königs Sinn den himmlischen Dingen
zu. Das schleunige Ende der Teuren, der noch ein langes Leben
vorbehalten schien, mahnte auch ihn an den Tod, der ihn mitten
aus seiner glänzenden Laufbahn abrufen konnte, und wies ihn
mehr als je auf jene höchste Macht hin, der auch der Gewaltigste
auf Erden sich beugen mub,. Wilhelm v. Glesobroeht.
202. Die Zerstörung Bardowieks.
Als Herzog Heinrich der Löwe von dem Kaiser Friedrich Rot—
bart aus seinem Lande vertrieben ward und er vor dem Heere des—
selben fliehen mußte, da ging er die Bürger von Bardowiek an und
begehrte Schutz zu haben in ihrer Stadt. Diese aber waren dem
Herzoge schon lange Zeit gram, weil er Lübecks Handel begünstigt
hatte, wodurch ihrem eigenen mancher Abbruch geschehen war. Als
sie nun sahen, daß er bei allen verhaßt und von dem Kaiser selbst
verfolgt ward, da schlossen sie vor ihm die Tore und verweigerten
mit Übermut seine Einlassung. So mußte er denn erbärmlich da—
vonfliehen und seine Gemahlin zu Lüneburg im Stich lassen. Das
verdroß Heinrich über die Maßen, und er drohte, daß er diese
Schmach zu seiner Zeit bitter rächen wollte. Und er hielt Wort.
Im Jahre 1189, als der Kaiser auf einem Zuge nach dem
Heiligen Lande begriffen war, kehrte Heinrich mit seinen beiden
Söhnen aus der Verbannung von England nach Deutschland zurück.
Da traten dem alten Helden nicht bloß seine früheren Freunde bei,
sondern auch langjährige Feinde versöhnten sich mit ihm. Rache—
dürstend zog er vor Bardowiek und forderte die Stadt auf, sich zu
ergeben. Aber sein Begehren ward schnöde verworfen, indem man
ihn mit neuen Beschimpfungen von den Mauern herab verhöhnte.
Als das der Herzog sah, ergrimmte er sehr und gelobte in einem
Eide, daß er nicht eher von der Stadt abziehen würde, bis dieselbe
erobert und von Grund aus zerstört wäre. Alsbald ließ er die Wege
wohl besetzen, damit niemand entkommen möchte, und griff die Stadt
von allen Seiten mit Sturm an. Da aber die Bürger wußten, was
ihrer harrte, so wandten sie allen Fleiß an, schlugen die Stürmenden
mit Pfeilen und Spießen tapfer zurück und scheuten nichts, wodurch
dem Feinde Widerstand und Abbruch geschehen konnte. Zwei Tage
zerbrach sich des Löwen Wut an den festen Mauern; schon ver—
zweifelte er an der Eroberung.
Da begab es sich, wie erzählt wird, an dem dritten Tage, welcher
243 —
war der 28. Oktober, daß sich in das herzogliche Lager ein Stier
verirrte. Die Kriegsknechte wollten ihn fangen; der Stier aber
flüchtete sich vor ihnen, lief der Ilmenau zu und watete hindurch,
wobei ihm das Wasser kaum bis an die Hüfte reichte. Mit Ver—
wunderung bemerkten solches die Verfolger und berichteten es als—
bald dem Herzoge. Es war die Stadt an dieser Seite nicht sonder—
lich befestigt, da die Belagerten auf den Schutz des Wassers rechneten
und sich hier keines überfalls versahen. Ehe sie sich zur genugsamen
Gegenwehr versammeln konnten, setzte die feindliche Reiterei durch
den Fluß, das Fußvolk folgte, unaufhaltsam drangen sie in die
Stadt.
Nun ging alles drunter und drüber. Was dem ergrimmten
Feinde auf den Gassen begegnete, ward niedergehauen. Dann wurden
die Häuser geöffnet, die Einwohner ermordet, selbst Weiber und Kinder
blieben nicht verschont. Die Vornehmsten der Stadt ließ der Herzog
an den Galgen hängen. Was die Kriegsleute an Gold, Silber und
anderen Sachen geraubt hatten, ward ihnen gelassen; die Kirchen—
geräte aber, als Rauchfässer, Kelche, Glocken, Meßgewänder und
Bücher, ja sogar die Fenster aus den Wänden wanderten von hier
nach Ratzeburg in den Dom. Dann wurden die Gebäude abgerissen,
die Türme und Stadtmauern geschleift und die Gräben damit aus—
gefüllt; und was sonst noch übriggeblieben, fiel der Flamme des
allenthalben angelegten Feuers zum Opfer. Nur der Dom erhielt
sich; über seiner Haupttür ließ Heinrich einen aus Holz geschnitzten
Löwen aufrichten mit der Unterschrift: „Vestigium leonis,“ d. h.
des Löwen Spur. Danach ließ er öffentlich ausrufen, daß man bei
harter Strafe daselbst nichts wieder aufbauen dürfe; der Ort sollte
nicht mehr eine Stadt, sondern ein Dorf sein und genannt werden.
So ward Bardowiek, welches vormals eine der bedeutendsten
Handelsstädte im nördlichen Deutschland gewesen war und der Sage
nach schon zu Abrahams Zeit erbaut sein soll, durch den Zorn des
Löwenherzogs vernichtet. Heinrich Westermann.
203. Schwäbische Kunde.
Als Kaiser Rotbart lobesam
zum Heil'gen Land gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen Heer
durch ein Gebirge wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Vot,
viel Steine gab's und wenig Brot,
16*
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und mancher deutsche Reitersmann
hat dort den Trunk sich abgetan.
Den Pferden war's so schwach im Magen,
fast mußte der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein Herr aus Schwabenland,
von hohem Wuchs und starker Hand,
des Rößlein war so krank und schwach,
er zog es nur am Zaume nach.
Er hätt' es nimmer aufgegeben,
und kostet's ihm das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
hinter dem Heereszug zurück.
Da sprengten plötzlich in die Quer'
fünfzig türkische Reiter daher,
die huben an, auf ihn zu schießen,
nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
ging seines Weges Schritt für Schritt,
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und tät nur spöttlich um sich blicken,
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
er schwingt es auf des Reiters Kopf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
haut auch den Sattel noch in Stücken
und tief noch in des Pferdes Rücken;
zur Rechten sieht man wie zur CLinken
einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus,
sie fliehn in alle Welt hinaus,
und jedem ist's, als würd' ihm mitten
durch Kopf und Leib hindurchgeschnitten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
die auch zurückgeblieben war,
die sahen nun mit gutem Bedacht,
542 —
was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen,
er ließ den Schwaben vor sich kommen;
er sprach: „Sag an, mein Ritter wert!
wer hat dich solche Streich' gelehrt ?“
Der Held bedacht' sich nicht zu lang':
„Die Streiche sind bei uns im Schwang,
sie sind bekannt im ganzen Reiche,
man nennt sie halt nur Schwabenstreiche.“
Ludwig Uhland.
204. Barbarossa im Kyffhäuser.
Der alte Barbarossa, Sein Bart ist nicht von Flachse,
der Kaiser Friederich, er ist von Feuersglut,
im unterird'schen Schlosse ist durch den Tisch gewachsen,
hält er verzaubert sich. worauf sein Kinn ausruht.
Er ist niemals gestorben, Er nickt als wie im Traume,
er lebt darin noch jetzt; sein Aug', halb offen, zwinkt;
er hat im Schloß verborgen und je nach langem Raume
zum Schlaf sich hingesetzt. er einem Knaben winkt.
Er hat hinabgenommen Er spricht im Schlaf zum Knaben:
des Reiches Herrlichkeit „Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
und wird einst wiederkommen und sieh, ob noch die Raben
mit ihr zu seiner Zeit. herfliegen um den Berg.
Der Stuhl ist elfenbeinern, Und wenn die alten Raben
darauf der Kaiser sitzt; noch fliegen immerdar,
der Tisch ist marmelsteinern, so muß ich auch noch schlafen
worauf sein Haupt er stützt. verzaubert hundert Jahr'.“
Friedrich Rückert.
205. Heinrich der Löwe.
Zu Braunschweig steht, aus Erz gegossen, das Denkmal eines
Helden, zu dessen Füßen ein Löwe liegt; auch hängt im Dome daselbst
eines Greifen Klaue. Davon lautet folgende Sage: Vorzeiten zog
Herzog Heinrich, der edle Welf, nach Abenteuern aus. Als er in
einem Schiffe das wilde Meer befuhr, erhub sich ein heftiger Sturm
und verschlug den Herzog; lange Tage und Nächte irrte er, ohne
Land zu finden. Bald fing den Reisenden die Speise an auszugehen,
und der Hunger quälte sie schrecklich. In dieser Not wurde be—
24*
schlossen, Lose in einen Hut zu werfen; und wessen Los gezogen ward,
der verlor das Leben und mußte den andern Mannschaften mit seinem
Fleische zur Nahrung dienen. Willig unterwarfen sich diese Unglück—
lichen und ließen sich für den geliebten Herrn und ihre Gefährten
schlachten. So wurden die übrigen eine Zeitlang gefristet; doch
schickte es die Vorsehung, daß niemals des Herzogs Los herauskam.
Aber das Elend wollte kein Ende nehmen; zuletzt war nur der Her—
zog mit einem einzigen Knecht noch auf dem ganzen Schiffe lebendig,
und der schreckliche Hunger hielt nicht stille. Da sprach der Fürst:
„Laßt uns beide losen, und auf wen es fällt, von dem speise sich der
andere.“ Über diese Zumutung erschrak der treue Knecht, doch so
dachte er, es würde ihn selbst betreffen und ließ es zu: siehe, da fiel
das Los auf seinen edlen, liebwerten Herrn, den jetzt der Diener
töten sollte. Da sprach der Knecht: „Das tu' ich nimmermehr, und
wenn alles verloren ist, so hab' ich noch ein andres ausgesonnen;
ich will Euch in einen ledernen Sack einnähen, wartet dann, was ge—
schehen wird.“ Der Herzog gab seinen Willen dazu; der Knecht
nahm die Haut eines Ochsen, den sie vordem auf dem Schiffe gespeist
hatten, wickelte den Herzog darein und nähte sie zusammen; doch
hatte er sein Schwert neben ihn mit hineingesteckt. Nicht lange,
so kam der Vogel Greif geflogen, faßte den ledernen Sack in die
Klauen und trug ihn durch die Lüfte über das weite Meer in sein
Nest. Als der Vogel dies bewerkstelligt hatte, sann er auf einen
neuen Fang, ließ die Haut liegen und flog wieder aus. Mittlerweile
faßte Herzog Heinrich das Schwert und zerschnitt die Nähte des
Sackes; als die jungen Greifen den lebendigen Menschen erblickten,
fielen sie gierig und mit Geschrei über ihn her. Der teure Held
wehrte sich tapfer und schlug sie sämtlich zu Tode. Als er sich aus
dieser Not befreit sah, schnitt er eine Greifenklaue ab, die er zum
Andenken mit sich nahm, stieg aus dem Neste den hohen Baum her—
nieder und befand sich in einem weiten, wilden Wald. In diesem
Walde ging der Herzog eine gute Weile fort; da sah er einen fürchter—
lichen Lindwurm wider einen Löwen streiten, und der Löwe schwebte
in großer Not zu unterliegen. Weil aber der Löwe insgemein für
ein edles und treues Tier gehalten wird und der Wurm für ein
böses, giftiges, säumte Herzog Heinrich nicht, sondern sprang dem
Löwen mit seiner Hülfe bei. Der Lindwurm schrie, daß es durch den
Wald erscholl, und wehrte sich lange Zeit; endlich gelang es dem
Helden, ihn mit seinem guten Schwerte zu töten. Hierauf nahte sich
der Löwe, legte sich zu des Herzogs Füßen neben dem Schild auf
den Boden und verließ ihn nimmermehr von dieser Stunde an.
246
247
Denn als der Herzog nach Verlauf einiger Zeit, während welcher das
treue Tier ihn mit gefangenem Hirsch und anderm Wild ernähret hatte,
überlegte, wie er aus dieser Einöde und der Gesellschaft des Löwen
wieder unter die Menschen gelangen könnte, baute er sich eine Horde
aus zusammengelegtem Holz mit Reis durchflochten und setzte sie
aufs Meer. Als nun einmal der Löwe in den Wald zu jagen ge—
gangen war, bestieg Heinrich sein Fahrzeug und stieß vom Ufer
b. Der Löwe aber, welcher zurückkehrte und seinen Herrn nicht
mehr fand, kam zum Gestade und erblickte ihn aus weiter Ferne;
alsbald sprang er in die Wogen und schwamm so lange, bis er auf
dem Floß bei dem Herzog war, zu dessen Füßen er sich ruhig nieder—
legte. Hierauf fuhren sie eine Zeitlang auf den Meereswellen; bald
überkam sie Hunger und Elend. Der Held betete und wachte, hatte
Tag und Nacht keine Ruhe; da erschien ihm der böse Teufel und
sprach: „Herzog, ich bringe dir Botschaft; du schwebst hier in Pein
und Not auf dem offenen Meere, und daheim zu Braunschweig ist
lauter Freude; heute an diesem Abend hält ein Fürst aus fremden
Landen Hochzeit mit deinem Weibe; denn die gesetzten sieben Jahre
seit deiner Ausfahrt sind verstrichen.“ Traurig versetzte Heinrich,
das möge wahr sein, doch wolle er sich zu Gott lenken, der
alles wohl mache. „Du redest noch viel von Gott,“ sprach der
Versucher, „der hilft dir nicht aus diesen Wasserwogen; ich aber will
dich noch heute zu deiner Gemahlin führen, wofern du mein sein
willst.“ Sie hatten ein lang Gespräche, der Herzog wollte sein Gelübde
gegen Gott nicht brechen; da schlug ihm der Teufel vor, er wolle ihn
ohne Schaden samt dem Löwen noch heute abend auf den Giers—
berg vor Braunschweig tragen und hinlegen, da solle er seiner warten;
finde er ihn nach der Zurückkunft schlafend, so sei er ihm und seinem
Reiche verfallen. Der Herzog, welcher von heißer Sehnsucht nach
seiner geliebten Gemahlin gequält wurde, ging dieses ein und hoffte
auf des Himmels Beistand wider alle Künste des Bösen. Alsbald
ergriff ihn der Teufel, führte ihn schnell durch die Lüfte bis vor
Braunschweig, legte ihn auf den Giersberg nieder und rief: „Nun
wache, Herr! ich kehre bald wieder.“ Heinrich aber war aufs höchste
ermüdet, und der Schlaf setzte ihm mächtig zu. Nun fuhr der Teufel
zurück und wollte den Löwen, wie er verheißen hatte, auch abholen;
es währte nicht lange, so kam er mit dem treuen Tier dahergeflogen.
Als nun der Teufel noch aus der Luft herunter den Herzog in
Müdigkeit versenkt auf dem Giersberge ruhen sah, freute er sich schon
im voraus; allein der Löwe, der seinen Herrn für tot hielt, hub
laut zu schreien an, daß Heinrich in demselben Augenblicke erwachte.
248
Der böse Feind sah nun sein Spiel verloren und bereute es zu spät,
das wilde Tier herbeigeholt zu haben; er warf den Löwen aus
der Luft herab zu Boden, daß es krachte. Der Löwe kam glücklich
auf den Berg zu seinem Herrn, welcher Gott dankte und sich auf—
richtete, um, weil es Abend werden wollte, hinab in die Stadt Braun—
schweig zu gehen. Nach der Burg war sein Gang, und der Löwe
folgte ihm immer nach; großes Getöne scholl ihm entgegen. Er
wollte in das Fürstenhaus treten, da wiesen ihn die Diener zurück.
„Was heißt das Getön und Pfeifen?“ rief Heinrich aus, „sollte das
wahr sein, was mir der Teufel gesagt? Und ist ein fremder Herr
in diesem Haus?“ „Kein fremder,“ antwortete man ihm, „denn er
ist unsrer gnädigen Frau verlobt und bekommt heute das Braun—
schweiger Land.“ „So bitte ich,“ sagte der Herzog, „die Braut um
einen Trunk Weins, mein Herz ist mir ganz matt.“ Da lief einer
von den Leuten hinauf zu der Fürstin und hinterbrachte, daß ein
fremder Gast, dem ein Löwe mit folge, um einen Trunk Wein bitten
lasse. Die Herzogin verwunderte sich, füllte ihm ein Geschirr mit
Wein und sandte es dem Pilgrim. „Wer magst du wohl sein,“
sprach der Diener, „daß du von diesem edlen Wein zu trinken be—
gehrst, den man allein der Herzogin einschenkt?“ Der Pilgrim trank,
nahm seinen goldenen Ring und warf ihn in den Becher und hieß
diesen der Braut zurücktragen. Als sie den Ring erblickte, worauf
des Herzogs Schild und Name geschnitten war, erbleichte sie, stand
also auf und trat an die Zinne, um nach dem Fremdling zu schauen.
Sie ward den Herrn inne, der da mit dem Löwen saß; darauf ließ
sie ihn in den Saal entbieten und fragen, wie er zu dem Ringe
gekommen wäre, und warum er ihn in den Becher gelegt hätte? „Von
keinem hab' ich ihn bekommen, sondern ihn selbst genommen, es
ist nun länger als sieben Jahre; und den Ring hab' ich hingelegt,
wo er billig hingehört.“ Als man der Herzogin diese Antwort
hinterbrachte, schaute sie den Fremden an und fiel vor Freuden zur
Erden, weil sie ihren geliebten Gemahl erkannte; sie bot ihm ihre
weiße Hand und hieß ihn willkommen. Da entstand große Freude
im ganzen Saal, Herzog Heinrich setzte sich zu seiner Gemahlin an
den Tisch; dem jungen Bräutigam aber wurde ein schönes Fräulein
aus Franken angetraut. Hierauf regierte Herzog Heinrich lange
und glücklich in seinem Reich; als er in hohem Alter verstarb, legte
sich der Löwe auf des Herrn Grab und wich nicht davon, bis er
auch verschied. Das Tier liegt auf der Burg begraben, und seiner
Treue zu Ehren wurde ihm eine Säule errichtet.
Brüder Grimm.
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206. Heinrieh der Löwe.
Im Dom zu Braunschweig ruhet zieht mit ihm, wie sein Schatten,
der alte Welle aus, auf jedem dehritt und Pritt.
Heinrich der Löwe ruhet, Doeh als des Herzogs Auge
nach manchem harten Straub. in Todernòten brach,
Es liegt auf Heinrichs Grabe, der Löwe still und traurig
gleichwie auf einem Sebild, bei seinem Preunde lag.
ein treuer Totenwãehter — Vorgebens fing den Löwen
des Löwen ehb'rnes Bild. man in den Kaũg ein,
Der Löwe Llonnt' nicht weichen er brach die Risenstäbe,
von seines Herzogs BSeit', beim Herren mubt' er sein.
von ihm. der aus den Krallen Beim Herzog ruht der Löwe,
des Lindwurms ihn befreit. Ralt jeden andern fern,
die zogen miteinander doch nach drei Tagen fand man
dureh Syriens öden Sand, tot ihn beim toten Herrn.
sie gosen miteinander Drum mit des Herzogs Namen
nach Braunschweig in das Land. geht tola jahrhundert'lang
Wo auebh der Welfe wandert, der Löwe, wie beim Leben,
der Löwe ziehet mit, noeh immer seinen Gang.
Julius Mosen.
