Georg-Eckert-Institut 6876
Deutsches Lesebuch
für
höhere Mädchenschule
von
X Kippenberg,
weil. Vorsteher einer höheren Mädchenschule
und eines Lehrerinnen-Seminars.
Ausgabe A.
Jünfter Heit.
\2.f neu bearbeitete Auflage.
Lannover, Mg.
Norddeutsche Verlagsanstalt
G. Goedel.
(Leipzig, Täubchenweg 2[.)
Alle Rechte vorbehalten.
Georg-Eckert-Instltut
für - r'onale
Sci iu'b’.r. •"< rschung
Schuibuciibibiiothek
cc(?-i 2(/0, w33Vr
Vorwort mr 12. Auflage.
Bei der Bearbeitung dieses Teiles des deutschen Lesebuches sind
dieselben Grundsätze maßgebend gewesen, die uns bei der Neubear-
beitung der vorangehenden Teile geleitet haben; wir verweisen daher
auf das in jenen Vorworten Dargelegte.
Über die Auswahl der Sagen und der geschichtlichen
Stoffe dieses 5. Teiles haben wir im Vorworte zum 4. Teile schon
gesprochen. Die geschichtlichen Stoffe sind hier der vaterländischen
Geschichte entnommen mit besonderer Berücksichtigung der Neuzeit.
Der Abschnitt V „Aus Heimat und Ferne" bringt außer
anschaulichen Darstellungen deutschen Landes und Lebens einige be-
sonders charakteristische Bilder aus anderen Ländern, um den Blick der
Schülerinnen über die Grenzen des Vaterlandes hinaus zu lenken
und so ihren Gesichtskreis mehr und mehr zu erweitern.
Eine reichliche Auswahl von Balladen und volkstümlichen Liedern
bringt auch dieser Teil.
Der Anhang zeigt die gleiche Einrichtung wie im 4. Teile.
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß für diejenigen Schulen, welchen
eine Änderung des Inhalts nicht wünschenswert ist, auch der 5. Teil
in der unveränderten früheren Form weiter geführt wird.
Bremen, im Dez. 1898.
I. Mppenüerg.
Dr. %. üippenberg.
Inhaltsverzeichnis A
(nach der Reihenfolge der Nummern).
Die mit einem * versehenen Lesestiicke sind Gedichte.
Nr. Überschrift der Lesestiicke. Verfasser Seite
*Eingangsspruch I. Koch 9
I. Religiös-sittliches Leben.
*1. Das Vaterhaus 9
2. Ein Hausspruch A. Kippenberg .... 10
*3. Lied eines Landmannes i. d. Fremde. I. G. v. Salis. . . . 13
*4. Das Erkennen I. N. Vogl .... 14
5. Der kleine Tambour Nach J. L. Ewald 15
6. Drei Freunde I. G. v. Herder . . . 19
*7. Ein Friedhofsgang I. N. Vogl .... 19
*8. Der Lindenbaum W. Müller . . . . 20
*9. Das Gewitter G. Schwab 21
10. Das Totenhemdchen Brüder Grimm . . . 22
*11. Der Regenbogen K. v. Gerok . . . . 22
12. Ein unverhofftes Wiedersehen . J. P. Hebel . . . . 23
*13. Morgengebet E. M. Arndt . . . . 24
14. Der Gotteskasten Fr. A. Krummacher . . 25
15. Der Savoyarde und der Erzbischof. W. O. v. Horn (W. Örtel.) 26
*16. Für die sieben Tage Fr. Rückert 30
17^ Wie schön leuchtet d. Morgenstern. K. Heinrich . . . . 31
18. Alles zum Guten I. G. v. Herder . . . 33
*19. Abends Fr. Güll 34
*20. Gute Nacht, mein Kind! . . . Des Knaben Wunderhorn. 34
*21. Seemorgen N. Lenau 34
*22. Das Schifflein 35
*23. Der Lotse 36
*24. Der Schiffbruch 36
*25. Der kleine Hydriot W. Müller 37
5
Nr. Überschrift der Lesestücke. Verfasser. Seite
26. Das Geburtstagsgeschenk . . B. Beinick 38
27. Der kleine Friedensbote .... K. Stöber 44
28. Der liebe Gott geht durch den Wald. P. Rosegger 46
*29. Weihnachten I. v. Eichendorff . . . 52
*30. Zum neuen Jahre I. Lohmeyer . . . . 53
*31. Der gute König I. Lohmeyer . . . . 53
32. Das Haus Gruit van Steen . . K. Barth 54
33. Barbara Uttmann 57
