255 nische Völkerwanderung, brachte im 4. und 5. Jahrhundert den tief in ihnen steckenden Wandertrieb, der sie einst aus Asien nach Deutschland geführt, zu mächtigstem Ausbruch. Fast alle Stämme erhoben sich ganz oder teilweise, freiwillig oder von den Nachbarn gedrängt, aus ihren alten Sitzen und wanderten dem schönen Süden und Westen zu. Vor diesen Fluten aus dem männerreichen Germanien barsten alle Dämme, die bisher das römische Reich mühsam geschützt; es fiel in die Gewalt der Barbaren, die darauf neue Reiche gründeten. Die massenhafte Aus— wanderung hatte in den Bestand der Bevölkerung Deutschlands große Lücken gerissen. Beinahe das ganze ehemalige Suevenland war geräumt; in die leeren Sitze rückten jetzt die Nachbarn im Osten, die Slaven, ein. Seit dem sechsten Jahrhundert breiteten sie sich aus vom Quellgebiet des Dnieper und der Wolga, ihrer Heimat, bis zur Ostsee und dem adriatischen Meer, in die russischen Steppen und bis zur Elbe und Saale, dem Böhmerwald und Inn, ein zahlreiches, in viele Stämme gespaltenes Volk; die in das Suevenland drangen, — die Sorben zwischen Bober und Saale, Mittel— elbe und Havel, die Lutizen zwischen Elbe und Oder bis zur Ostsee, die Abotriten in Mecklenburg und Vorpommern, — wurden von ihren Nach— barn, den Sachsen, mit dem gemeinsamen Namen Wenden benannt. Zwischen den Sachsen, d. h. den Deutschen, welche das Land von der Niederelbe bis zur Ems und von der Nordsee bis Hessen und Thüringen bewohnten, und den Wenden bestand über 200 Jahre lang ein freund— schaftliches Verhältnis; als jene aber durch Karl den Großen zum Christen— tum bekehrt und gleich den übrigen deutschen Stämmen in das große Frankenreich eingefügt waren, da trat an der Elbe das deutsche Wesen gegen das slavische in einen Kampf, der von Generation zu Generation erbitterter wurde. Es ging mit den Deutschen in dieser Zeit eine wesent— liche Veränderung vor. Sie waren Christen geworden und hingen dem neuen Glauben mit glühender Liebe an. Sie waren (seit 843) zu einer politischen Einheit gekommen, und ihre dadurch verstärkte Kraft wendete sich gegen die heidnischen Nachbarn, welche zu bekämpfen außer irdischen Vorteilen auch den Segen des Himmels brachte. Immer entschiedener lenkten sie zugleich in die Wege civilisierter Nationen ein; mit dem Christen⸗ tum hatten sie von den Romanen auch manches andere Bildungselement empfangen. Freilich kam auch viel Schlimmes über den Rhein, zumal das Lehenswesen, das rasch die alte Volksfreiheit überwucherte. Denn da die Macht des Königs hauptsächlich auf der Größe seines Kriegsgefolges beruhte, so suchte er möglichst viele und vornehme Dienstmannen an seine Person zu fesseln; er versicherte sich ihrer Treue dadurch, daß er ihnen Güter auf so lange lieh, als sie ihm Kriegsdienste leisten würden. Die Großen ahmten dies nach, und mancher starke Nachbar ließ nicht ab, den