207. Die Ritterburgen.
Einen herrlichen Schmuck Thüringens, der Ufer des Rheins und
des Neckars bilden die Burgen. Freilich sind nur wenige in alter
Pracht erhalten oder wiederhergestellt worden, die meisten bieten
sich unseren Augen als Ruinen dar; aber der Wanderer betrachtet
gerne die gewaltigen Trümmer, welche ihn an eine längst vergangene
Zeit erinnern.
Vor 700 Jahren, als das Rittertum blühte, gab es in deutschen
Landen zahlreiche Burgen. Jeder Ritter besaß eine solche, um sich
und seine Familie, seine Diener, sein Hab und Gut darin zu bergen.
Auch aus dem Namen vieler Orter unserer Heimat, wie Lüneburg,
Harburg, Hamburg, Lauenburg, Hermannsburg erkennen wir, daß
sie einer Burg ihren Ursprung verdanken. Doch waren das nicht
immer solche Burgen, wie wir sie jetzt noch erblicken, sondern sie be—
standen oft nur aus einem ringförmigen Erdwall und einem hohen
Turme; die prächtigen Steinbauten entstanden erst in späterer Zeit.
Da die Burgen Schutz gewähren sollten, so war es nicht gleich—
gültig, wo sie lagen. In Mittel- und Süddeutschland, wo der Boden
250
vielfach gebirgig ist, thronten sie auf den Spitzen der Berge und
waren in die Felszacken hineingebaut. Hierauf weisen noch bestimmte
Silben in den Namen Hohenzollern, Hohenstaufen, Rheinstein,
Drachenfels, Rolandseck hin. Diese Burgen nannte man Höhen—
burgen. In Norddeutschland standen die Burgen in der Ebene, wenn
nicht ein Hügel oder Berg, wie z. B. der Kalkberg bei Lüneburg,
vorhanden war. Man umgab sie mit breiten Wassergräben und
nannte sie Wasserburgen. Über den Burggraben führte eine Brücke,
Ritterburg. Aus Lehmann, „Kulturgeschichtliche Bilder“.
welche jedoch von den Bewohnern aufgezogen werden konnte. Auf
diese Weise waren auch die Burgen des Flachlandes trefflich ge—
schützt, wenngleich sie dem Feinde mehr Stellen zum Angriff boten
als die Höhenburgen, zu denen nur ein einziger schmaler Weg hinauf—
führte, der überdies kurz vor der Burg plötzlich aufhörte, so daß
zwischen Weg und Burg noch eine tiefe Kluft lag, welche erst über—
brückt werden mußte, wenn man dicht an die Burg hinankommen
wollte.
Hohe und dicke Mauern umgaben die Burg und waren oben mit
Zinnen versehen, die den Rittern zur Deckung dienten, wenn sie auf
die Feinde schossen. Vermehrt ward die Stärke der Mauern noch
durch die Türme, welche hier und da in dieselben hineingebaut
waren. Wo sich das Eingangstor, also die Stelle befand, auf die
sich der Hauptangriff erstrecken mußte, lagen sogar zwei starke Türme
dicht nebeneinander. Durch das Haupttor gelangte man noch nicht
in die eigentliche Burg, sondern erst in den äußeren Burghof oder
den Zwinger. Hier befand sich an einer Seite der Burggarten, in
welchem Obstbäume, Küchen- und Heilkräuter gezogen und Blumen
gepflegt wurden, während die andere Seite für Ritterspiele frei blieb.
Von dem Zwinger führte ein Tor, das mittels eines starken eisernen
Fallgitters gesperrt werden konnte, durch einen gewaltigen Turm
in den inneren Burghof. Diesen umgaben die Gemächer für die
Familie des Ritters und für die Diener, die Ställe für das Vieh und
die Wirtschaftsgebäude. Das Herrenhaus war der stattlichste Bau.
Vom Hofe aus kam man auf einer breiten Treppe in das obere Stock—
werk desselben, in welchem sich der große Saal befand, wo der Ritter
gerne im Kreise seiner Familie weilte, und wo Freunde und Be—
kannte sich bei frohem Mahle um ihn scharten. Da die Mauern der
Gebäude sehr dick waren, entstanden bei den Fenstern tiefe Nischen,
in welchen man steinerne Bänke angebracht hatte. Der hervorragendste
Bau jeder Burg war ein hoher Turm, der sogenannte Bergfried. Er
bot in dem Falle, daß die Burg dem Feinde in die Hände fiel, den
Bewohnern die letzte Zufluchtsstätte. Das Innere war in mehrere
Stockwerke geteilt. Die Fensteröffnungen waren sehr schmal und
dienten zugleich als Schießscharten. Der Eingang befand sich nicht
zu ebenerx Erde, sondern man gelangte auf einer Leiter, die im Falle
der Belagerung aufgezogen werden konnte, in den Turm. In das
Erdgeschoß konnte man nur von dem Innern des Turmes kommen;
es war völlig dunkel, diente meistens als Gefängnis und hieß das
Burgverließ. In dem obersten Stockwerke wohnte der Wächter, der
fleißig ausschaute und Freund und Feind ankündigte.
Wilhelm Schäfer.
208. Aus dem Leben Rudolfs von Habsburg.
Rudolf verachtete allen eitlen Schimmer, alle Üppigkeit und
Weichlichkeit. Befand er sich mit seinen Kriegern auf dem Marsche,
so schämte er sich nicht, seinen zerrissenen grauen Rock selbst aus—
zubessern, und fehlte es an Lebensmitteln, so war er der erste, welcher
äine Rübe aus dem Acker zog, um seinen Hunger damit zu stillen.
Nie vergaß er auf dem Throne, daß er Mensch sei. Jedermann hatte
Zutritt zu dem menschenfreundlichen Herrscher. Einst, da die Wache
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— 4—
einen gemeinen Mann, der ihn zu sprechen wünschte, nicht zu ihm
lassen wollte, rief er ihr zu: „Ei, laß ihn doch herein! Bin ich denn
zum Kaiser erwählt, daß man mich einschließe?“
Rudolf behielt bis in sein hohes Alter einen sehr lebhaften Geist,
war ein Freund muntern Scherzes und machte bisweilen selbst ganz
erfreuliche Späßchen. Einmal wurde er von einem Bettler mit den
Worten angeredet: „Bruder Rudolf, beschenke doch einen armen
Mann mit einer kleinen Gabe!“ — „Seit wann sind wir denn
Brüder?“ fragte ihn der Kaiser, dem diese Anrede von einem Bettler
etwas Neues war. „Ei“ — antwortete der Arme — „sind wir denn
nicht alle Brüder von Adam her?“ — „Du hast recht,“ sprach Rudolf,
„ich dachte nur nicht gleich daran.“ Mit diesen Worten langte er in
die Tasche und drückte ihm einen Pfennig in die Hand. „Aber ein
Pfennig ist doch für einen großen Kaiser gar zu wenig,“ antwortete
der Bettler. „Was“ — entgegnete Rudolf — „zu wenig? Freund,
wenn dir alle deine Brüder von Adam her so viel schenkten als ich,
so würdest du bald der reichste Mann sein.“
Da Rudolf meist sehr schlecht gekleidet ging, so wurde er oft ver—
kannt und hatte manche, bisweilen ganz unangenehme Abenteuer.
Er verzieh aber gern kleine Beleidigungen, die ihm unter solchen Um—
ständen widerfuhren. Einst, da er sein Hoflager in der Nähe von
Mainz hatte, kam er in seinem gewöhnlichen schlechten Anzuge in die
Stadt. Es war ein kalter Morgen, und ihm froren die Hände. Daher
freute er sich, daß eben glühende Kohlen aus einem Backofen ge⸗
worfen wurden, und trat hin, sich zu erwärmen. Die Bäckerin aber,
die eine böse Sieben war und ihn für einen gemeinen Kriegsknecht
ansah, wollte das nicht leiden und machte gar keine Umstände mit
ihm. „Marsch“ — sagte sie — „troll dich fort, du schäbiger Hund,
zu deinem Bettelkönig, der mit seinen Pferden und Knechten das
ganze Land aufzehrt, oder wenn du nicht gleich gehst, gieße ich dir
den Kübel Wasser über den Kopf!“ Der Kaiser meinte, sie würde
denn doch nicht so böse sein, lachte zu ihren Schimpfreden und blieb
ruhig auf seinem Platze. Aber das keifende Weib führte ihre Drohung
aus und goß dem vermeintlichen Kriegsknecht das ganze eiskalte
Wasser über den Kopf. Rudolf eilte nun so schnell als mög⸗
lich in das Lager zurück, um seine nassen Kleider zu wechseln und
sich wieder zu erwärmen. Bei Tische erzählte er mit der ihm
eigenen kurzweiligen Art sein Abenteuer und belachte es lange mit
seinen Gästen. Dann nahm er eine Flasche Wein vom Tische und
schickte sie samt einer Schüssel voll der besten Speisen der unfreund—
lichen Frau, nach deren Namen er sich erkundigt hatte. „Geh,“ sagte er
255
dem Boten, „bring ihr das mit meinem Gruße, und der alte Lands⸗
knecht, den sie diesen Morgen so unfreundlich getauft hätte, ließe sich
für das frische Bad schön bedanken!“
Als die Bäckerin vernahm, wer der arme Kriegsknecht gewesen sei,
wollte sie vor Schrecken in den Boden sinken. Sie lief eiligst ins
Lager hinaus und warf sich dem Kaiser, der noch bei der Tafel saß,
zu Füßen. Rudolf aber hieß sie freundlich aufstehen und legte ihr
keine andere Strafe auf, als daß sie vor allen anwesenden Herren
ihre Schimpfreden wiederholen mußte. Kein Wort durfte sie ver—
gessen, und wo sie stockte, half ihr Rudolf nach, was einen höchst
komischen Auftritt gab.
Bisweilen meinten des Kaisers Freunde, er sei allzu gütig; doch
Rudolf antwortete ihnen: „Es hat mich schon öfter gereut, daß ich
zu strenge war; nie aber wird es mich reuen, daß ich zu gut ge⸗
wesen bin.“ A. W. Grube.
209. Wie Friedrich J. die Raubritter bezwingt.
Es war am Johannistage des Jahres 1412, als in die Haupt—
stadt der Mark, damals Brandenburg, ein stattlicher Herr, von einem
Haufen prächtiger Reisigen begleitet, einzog. Das kräftige Roß des
Reiters bog stolz seinen Nacken; denn es trug den Burggrafen Fried—
rich VI. von Hohenzollern in diese Stadt, damit der Adel und die
Städte des Landes ihm huldigen möchten. Der Kaiser Sigismund
hatte ihn nämlich in Anerkennung seiner treuen Dienste zum Statt⸗
halter von Brandenburg bestimmt. Aber da kamen weder die Edlen
des Landes, noch der Rat der Stadt, ihren Landesherrn zu begrüßen;
denn sie waren durch die traurige Regierung des vorigen Fürsten
dem Oberhaupte des Landes entfremdet worden und hatten sich
an zügellose Freiheit gewöhnt. Die vom Adel, besonders die Quitzows,
hausten in der Mark ganz nach eigenem Gefallen. Zwar konnte
man nicht sagen, daß sie Räuber gewesen wären; nein, es geschah
alles in ordentlicher Fehde, wie man's nannte. Aber wenn sie Lust
hatten, einer Stadt abzusagen, d. i. Fehde anzukündigen, so war ein
Vorwand bald gefunden. Dann raubten sie die Viehherden, über—
fielen die Warenzüge, nahmen die Leute, welche sich außerhalb der
Mauer zeigten, gefangen, ließen sich schweres Lösegeld für ihre Frei—
lassung zahlen, erstürmten die Städte, plünderten sie und steckten
sie wohl gar in Brand. Allgemein betrachtete man die Quitzows
und ihren Anhang als die Plage und den Schrecken des Landes.
So ging's damals in der Mark zu. Friedrich gebot nun sogleich
253
224 —
einen Landfrieden, also auch das Aufhören des wilden Fehdewesens.
Er machte es den Rittern zur Pflicht, die Städte und Schlösser, welche
ihnen verpfändet worden waren, gegen Empfang der Pfandsumme
wieder herauszugeben. — Wer Dietrich und Johann von Quitzow,
Kaspar Gans von Putlitz, Wichard von Rochow und Achim von Bredow
verbanden sich gegen den neuen Landesherrn. „Und wenn es das
ganze Jahr Burggrafen vom Himmel regnete, so sollten sie dennoch
nicht in der Mark aufkommen,“ sagten sie. Vergeblich bemühte sich
Friedrich, sie durch Freundlichkeit und Herzensgüte zu gewinnen; ver—
gebens bot er ihnen Verzeihung an und sicherte ihnen den Besitz ihrer
rechtmäßig erworbenen Güter zu; sie verharrten bei ihrem Trotze.
Da wandte sich Friedrich an den Kaiser. Der erklärte die Wider—
spenstigen für Rebellen und sprach die Reichsacht über sie aus. Noch
zögerte der Kurfürst. Als aber die Ritter auch nun noch nicht auf—
hörten, die Mark durch ihre Fehden zu verwüsten, da mußte Friedrich
Ernst gebrauchen. Mit vier Heeren rückte er zu gleicher Zeit vor
ihre festen Schlösser
Das Haupt der Rebellen, Dietrich von Quitzow, befand sich in
Friesack, und hier leitete Friedrich selbst die Belagerung. Lachend
erwartete Dietrich die Feinde. Friesack war eine der festesten Bur—
gen in der Mark. Da geschah plötzlich ein furchtbares Krachen. Die
ganze Burg zitterte; klirrend zersprangen die Scheiben in den
Zimmern; prasselnd fiel der Kalk von den Wänden, und donnernd
stürzten Steine und Steintrümmer in den Burghof. In größter
Bestürzung und betäubt von dem unerhörten Getöse, lief alles in
der Burg zusammen. Was mochte es sein? — Es war die „faule
Grete“, eine Kanone, welche Kugeln von 24 Pfund schoß. Friedrich
hatte sie mitgebracht; er besaß nur diese eine. In der Mark war
sie etwas ganz Neues. Zwar war das Schießpulver schon seit 1350
(wahrscheinlich durch den Mönch Bertold Schwarz) erfunden, und
Dietrich selbst besaß einige kleine Donnerbüchsen; aber von solcher
Größe hatte man hier noch keine gesehen. Da Friedrichs Kanone
wegen ihrer Schwere nur sehr langsam fortgeschafft werden konnte,
so ward sie von dem Volke die faule Grete genannt. — Es währte
nicht lange, so war die Mauer von Friesack an einer Stelle zer—
trümmert, und man gab auf der Burg ein Zeichen, daß man sich er—
geben wolle. Dietrich von Quitzow befand sich aber nicht mehr
darin. Er hatte sich auf geheimen Pfaden geflüchtet. Nunmehr
hatte Friedrich leichteres Spiel. Die andern Verbündeten ergaben
sich und wurden später begnadigt
Nach Henning.
35
210. Aus Luthers Leben.
L
Luthers Jugend.
Nicht weit von der Stadt Eisenach mit dem altberühmten Schloß,
der Wartburg, liegt das Dörflein Möhra. Seine Einwohner waren
vorzeiten ein derbes, kräftiges Bauerngeschlecht. Im Jahre 1483
zog einer von ihnen, Hans Luther mit Namen, der zugleich Berg—
mann war, mit seiner jungen Ehefrau Margarete, geb. Ziegler,
nach Eisleben, allwo der Bergbau mehr abwarf. Noch in demselben
Jahre ward ihnen ein Knäblein geboren, das tags darauf in der
Petrikirche getauft und Martin genannt wurde; denn es war der Tag
des heiligen Martinus, jenes frommen Bischofs, welcher vorzeiten,
als er noch ein Kriegsmann war, seinen Mantel im harten Winter
mit einem Nackenden geteilt hatte.
Als Martinus sechs Monate alt war, zogen die Eltern von Eis—
leben nach dem nahen Mansfeld, welches die Hauptstadt der Graf—
schaft war und den Bergleuten die meiste Nahrung bot. Die beiden
Eheleute haben ums tägliche Brot schwer arbeiten müssen und dabei
nicht Wetter und Wind, noch Sonnenbrand gescheut, weshalb sie
auch ein „bräunlich Volk“ wurden. Dessen hat Luther sich niemals
geschämt. „Ich bin,“ erzählt er, „eines Bauern Sohn. Mein Vater,
Großvater und Ahnherr sind rechte Bauern gewesen. Mein Vater
ist ein armer Berghäuer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf
dem Rücken eingetragen, damit sie uns erziehen könnte. Sie haben
sich's lassen blutsauer werden. Jetzt würden's die Leute nicht mehr
so aushalten.“ Späterhin haben sie sich wacker emporgearbeitet,
also daß der Vater einer der vier Ratsherren der Stadt geworden
ist, geehret und geliebt von jedermann. Sie sind aber allezeit gottes—
fürchtige Leute geblieben, schlecht und recht und haben streng auf
Zucht und Ordnung gehalten. Darinnen haben sie auch ihre Kinder
auferzogen und aus Liebe zu ihnen sich gern Tag und Nacht ab—
gemühet, auch oftmals über ihrem Bettlein gebetet; denn sie hatten
im Sinne, daß dieselbigen etwas Rechtes würden auf Erden, Gott
angenehm und den Menschen brauchbar. Das hat Luther ihnen
auch allezeit warm gedankt.
Der kleine Martinus mußte früh in die Schule, und da dieselbe
am obern Ende der Stadt lag, wo sie sich den steilen Berg hinauf—
zieht, hat der Vater ihn oftmals auf den Armen hinaufgetragen,
und manch anderes Mal hat ein älterer Kamerad, der Oemler hieß,
dem kleinen Burschen diesen Liebesdienst getan. Das hat Luther
255
niemals vergessen, und noch ein paar Jahre vor seinem Ende hat er
dem lieben Freund Oemler ein artiges Sprüchlein darüber in seine
lutherische Bibel eingeschrieben. In der Schule lernte Martinus
lesen und schreiben, die zehn Gebote, den christlichen Glauben und
etwas Latein. Er hat aber dabei viel Angst und Zittern ausstehen
müssen. An einem Vormittag, erzählt Luther, habe er einst wieder—
holt Schläge bekommen ohne seine Schuld; denn er hätte aufsagen
sollen, was man ihn nicht gelehrt hatte. Kam er alsdann nach Hause,
so durfte er sich nicht ausklagen; denn wie der Eltern Hände bei
der harten Arbeit nicht allzu zart geblieben waren, also haben sie
auch ihre Kinder nicht allzu weich angefaßt. Auch das erzählt Martinus
offen und ehrlich. „Meine Eltern haben mich gar hart gehalten, daß
ich darüber gar schüchtern wurde, aber sie meinten's herzlich gut.“
Als Luther 14 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater nach Magde—
burg, aber schon nach einem Jahre begab sich Martinus auf Befehl
der Eltern nach Eisenach; denn daselbst hatte seine Mutter große
Verwandtschaft, die sich des armen Jungen annehmen konnte. Man
kümmerte sich indes nicht um ihn, und weil der Vater damals noch
arm war, mußte der Knabe, wie er schon in Magdeburg angefangen
hatte, in Eisenach fortfahren, nach damaliger Sitte mit andern armen
Schülern vor den Türen um „Parteken“ d. h. um kleine Gaben zu
singen, wobei sich's denn manchmal traf, daß man ihn, statt mit
Geld oder Brot, mit Scheltworten abspeiste. „Ich selbst,“ sagt er,
„bin auch ein solcher Partekenhengst gewesen, sonderlich zu Eisenach,
meiner lieben Stadt.“ Da fügte es Gott, daß die fromme und wohl—
habende Patrizierfrau Ursula Cotta den Knaben lieblich singen hörte.