*34. Spinnerlied Des Knaben Wunderhorn 64
35. Meister Hämmerlein . . . . I. F. Schlez . . . . 64
*36. Das Lied vom braven Mann . . G. A. Bürger . . . . 66
37. Herzog Leopold von Braunschweig. I. L. Ewald . . . . 68
*38. Der fromme Makarius . . . . Fr. Rochlitz 70
39. Oie ewige Bürde Palmblätter . . . . 71
*40. Der Glockenguß zu Breslau . . W. Müller 72
*41. Die Sonne bringt es an den Tag. A. v. Chamisso. . . . 74
42. Die drei Hausräte K. H. Caspari.... 76
*43. Das Hufeisen . . .... I. W. v. Goethe . . . 77
*44. Parabel 79
45. Zeus und das Pferd 79
46. Der Esel mit dem Löwen . . . G. E. Lessing .... 80
47. Der Rabe und der Fuchs . . . G. E. Lessing .... 80
*48. Der Hänfling 81
*49. Der Löwe und der Fuchs . . . L. W. Gleim .... 82
*50. Oer Tanzbär Ohr. F. Geliert . 82
51. Vom Kranich und Wolf. . . . M. Luther 83
52. Vom Frosch und der Maus . . M. Luther 83
*53. Fabel von den zwei Mäusen . . Hans Sachs .... 84
*54. Das grüne Tier und der Naturkenner. A. Kopisch 86
*55. Sprüche 87
H. Sage und verwandte Dichtung.
56. Prometheus . 88
57. Herakles . 91
58. Niobe . 93
59. Hektor und Andromache. . . . G. Schwab .... . 96
60. Hektars Tod . 98
6
Nr. Überschrift der Lcsestücke. Verfasser. Seite
61. Priamus bei Achilles .... Nach K. F. Becker . . 101
*62. Der Ring des Polykrates . . .Fr. v. Schiller . . . 106
*63. Die Bürgschaft....Fr. v. Schiller . . . 109
64. Die Götter der Germanen . . . Nach F. Dahn und
G. Weber . . .113
*65. Lied der Walküre..................F. Dahn...................118
66. Die altgermanischen Jahresseste . Nach I. H. Albers . .118
*67. Der Schmied von Helgoland . . Volksballade........121
*68. Erlkönig........................I. W. v. Goethe. . . .123
*69. Die Gründung Frankfurts . . . A. Kopisch.............124
*70. Der blinde König................L. Uhland..............124
71. Lohengrin.......................A. Bichter............126
*72. Taillefer.......................L. Uhland..............132
73. Der Sängerkrieg auf der Wartburg F. Bäßler.............134
*74. Der Schenk von Limburg . . . L. Uhland..............136
*75. Der Reiter und der Bodensee . . G. Schwab..............137
*76. Die wiedergefundenen Söhne . . I. G. v. Herder . . . 139
III. Geschichtliches.
*77. Belsazer.........................H. Heine........141
*78. Das Grab im Busento . . . . A. v. Platen .... 142
79. Germanische Gastfreundschaft . . K. Weinhold......142
*80. Gotentreue.......................F. Dahn..........145
*81. Gotenzug.........................F. Dahn..........146
82. Konradins Tod.....................Fr. v. Raumer .... 146
*83. König Konrad der Junge . . . K. Stieler.......149
84. Die Ritterburgen..................F. v. Löher.......150
*85. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe . I. Kerner........152
*86. Der reichste Fürst...............I. Kerner.......153
87. DieErfindung d. Buchdruckerkunst Th. B. Weiter .... 153
*88. Kolumbus.........................L. Brachmann .... 156
*89. Die Martinswand..................A. Grün.........159
90. Das Freischießen in Straßburg und
das glückhafte Schiff. . . . F. v. Köppen .... 162
*91. Fehrbellin.......................I. Minding......168
92. Die Schlacht bei Roßbach . . . F. Schräder......170
93. Prinzessin Luise hei Frau Bat . G. Horn..........172
7
Nr. Überschrift der Lesestücke.