Um seiner klaren Stimme und seines herzlichen Gebetes willen ge—
wann sie eine sehnliche Zuneigung zu ihm und nahm ihn zu sich
an ihren Tisch, womit ihr Eheherr Kunz oder Konrad wohl zufrieden
war. Also hatte Martinus in der Fremde ein schützendes Heim ge—
funden, lernte auch zum erstenmal in einem Patrizierhause sich be—
wegen. Das kam auch nicht von ungefähr und war die richtige
Schule für den schüchternen Knaben, welcher hernachmals vor die
Fürsten und Gewaltigen der Erde hintreten sollte. Nach vier
Jahren, also 1501, bezog Martinus, wohl vorbereitet, die Universi—
tät Erfurt. „Mein Vater,“ erzählte er, „hat durch seinen sauern
Schweiß und Arbeit dahin geholfen, daß ich hingekommen bin und
hielt mich in der hohen Schule mit aller Liebe und Treue.“ Es
war damals ein frisches Regen und Bewegen in Erfurt, denn die
Universität stand, wie Luther sagt, „in solchem Ansehen, daß älle
anderen dagegen für kleine Schützenschulen angesehen wurden“. Mit
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257
hellem Kopf und warmem Herzen versenkte sich Luther in die Wissen—
schaften und Künste, insonderheit in die Juristerei, die er nach seines
Vaters Willen ergreifen sollte, also daß sein Talent von der ganzen
Hochschule bewundert ward. Das kam daher, daß er auch schon als
Student aus der rechten Quelle schöpfte; denn ob er gleich von Natur
ein „fröhlicher, hurtiger Jüngling“ geworden war, begann er doch
jeden Morgen sein Studium mit herzlichem Gebet und Kirchen—
gehen, wie denn dies sein Sprichwort war und blieb: „Fleißig ge—
betet, ist über die Hälfte studiert!“ Inlius Disselhoff.
II.
Martin Luthers Mildtätigkeit.
Notleidenden gab Luther, solange er noch etwas hatte, ja man
kann sagen, auch dann noch, wenn er nichts mehr hatte, wie folgendes
Beispiel beweiset.
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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Einmal kam zum Doktor Luther ein armer Student, der nach
Hause reisen wollte und doch kein Reisegeld hatte. Er bat Luther um
eine Gabe; der aber hatte diesmal selber gar kein Geld und wurde
sehr betrübt, daß er nichts zu geben hatte. Wie er so traurig in
der Stube umhersah, erblickte er einen schönen silbernen Becher, den
er von seinem Kurfürsten zum Geschenk erhalten hatte. Da lief er
mit fröhlichem Blick hinzu, ergriff das Kleinod und reichte es dem
Studenten, indem er sprach: „Ich brauche keinen silbernen Becher.“
Und als der Student sich weigerte, ihn anzunehmen, drückte Luther
den Becher mit seiner kräftigen Hand zusammen und sprach: „Da,
nimm ihn, trag ihn zum Goldschmied, und was du dafür lösest,
das behalt·—
Ein Mann, der um des Glaubens willen vertrieben war, sprach
Doktor Luther um eine Gabe an. Luther hatte selber nur einen Taler
in seiner Kasse, den er lange aufgespart hatte. Solche Geldstücke wur—
den damals Joachimstaler genannt nach der Stadt Joachimsthal im
Erzgebirge, wo sie geprägt wurden; davon heißen sie heutzutage
Taler. Als Luther nun angesprochen ward, bedachte er sich kurz,
griff fröhlich nach dem Taler mit den Worten: „Jochen, heraus, der
Herr Christus ist da!“ und gab ihn dem armen Mann. —
Als Doktor Jonas den Armen einmal Almosen gab, sprach er:
„Wer weiß, wo mir's Gott wieder beschert?“ Darauf sagte Luther
lachend: „Gleich, als hätte es Euch Gott nicht zuvor gegeben! Frei,
einfältig soll man geben, aus lauter Liebe, willig.“
Karl Rudolf Hagenbach.
III.
Luther beim Tode seines Töchterchens Magdalene.
So furchtlos und unbeugsam Doktor Martin Luther war, wenn
es sich um die reine Lehre des Evangeliums handelte, so weich und
kindlich innig war er oft im Kreise seiner Familie. Das zeigte sich
besonders beim Tode seiner lieben 13jährigen Tochter Magdalene.
Als sein Töchterchen zum Tode krank lag, saß er an ihrem Bette
und sprach: „Ich habe sie sehr lieb, aber lieber Gott, weil es dein
Wille ist, daß du sie hinwegnehmen willst, so mag ich sie auch gerne
bei dir haben!“ Er wandte sich darauf zu der kranken Tochter und
sagte: „Lenchen, mein Kind, du hast noch einen Vater im Himmel,
zu dem wirst du gehen; du bliebest gern hier bei deinem Vater und
ziehest auch gern zu jenem Vater, nicht wahr?“ Das Kind ant—
wortete: „Ja, Herzensvater, wie Gott will.“ Da sagte der Vater:
„Du, mein liebes Töchterlein, der Geist ist willig, aber das Fleisch
ist schwach.“ Da Lenchen nun in den letzten Zügen lag, fiel Luther
258
vor ihrem Bett auf die Kniee nieder, vergoß viele Tränen und bat
Gott, er wolle sie doch erlösen, worauf sie in seinen Armen verschied.
Zu der klagenden Mutter aber sprach er: „Liebe Käthe, bedenke doch,
wo sie hinkommt; ihr ist ja wohl. Ich hätte sie auch gern behalten,
denn ich habe sie ja sehr lieb, wenn sie mir unser Herrgott hätte
lassen wollen; doch geschehe sein Wille.“ Karl Becler.
211. Ein Tag aus dem Leben des Großen Kurfürsten
und seiner Gemahlin.
Es war ein schöner, klarer Herbstmorgen des Jahres 1662.
Qurfürst Friedrich Wilhelm hatte beim ersten Morgengrauen sein
Gemach verlassen und war hinuntergegangen auf den Schloßplatz.
Wie ganz anders sah dieser jetzt aus als zur Zeit seines Einzuges
in Berlin! Wo damals Sumpf und Weidengebüsch sich ausbreitete,
war jetzt ein herrlicher Lustgarten entstanden, eine Zierde von Berlin.
Zwischen schönen Rasenplätzen und prächtigen Bäumen führten breite,
mit gelbem Kies bestreute Wege umher. Die Zweige der Bäume
waren nach der Sitte jener Zeit zu Kugeln, Türmchen und mancherlei
künstlichen Formen beschnitten. In großen hölzernen Gefäßen standen
über fünfhundert Orangenbäume, aus deren dunklem Laube weiße
Marmorfiguren hervorleuchteten. In der Mitte des Gartens plät⸗
scherte lustig ein Springbrunnen, und ringsumher prangten in bunten
Farben Astern und dufteten Levkojen.
Der Kurfürst ließ freudig bewegt noch einmal seinen Blick hin—
gleiten über alles, was er in den 22 Jahren seiner Regierung hier
geschaffen hatte. Jetzt dachte er nicht mehr an die Schwierigkeiten,
welche ihm diese Anlagen bereitet hatten. Wieviel Sorge und ver—
drießliche Arbeit hatte ihm überhaupt seine Residenz schon bereitet.
Wie laut hatten die Berliner über die Regierung geschimpft, als sie
die Schweineställe von der Straße nach den Höfen verlegen mußten,
und dem Borstenvieh das Recht genommen wurde, fernerhin auf
den Straßen zu wühlen. Daß sie nun gar die Dünger- und Schmutz⸗
haufen von den Straßen entfernen sollten, empörte sie, und sie
weigerten sich so lange, bis endlich der Kurfürst einen Teil derselben
entfernen ließ und als Gartenerde auf dem Schloßplatze verwendete.
Auch gegen Straßenpflasterung und Straßenbeleuchtung hatten manche
Bürger sich gesträubt, obgleich jetzt alle einsahen, daß es doch besser
war als in früherer Zeit.
Aus dem Lustgarten ging der Kurfürst in den Garten, der sich
hinter dem Schlosse an der Spree hinzog. Das war der Garten der
259
17*
9
Kurfürstin. Auf den schnurgeraden Beeten standen, reihenweise sorg⸗
fältig gepflanzt, allerlei Gemüsearten, und in den Treibhäusern
wuchsen seltene Blumen, die sonst in der ganzen Mark Brandenburg
nicht zu finden waren. Mit Dankbarkeit dachte der Kurfürst an seine
Gemahlin, die hier wie überall bemüht war, dem armen unwissenden
Volke das Bessere zu zeigen, um es zu größerem Wohlstande zu
führen.
Darauf kehrte er in das Schloß zurück, um seine Gemahlin zu
begrüßen und dann an die Staatsgeschäfte zu gehen. Er fand die
Kurfürstin in andächtigem Gebet am Hausaltar knieend. Sie war
eine herzlich fromme Frau. Nach ihrer gewöhnlichen Tagesordnung
gehörte der Vormittag dem Dienste des Herrn und der Nächstenliebe.
Bei dem einfachen Mittagsmahle, das nur die Speisen eines
bürgerlichen Tisches aufwies, wurde zwischen den kurfürstlichen Gatten
ein Ausflug nach Oranienburg verabredet. Der Ort, etwa zwei Meilen
nördlich von Berlin gelegen, war der Lieblingsaufenthalt der Kur—
fürstin und hatte nach ihr seinen Namen erhalten. In früherer Zeit
befand sich hier das alte Jagdschloß Bötzow. Als einmal Luise
Henriette ihren Gemahl hierher begleitete, sah sie von den oberen
Fenstern auf die üppig grünenden Wiesen, durch die der blaue Havel—
strom in vielen Windungen dahinfloß. Da ward sie lebhaft an ihre
Heimat erinnert, wo es so viele wasser- und grasreiche Triften gab.
Aber während dort die Bewohner wohlhabende, ja reiche Leute waren,
herrschte hier Armut und Elend. Das schmerzte die Kurfürstin ief,
und sie bat ihren Gemahl, er möge ihr das Schloß überlassen, da—
mit sie hier eine Musterwirtschaft nach holländischer Art anlegen
könne. Gern sagte es der Kurfürst ihr zu.
Noch in demselben Jahre (1650) ging die Kurfürstin ans Werk.
Sie berief Gärtner und Landwirte aus Holland, zog auch geschickte
Ansiedler aus anderen Gegenden herbei und sah selbst nach, daß auch
alles ordentlich angelegt wurde. Sie selbst entwarf die Zeichnungen,
nach denen die Gartenanlagen gemacht wurden, und pflanzte mit
eigener Hand die Obstbäume, die sie aus Holland bezogen hatte.
Selbst wenn sie mit ihrem Gemahl auf Reisen war, mußte ihr der
Verwalter berichten, wie es in Oranienburg ging; sobald sie aber
nach Berlin zurückkehrte, war ihr liebster Ausflug nach Oranienburg.
Bald nach Tische wurde der kurfürstliche Wagen mit dier Pferden
bespannt; denn es kostete nicht wenig Anstrengung, die schwere Karosse
auf den sandigen Wegen fortzubringen. Langsam fuhr der Wagen
dahin. Die Kurfürstin hatte Zeit, die Gegend genau zu betrachten.
Wie sehr hatte sich alles verändert seit dem Jahre 16501 Damals
260
—— —
sah man rechts und links vom Wege nur Gestrüpp, wild aufschießende
Sträucher und junge Bäume; die Wiesen am Flusse waren öde und
leer. Jetzt erblickte man überall Stoppelfelder, die von fleißigem
Ackerbau zeugten; auf den Wiesen weidete schönes Vieh, und in der
Ferne erhob sich ein neu erbauter Kirchturm über die Häuser eines
kürzlich angelegten Dorfes.
Unter allerlei Gesprächen waren die kurfürstlichen Herrschaften
in Oranienburg angekommen. Wie still und friedlich lag der Ort
da! Um das Schloß breitete sich ein schattiger Park mit wohlgepflegten
Bäumen aus; daran schloß sich ein Garten, der reich war an schönen
Blumen und prächtigen Obstbäumen. Dann kam man zur Meierei.
Das Gebäude war einfach, aber schmuck und dauerhaft. Auf dem
Hofe herrschte überall Ordnung und Sauberkeit.
Als der Wagen in den Hof einfuhr, trat ein treuherzig aus—
sehender Mann an die Kurfürstin heran. Es war der Verwalter
Sturm, der die Aufsicht über die ganze Meierei zu führen hatte. Er
verbeugte sich und sprach: „Eure Durchlaucht haben es heute recht
glücklich getroffen. Wir haben heute die ersten Erdäpfel eingeerntet
und wollen sie den Leuten zum Abendessen vorsetzen. Gewiß wird
es Ihnen Freude machen, die seltenen Knollen so gut geraten zu sehen.“
„Ganz gewiß,“ entgegnete die Kurfürstin lebhaft. Sie war es
ja, welche die ersten Kartoffeln in Brandenburg hatte anpflanzen
lassen. Bis dahin kamen sie als seltenes und feines Gemüse mit der
Post aus Holland und wurden nur von reichen und vornehmen
Leuten gegessen. Sie hatte aber erkannt, daß auf dem sandigen und
unfruchtbaren Boden der Mark gerade dieses Gewächs guten Ertrag
liefern werde und einen Ersatz bieten könne für das Brotkorn, das
namentlich in trockenen Jahren so oft mißriet. Die Brandenburger
betrachteten die neue Speise mit höchstem Mißtrauen. Einige hatten
versuchsweise in die rohen Kartoffeln gebissen, natürlich den Geschmack
abscheulich gefunden und das ungenießbare Zeug beiseite geworfen.
Andere hatten sie den Hunden vorgesetzt, und auch diese mochten sie
nicht. Da murrte man: „Nicht einmal die Hunde können die frem—
den Erdäpfel vertragen, und wir sollen sie essen! Das ist schändlich!
Für die reichen Herrschaften mag das gut sein, die haben allerhand
sonderbare Gerichte, aber für uns ist das nichts.“ Aber nach und
nach gewöhnten sich die Leute doch an die neue Frucht und schätzten
sie schließlich sehr hoch.
Als die Kurfürstin alles genau besichtigt hatte, trat sie in das
kleine Gemach ein, das neben der Milchkammer lag, und das sie wohl
ihre Kanzlei nannte. Hier befanden sich die Wirtschaftsbücher, in
261
welche sie täglich eintrug oder eintragen ließ, was ausgegeben und
eingenommen wurde.
Während die Kurfürstin emsig schrieb und rechnete, wurden die
eingeernteten Kartoffeln in den Hof gebracht, und die Köchin bereitete
einen großen Kessel voll für die Abendmahlzeit. Die Kurfürstin
hatte ihr genau gezeigt, wie die Kartoffeln gekocht werden. Sie schmeck—
len den Leuten vortrefflich. Auch an der kurfürstlichen Tafel speiste
man Kartoffeln, und als die Abendmahlzeit unter fröhlichen Ge—
sprächen vorübergegangen war, wurden noch einige Psalmen ge—
lesen, und dann legte sich alles zu Bette. Nach Max Hübner.
212. König Friedrieh Wilhelm J. und die Paradebesucher.
Auch zur Zeit König Friedrich Wilhelms I. war eine preubische
Parade etwas Sehenswertes, und viele vornehme Leute kamen
meilenweit, ja sogar aus andern Ländern hergereist, um die preubi-
schen Riesen exerzieren zu sehen. Die Berliner waren damals
nicht weniger neugierig als jetzt und hätten gerade so gern zu—
gesehen wie heute, aber — es war nicht immer ratsam, sich vom
Könige sehen zu lassen. Er konnte die mübigen Gaffer nicht
leiden und wies sie oft sehr handgreiflich an die Arbeit.
Auch im Frũhlinge des Jahres 1738 wollte Friedrich Wilhelml.
eine grobe Parade abhalten. Schon um 4 Uhr früh waren die
Soldaten auf den Plätzen der Stadt zusammengetreten und mar—
schierten langsam und gemessen die breiten Straben der Friedrich-
stact entlang.
An der Ecke der Lindenstraße, wo man sowohl die Linden-
stfrabe als die Friedrichstrabe überblicken konnte, hatte sich eine
zahlreiche Gruppe von Berlinern angesammelt, welehe sorglältig
nach beiden Seiten ausspähten. Sie hatten sich vorgenommen,
heute die Parade anzusehen, wollten aber erst den König vor—
ühberlassen, damit sie dann unbemerkt auf das freie Feld kommen
konnten.
„Wibt ihr was?“ rief ein kleiner, behender Mann, dessen
zöpflein wie Wirbelwind hin und her tanzte. „Dort wird gerade
ein Haus gebaut. Wenn wir den König kommen sehen, so ziehen
wir unsere Röcke aus, helfen den Maurern und Zimmerleuten,
karren Schuft oder nehmen eine andere Handreichung vor. Dann
wird er gewib ein besonderes Wohlgefallen an uns haben.“ Nicht
lange hatten die Zuschauer dort gestanden, als der König um die
Bcke der VWilhelmstrabe bog. In einem Augenblicke war der ganze
262
Platz leer. Ein Teil der Zuschauer lief in die einzeln stehenden
Häuser, hinter die Gartenzüäune oder die Lindenstrabe hinauf.
Andere folgten dem Rat des Herrn Vogtius. Sie gingen schnell
an den Neubau, karrten Sand, trugen Steine zu, brachten Kalk
herbei und zeigten sich ganz Juberordentlich fleißig. Das freute
den König, der überall nützliche Tatigkeit wünschte. Er ritt bis
an die äubere Umzäunung des Baues und sah mit Vergnügen zu.
Das hatten die guten Bürger freilich nicht erwartet. Der Schweib
troff ihnen von der Stirn, einmal infolge der ungewohnten An
strengung, dann aber auch aus Angst vor dem Könige. Als er
nun gar einem zurief: „Lomm Er mal her!“ da wurde ihnen
angst und bange.
Nur Herr Vogtius verlor den Mut nieht. Da er die andern
in diese Verlegenheit gebracht hatte, wollte er ihnen jetzt auch
helfen. Er drängte sich also schmunzelnd bis an das Pferd des
Königs und fragte demũtig:
„Was befehlen Eure Allerdurchlauchtigste Majestät?!
„Hör Er mal,“ sagte der König, „das gefällt mir. Pin ordent·
lichen Hauswirt steht nie müßig. — Aboer wie kommt es, dab so
viele Bürger Hand anlegen? Hat denn der Bau so grobe Eile?“
Zu dienen, Alerdurchlauehtigster, Grobmächtigster König
und Herr. Wir alle sind Nachbarn dieser Baustelle, und da wir
wissen, dab Eure Majestät ein grohes Woblgefallen am Bau dor
Häuser habe, so haben wir uns zusammengetan, um unseren
Nachbarn zu helfen.“ „Hör PEr mal, das ist gut und soll so
bleiben,“ sagte der König. Dann betrachtete er noch einmal die
hülfreichen Nachbarn und sagte:
„Ihr seid ja aber s0 viele Leute, dabß ihr euch einander
hindert. Da mag die Hälfte von euch in die Wilhelmstrabe gehen,
wo ieh eben die neuen Häuser angesehen habe. Dort ist ein Haus,
an dem nur zwei Menschen arbeiten. Sagt nur, ich schickte eueh.
Ich werde nachher wieder vorbeireiten und sehen, ob ihr etwas
vor euch gebracht habt. — Wie heibt Er?“
„Theophilus Vogtius, Diener und Aufseher am Rathaus,“ W
gegnete der Gefragte, dem jetzt auch der Angstschweiß auf die
Stirne trat.
Nun, das ist mir lieb, daß der Rat sich einen ordentlichen
Mann ausgesucht hat, sprach dor König freundlich. Dann setzte
er hinzu: „Strenge Er sich auch nicht zu sehr an. Er schwitzt
ja ordentlich. Er fürchtet sich wohl vor mir? Da tut PEr unrecht.
Kein ordentlicher, fleibiger Mann pbraucht sich vor mir zu fürehten.
263
264
„Das wohl nicht,“ entgegnete Vogtius, aber man ist doch
ungewohnt, mit so hohen Herren —.“
„Schon gut,“ sagte der König, „gehe Er nur jetzt an die
Arbeit. Also die Hälfte von euch in die Wilhelmatrabe! Ver—
standen? — Gott befohblen!“ Nach Max Hübner.
213. Wie Friedrich Wilhelm J. eine Schulprüfung hielt.
Giesenbrügge ist ein Dorf in der Neumark. Hier hatte Friedrich
Wilhelm J. wie an vielen andern Orten eine Schule eingerichtet. Er
hatte zum Bau des Schulhauses das Holz gegeben und einen Lehrer
namens Wendrot geschickt. Der König war aber gewohnt, überall,
wo er etwas Neues gegründet hatte, selbst nachzusehen, ob es gedieh,
und ob seine Beamten fleißig waren und ihre Schuldigkeit taten.
Seine Fahrten durchs Land waren aber bei allen faulen und ge⸗
wissenlosen Leuten sehr gefürchtet; denn plötzlich war er da, wo ihn
niemand erwartete, und nichts entging seinem scharfen Auge. So
wußte auch heute, an einem heißen Julitage des Jahres 1730, in
Giesenbrügge und zehn Meilen in der Runde kein Mensch, daß der
König unterwegs war, die Schule zu besuchen.
Meister Wendrot hatte des Tages Last in der niederen Schulstube
getragen. Behaglich schritt er nun im Schulgarten, die Gießkanne
in der Rechten, von Beet zu Beet, das Gemüse und die Blumen zu
begießen. Die Schuljugend tummelte sich auf dem Platze vor der
Kirche. Da stürzte Frau Wendrot atenlos in den Garten und
rief: „Ach Gott, Mann, spute dich!“ „Was ist?“ fragte er be—
stürzt. „Der König ist hier, er kommt eben mit dem Schulzen die
Straße herauf.“ Wendrot riß eilig den Hausrock von den Schultern
und stürmte durch den Garten ins Haus. Als er aber eben die Haus—
tür ein wenig öffnete, um einen Blick auf die Straße zu werfen,
da stand der König schon vor ihm. „Aha, das ist mir lieb, daß ich
Ihn zuhause finde,“ begann Friedrich Wilhelm. „Majestät,“ stam⸗
melte Wendrot, der in Hemdärmeln vor seinem König stand, „ich war
in meinem Garten; solchen Besuch hatte ich heute nicht vermutet.“
„Ja, ist meine Art so,“ lachte der König. „Da geraten noch ganz
andere Leute in Schrecken; doch fasse Er sich! Er soll mir eine Stunde
halten mit seinen Jungen, will mal die Bengel arbeiten sehen.“
„Wie Majestät befehlen,“ antwortete Wendrot gefaßt. „Der Schul—
besuch ist doch gut?“ — „Sehr gut, Majestät.“ Der König war in
die Schulstube getreten; er musterte alles genau: Bänke, Tische,
Geräte, Bücher. Dann ließ er sich die Listen geben, sah die Schreib—
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hefte nach und prüfte einige Zensuren. „Was bringt Er denn den
Jungen bei?“ — „Lesen, Schreiben, Rechnen, die Heilige Schrift
und etliche Kenntnisse in der Geograͤphie und Naturgeschichte.“
— „Gut, weiter ist nichts nötig. Nun lege Er mal los!“
Hhielt nicht schwer, die Jungen herbeizurufen. Bald füllte
sich die Schulstube mit Schülern. Sie waren alle gekommen, wie
sie gingen und standen, einige mit Schürzen, die meisten in Hemd—
ärmeln. Alle betrachteten recht neugierig und eifrig den König, der
sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte und lächelnd die wohlge—
nährten, strammen Burschen musterte. „Was befehlen Majestät,
worin soll ich prüfen?“ fragte Wendrot. „Zuerst in der biblischen
Geschichte.“ Die Prüfung ging vor sich; die Jungen bestanden gut.
Ebenso ging es im Lesen; die Schüler waren tüchtig auf dem Posten.
Beifällig nickte der König. „Nun die Hauptsache fürs Leben,“ sagte
er, „Rechnen! Ich werde mal die Aufgabe stellen.“ Die Tafeln
waren schon in den Händen der Jungen, und diese hatten, die
Griffel bereit haltend, die Augen fest auf den König gerichtet. „Wenn
jemand,“ begann der König, „dreihundertfünfundsechzig Tage lang
jeden Tag vier Taler verdient, wieviel macht das am Ende des Jahres,
also nach dreihundertfünfundsechzig Tagen? Wie wollt ihr das
finden? — Durch welche Rechnungsart?“ „Durch die Multipli—
kation,“ sagte eine Stimme. „Recht so,“ rief der König. „Rechnet
das also aus, und wenn ihr's habt, dann zieht von der Summe
zweihundertvierzig — schreibt's auf — zweihundertvierzig Taler
ab, und dann will ich wissen, was bleibt. Vorwärts!“ Tiefe
Stille trat ein. Man hörte nur die Griffel auf den Tafeln
quietschen. Wendrot lehnte an einem Tische, und der König be—
obachtete die Jungen, die emsig rechneten. Da rief eine helle Stimme:
„Ich bin fertig.“ Wer war es? Sieh, der kleine Jochen Müller.
Hoch hielt er die Tafel empor. „Na, was kommt heraus?“ rief
der König. „Ich multipliziere 366 mit 4— macht 1460 — dann
ab 240 — bleibt 1220.“ „Bravo!“ rief der König. „Gut gemacht.
Und wenn nun zwei Leute sich in die Summe teilen, wieviel kommt
auf jeden?“ „610,“ sagte Jochen. „Sehr gut,“ rief der König,
„das ist ein kluger Junge.“ Wendrot legte seine Linke auf Jochens
Kopf. „Ein sehr kluger Junge,“ sagte er, „fleißig, Majestät, sehr
fleißig, meine Freude, mein Stolz.“ „Glaub's,“ sagte der König.
„Was sind die Eltern?“ „Arme Tagelöhner,“ erwiderte der Lehrer.
„Werde nachsehen lassen,“ entschied der König. „Hier, Jochen, sind
zwei Dukaten, und immer ordentlich rechnen.“
Der Jubel der Jungen war groß, der König ward umringt, und
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da er sich gnädig über die Leistungen aussprach, konnte Wendrot mit
dem Tage zufrieden sein. Nach einer Besprechung mit dem Pastor
und Schulzen stieg der König wieder in seinen Wagen. Die Dorf—
bewohner umstanden das Fuhrwerk. Jochen war der Held des Tages;
er sollte in das Potsdamer Waisenhaus kommen. Als der König
abfuhr, rief alles ein donnerndes „Hoch!“ Nach Georg Hiltl.
214. Friedrich der Große als Wohltäter.
Eines Tages klingelte der König in seinem Zimmer. Da nie—
mand kam, öffnete er das Vorzimmer, fand aber seinen Leibkammer—
diener daselbst auf einem Stuhle schlafend. Als er auf ihn zuging,
um ihn zu wecken, bemerkte er in der Rocktasche des Kammerdieners
ein beschriebenes Blatt Papier. Der König zog es heraus und las
es. Es war ein Brief der Mutter des Kammerdieners an ihren
Sohn, in welchem sie ihrem Sohne für die Unterstützung dankte, die
er sich von seinem Gehalte erspart und ihr übersandt hatte, und ihn
bat, ferner fromm vor Gott und treu im Dienste des Königs zu
sein; dann werde es ihm an Segen nicht fehlen.
Der König ging nach dem Lesen des Briefes leise in sein Zimmer
zurück, holte eine Rolle Dukaten und steckte sie zusammen mit dem
Briefe in die Tasche des Pagen. Dann entfernte er sich unbemerkt.
Bald darauf klingelte der König so stark, daß der Kammer—
diener erwachte und zum Könige eilte. „Du hast wohl geschlafen?“
fragte der König. Der Page stammelte eine halbe Entschuldigung
her, fuhr in der Verwirrung in die Tasche und ergriff mit Erstaunen
die Geldrolle. Er zog sie hervor, ward blaß und sah den König
tränenden Auges stumm an. „Was ist dir?“ fragte der König.
„Ach, Ew. Majestät,“ antwortete der Page, „man will mich un—
glücklich machen, ich weiß von diesem Gelde nichts.“ „Ei,“ sagte
der König, „wem es Gott gibt, dem gibt er's im Schlafe. Schick's
nur deiner Mutter, grüße sie von mir und versichere ihr, daß ich
für dich und sie sorgen werde.“ Nach Burckhart.
215. Zieten.
Der grobe König wollte gern sehn,
was seine Generäle wübten;
da lieb er an alle Briefe ergehn,
dah sie gleiech ihm sehreiben mühten,
was jeder von ihnen zu tun gedenkt,
wenn der Feind ibn so oder so bedrängt.
266
— 36 —
Der Vater Zieten, der alte Husar,
besah verwundert den Zettel.
„Der König hält mich zum Narren wohl gar,“
so flucht er, „wWas soll mir der Bettel?
Husar, das bin ieh, potzelement!
kein Schreiber oder verpfuschter Student.“
Da macht er auf einen Bogen Papier
einen groben Klecks in der Mitten,
rechts, oben, links, unten, dann Linien vier,
die all' in dem Rleckse sieh schnitften,
und jede endeteé auch in nem Klecks.
So schickt er den Bogen dem alten Rex.
Der schüttelt den Kopf gedankenvoll,
fragt bei der Revue dann den Alten:
„Zum Schwerenot, Zieten, ist Er toll?
was soll ich vom Wische da halten?“
Den Bart streicht sieh Zieten: „Das ist bald erklärt,
wenn Eure NMajestät mir Gehör gewährt.
Der grobe Klecks in der NMitte bin ich,
der FPeind einer dort von den vieren,
der kann nun von vorn oder hinten auf mich,
von rechts oder links auch marschieren,
dann rũück' ich auf einem der Striche vor
und hau' ihn, wo ich ihn treffe, aufs Ohr.“
Da hat der König laut aufgelacht
und bei sich selber gemeinet:
„Der Zieten ist klüger, als ich es gedacht;
sein Geschmier sagt mebr, als es scheinet.
Das ist mir der beste Reitersmann,
der den Feind sehlägt, wo er aueh rücket an.“
Fr. v. Sallot.
216. Die Schlacht bei Roßbach.
Es war am Morgen des 5. November 1757. Der König war
auf den Boden des Herrenhauses zu Roßbach gestiegen und er—
forschte durch das Fernrohr die Bewegung des Feindes. Dieser
ließ sich aus seiner vorteilhaften Stellung in die Ebene locken und
wollte die Preußen umgehen. Seine kriegerische Musik scholl heraus—
fordernd herüber und noch immer rührten sich die Preußen nicht,
außer daß sie ihr Mittagsmahl kochten und zur gewohnten Stunde
247
— 28 —
verzehrten. Den Franzosen schien dies ein sicheres Zeichen, daß sie
sich ohne Kampf gefangen geben würden. Auch der König hielt
mit Behagen Tafel und stieg dann um zwei Uhr noch einmal auf
den Boden, ohne der Kanonenkugeln zu achten, die über den Edel—
hof hinwegflogen.
Plötzlich gab er Befehl zum Aufbruche. In weniger als einer
halben Stunde war das preußische Lager abgebrochen, und Friedrichs
Krieger standen geordnet unter den Waffen. Der Zufall wollte,
daß eine Menge Hasen, durch den Donner des Geschützes aus ihren
Lagern aufgeschreckt, zwischen beiden Heeren umherirrten. Einer
derselben wurde von einer französischen Kugel vor der Front der
Preußen zerschmettert. Da riefen diese: „Es wird gut gehen; die
Franzosen schießen sich selber tot.“ Und ein heiteres Gelächter lief
durch die Reihen.
Die Preußen lehnten sich an eine Anhöhe, die Friedrich mit
Geschütz bepflanzen ließ. Plötzlich bricht Seydlitz, der verdeckt hinter
einem Hügel gestanden hatte, hervor. Bevor er zum Angriffe schreitet,
sprengt er weit vor seine Front und schleudert vor den Augen der
ganzen Linie seine Tabakspfeife in die Luft zum Zeichen, daß es
jetzt Zeit sei, zum Schwerte zu greifen, und nun stürzen seine Schwa—
dronen mit solcher Wucht auf die überlegene feindliche Reiterei,
daß sie in wenigen Minuten über den Haufen geworfen ist. Von
der Höhe donnerten die preußischen Batterien, und im Sturmschritte
fällt das preußische Fußvolk unter Führung des Königs auf den
Feind. Bald ist die Verwirrung bei den Franzosen unsäglich. Flucht
oder Tod ist jetzt die Losung, und nur die früh einbrechende November—
nacht rettet die Trümmer des feindlichen Heeres. Die wilde Jagd,
der sie ein Ziel setzte, ward am folgenden Tage wieder fortgesetzt.
Merkwürdigerweise büßte der Feind nur 600 bis 700 Mann an
Toten, dagegen 2000 an Verwundeten und 5000 an Gefangenen ein,
unter denen weit über 300 Offiziere; dazu eine gute Zahl Kanonen
und Fahnen samt großem Kriegsvorrate. Friedrichs eigener Ver—
lust betrug nicht mehr als 91 Tote und 274 Verwundete. Als man
das französische Lager stürmte, schien man nicht in ein Lager, sondern
in ein großes Putzzimmer gekommen zu sein. Man fand eine reiche
Beute an Köchen, Haarkünstlern, Schauspielern, Schlafröcken, Puder—
mänteln, Haarbeuteln, wohlriechenden Wassern und Papageien; denn
alles dies hatten die Franzosen in großer Menge mit sich geführt.
In die Flüchtlinge war ein gewaltiger Schrecken gefahren, und
viele schienen gar nicht mehr Halt machen zu wollen. Die Straßen
nach dem Rhein, dem sie zueilten, waren mit Kürassen, langen Reiter—
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stiefeln, Waffen und allem, was sie abwerfen mochten, um es sich
leicht zu machen, bedeckt. Durch ganz Deutschland, nicht allein durch
Preußen, ging ein lauter Jubel über diesen Sieg, welcher den über—
mütigen Erbfeind zu Boden warf und uns endlich wieder das Voll—
gefühl unserer Kraft gab. Nach Wirth.
217. Der große Verbündete.
Wer plaudert noch in tiefer Gott segnet dennoch Heer und Wehr.
Nacht Ihm sei die Ehr' alleine!“
dort an der Beiwacht Flammen?
Der große König Friedrich wacht Und gieten en der un
mit Zieten noch zusammen. läßt die Trompeten blasen,
„Die letzten Treffen schlugen fehh, daß er sein Reitervolk beschaut
der Feind hat sich verschworen,““ auf weichem, grünem Rasen.
spricht Fri verzagt hih Und nach der Must'rung, eh' aufs
nicht Hehl,
mir geht der Mut verloren.“ Roß
g sich die Husaren schwingen,
„Nein, Majestät,“ spricht wohl- fängt an der schlachtbereite Troß,
gemut noch den Choral zu singen:
der Feldherr der Husaren,
„ch bins gewiß, S heht noch gut, „Auf Gott und nicht lrn
4 4
nur herzhaft dreingefahren! will ich mein Glücle balm
„Ei, hat Er denn,“ fragt König und dem, der mich erschaffen hat,
Fritz, mit ganzer Seele trauen.“
einen neuen Bundsgenossen?“ e
derweil um seinen Mund wie Blitz Nun uehns in enm n r
den ones Mleile snsen Wie die Husaren fliegen!
„Nicht einen neuen,“ spricht er, So stark der Feind, so heiß der
„doch Kampf,
den alten Allierten!). doch Preußens Waffen siegen. —
Es lebt der alte Herrgott noch,
des Worte nie fallierten?). Dem Feldherrn reicht d er Furst
die Hand:
„Der tut ja keine Wunder mehr!“ „Freund, bleib Er nur beim alten!
meint Fritz. — „Es braucht auch Sein Allierter hält noch stand,
keine! hat treu sein Wort gehalten!“
Adolf Stöber.
) Der Alliierte, der Bundesgenosse. ) fallieren, täuschen, trügen.
218. „Nehm' Er den Orden gleich mit!“
General Seydlitz erstattete einst Friedrich dem Großen Bericht
über eins jener kleinen Gefechte, wie sie fast täglich im Siebenjährigen
Kriege vorkamen. Er erwähnte dabei eines Leutnants, der sich durch
gutes Verhalten und bewundernswerte Tapferkeit ausgezeichnet hatte,
und fügte hinzu, daß der junge Offizier wohl einen Orden verdient
habe.
Der König ließ den von Seydlitz gelobten jungen Mann zu
sich kommen und sagte freundlich zu ihm: „Er hat sich, wie ich ge—
hört habe, brav gehalten. Ich will Ihn dafür belohnen. Hier
liegen 100 Friedrichsdor und hier der Verdienstorden. Wähle Er!“
Der Offizier griff ohne Zögern nach dem Gelde. „Ehre scheint er
doch nicht im Leibe zu haben,“ sagte darauf der König unwillig zu
ihm. „Verzeihen Ew. Majestät,“ erwiderte der Ofsizier freimütig,
„ich habe Schulden, und die Ehre verlangt, daß ich zunächst diese
bezahle. Den Orden werde ich mir nachholen.“ „Bravo, mein Sohn,“
sagte der König, ihm auf die Schulter klopfend, „nehme Er den
Orden gleich mit! Er verdient ihn.“ Nach Burckhart.
219. Zwei Geschiehten vom alten Pritz.
Priedrich der Grobe war, wenn er in den stillen Straben
Potsdams sich auf seinem alten Mollwitzer Schimmel sehen lieb,
gewöhnlich von einem Schwarme Strabenjungen umgeben, an
denen er seine Preude hatte. Sie nannten ihn „Papa Pritz“, be—
zupften sein Pferd, fahten die Steigbügel an, küßten ihm die Fübe
und sangen Kriegs- und Volkslieder. Als sie an einem Sonnabend-
nachmittag es mal zu arg machten, hob Friedrich seinen Krück-
stock in die Höhe mit den Worten: „Schäkers, geht in die
Schulel“ und die fröblichen Knaben riefen laut: „Papa Pritz
weiß nicht mal, daß Sonnabendnachmittag keine Schule ist.“
Einmal, als auf der Reise die Pferde gewechselt wurden,
drängte sich ein Mütterchen dicht an den Wagen des Königs.
„Was wollt Ihr?“ fragte der König sehr gnädig. „Nur Ihr An-
gesicht sehen und nichts weiter,“ erwiderte die Alte. Der König
nahm einige Priedrichsdor und sagte: „Sebt, liebe Frau, aut
diesen Dingern da stehe ich viel besser; da könnt Ihr mich an—
sehen, solange Ihr wollt, jetzt habe ich nicht Zeit, mich länger
ansehen 2zu lassen.“ R. Fr. Eylert.