94. Arndts Rückkehr in die Heimatl 809
*95. Reiters Morgengesang ....
*96. Blücher am Rhein.................
97. König Wilhelms Ankunft in Berlin
98. Ein Brief Bismarcks an seine Frau
99. Bismarck in Sedan . , .
100. Weihnachten in Feindesland . .
*101. Der letzte Brief..................
102. Ein Brief Moltkes aus Versailles
*103. Mein Lieben.......................
*104. Das Lied der Deutschen . . .
Verfasser.
E. M. Arndt
W. Hauff. .
A. Kopisch .
F. Schmidt .
O. v. Bismarck
13. Rogge. .
Chr. Hottinger
Fr. Hofmann
H. v. Moltkc
A. H. Hoffmann v
A. H. Hoffmann v
Seite
174
177
177
178
181
183
184
187
188
190
191
IV. Natur und Naturfreude.
*105. Die Schönheit der Natur . . . Ph. Spitta .... . 191
106. Der Sternenhimmel .... A. Kippenberg. . 192
*107. Den Blick empor! . 200
*108. Wanderlied . 200
*109. Sonntagsmorgenlied im Frühling Fr. A. Krummacher . . 201
*110. Das alte Mütterlein . . . . G. Nicol . 201
111. Der Ursprung des Himmel-
schlüffelchens . 203
*112. Morgenwanderung E. Geibel .... . 205
*113. Frühling im Gebirge . . . . Fr. v. Bodenstedt. . 206
*114. Der blühende Flachs .... Fr. A. Krummacher . . 206
*115. Das Ährcnfeld I. Hammer .... . 207
*116. Spruch . 208
117. Deutschlands Nadelhölzer A. Kippenberg . 208
*118. Die Tanne F. Freiligrath . . . . 211
*119. Der Jäger Abschied. . . . I. ö. Eichendorff . . . 212
*120. Der einsame Baum I. Lohmeyer . . . . 213
121. Sprechende Vögel A. u. K. Müller . . . 213
*122. Gesang des Vogels über dem Walde I. L. Dcinhardstein . . 217
*123. In der Heimat I. Sturm .... . 218
124. Der Löwe . A. Brehm .... . 218
*125. Löwenritt F. Freiligrath . . . . 223
*126. Rätsel 1—4 Fr. v. Schiller . . . . 224
8
Nr. Überschrift der Lesestücke. Verfasser. Seite
V. Aus Heimat und Ferne.
*127. Deutsches Weihelied M. Claudius . . . . 226
128. Eine Rheinfahrt K. Kollbach . . . . 226
*129. Warnung vor dem Rhein . . . K. Simrock .... . 229
*130. Bergfahrt I. Lohmeyer . . . . 230
131. Das Riesengebirge Nach A. Sach . . . . 231
*132. Aus dem schlesischen Gebirge. . F. Freiligrath . . . . 235
133. Ein Tag auf dem Marschhofe . H. Allmers .... . 237
*134. Die Stadt am Meere .... Th. Storm .... . 242
*135. Meeresstille und glückliche Fahrt I. W. Goethe . . . . 242
136. Heimkehr . 243
*137. Wanderlied I. Kerner .... . 247
138. Die Pußten Ungarns . . . . A. Dux . 248
139. Kanäle und Böte in Holland. . Nach A. W. Grube . . 250
*140. Mignon . 254
141. Der Ausbruch des Vesuv im
Jahre 1872 EL Bogumil .... . 255
142. Eine Winterreise in Norrland . B. Taylor .... . 261
143. Aus der heißen Zone .... A. Herf . 264
144. Jerusalem und Umgegend . . . Fr. A. Berthelt. . . . 269
145. Bethlehem F. Bäßler .... . 272
*146. Mahnung . 273
Anhang.............................................................274
Ia. Anfänge der Gedichte und tieder. — b. tieder-Kanon. —
c. Gedicht-Kanon. — II. Inhaltsverzeichnis ß (nach den
Gattungen der Darstellung). — III. Schriftsteller-Verzeichnis.