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271
220. Aus dem Leben Friedrich Wilhelms III.
Als der König noch ein Knabe von zehn Jahren war, brachte
eines Tags ein Gärtnerbursche ein Körbchen mit schönen reifen, im
Treibhause gezogenen Kirschen. Sie sahen unendlich lockend aus, und
es war im Monat Januar. Beim Anblick der köstlichen Früchte,
die der Prinz ohnehin sehr liebte, wünschte er sehr, sie zu genießen.
Der Kammerdiener Wolter sagte: „Königliche Hoheit, sie sollen fünf
Taler kosten, denn es ist eine große Seltenheit in dieser Jahreszeit.“
„Wie?“ rief verwundert der Prinz, „eine Handvoll Kirschen
fünf Taler?“ — Rasch und entschieden drehte er sich um und sagte
fest: „Ich mag sie nicht!“ — Und der Gärtnerbursche entfernte sich
mit seinen Kirschen.
Wenige Stunden später ließ sich ein Bürger und Schuhmacher—
meister aus Potsdam melden.
„Wolter, hören Sie doch, was der Mann will!“ sagte der Prinz.
Wolter ging und kam dann mit dem Bescheide zurück, der arme Mann
habe lange und schwer am Nervenfieber daniedergelegen; er sei da—
durch sehr zurückgekommen und bedürfe, um sich Leder anzukaufen, da—
mit er sein Geschäft wieder beginnen und sich und den Seinen das
tägliche Brot wieder verdienen könne, zwanzig Taler. Er nähme,
fuhr Wolter fort, seine Zuflucht in seiner Not zu dem milden Herzen
des Kronprinzen und bitte um die zwanzig Taler.
„Wieviel habe ich noch in meiner Kasse?“ fragte der junge Prinz,
dem eben die ersten Kirschen zu teuer gewesen waren, mit dem Aus—
druck des Mitleids in seinen Zügen.
„Noch fünfzig Taler,“ sagte Wolter.
„O, da kann ich ja noch helfen!“ rief der Prinz. „Geben Sie
ihm die zwanzig Taler in meinem Namen und sagen Sie ihm, ich
wünsche ihm viel Glück dazu!“
Erfreut und tief gerührt empfing die Gabe der Handwerksmann,
der es nicht ahnen konnte, wie kaum erst der Prinz die knabenhafte
Naschhaftigkeit überwunden und hier das Vierfache so freudig dahin—
gab, um in Liebe zu helfen. Er sprach den innigen Wunsch aus,
dem Kronprinzen persönlich danken zu dürfen. Wolter meldete dies.
„Nicht doch,“ erwiderte der Prinz, „das würde ja den armen Mann
nur beschämen!“ W. D. von Horn.
2 —
221. Die Königin Luise und der General von Köckeritz.
Der König liebte vor vielen andern seiner braven Generale
besonders den tapferen von Köckeritz. Schon dem Kronprinzen hatte
er als Adjutant zur Seite gestanden. Die mannigfachen Erlebnisse,
die sie zusammen durchgemacht hatten, der biedere Sinn des alten
Generals fesselten den König in inniger Freundschaft an ihn.
Häufig kam es, daß der General von Köckeritz den König be—
suchte, auch des Mittags zu Tische.
Da sprachen sie behaglich miteinander. Der König und die
Königin hatten ihre Freude daran. Aber es betrübte sie, daß er nach
beendeter Tafel immer aufs schnellste Hut und Degen ergriff und
davonging.
Die Königin fragte: „Warum bleibt unser lieber General nicht
länger?“ Aber der König antwortete ihr: „Laß den alten, braven
Mann! Pflegt wohl der Ruhe in seinem Hause; wollen ihn darin
nicht stören.“
Die Königin aber war damit nicht zufrieden. Sie glaubte, es
müsse eine besondere Bewandtnis haben.
Eines Mittags war der General wieder bei ihnen zu Tische. Es
war in Paretz auf dem Lande. Kaum war die Tafel aufgehoben, als
der flüchtige Gast auch wieder fort wollte. Da trat die Königin
vor ihn hin — sie hatte eine Tabakspfeife schön gestopft, einen
brennenden Wachsstock und Fidibus in der Hand — und sprach:
„Mein lieber Köckeritz, heute sollen Sie mir nicht entwischen! Hier
ist Ihre Pfeife, Sie brauchen darum nicht nach Hause zu gehen!“
Der General steckte seine Pfeife an und blieb. Der König aber
blickte auf sein holdes Weib und sprach: „Das hast du schön ge—
macht, liebe Luise!“ Werner Hahn.
222. Mildtätigkeit der Königin Luise.
An einem Frühlingstage ging die Königin in dem Lustgarten
spazieren, der in Potsdam nahe am Schloß gelegen ist. Noch nicht
weit gegangen, erblickte sie auf einer Bank einen blassen, hagern
Mann. Seine Gestalt war zusammengeknickt, sein ganzes Wesen
bis aufs äußerste erschöpft und elend.
Von Mitleid ergriffen, sandte die Königin den Diener mit
einigen Friedrichsdor zu ihm zurück. Sie dachte die Not durch diese
kleine Gabe zu lindern. Als aber der Diener an den Mann trat und
ihm die Goldstücke reichte, schüttelte dieser langsam und freundlich
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mit dem Kopfe, wies die Gabe von der Hand und sprach mit matter
Stimme: „Ich bin nicht arm.“
Die Königin erfuhr das, und ihr weiches Herz schmerzte die
Besorgnis, daß sie den Armen mit dem Almosen gekränkt habe.
Schnell entschlossen, kehrte sie um und wandte sich selbst an den Un—
bekannten. „Ich habe Ihnen nicht wehetun wollen,“ sagte sie mit
teilnehmender Stimme. Der Mann stand gerührt vor seiner Königin
und konnte kein Wort des Dankes für diese übergroße Teilnahme
sagen. „Wenn Sie nicht arm sind, so sind Sie krank,“ fuhr die
Königin fort. „Und kann ich Ihnen mit Geld nicht helfen, so kann
ich vielleicht zu Ihrer Genesung etwas tun. Sagen Sie es mir!“
Nun erzählte der Mann, daß er den Winter über schwer krank
daniedergelegen habe und in der warmen Frühlingssonne jetzt bei
seinem ersten Ausgang sich erquicke. Er war ein wohlhabender Bür—
ger Potsdams, der Maurermeister von der Leeden. „So werde ich
Ihnen,“ sagte Luise, „Erfrischungen senden, die Sie vielleicht nicht
so schön bekommen können. Der König liebt die guten Bürger seiner
Vaterstadt, und ich teile von Herzen diese Empfindung.“
Mehr als die Frühlingssonne hatte die Königin den Mann er—
quickt. Er empfing viele Wochen lang jeden Mittag würziges Obst
und andere Erfrischungen, bis er ganz genesen war.
Werner Hahn.
223. Treue um Treue.
Als Napoleon im Jahre 1806 den preubischen Staat zer—
trümmerte und ein Jahr später nach dem Frieden von lilsit alle
Länder westlich der Elbe von dem alten Stamme abtrennte, da
fühlten die Bewohner dieser Länder erst, wie innig sie mit ihm
verwachsen waren. Der König schrieb an die Westfalen, die nun
zu Frankreich gehören sollten, einen herzergreifenden Abschieds-
brief: „Das Schicksal gebietet, der Vater scheidet von seinen
Kindern. Ich entlasse Euch aller Untertanenpflicht gegen Mich und
Mein Haus. Euer Andenken kann kein Schicksal, keine Macht aus
Meinem und der Meinigen Herzen vertilgen.“
Also hiebß es in dem Briefe des Monarchen, und mit rübrenden
Worten schrieben die treuen Westfalen in den Klängen ihrer
trauten plattdeutschen Mundart die Antwort:
„An König Friedrich Wilhelm den Goden.
Dat Hart in Liwe wulte uns breken, as wie dinen Afscheed
lesen, und noch hüte känen wie uns nich äwerreden, dat wie nu
uphören sälen, dine fruen Underdanen to sin, de di doch so von
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe.
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— 274 —
Harten leey hewwen. — Uns' Herrgott mag uns bistahn! Wie
hapen (hoffen), dat uns' nie Herr uns unse Sprake un Sitten, unser
Glowen un uns' VWesen ewenso bewahren und achten ward as du,
uns' hartleev un gode König, dat alltied dahn hest. Uns' Herrgott
gev di Gesundheit, Fred un Freud. Wir weren de dinigen.“
Als der König während jener Unglückszeit mit seiner Familie
im Schlosse zu Königsberg in Preußen wohnte, kam eines Tages
ein Bauersmann mit seiner Frau zu ihm, Es war Abraham Nickel
aus der Gegend von Kulm an der Weichsel, der als Abgesandter
mehrerer Dorfgemeinden der Weichselniederung zum Könige kam
und diesen also anredete:
„Gnädiger Herr! Deine treuen Untertanen in Preußen haben
mit grober Betrübnis von der Not erfahren, die Dich getroffen hat.
Deshalb sind wir in unsern Gemeinden zusammengekommen, und
ein jeder hat für Dich etwas gegeben. Wir bitten Dich nun, diese
Gabe, die von treuem Herzen kommt, anzunehmen!“
Mit diesen Worten überreichte der Bauersmann dem Könige
einen Beufel mit 3000 Friedrichscdtor, eine Summe, die nach unserm
heutigen Gelde 51000 Mark betrügt. Dem Könige fraten Tränen
der Rührung in die augen. Er nahm ein Blatt Papier und be—
stütigte darauf den Empfang des Geldes mit folgenden Worten;
Mit Dank habe ich die Gabe meiner treuen Untertanen in
Preuben, 3000 Friedrichsdor, empfangen und sehe darin ein Dar-
lehn, das sie von gutem Herzen mir anbieten. In besserer, glück-
licherer Zeit, so Gott sie mir verleibt, werde ich es mit Zinsen
zurückzahlen. Der Herr segne meine treuen Untertanen!“
Auch Frau Nickel war nicht mit leeren Händen gekommen.
Sie trat zur Königin Luise und überreichte ihr einen Korb mit
schöner frischer Butter, die, wie sie meinte, die gnädige Frau
Königin in dieser schlechten Zeit in ihrem Haushalte wohl gut
werde gebrauchen können. — Die Königin war von dieser Treu—
herzigkeit tief ergriffen. Sie nahm ihr schönes Tuch von den
Sschultern und gab es der Bauersfrau als Gegengeschenk.
König Friedrich Wilhelm III. hat jene Dankesschuld mit reichen
Zinsen zurückgezahlt und die Treue durch Liebe vergolten.
Hermann Jahnke.
224. Johanna Stegen.
Das erste größere Treffen in den Freiheitskriegen ereignete sich
hei Lüneburg. Als die Verbündeten an der Elbe erschienen, verließen
die Franzosen die Stadt, und am 21. März 1813 rückten die Kosaken,
mit großem Jubel empfangen, in Lüneburg ein. Aber am 1. April
zog der Geneal Morand von Westen her gegen die Stadt und be—
setzte sie. Doch schon am folgenden Tage sollte er wieder vertrieben
werden; denn die Preußen und Russen rückten heran.
Als am 2. April um 11 Uhr morgens in der Stadt der Sturm—
marsch geschlagen wurde, schlossen die Bürger und Bewohner Lüne—
burgs eilig ihre Häuser, und hinter Bodenluken und wohlverwahrten
Fenstern harrten sie zwischen Furcht und Hoffnung des Ausganges.
Geschützdonner und Gewehrfeuer kamen immer näher, Kugeln schlugen
in die Dächer, Steine prasselten nieder, Granaten zischten vorüber,
Truppen drängten zur Stadt.
Auch Johanna Stegen war mit ihrer Mutter der freundlichen
Erlaubnis eines benachbarten Kaufmanns gefolgt, hatte Schutz in
dessen gewölbtem Keller gefunden und harrte in fieberhafter Auf—
regung des Ausganges des Gefechtes. Als das Getöse etwas nach—
ließ, eilte sie zum Keller hinaus und rückte einen Stuhl an die Haustür,
um durch das Fenster über derselben sich von dem glücklichen Fort—
gange des Kampfes zu überzeugen. — Ein Geschwader Husaren
sprengte in vollem Sturmritt vorüber, an ihrer Spitze neben dem
Führer ein Lüneburger Schlachtermeister, der nicht müßig sein wollte,
wo es die Verteidigung und Reinigung des eigenen Herdes galt, den
Säbel in der nervigten Faust. Immer mächtiger wird Johannas
Erregung; sie fühlt, sie kann nicht müßig bleiben in diesen Augen—
blicken höchster Gefahr. Bald folgen den Husaren Kosaken, und
um irgend etwas zur Hülfe beizutragen, ihre Freude auszudrücken
über das wahrscheinliche Gelingen der Waffentat, ergreift sie einen
großen Krug Branntwein, der auf einem Schrank in dem Hausflur
sich befindet, und ein Glas, springt zur Tür hinaus, auf die vor
derselben angebrachte Bank und reicht, winkend und rufend, den
stets durstigen Kosaken den Labetrunk.
Die Kosaken sind vorüber, der Krug ist leer, — doch hier in dem
dunklen Keller, hier hinter den beengenden Mauern war Johannas
Bleiben nun nicht mehr; sie muß hinaus, muß sehen, was weiter ge—
schieht, was weiter getan werden kann. Zurückgedrängt sind weibliche
Furcht und mädchenhafte Schüchternheit, ohne Zögern schreitet sie
vorüber an den Zeichen und Zeugen der wildesten Flucht der Franzosen
und Sachsen, den weggeworfenen Waffen und Mänteln, den dahin—
gestreckten Verwundeten und Toten.
Einen Augenblick nur betrachtet sie zwei Männer, die in dem
Weggraben mehrere Fässer öffnen und statt der gehofften Beute nur
Patronen finden und eilt dann dem Kalkberge zu, um von da aus die
Entscheidung der Schlacht zu sehen. Dort trifft sie einen alten Sol—
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— 276
daten aus dem Siebenjährigen Kriege, mit dem sie den Gang des Ge—
fechtes lebhaft verfolgt. Der Alte bedeutet sie, daß General Morands
Truppen sich ermannend festsetzen, sich scharen und zum Rückangriff
schreiten; er verhehlt ihr nicht seine Besorgnis, daß der Ausgang der
Sache noch zweifelhaft sein könne, um so mehr, als die Preußen sich
bei der langen Dauer des Kampfes voraussichtlich bald verschossen
haben würden, und entschließt sich endlich, da der Kampf immer
näher heranrückt, seine Beschauungsstelle zu verlassen, und auch sie
geht traurig, die Brust mit bangem Schmerz erfüllt, den Berg hinab
der Stadt zu.
Da bemerkt sie einen ihr bekannten Mann namens Müller, auf
einem bei der Flucht im Stich gelassenen Pulverwagen sitzend, und
erhält auf ihre Frage: „Was sucht Ihr denn, Müller?“ die verdrieß—
liche Antwort, er hätte Wertvolleres gehofft und finde Patronen! Wie
ein Blitz entzündet und durchzuckt des Mädchens lebhafte Einbildungs—
kraft dieses Wort. Die Preußen haben sich verschossen; — dort weiter
hinten im Graben liegen Patronen in großen Haufen — und hier
wieder Patronen. „Patronen,“ ruft sie, „Patronen? O, gebt her—
ich habe da hinten noch mächtigeren Vorrat; die sollen den Franzosen
gut bekommen!“
Und der gutmütige Alte füllt ihr die dargehaltene Schürze mit
dem nun auch ihm wertvoll erscheinenden Inhalt des Karrens. Sie
läuft zurück, leert die Schürze da, wo in dem Graben schon ein so
bedeutender Vorrat sich befindet und eilt wieder und immer wieder
hin und zurück, diesen zu vermehren. Inzwischen aber nähert das
Gefecht sich mehr und mehr; schon pfeifen die Kugeln an den Ohren
der Tätigen vorüber, und Müller nimmt den Rückzug nach Hause,
auch Johanna zur Rückkehr ermahnend. Diese aber gibt um der
paar „Bohnen“ willen ihren Entschluß nicht auf; aller Hülfe nun
bar, erklettert sie selbst den Karren, füllt selbst sich die Schürze und
vermehrt wieder und wieder ihren Schatz, ohne auf die nun schon
häufiger sie umzischenden „Bohnen“ zu achten.
Plötzlich aber, wieder mit ihrer gefüllten Schürze unterwegs, sieht
sie sich auf beiden Seiten Soldaten gegenüber. Des herabfallenden
feinen Sprühregens wegen hatten diese ihre Mäntel angelegt, und sie
vermag nicht zu unterscheiden, wer Freund, wer Feind sei; sie schwankt,
was zu tun, doch noch ehe sie zu einem Entschluß gekommen, erreichen
sie die mit gefälltem Gewehr gegen die Franzosen anstürmenden
Preußen. Einige Schritte neben dem führenden Offizier herlaufend,
fragt sie diesen bekümmert, ob nun wohl die Franzosen wieder in
die Stadt kämen? Dieser aber heißt ihr barsch, nach Hause zu gehen,
——
277 —
sie habe hier nichts zu suchen; — — „und was trägst du denn da
so schwer?“ — „Patronen!“ — „Patronen, Mädchen? Wir haben
keinen Schuß mehr. Woher?“ — „Aus dem Pulverwagen dort,
und im Graben habe ich noch große Haufen.“ — „Kolonne, halt!“
war seine Antwort; im Nu waren auf seinen Befehl vier Jäger be—
schäftigt, Johanna die Schürze zu leeren und die Patronen zu ver—
teilen. Jetzt kann sie helfen, retten, rächen! Sie fühlt sich zur Tat
berufen und, blind fortan für alle Gefahr, ganz Feuer und Eifer
für die große Sache, stürzt sie, begleitet vom lauten Jubelruf der
tapfern Schar, fort, um bald mit neuem „Kraut und Lot“ wieder da
zu sein. Unermüdlich, unbeirrt füllt sie immer aufs neue ihre Schürze
und eilt ohne Zagen unter dem Kugelregen und Kanonendonner
dem Graben zu und zu den Preußen zurück! Mit den Zähnen die
Zipfel ihrer Schürze haltend, schiebt sie den Kämpfenden, um das
Leeren der Schürze zu beeilen, rastlos die Patronen in den Busen.
Mit ruhigen Blicken sieht sie die Freunde fallen, die Feinde näher
kommen; sie wankt nicht, sie stockt nicht, sie hat ihren Beruf erkannt,
sie fühlt, es ist hier der durch ein höheres Wesen ihr angewiesene Platz.
Ihr Tun entscheidet den Kampf. Nach H. F. Maßmann.
225. Das Lĩed vom Peldmarschall.
Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus!
Es reitet der Peldmarschall im fliegenden Saus,
er reitet so freudig sein mutiges Plerd,
er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert.
O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
o schauet, wie ihm wallet sein schneeweibes Haar!
Ss0o frisch blüht sein Alter wie greisender Wein,
drum kann er auch Verwalter des Schlachtfeldes sein.
Der Mann ist er gewesen, als alles versank,
der mutig auf gen Himmel den Degen noch schwang;
da schwur er beim Eisen gar zornig und hart,
den Welschen zu weisen die preubische Art.
Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf ahlang,
heil wie der weihe Jüngling in'n Sattel sich schwang!
Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht,
mit eisernem Besen das Land rein gemacht.