—B8s—:•----
Latz Liebe walten
in deinem Kreise,
mutzt freundlich schallen
auf stille Weise.
Mit harten Worten,
mit Zorn und Streit
schaffst allerorten
du bittres Leid.
Verliere nimmer
den sanften Mut,
dann bleibt dir immer
das höchste Gut,
das allerwegen
in Glück und Schmerz
der grötzte Segen:
ein warmes Herz.
Johanne Roch.
I. Religiös-sittliches Leben.
1. Das Vaterhaus.
1. Ob prächtig scheint mit Turm und Bogen
das Vaterhaus ins weite Land;
ob es vom Laubgrün hold umzogen
sich lehnet an des Waldes Rand;
ob in der Straßen langer Reihe,
ob einsam, in den Fluren drauß':
ihm mangelt nicht die rechte Weihe —
es bleibet stets das liebste Haus.
2. Und ob in Farben, Samt und Seide
die Wände prangen wnnderhold;
ob drinnen herrliches Geschmeide
erglänzt in Silber und in Gold;
ob schlicht die Mauern, hart die Bänke,
ob Not und Armut schaun heraus,
ob leer die Kisten und die Schränke: —
es bleibet doch das liebste Haus.
10
3. Denn holde Bilder drinnen Prangen
aus unsrer lieben Jugendzeit:
das Mutterherz voll Lust und Bangen,
das Vateraug' voll Zärtlichkeit,
das Schwesterlein in seiner Wiege
mit seinem Köpfchen rund und kraus,
der Brüder laute, lust'ge Kriege! —
Dies alles zeigt das Vaterhaus.
4. Gar manchen schönen Festesmorgen
und manchen Abend lieb und traut
und manche Hoffnung still verborgen,
die sich das Kinderherz erbaut,
das Weihnachtsbäumlein voller Schöne,
den Osterhas', den Nikolaus
und all die lauten Freudentöne: —
dies alles bringt das Vaterhaus.
5. O Vaterhaus voll Glück und Frieden,
sei uns gegrüßt viel tausendfach!
Ob längst wir sind davon geschieden,
ob noch uns birgt das liebe Dach:
nimm unsern Dank für allen Segen,
der je von dir uns strömte aus;
wir denken dein auf allen Wegen,
geliebtes, teures Vaterhaus! zsabeua Braun.
2. Ein Hausspruch.
Stets habe ich es für eine löbliche Sitte gehalten, das Haus mit
einem sinnigen Spruche zu schmücken, und es freut mich von Herzen,
daß dieser Brauch, der eine Zeitlang veraltet schien und zu verschwinden
begann, neuerdings wieder zu Ehren gekommen ist. Manches neu-
gebaute Haus trägt an feiner Stirn ein Zeichen des Sinnes, in welchem
der Besitzer es hat aufführen lassen, und den er mit dem Hause auf
Kinder und Kindeskinder zu vererben wünscht.
Vor einigen Jahren kam ich in ein Dorf unweit der Weser, wo
es wenige Häuser gab, an denen nicht der Balken über der Thür oder
••"ggijfe
-li-
eht eingemauerter Stein dem Eintretenden ein erbauliches oder be-
lehrendes Wort entgegengerufen hätte. Es waren größtenteils In-
schriften, wie man sie auch sonst zu finden Pflegt. Ich las: „An
Gottes Segen ist alles gelegen", — „Unsern Eingang segne Gott,
unsern Ausgang gleichermaßen", — „Der Herr beschütze dieses Haus
und die hier gehen ein und aus" — und Sprüche ähnlichen Inhalts.