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Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Straub,
daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus,
daß Tausende liefen dort hasigen Lauf,
zehntfausend entschliefen, die nie wachen auf.
Am Wasser der Katzbach er's auech hat bewäbrt,
da hat er die Franzosen das Schwimmen gelehrt.
Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab
und nebhmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!
Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch!
Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg;
da mubten sie springen wie Hasen übers PFeld,
hinterdrein lieb erklingen sein „Hussal“ der Hoeld.
Bei Leipzig auf dem Plane, o herrliche Schlacht!
Da brach er den Franzosen das Glück und die Macht;
da lagen sie sicher nach blutigem Pall,
da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.
Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus!
Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus
dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein,
du tapferer Degen, in Frankreich hinein!
Ernst Moritz Arndt.
226. Ein Wort vom alten Blücher.
Sie saßen an der Tafel und hatten gut gespeist;
da lobten sie unmenschlich des alten Helden Geist
und lobten seine Taten ganz grob und ungescheut
und meinten, nur er allein habe das Volk befreit.
Das war dem alten Blücher am Ende außerm Spaß;
er rückte mit dem Stuhle und leerte schnell ein Glas;
dann schrie er: „Donnerwetter! Ihr seid nicht recht gescheit;
ich will's euch besser sagen, wer CLand und Volk befreit:
Das war der Preußen Tapferkeit,
Freund Gneisenaus Besonnenheit,
von mir ein bißchen Verwegenheit
und — Gottes große Barmherzigkeit!“
Sie saßen an der Tafel und schauten ängstlich drein,
der Alte aber lachte still in sein Glas hinein. Georg Hesekiel.
27
227. Friedrich Wilhelm III. und der Kleine Börsenhändler
Es traf einmal ein kleiner Knabe einen stattlichen Herrn in
Offizierkleidung an, der mit einer jungen Dame an einem schönen
Morgen im Tiergarten bei Berlin lusfwandelte. Der Tiergarten ist
aber ein schöner, schattiger Wald mit lieblichen Gängen, dicht bei
Berlin, der groben Stadt, in welcher der König wohnt. Der Kleine
bat, ihm eine von den kleinen Börsen abzukaufen, wovon er einen
ganzen Vorrat in einem Kästchen vorzeigte. Der Herr entgegnete:
„Ieh bedarf der Ware nicht,“ und ging weiter. „Lieber Herr
Leutnant,“ begann der Kleine, neben dem Herrn herlaufend, „so
kaufen Sie doch etwas für die Mamsell da; meine arme Mutter
strickt diese Börsen, und wenn ich kein Geld mitbringe, so haben
wir diesen Abend nichts zu essen.“ Er erzählte hierauf, der Vater
sei Soldat gewesen, bei Leipzig geblieben, und er habe noch zwei
kleinere Geschwister. Der Herr sah dem Kinde in das offene, ehr—
liche Gesicht, fragte nach dem Preise, nahm dann, da der Knabe
zwei Silbergroschen für das Stück forderte, ein Dutzgend und gab
ihm ein grobes Goldstück, zehn Taler an Wert. „Ja, lieber Herr
Leutnant,“ sagte der Junge und besah das grobe blanke Goldstüchk,
„darauf kann ich nicht herausgeben.“ Der Herr meinte darauf, er
solle es nur behalten und seiner Mutter bringen, erkundigte sich
nach deren Namen und Wohnung, setzte seinen Spaziergang fort
und überlieb den Kleinen seinem Staunen und Entzücken. Nach
Verlauf einer guten Stunde trat ein Adjutant des Königs in die
ärmliche Hütte der Mutter und erkundigte sich nach der Wahrheit
der Aussage des Knaben. Der edle König und dessen liebens—
würcdige Tochter, damalige Prinzessin Alexandrine, waren es ge—
wesen, denen Gott, der Vater der Armen, das Kind gesandt hatte,
um der Mutfter Not zu lindern und ihr die Tränen über den Verlust
des gefallenen Gatten- und Vaters zu trocknen. Die eingeholten
Zeugnisse über das Betragen und die Aaufführung der Frau lauteten
zu ihrem Lobe; und die Erteilung eines lebenslänglichen Jahr—
geldes von hundert Talern und die Unterbringung des kleinen
Börsenhändlers in einer Erziebungsanstalt waren die Folgen eines
Gotl wohblgefälligen Morgenganges. Junker.
228. Ein Brief Kaiser Wilhelms.
Aus einem Jugendbriefe Kaiser Wilhelms an seinen Lehrer Zeller
kann man so recht ersehen, ein wie treues und dankbares Herz der
Prinz besaß. Der Brief lautet:
457
230 —
Lieber Vater Zeller!
Wie befindest Du Dich? Ich danke Dir sehr für alles Gute, das
Du mir erwiesen hast, und was ich bei Dir gelernt habe; ich werde mich
bemühen, alles dieses zu befolgen! Behalte mich in Deinem lieben An—
denken und grüße den Herrn Griebe, Herrn Funk, Herrn Kolbe und das
ganze Institut!
Adieu, lieber Vater, vergiß nicht
Berlin, den 28. November 1809. Deinen Sohn Willi.
229. Der 19. Juli 1870.
Zu Charlottenburg im Garten, Wieder sitzt ein Bonaparte
in den düstern Fichtenhain ränkevoll auf Frankreichs Thron,
tritt, gesenkt das Haupt, das greise, und zum Kampfe zwingt uns heute
unser teurer König ein. wieder ein Napoleon!
Und er steht in der Kapelle, Tret' ich denn zum neuen Kampfe
seine Seele ist voll Schmerz, wider alte Feinde ein,
drin zu seiner Eltern Füßen dann soll's mit dem alten Zeichen,
liegt des frommen Bruders Herz. mit dem Kreuz von Eisen sein!
An des Vaters Sarkophage Der Erlösung heilig Zeichen
lehnet König Wilhelm mild, leuchte vor im heilgen Krieg,
und sein feuchtes Auge ruhet und der alte Gott im Himmel
auf der Mutter Marmorbild. schenkt dem alten König Sieg!
„Heute war's vor sechzig Jahren,“ Blicke segnend, Mutterauge,
leise seine Lippe spricht, Vater, sieh! dein Sohn ist hier,
„als ich sah zum letzten Male und auch du, verklärter Bruder,
meiner Mutter Angesicht! heute ist dein Herz bei mir!“
Heute war's vor sechzig Jahren, Leise weht es durch die Hallen —
als ihr deutsches Herze brach König Wilhelm hebt die Hand,
um den Hohn des bösen Feindes, all' die goldnen Sprüche funkeln
um des Vaterlandes Schmach! siegverheißend von der Wand.
Jene Schmach hast du gerochen Zu Charlottenburg im Garten,
längst, mein tapfrer Vater du, aus dem düstern Fichtenhain,
aber Frankreich wirft aufs neue tritt der König hoch und mächtig,
heute uns den Handschuh zu! um sein Antlitz Sonnenschein.
Georg Hesekiel.
2
—
230. Im Elsaß.
Ward es bekannt im Dorf: „Die Preußen nahn!“
faßt wilder Schrecken die Gemüter an.
Vergebens, daß der Prediger die Flucht
des ganzen Dorfs zurückzuhalten sucht.
Und so geschah's. Die Preußen rückten ein,
die Bauern flohn in Wildnis und Gestein.
Da lauschten sie hervor, die armen Schelme,
mit bleichem Antlitz und mit zagem Blick,
erschraken vor dem blanken Glanz der Helme;
im Orte blieb der Pfarrer nur zurück.
Man trägt ihm auf, zu seinen flücht'gen Kindern
zu gehn und sie zu rufen; er erklärt,
nicht möglich sei's gewesen, sie zu hindern,
auch folge keiner ihm zurück zum Herd.
Umsonst, daß er hinan den Bergpfad eilt
und rings beschwicht'gend unter ihnen weilt;
angstvoll und zagend blicken alle nieder,
nicht einen der Gemeinde bringt er wieder.
Was nun beginnen mit so armem Volk?
Der Oberst läßt die Militärmusik
sich sammeln, und nun bläst sie, daß es schallt
und wiederklingt in Felsgeklüft und Wald,
das Lied: Ein' feste Burg ist unser Gott!
Sie blasen, und der mächtige Choral
erfüllt die Wälder und durchtönt das Tal;
die Mannschaft, ganz erfaßt von frommem Dank,
fällt ein in Luthers alten Kriegsgesang; -
wer ungefährdet schritt durch Tod und Grau'n,
versteht es recht, dies Lied voll Gottvertraun.
Die droben sangen den Choral nicht mit,
wie feierlich und hehr er auch erklungen,
doch kamen näher alle Schritt für Schritt.
Bis einer aus der Schar, der ältste, spricht:
„Wer mit uns beten mag, der kränkt uns nicht!
Kommt heim!“
2831
oa82 —
Des Abends sitzen in der Stube
Enkel und Ahne, Mann und Weib und Bube;
das alte Lied von wunderbarer Macht,
das Lutherlied, hat sie zurückgebracht. Alfred Meißner.
231. Der Sieg von Sedan.
Was donnern die Kanonen ? was kündet der Glocken Mund ?
Den Deutschen in allen Zonen wird freud'ge Märe kund.
Laßt Siegesfahnen prangen, die Welt hat wieder Vul',
das französische Heer gefangen, und der Kaiser, der Kaiser dazu!
Es ward eine Schlacht geschlagen bei Sedan auf dem Feld,
davon wird man singen und saägen bis an das Ende der Welt!
Da schlug seine Schicksalsstunde dem dritten Napoleon,
da blutet' aus schwerer Wunde der Marschall Mac Mahon.
Drum donnern die Kanonen, drum dröhnt der Glocken Mund;
den Deutschen in allen Zonen wird freud'ge Märe kund.
Es donnere jubeltönig hinaus über Land und Meer:
Heil Deutschlands Heldenkönig! Heil Deutschlands Heldenheer!
Friedrich Bodenstedt.
232. Ein Abendsegen.
Nach dem großen Kampf und Triumph von Sedan, schreibt ein
thüringischer Offizier, trat das vierte Armeekorps seinen Marsch nach
Paris wieder an und kam zur ersten Nachtruhe in Angecourt. Unser
Bataillon vom thüringischen Infanterieregiment Nr. 96 schlug sein
Lager in der Kirche auf. Die Mannschaft lagerte im Schiff, wir
Offiziere in der Sakristei. Die todmüden Krieger streckten sich zum
Schlummer aus, schon als die Abenddämmerung die hohen Kirchen—
fenster umschleierte. Nur einzelnes Flüstern belebte noch hier und
da den heiligen Raum. Die Weihe der Dämmerung ergriff die
Herzen und lenkte die Sehnsucht zu den Lieben und zur Heimat. Und
doch verscheuchte die Erinnerung an den blutigen Sieg, die Wehmut
über die gefallenen und verwundeten Genossen, und wieder das stolze
Bewußtsein, zum Heil und Ruhm des Vaterlandes mitgefochten zu
haben, uns den Schlaf aus den Augen; wir alle hatten das Gefühl,
daß uns noch etwas zum Schluß des Tages fehle.
Dann erklang in die Stille der Dämmerung erst leise, dann
immer kräftiger anschwellend auf der Orgel die Melodie des Liedes:
9
„Nun danket alle Gott!“ Wie aus einer Brust stimmten alle,
Offiziere und Soldaten, in den heiligen Gesang ein. Und als das
Spiel zu Ende war, trat der Orgelspieler hervor und hielt uns eine
kurze, aber zu Herzen gehende Ansprache, die er mit einem Hoch auf
das große einige Vaterland schloß. Und abermals zur Orgel sich
wendend, stimmte er zum Schluß das alte protestantische Lied an:
„Ein' feste Burg ist unser Gott!“ Allen, allen war nun wohl im
Gemüt, alle dankten dem braven Sänger und Redner. Es war ein
thüringischer Lehrer, der als Gemeiner in der elften Kompanie
stand; ihm dankte ein ganzes Bataillon diesen herrlichen Abendsegen.
Gartenlaube.
233. Kaĩser Wilhelm am Krankenbett.
Eines Tages — es war im Jahre 1871 — durchschritt Kaiser
WVilhelm die Lazarettsäle zu Versailles, wie er häufig zu tfun
pflegte. Uberall tröstete er, und oft war es schon der bloße An-
blick seines lieben, freundlichen Gesichts, welcher die armen Ver—
wundeten auf Augenblicke ihre Schmerzen vergessen lieb. —
So trat er diesmal auch zu der Lagerstätte eines jungen, ver-
wundeten Soldaten. Der war infolge eines Schlafpulvers ein—
geschlummert und hatte ein Album von Gedichten auf dem Bette
offen liegen lassen. Der König trat leise, um den armen Ver—
wundeten nicht zu stören, hinzu, nahm den neben dem Album
liegenden Bleistift und schrieb die wenigen Worte hinein:
„Mein sSohn, gedenke Deines treuen Königs!
Wilhelm.“
Der Soldat erwachte, und reiche Tränen perlten ihm beim
Anblicke dieser Zeilen aus den Augen.
Wenige Tage darauf besuchte der Kaiser wiederum das
Lazarett. Er trat sofort auf den Soldaten zu, drückte ihm freund-
lich die Hand und tröstete ihn. Derselbe war jedoch schon vom
Tode als sichere Beute erlesen worden; wachsbleich, mit halb-
gebrochenen Augen, starrte er ins Leeêre. Kaum jedoch hatte er
seinen König erkannt, als er sich mit der letzten Kraft seines
Körpers emporrichtete, den König mit leuchtenden Blicken an—
sah und sagte: „Majestät, ich werde Ihrer ewig gedenken, auch
dort oben. Amenl“ — Der Verwundete sank ermattet zurück, und
ein leises Röcheln verkündete, daß er ausgelitten hatte. Der
Kaiser trat hinzu, drückte ihm die Augen fest zu, und eine Träne
rollte dem greisen Fürsten in seinen weihen Bart. Lauxmann.
283
— 284 —
234. Kaiser Wilhelm.
Wer ist der greise Siegesheld, Wer hat für dich in blut'ger
der uns zu Schutz und Wehr Schlacht
fürs Vaterland zog in das Feld besiegt den ärgsten Feind?
mit Deutschlands ganzem Heer? Wer hat dich groß und stark gemacht,
Wer ist es, der vom Vaterland dich brüderlich geeint?
den schönsten Dank empfing? Wer ist, wenn je einFeind noch droht,
vor Frankreichs Hauptstadt siegreich dein bester Hort und Schutz?
stand Wer geht für dich in Kampf und Tod
und heim als Kaiser ging? der ganzen Welt zu Trutz?
Du edles Deutschland, freue dich, Du edles Deutschland, freue dich,
dein König, hoch und ritterlich, dein König, hoch und ritterlich,
dein Wilhelm, dein Kaiser Wil— dein Wilhelm, dein Kaiser Wil—
helm ist's! helm ist's!
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
235. Kaiser Wilhelm J., ein echter Landesvater.
Unermüdlich hat der edle Kaiser für sein Land und Volk gesorgt.
„Ich bin glücklich, wenn Preußens Volk glücklich ist!“ sagte er. Ein
andermal: „Ich achte es viel höher, geliebt zu sein, als gefürchtet zu
werden!“ Noch auf dem Totenbette flüsterte er: „Ich habe keine
Zeit, müde zu sein!“ Er war in seinem Wesen und Leben die Ein—
fachheit selbst. Er schlief auf seinem schlichten Feldbette, das er auch
auf Reisen mitnahm. Schlafrock und Hausschuhe trug er niemals.
„Die Hohenzollern tragen keine Schlafröcke!“ mit diesem Worte
sandte er einen geschenkten Schlafrock an den Verehrer zurück. Er
stand sehr früh auf, las die eingegangenen Briefe und verhandelte
mit den Ministern. Am Mittag stand er an dem Eckfenster seines
Schlosses und sah zu, wie die Wache aufzog. Vieles Volk strömte
um diese Zeit zusammen, um ihn zu sehen und zu begrüßen. Er war
eine hohe, königliche Erscheinung. Milder Ernst und herzliche Freund—
lichkeit lagen auf seinem Antlitz. Manche kamen weit her mit irgend
einem Anliegen. Oft hielten sie Bittschriften in die Höhe, um sich
bemerklich zu machen. So einst ein armer Weber, dem der Webstuhl
gepfändet worden war. Der Kaiser ließ ihm den Brief abnehmen
und dann den Weber in seiner Wohnung besuchen. Da er in seinem
Briefe die lautere Wahrheit berichtet hatte, ließ ihm der Kaiser
300 Mark überreichen, damit er sich dafür zwei neue Stühle kaufe.
Ein armer alter Bergmann aus der Gegend von Mansfeld reiste
mit einem Bittschreiben nach Berlin, stellte sich bei dem Denkmal
9
Kaiser Wilhelm J1. im 90. Lebenssahre.
285
2386
Friedrichs des Großen, dem kaiserlichen Eckfenster gegenüber, auf
und hielt das Schreiben bald mit der linken, bald mit der rechten
Hand in die Höhe. Endlich bemerkte ihn der Kaiser, ließ den Brief
von seinem Leibjäger holen und beschenkte den braven Alten reichlich.
Nach Mittag fuhr der Kaiser wohl spazieren, empfing und hörte
seine Beamten. Abends besuchte er gern das Schauspielhaus, arbeitete
dann aber oft bis Mitternacht. Im Herbste wohnte er den großen
Manövern oder Heerübungen bei, hielt unermüdet in Sturm und
Regen aus und war allen in allem das Muster der Einfachheit, Ord—
nung, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit. Im Sommer reiste er
zu seiner Erholung in ein Bad, am liebsten nach Ems und Gastein,
und gewann dann alle Herzen durch seine Güte und Freundlichkeit.
Besonders herzlich ließ es sich der gute Kaiser angelegen sein,
den armen und schwachen Untertanen zu helfen. Er sagte: „Meine
Hand soll das Wohl und Recht aller in allen Schichten der Be—
völkerung hüten.“ Durch die kaiserliche Botschaft vom 17. Novem—
ber 1881 veranlaßte er den deutschen Reichstag, Gesetze zum Schutze
der Arbeiter zu beraten und zu beschließen. Sein treuer Helfer Bis—
marck rief den Abgeordneten zu: „Geben Sie dem Arbeiter, so—
lange er gesund ist, Arbeit, wenn er krank ist, Pflege, wenn er alt
und schwach ist, Versorgung.“ Kaiser Wilhelm erlebte es noch, daß
kranke Arbeiter nach dem Krankenkassengesetz ärztliche Behandlung,
Arznei und Unterstützung, bei der Arbeit verunglückte nach dem Un—
fallversicherungsgesetz für sich und ihre Angehörigen Mittel zum
Unterhalte erhielten. In die Krankenkasse brauchen sie bloß kleine
Lohnabzüge zu zahlen; die Unfallkassen müssen die Arbeitgeber allein
unterhalten. Es wurde angeordnet, daß staatliche Aufseher über das
Wohl der Fabrikarbeiter wachen, Einigungsämter die Streitigkeiten
zwischen Arbeitern und Arbeitgebern schlichten, die Kinder-, Frauen—
und Sonntagsarbeit eingeschränkt werden sollte. So hat der edle
Kaiser bis an sein Ende auch für die Geringern im Volke wie ein
Vater gesorgt. Friedrich Polatk.
236. Kaiser Friedrich als Kronprinz.
J.
Der Kronprinz als Helfer in der Not
Es war im Juli 1865. In den Anlagen zu Karlsbad in Böhmen
schritten die Badegäste, die hier Genesung suchten, auf und ab und
lauschten der Musik, die vom Kurhause herüberschallte.
Unter den Spaziergängern schritt auch ein Herr, eine hohe,
9
würdige Gestalt, auf und ab, der, als er überall ehrfurchtsvoll be—
grüßt wurde, einsamere Wege aufsuchte. Da fühlte er sich plötzlich
am Rockschoße gefaßt. Erstaunt sah er ein weinendes armes Mädchen,
welches ihn um ein Almosen bat.
„Wer schickt dich betteln, mein Kind?“ fragte er das Kind mit
milder Stimme.
„Meine Mutter, meine kranke Mutter,“ antwortete die Kleine.
„Vo ist dein Vater?“ fragte der Herr.
„Tot! Ach, uns hungert so sehr!“ antwortete das Mädchen.
„Führe mich zu deiner Mutter, Kleine!“ sagte er und folgte dem
Mädchen, das ihn nun durch die Straßen und Gäßchen von Karls—
bad führte.
Vor dem letzten, baufälligen Häuschen blieb das Mädchen stehen
und schaute sich nach dem Herrn um.
„Hier wohnen wir, Herr!“
Das Kind weinte nicht mehr, wie vorhin beim Betteln, sondern
blickte ergeben in die freundlichen Augen des Herrn.
287
38 —
„Nur weiter, Kleine,“ sagte er leise. Sie schritten zwei schmale,
alte Treppen hinauf. Dort öffnete das Mädchen eine Bodentür. Der
Herr sah eine kleine, unheimliche Dachkammer. Feucht und kalt
wehte es aus dieser Stätte des Elends und Jammers. In der Ecke
lag eine junge, kranke Frau auf Stroh und Lumpen und hielt einen
schreienden Säugling in den Armen. Ein alter Tisch, zwei zerbrochene
Stühle und ein irdener Wasserkrug, das war die ganze Ausstattung.
„Das ist ja entsetzlich!“ sagte der fremde Herr. Die kranke Frau
richtete sich stöhnend auf, als der Fremde nun ins Zimmer trat.
„Herr Doktor,“ sagte sie, „es ist unrecht, daß mein Mädchen
Sie heimlich gerufen hat — ich habe keinen Kreuzer und kann nichts
bezahlen.“
„Ich bin kein Arzt,“ murmelte der Fremde. „Haben Sie denn
niemand, der für Sie sorgt?“
„Ich habe keinen Verwandten, der sich um mich kümmert, und
meine Wirtsleüte sind selber arm. Mein Mann war Arbeiter. So—
lange er lebte, ging es uns gut. Seit er fort ist, habe ich Tag und
Nacht gearbeitet, um uns zu ernähren und zu erhalten. Jetzt aber
bin ich selbst krank geworden, und nun gehen wir alle drei zugrunde.
Meine Kinder, meine armen Kinder!“
Weinend sank sie auf ihr Lager zurück.
Der Herr gab dem Mädchen ein Geldstück. „Hier, Kleine,“
flüsterte er, „hole schnell Brot und Wein!“
Wie der Wind eilte das Mädchen davon und kehrte schnell zu—
rück, ein Brot im Arme und eine Flasche Wein in der Hand. Der
Herr zog sein Messer, öffnete die Flasche, schenkte ein Glas voll Wein
und reichte es der Kranken; dann schnitt er ihr und dem Mädchen
ein Stück Brot ab, das mit zitternder Hand zum Munde geführt
wurde.
„Gott lohne es Ihnen!“ schluchzte die Frau, „ohne Sie wären
wir verhungert!“
Der Herr legte noch ein Geldstück auf den Tisch. „Hier, liebe
Frau, ist Geld zu einem zweiten Brote!“
Da trat der Arzt ein; der Diener hatte ihn gerufen.
„Endlich!“ sagte der Herr leise und schritt unbemerkt hinaus.
Der Arzt verordnete der Frau etwas und sagte ihr, sie hätte
weder ihm noch dem Apotheker etwas zu bezahlen. Da fragte die
Frau: „Wer war der Fremde?“ „Das war der Kronprinz von
Preußen!“ antwortete der Arzt.
Die Frau faltete still ihre Hände und dankte Gott. W. Peisch.
28
*.
Der Kronprinz als Lehrer.
Gern besuchte der Kronprinz in seinen jüngeren Mannesjahren
die Bornstedter Schule, um sich von den Leistungen der Knaben und
Mädchen zu überzeugen. Eines Tages trat er auch in die Schulstube
und traf den Lehrer in großer Bestürzung und Verlegenheit, die der—
selbe vor dem Kronprinzen zu verbergen suchte. Wenige Minuten
vorher hatte der Lehrer nämlich die Nachricht erhalten, daß seine
Mutter, die in Schlesien wohnte, im Sterben liege, und er möge
eilends nach Hause kommen. Als der Kronprinz dies erfuhr, sagte
er tiefgerührt: „Gehen Sie, die Schule werde ich übernehmen. Eilen
Sie nur, daß Sie Ihre gute Mutter womöglich noch lebend antreffen.“
Kaum hatte der Lehrer das Schulzimmer verlassen, als der
Kronprinz den Degen abschnallte und an Stelle des Lehrers den
begonnenen Leseunterricht fortsetzte. Nach der Lesestunde wollte der
neue Lehrer die Geographiestunde abhalten und sprach zu dem obersten
Knaben: „Bringe mir einmal den Globus her.“ Aber alle Kinder
riefen: „Wir haben keinen Globus; der Herr Lehrer nimmt immer
den großen Gummiball dort.“ — So nahm denn auch der neue
Herr Lehrer den großen Gummiball und führte die Kinder in die
Erdkunde ein.
Nachdem die Kinder um 11 Uhr entlassen waren, begab sich der
Kronprinz zum Pfarrer und machte demselben von der plötzlichen
Abreise des Lehrers Anzeige, wohnte aber auch dem Konfirmanden—
unterrichte bei. Darauf lobte er die Leistungen, tadelte aber, daß er
die meisten Bibeln in abgenutztem Zustande vorfand; auf seine Kosten
ließ er unter alle Konfirmanden neue Bibeln verteilen.
Wie erstaunt aber war der später heimgekehrte Lehrer, als er in
die Schulstube trat und einen neuen Globus vorfand, den der Guts—
herr inzwischen geschenkt hatte. Seit jener Zeit wird in der Bornstedter
Schule die Geographie nicht mehr am Gummiball erlernt.
Chr. Burchhart.
237. Aus Kaiser Friedrichs letzten Tagen.
Im Januar des Jahres 1887 wurde der deutsche Kronprinz
Friedrich Wilhelm, der nachmalige Kaiser Friedrich, von einer bösen
Halskrankheit befallen. Vergeblich suchte er Heilung in Ems, am
Meere, in den Alpen, zuletzt in San Remo in Italien. Immer
deutlicher zeigte sich, daß das furchtbare Leiden unheilbar sei. So
hatte Kaiser Wilhelm J. in seinen letzten Lebenstagen noch den größten
Lüneburger Lesebuch. Mittelstufe. —
289
L.
19
239 —
Seelenschmerz zu tragen, den Kummer um seinen kranken Sohn.
Sein Kammerdiener fand ihn häufig des Nachts in seinem Bette auf—
recht sitzend und hörte ihn unter lautem Schluchzen die Worte sagen:
„O mein Sohn, mein armer Fritz!“ Der Kummer um den Sohn
war es auch, der ihn so erschütterte, daß er zuletzt der Krankheit
erlag. Am 9. März ging Kaiser Wilhelm zur ewigen Ruhe ein.
Der Kronprinz hatte schon zwei Tage zuvor Nachricht von dem be—
denklichen Zustande seines Vaters erhalten. Am 9. März ging er ge—
rade mit einem Arzte im Garten der Villa Zirio in San Remo
spazieren, da überreichte ihm ein Diener ein Telegramm mit der
Aufschrift: „An Se. Majestät den Deutschen Kaiser Friedrich Wil—
helm.“ Diese Aufschrift verkündete ihm alles! Er begann heftig
zu weinen und öffnete das Telegramm. Auch die Kaiserin Vikltoria
weinte laut, als sie die Depesche las.
Trotz seines Leidens war Kaiser Friedrich III. sofort entschlossen,
nach Deutschland zu reisen und die Regierung selbst zu übernehmen.
Am 10. März verließ er San Remo, wo er so viel gelitten hatte.
Nach einer Fahrt von 36 Stunden langte der Kaiser in Charlotten—
burg an. Ein furchtbares Schneewetter empfing ihn, der vor zwei
Tagen noch zwischen Palmen, Rosen und Veilchen gewandelt war.
Leider konnte er am Begräbnistage seines teuren Vaters dem Sarge
nicht folgen; weinend schaute er aus dem Fenster nieder, als der
Leichenzug an dem Schlosse in Charlottenburg vorüberzog. Die
folgenden Tage vergingen im regsten Fleiße. Während das deutsche
Volk für des Kaisers Leben zitterte und betete, arbeitete er unab⸗
lässig mit seinen Ministern für das Wohl des Vaterlandes
Einige Wochen schien es, als ob eine Besserung im Befinden
des Kaisers eingetreten wäre; bald aber wandte sich die Krankheit
wieder zum Schlimmern. Als ein Hofprediger eines Tages zu dem
Kaiser von Genesung sprach, schrieb dieser auf einen Zettel: „Beten
Sie nicht für meine Genesung, sondern für meine Erlösung!“ Und
dem Generalfeldmarschall Blumenthal, mit dem er oft im Schlachten—
donner zusammengehalten, schrieb er auf ein Blatt: „Mein lieber
Blumenthal, glauben Sie mir, es ist fast nicht mehr zu ertragen!“
Die ganze Größe seines Leidens aber wird aus den Worten offen⸗
bar, die er zu seinem Sohne, unserm Kaiser Wilhelm II. sprach, als
dieser schmerzergriffen am Lager des Vaters stand: „Lerne leiden,
ohne zu klagen; es ist das einzige, was ich dich lehren kann!“
In dieser schweren Zeit stand dem Kaiser seine erhabene Ge—
mahlin, die Kaiserin Viktoria, treu zur Seite. Sie wich Tag
und Nacht nicht von seinem Krankenlager und war unaufhörlich
21
bemüht, alle seine Wünsche zu erfüllen und ihm nach Kräften Leiden
und Anstrengungen zu ersparen. Sie rückte ihm die Kissen zurecht,
reichte ihm den erquickenden Trank, das Buch, die Zeitung, das Blatt
Papier, das er gerade wünschte; sie schmückte sein Zimmer mit den
Blumen, die ihm die Liebe des Volkes spendete; sie achtete auf alle
seine Bewegungen, auf jeden Blick, um zu erraten, was er wolle.
Ihr schönster Lohn war die dankbare Liebe des Kaisers, der ihre
Sorge und Mühe gar wohl zu schätzen wußte. Wenn das Fieber
einmal nachließ, schrieb er ihr wohl auf einen Zettel: „Wie werde
ich dir das alles vergelten können!“ oder er wandte sich an seine
Gemahlin und seine Töchter mit schlichter, väterlicher Zärtlichkeit:
„Ihr seid meine Lieblinge!“
Gegen Ende Mai hatten sich die Kräfte des Kaisers etwas ge⸗
hoben, und er beschloß, nach dem Neuen Palais bei Potsdam zu
übersiedeln. Am 1. Juni fuhr er, von seiner Familie begleitet, mit
dem kaiserlichen Dampfer „Alexandra“ dahin ab, begrüßt von Hundert—
tausenden, die sich am Wege aufgestellt hatten, um dem geliebten
Kaiser ihre Teilnahme zu beweisen.
Bald nachdem er im Neuen Palais angekommen war, nahm
das Fieber zu, die Kräfte sanken, die Atemnot wurde immer größer.
Unter so traurigen Umständen kam der 14. Juni heran, an dem
Prinzessin Sophie ihren 18. Geburtstag beging. Weinend trat sie
an das Bett des Vaters, sank an demselben nieder und bedeckte seine
Hand mit Küssen. Der Kaiser aber schrieb mit zitternder Hand die
Worte: „Bleibe fromm und gut, wie du es bisher gewesen. Dies
ist der letzte Wunsch deines sterbenden Vaters!“
Am 15. Juni morgens gegen acht Uhr versank der kaiserliche
Dulder in einen festen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen sollte;
gegen 11 Uhr hatte er ausgerungen. Still und friedlich war er
inmitten seiner Familie entschlummert. Max Hübner.
238. Liebevolle Teilnahme Kaiser Wilhelms II.
Ein schöner Wintertag hatte die Eisbahn im Berliner Tier—
garten dicht mit Besuchern gefüllt. Heiter wogte es auf der spiegel—
glatten Fläche hin und her, und ein großer Kreis von Zuschauern,
die sich an dem fröhlichen Treiben ergötzten, hatte sich um die Schlitt⸗
schuhläufer gebildet. Auch ein älterer Herr hatte längere Zeit zu—
gesehen und trat, auf seinen Stock gestützt, den Heimweg nach der
Stadt an. Trotz aller Vorsicht glitt er aber auf einer glatten Stelle
des Weges aus. Der Stock entfiel seinen kraftlosen Händen, und
19*
52
204
9222
der Greis sank zu Boden. Augenscheinlich hatte er sich verletzt, denn
er konnte sich nicht allein wieder aufrichten. Da sprang schnell ein
junger Offizier, der gerade des Weges daher kam, hinzu, hob den
Greis vom Boden auf und erkundigte sich teilnehmend nach seinem
Befinden. Der Gefallene entgegnete, er verspüre große Schmerzen
und werde wohl kaum allein weitergehen können. Freundlich bot
ihm der junge Offizier seine Hülfe an und begleitete den alten Herrn
bis zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn, wo er so lange wartete,
bis ein Wagen den Greis aufnahm. Unter Tränen bedankte sich
der alte Herr für die liebevolle Teilnahme, die der junge Offizier
einem gänzlich Unbekannten erwiesen hatte. Freundlich grüßend
empfahl der Offizier den Verletzten der Fürsorge des Schaffners,
und erst von diesem erfuhr der Greis, daß ihn Prinz Wilhelm,
unser jetziger Kaiser, so liebevoll geleitet hatte. J. G. Obst.
239. „Schier dreißig Jahre bist du alt.“
Ein eigenartiger Glückwunsch wurde unserm Kaiser an seinem
dreihigsten Geburtstag von einem Berliner Postillon namens Ger—
lach dargebracht. Als Gerlach in der Morgendämmerung des
27. Januar 1889 mit den für das Schlob bestimmten Postsendungen
in das Schloßtor einfuhr, glaubte er an einem der Penster unsern
Kaiser zu erblicken, was ja auch leicht möglich war, da Wilhelmll.
kein Freund langen Schlafens ist, sondern früher wie mancher
seiner Untertanen zur Arbeit eilt. Schnell griff der Postillon zu
seinem Posthorn und brachte dem kaiserlichen Geburtstagskinde
einen außergewöhnlichen Festgruß dar, indem er die Melodie des
bekannten Mantelliedes Schier dreibig Jahre bist du alt“ blies.
Hell kKlangen die schmetternden Töne durch die klare Luft des
Januarmorgens zu den kaiserlichen Fenstern empor, und schnell
hatte sich trotz der frühen Morgenstunde eine grobe Menschen—
menge, welche laute Hochrufe auf den Kaiser ausbrachte, um
den Postwagen versammelt. Wenige Tage darauf wurde Gerlach
von seiner vorgesetzten Behörde die NMitteilung, daß er zu Sr.
Majestät befohlen sei. Klopfenden Herzens warf er sich in seine
Gala-Uniform, war aber freudig überrascht, als er nach kurzem
Warten im Vorzimmer direkt in das kaiserliche Arbeitsgemach ge-
führt wurde, wo ihm der Kaiser in freundlichen Worten seinen
Dank für die eigenartige Gratulation aussprach. Die Frage des
Kaisers, ob er hierdurch auch nichts im Dienste versäumt habe,
beantwortete Gerlach schlagfertig mit den Worten: „Hab' ich alles
wieder eingeholt, Majestät.“ Preundlich lächelnd entlieb ihn der
29
293
Kaiser, sorgte aber dafür, dab er zur weiteren Ausbildung seiner
musikalischen Anlagen einen Hundertmarkschein mit auf den Weg
boekam. Ohr. Burekhart.
240. Unserer Kaiserin Herzensgüte.
Was unsere Kaiserin Auguste Viktoria in ihrer hohen Stellung
jetzt jahraus, jahrein zur Linderung der Not der Armen und zur
Hülfe für Kranke und Verlassene so gern und reichlich tut, war zu
tun ihr schon ein Herzensbedürfnis, als sie noch eine junge Prinzessin
war.
Es war gelegentlich ihrer Konfirmation (am 22. Mai 1875),
als die Prinzessin Auguste Viktoria eine arme Familie in Primkenau
aus bitterer Not rettete. In einem Hintergebäude dieses Ortes
wohnte nämlich ein armer Weber, der durch Krankheit sehr herunter—
gekommen war, und wenn seine Kinder um ein Stücklein Brot baten,
so traten sowohl dem armen Manne wie auch der Frau oft die
Tränen in die Augen, weil bei ihnen meistens Schmalhans als
Qüchenmeister herrschte. Am Einsegnungstage unserer Kaiserin war
auch des armen Webers Töchterlein Martha zur Kirche gegangen
und hatte sich unter die Neugierigen vor dem Gotteshause gestellt,
um zu sehen, wie die hohen Herrschaften vorfahren würden. Bald kam
denn auch der Herzog Friedrich Christian mit seiner Gemahlin Adel—
heid an, und als kurz darauf die beiden Prinzessinnen im Wagen
vorfuhren, rief Martha vor Staunen aus: „Ach, wie schön, könnte
ich doch auch eine solche Prinzessin sein!“
Diese Worte des dreizehnjährigen Mädchens vernahm ein älterer
Herr, der auch in die Kirche ging, und da ihm das kleine Mädchen
auffiel, sprach er: „Mein Kind, was würdest du denn wohl tun,
wenn du eine Prinzessin wärest? Gewiß würdest du nur die schönen
Kleider gern haben. Ist's nicht so?“ Martha errötete vor Scham und
wollte anfangs nicht antworten; als aber der fremde Herr sagte:
„Nun, so sprich doch!“ da sagte Martha: „Wenn ich eine Prinzessin
wäre, so würde ich reich sein, und dann möchte ich sofort zum Doktor
gehen und ihn bitten, daß er zu meinem kranken Vater komme und
ihn gesund mache.“ „Darum bloß möchtest du eine Prinzessin sein?“
erwiderte der Herr. — „Ja, nur darum!“ Nun fragte der Herr
nach dem Namen des Kindes und den Eltern desselben und ging
dann eilends in die Kirche, um der Einsegnung beizuwohnen.
Der Herr aber war ein Maler und vornehmer Professor, welcher
vordem unsere Kaiserin im Zeichnen und Malen unterrichtet hatte.
Als er am Tage nach der Einsegnung der Prinzessin Auguste Viktoria
— ——
294 —
seine Glückwünsche darbrachte, sprach diese: „Da ich an einem wich—
tigen Markstein meines Lebens stehe, so ist es mir ein Herzens—
bedürfnis, irgend eine Wohltätigkeit auszuüben. Können Sie mir,
geehrter Herr Professor, vielleicht irgend eine Ihrer bedürftigen
Schülerinnen nennen, die ich unterstützen könnte?“ „Durchlaucht,“
erwiderte der Maler, „meine Schülerinnen sind fast alle vermögend;
aber dennoch weiß ich Ihnen eine Familie zu nennen, die in bitterer
Not lebt.“ Und er erzählte alles, was die kleine Martha gestern zu
ihm gesagt hatte. Tief gerührt hörte die Prinzessin Viktoria zu und
versprach zu helfen. Darauf erzählte Prinzeß Viktoria alles, was
ihr der Professor mitgeteilt hatte, ihrer erlauchten Mutter, der Her—
zogin Adelheid, und nach wenigen Tagen kehrte in die arme Weber—
familie neues Leben ein; denn nachdem die Prinzessin und ihre
Mutter sich von der Not der Familie überzeugt hatten, ließen sie es
an Gaben der Liebe und Barmherzigkeit nicht fehlen.
Nach Chr. Burckhart.
241. Die Kaiserin und das kleine Gänsemädchen.
Strahlender Sonnenschein lag über dem ebenen Lande, das sich
um Dorf und Schloß Gravenstein ausbreitet; kaum, daß ein leichter,
säuselnder Luftzug das hohe Riedgras leise hin und her bewegte —
es war ein milder, sonnenschöner Herbsttag. Stille war's weit hinaus;
ab und zu zog ein Strandvogel mit heiserem Schrei nach den Dünen
hinüber; aber sonst kein Laut; überall die feierliche Stille des
Mittags. — Wie anders war es am Morgen gewesen! Kanonen—
donner und Schlachtenlärm war da vom Meere drüben herüber—
geklungen, und majestätisch war am Strande das Geschwader dahin—
geglitten, das den Deutschen Kaiser und seine erlauchten Gäste und
die Großen des Reichs zu dem Felde des Manöverkampfes getragen.
Vermischt mit dem Donner der Geschütze war das jubelnde Hurra
der deutschen Soldaten herübergeklungen bis zu den stillen Fluren
— o—
Jetzt war's still überall. Aus dem östlichen Parktore war ganz
allein eine vornehme Frau herausgetreten, und nach einem kurzen
Umblick über die stille, flache Gegend war sie langsam auf dem
schmalen, grasbewachsenen Pfade weitergeschritten. Ein gut Stück
war sie so gegangen; mit Entzücken empfand sie sichtlich die sonnige
Schönheit dieses stillen Mittags. Mit einem Male blieb sie stehen;
sie hatte seitab auf einem Erdhügel ein kleines Mädchen sitzen sehen.
Die Gänse, die das Kind augenscheinlich hüten sollte, hatten sich
überallhin verlaufen, und die Rute der kleinen Gänsetreiberin lag
— ) —
unbeachtet an der Erde. War's vielleicht deshalb, daß sie weinte?
Die Kleine hatte den Kopf auf die Ärmchen gestützt und die Armchen
aufs Knie und sah und hörte nichts; wirr und zerzaust hing der
kurze, flachsblonde Zopf um ihre Schultern.
Langsam und leise war die fremde Frau näher gegangen; die
Kleine fuhr auf, ließ die Arme sinken und starrte die Fremde mit
großen, erschrockenen Augen an. „Was fehlt dir denn, mein Kind?“
fragte diese mit einer milden und freundlichen Stimme, die dem
armen, erschrockenen Kinde ein gut Teil seines Mutes wiedergab.
Zwar noch schüchtern und zaghaft, aber doch vertraulich blickte das
Mädchen in die freundlichen Augen der Frau und sagte mit zitternder
Stimme: „Nichts, gnädiges Fräulein, aber die Gänse muß ich hüten!“
Die Frau lächelte: „Ist das ein so großes Unglück, kleines Mädchen?“
fragte sie. Da sah die Kleine zu ihr auf und ganz plötzlich rollten
zwei dicke, silberhelle Tränen über ihre Pausbacken. „Ich wollte
doch auch mal unsere Frau Kaiserin sehen,“ rief sie weinend und
schluchzend aus. Da ging wieder ein freundliches Lächeln über die
Züge der fremden Frau, und sie legte leise ihre Rechte auf den
semmelblonden Mädchenkopf. „Hat deine Mutter sie dir nicht ge—
zeigt?“ fragte sie freundlich und teilnehmend. „Ich habe keine Mutter
mehr,“ sagte die Kleine und sah mit tränenvollen Augen in das Ge⸗
sicht der Frau. „Oder dein Vater?“ „Ich habe auch keinen Vater
mehr,“ schluchzte die Kleine zur Antwort. Da fragte die Frau nicht
weiter; fast schien es, als schimmerte auch in ihren Augen ein heller
Tropfen. Das Kind lehnte sich zutraulich gegen die streichelnde
Hand der Fremden, und eine Weile standen die beiden schweigend
so beieinander.
Sie hatten beide nicht bemerkt, daß ein älterer Herr in einfachem,
schwarzem Anzuge auf sie zukam. Erst als er nahe war, sah ihn die
vornehme Frau, und als er mit abgezogenem Hute in beschleunigtem
Schritte sich näherte, winkte sie ihm lächelnd mit der Hand und rief
das eine Wort: „Unerkannt!“ — Da lächelte der alte Herr und
reichte der Kleinen, die ihm schüchtern entgegengesehen, die Hand.
„Sie möchte gern die Kaiserin sehen,“ sagte die Frau und strich dem
Kinde, das verstohlen mit dem Schürzenzipfel die letzte Träne aus
dem Auge zu wischen suchte, über die Backen. „Nehmen wir sie
mit nach dem Schloß!“ fuhr sie fort, als der alte Herr nichts ent
gegnete und nur schweigend bald auf das Kind, bald auf die Frau
sah. „Ja, aber die Gänse!“ rief die Kleine ängstlich. Da lachte
der Herr aus vollem Herzen. „Ja, die nehmen wir auch mit; treib
sie zusammen, Mädchen, und komm!“ Bald war das Federvieh
295
— 6 —
beisammen, und nun begann, die Gänse vorauf, der feierliche Zug
nach dem Schlosse. Die Kleine ging in der Mitte zwischen der vor—
nehmen Frau und dem alten, würdigen Herrn; unbefangen trippelte
sie mit ihren nackten Füßchen vorwärts, und an dieStelle ihrer vorigen
Traurigkeit war eitel Lust und Fröhlichkeit getreten. Ach! sie sollte
die Kaiserin sehen, jene Frau, von der seit Wochen gesprochen und
erzählt wurde überall, von der sie sich in ihrer Einsamkeit die
märchenhaftesten Bilder gemacht hatte — sie sollte sie sehen! Am
Parktore aber ward guter Rat teuer. Die Gänse durften nicht
hinein, und allein durften sie auch nicht bleiben. Dem Mädchen
stiegen schon wieder die bösen Tränen ins Auge. Aber zur rechten
Zeit sagte der alte Herr: „Nun geh mit zur Kaiserin, mein Mäd—
chen, ich will bei den Gänsen bleiben.“ Hei! wie sie da lachte, daß
ihre weißen Zähnchen blitzten. „Er bleibt bei den Gänsen!“ rief
sie zu der Frau auf und hatte alle Schüchternheit verloren. „Aber
gut aufpassen mußt du, daß sie nicht weglaufen!“ Und sie gab ihm
die Haselgerte, und lächelnd übernahm der alte Herr die Wacht über
das Federvieh.
Die Frau aber nahm das Kind an der Hand und führte es ins
Schloß. Am Tore stand ein Herr, und der lächelte auch und machte
eine tiefe, tiefe Verbeugung — und als das kleine Mädchen mit
seinen nackten Füßen neben der fremden Frau die teppichbelegte
Treppe emporschritt, da wurde ihm doch gar ängstlich zumute. Dann
zog es die Frau in ein kostbares Zimmer — ach, so etwas hatte das
Gänsemädchen auch im Traume noch nicht gesehen. „Nun sollst du
die Kaiserin sehen,“ sagte die liebe, freundliche Frau und nahm aus
einem kleinen Kästchen ein großes Medaillon an goldener Kette
und ein Bild — und die Kette hängte sie dem Gänsemädchen um
und gab ihm das Bild und sagte: „Siehst du, das ist die Kaiserin!“
Wie das Mädchen aus dem Schloß wieder herausgekommen ist,
wußte es nicht mehr zu erzählen — die Kaiserin war's ja selber
gewesen, mit der es geredet und gegangen und die Gänse heim—
getrieben!
Die hohe Frau brachte das Waisenkind mit wohlgefüllten Taschen
wieder hinunter ans Parktor, wo der alte Herr mit großer Mühe
die schnatternden Federtiere beisammengehalten hatte. Er gab ihr
die Haselgerte wieder, an die er zwei Goldstücke festgebunden hatte,
und sagte lächelnd: „Und nun schlüpf heim, mein Kind, und merk
dir's, daß du den alten Moltke gelehrt hast, Gänse zu hüten!“
Und lächelnd gingen die erlauchte Kaiserin Auguste Viktoria und
der alte Moltke zurück ins Schloß. Nach Hübner.
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242. Unsere Kaiserin im Elisabeth-Kinderhospital.
Es war im Jahre 1888. Weihnachten, das Fest der Wonne
und des Kinderjubels, war wieder gekommen. Überall, in Hütten
und Palästen, glänzte der Weihnachtsbaum und verkündele mit seinen
strahlenden Kerzen die alte, frohe Botschaft: „Freuet euch, denn
euch ist heute der Heiland geboren!“
Auch im Elisabeth-Kinderhospital in Berlin war der Weihnachts—
mann eingekehrt. In dem großen Saale der Anstalt brannten die
Weihnachtsbäume und auf langen Tischen lagen die Geschenke für
die armen, kranken Kinder ausgebreitet. Die Kinder, die schon in
der Genesung waren, standen oder saßen um die gedeckten Tische
herum, die anderen lagen in ihren Betten. Die sonst so bleichen
Wangen der Kleinen waren vor Freude gerötet; ihre Augen strahlten
fast noch heller als die Weihnachtskerzen, und vergessen waren Schmer—
zen und Krankheit. Als die feierlichen Klänge des Weihnachtsliedes:
„Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“, verrauscht waren, durften
die glücklichen Kinder ihre Geschenke in Empfang nehmen.
Wer aber unter all' den anwesenden vornehmen Frauen und
Männern war der gute Engel, dem die Kinder ihre Weihnachts—
freude verdankten? Die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria war
es. Seit Jahren schon stand das Elisabeth-Kinderhospital unter
ihrem Schutze, und seit Jahren empfingen die armen Kinder ihre
Bescherung aus der gütigen Hand der Kaiserin.
Dort an einem Tische steht ein kleiner Knabe, der unter seinen
Geschenken auch ein Bilderbuch entdeckt hat. Er schlägt es auf,
eilt auf die Kaiserin zu, zupft sie am Kleide und sagt: „Sieh mal,
Frau Kaiserin, was macht dieser Mann?“ Und die Kaiserin beugt
sich liebreich zu dem kleinen Schelm nieder und erklärt ihm das
Bild.
An den Wänden des Saales lagen die Kranken in ihren Betten.
Auch zu ihnen kam die Kaiserin. Für jedes Kind hatte sie einen
freundlichen Blick, ein tröstendes Wort. Ein Bett trug die In—
schrift: „Freibett, von der Prinzessin Wilhelm an ihrem Geburts—
tage, dem 22. Okltober 1887, gestiftet.“ In demselben lag ein armer
Knabe, der aus weiter Ferne hierher gebracht worden war. Als
die Kaiserin an sein Bett trat, richtete er sich ein wenig auf, blickte
seine Beschützerin voll Vertrauen an, überreichte ihr einen duftenden
Maiblumenstrauß und sprach mit heller, deutlicher Stimme ein schönes
Gedicht, das mit den Worten schloß: nlemanons
sSchult ehorschungq
sraunechureigq
gchubbuchb io
297
— Ê Ê —
„Es klingen unsre Stimmen
heut' jubelnd zu dir hin!
Gott kröne dich mit Segen,
geliebte Kaiserin!“
Und all' die anderen Kinder wiederholten laut und freudig: „Gott
kröne dich mit Segen, geliebte Kaiserin!“
Die hohe Frau war tief gerührt von diesem Gruß. Es war
stille geworden in dem großen Saale. Die versammelten Frauen
und Männer stimmten in ihrem Herzen mit ein in den Kindergruß:
„Gott kröne dich mit Segen, geliebte Kaiserin!“ Albert Ernst.
243. Weihnachten in unserm Kaiserhause.
Es ist der 24. Dezember. Grau und schwer hängt der Himmel
über der Hauptstadt des Deutschen Reiches. Ein leichter Schnee
ist über Nacht gefallen, und so gibt es allenthalben fröhliche Ge—
sichter ob des schönen Weihnachtswetters. Überall herrscht ein reges
Leben, ganz besonders aber vor dem Königlichen Schloß; denn an
diesem Tage pflegt unser guter Kaiser schon seit vielen Jahren, oft
ganz allein, einen Spaziergang zu unternehmen, um diesen oder
jenen Armen mit einem Geldgeschenk zu erfreuen. Wenn die Kaiser—
liche Familie in Potsdam weilt, so ist es in der Regel der Park
von Sanssouci, wohin der Kaiser seine Schritte lenkt. Die Taschen
seines Mantels sind voll neuen Geldes und nichts verrät den Kaiser—
lichen Herrn. Manche, welchen die Sorgen des täglichen Lebens
tiefe Furchen in die Stirn gegraben haben, erhalten von ihm eine
Gabe in Gestalt eines neuen Geldstückes. Noch ehe sich die Beschenkten
bedanken können, ist der Kaiser schon wieder fort, die Bäume aber im
Park von Sanssouci, könnten sie reden, wüßten von mancher Dankes—
träne, die den Schnee netzte, und von manchem Segenswunsch zu er—
zählen, den hier eine einsame Witwe und dort ein armer Parkarbeiter
für den Kaiserlichen Herrn empor zum Thron des Allerhöchsten sandten.
Daß sich auf diesen Gängen auch manche Episode abspielt, ist
wohl natürlich. Eine wenigstens mag ob des Humors ihren Platz
hier finden. Kommt da am Weihnachtsheiligabend unser guter
Kaiser zu einem am Schloß auf Posten stehenden Soldaten, um auch
ihm ein Geschenk zu überreichen. Der Soldat, der seine Instruktion
genau kannte, verweigerte die Annahme mit der Begründung, daß
er „auf Posten“ kein Geschenk annehmen dürfe. „Auch von deinem
Kaiser nicht?“ „Nein, aber wenn Majestät es in das Schilder—
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9 —
häuschen legen wollten, so werde ich es mir, wenn ich abgelöst werde,
mitnehmen.“ Den Kaiser freute diese Antwort, und gern entsprach
er der Bitte des Soldaten, der natürlich bei seiner Ablösung die
neuen Fünfmarkstücke nicht vergaß, die ihm sein Kaiser als Weih—
nachtsgeschenk verehrt hatte.
Nach dem Mittagessen um 4 Uhr findet die Bescherung der
Dienerschaft statt, an der die ganze Kaiserliche Familie teilnimmt.
Auf langen Tischen, überstrahlt von einem gewaltigen Christbaum,
liegen die für die Dienerschaft bestimmten Geschenke, welche der Kaiser
und die Kaiserin persönlich unter freundlichen Worten überreichen.
Diese Geschenke sind nicht etwa aufs Geratewohl gewählt, die Hof—
beamten forschen vielmehr die Wünsche der Dienerschaft nach Möglich—
keit aus und, soweit angängig, werden diese berücksichtigt. Eine halbe
Stunde pflegt die Kaiserliche Familie hier zu verweilen, dann ver—
läßt sie diesen Kreis fröhlicher Menschen, um ihre eigene Weih—
nachtsfeier zu begehen.
In dem Saale, wo die Bescherung der Kaiserlichen Familie statt—
findet, ist eine sogenannte Krippe aufgebaut worden, und große, mit
vielen Kerzen versehene Tannenbäume, die der Kaiser nicht selten
selbst in Rominten auswählt, erfüllen den weiten Raum mit Tannen—
duft und Weihnachtszauber. Die beiden größten Bäume sind für
den Kaiser und die Kaiserin bestimmt. Unter jedem Baume steht
ein Tisch, auf dem die Geschenke liegen, die der Kaiser und die
Kaiserin ihren Kindern bescheren.
Für die Herren und Damen des Gefolges sind ebenfalls große
Tafeln errichtet, auf welchen unter reichgeschmückten Tannenbäumen
die für sie bestimmten Geschenke ruhen, und auch hier ist das Kaiser—
paar bemübt, etwas zu bescheren, das Freude bereitet.
Allmählich verlöschen die Lichter an den Bäumen, die Weihnachts—
feier der Kaiserlichen Familie ist zu Ende. Aber noch einmal geht
es heute zu fröhlicher Feier, und zwar zur Bescherung des Lehr—
Infanterie-Bataillons. Der Kaiser und die Kaiserin beschenken die
nicht auf Urlaub gegangenen Mannschaften mit allerlei schönen und
nützlichen Sachen, und ein Mitglied der Hofgesellschaft hat sich sogar
als Knecht Ruprecht angezogen, um unter allerhand lustigen Reden
Geschenke zu verteilen.
Aber nur zu bald ist die hierfür NRmessene Zeit zu Ende, und es
geht zurück zum Schlosse. Nun wird es still in den Räumen des—
selben, nur der Kaiser und die Kaiserin bleiben noch einige Zeit
beisammen, und ihre Gedanken werden hin zu Bethlehems Fluren
wandern, wo einst die Engel den Hirten die Geburt des Welten—
29.
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heilandes verkündigten, und gern werden sie auch der Stunden ge—
denken, wo sie an den Stätten weilen durften, wo unser Heiland
lebte, wirkte und litt. Nach dem „Nachbar“.
244. Gebet für den RKaiser.
Ein Haupt hast du dem Volk gesandt
und trotz der Feinde Toben
in Gnaden unser Vaterland
geeint und hoch erhoben.
Mit Frieden hast du uns bedacht,
den Kaiser uns bestellt zur Wacht
zu deines Namens Ehre!
Wir danken dir mit Herz und Mund,
du Retter aus Gefahren,
und flehn aus tiefster Seele Grund,
du wollest uns bewahren,
Herr aller Herr'n, dem beiner gleich,
den Kaiser und das Deutsche Reich
zu deines Namens Ehre!
Verwirf, Gott, unser hlehen nicht,
laß auf des Kaisers Wegen
dein huldvoll heilig Angesicht
ihm leuchten uns zum Segen,
und halte ihn mit deinem Geist,
dab er sich kräftiglich erweist
zu deines Namens Ehre!
Ach komm, wie zu der Väter Zeit
ein FPeuer anzuzünden,
dabß wir im, Frieden und im Streit
fest auf dein Wort uns gründen;
ein frommes Volk, das dir vertraut
und dir zum Tempel sich erbaut
zu deines Namens Ehrel! Julius Sturm.
245. Gelübde.
Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand dir LCand voll Lieb' und
Leben, mein deutsches Vaterland!
Mein Herz ist entglommen, dir treu zugewandt, du Land der Frei'n
und Frommen, du herrlich Hermannsland!
Will halten und gläuben an Gott fromm und frei, will, Vaterland,
dir bleiben auf ewig fest und treu!
Ach Gott, tu erheben mein jung Herzensblut zum frischen, freud'gen
Ceben, zum freien, frommen Mut!
Caß Kraft mich erwerben in Herz und in Hand, zu leben und zu
sterben fürs heil'ge Vaterland! Hh. F. Maßmann.
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