Einer derselben, in plattdeutscher Mundart abgefaßt, nahm sogar eine
fast trotzige Wendung: „Watt frag' ick na de Lü' — Gott helpet mi!"
Ganz besonders aber zog mich ein Wort an, das ich mit goldenen
Buchstaben über der großen Thür eines auffallend stattlichen und
sauberen Bauernhauses hart am Ende des Dorfes fand:
Die mit Thränen säen, werden mitFreuden ernten.
Psalm 126, Vers 5.
„Gewiß hat diese Inschrift eine ganz besondere Veranlassung
und Bedeutung," dachte ich und blieb eine Weile vor dem Hause
stehen, ehe ich meinen Weg fortsetzte, dem nächsten Dorfe zu. Während
ich noch sann, ging der Pfarrer vorüber; wir boten einander den
Gruß und kamen sogleich in ein Gespräch über den Spruch am Hause.
„Das Wort hat allerdings, wie Sie sich gedacht haben, seine besondere
Geschichte," sagte der Pfarrer; „ich kann sie Ihnen unterwegs er-
zählen, da Sie wohl auch dem Dorfe zugehen, das drüben liegt, und
wohin ich gerufen bin, um einen Kranken zu besuchen." Gern schloß
ich mich dem freundlichen Herrn an und hörte mit Teilnahme seine
Mitteilungen.
„Ich habe ihn noch gekannt als einen hochbetagten Greis, den
einstigen Besitzer dieses Hauses, der es in seinen jüngeren Mannes-
jahren erbaute und mit dem Spruche von der thränenvollen Saat
und der freudigen Ernte schmückte," erzählte der Pfarrer. „Manches
liebe Wort habe ich mit dem ebenso frommen als verständigen und
allezeit freundlich-milden Greise geteilt, der einige Jahre, nachdem ich
mein Amt hier angetreten, im Kreise seiner Kinder und Enkel sanft
entschlief. In einer Stunde traulichen Beisammenseins, wo ich so
recht in sein treues, gutes Herz schaute, habe ich von ihm die Geschichte
der Inschrift seines Hauses vernommen." — Und aufmerksam horchte
ich nun den Worten des würdigen Geistlichen.
„Es ist lange her," begann er, „in der schlimmen französischen Zeit
war es, wo Drangsal und Elend namentlich auf diesen Gegenden
schwer lastete, und unaufhörliche Kriegsfuhren und Lieferungen von
Korn, Vieh und anderen Dingen den Landmann fast zu Boden drückten
und manchen an den Bettelstab brachten. Da trat in der Frühe eines
12
schönen Frühlingstages ein junger Bauer aus einem alten, verfallenen
Hause, das dort stand, wo sich jetzt das Haus mit dem schönen Spruche
erhebt. Einen Quersack mit Getreide auf der Schulter, schritt er
langsam den Äckern zu. Wer ihn ansah mit seinem trüben Auge
und seiner bleichen, sorgenvollen Miene, der mußte wohl merken, daß
diesem Manne ein schwerer Kummer auf der Seele lag, vor dem
Freudigkeit und Mut entschwunden waren. Die Strahlen der höher-
steigenden Sonne scheuchten die leichten Nebel hinweg, die sich hier
und da noch an dem fernen Walde hinzogen; die Tautropfen funkelten
freundlich an den Gräsern, und die warme Frühlingsluft strich be-
lebend über die mit den ersten Blumen sich schmückende Flur. Das
alles war für ihn nicht da; in tiefe Gedanken versunken, hatte er kein
Auge für das, was um ihn her vorging. Er kam auf sein Feld.
Vergebens grüßten ihn die zarten Blättchen der Hecke, die es einfaßte;
vergebens sang ihm ein früh heimgekehrtes Rotkehlchen auf einem
ihrer Zweiglein fröhlich ein Willkommen entgegen; — und doch hatte
er sonst so gern den Boten des Frühlings gehorcht.
Beim Anblicke des fruchtbaren Bodens, den der Pflug aufgewühlt
hatte, und der nun die Saat empfangen sollte, kehrten seine Gedanken
zur Außenwelt zurück. Seine Hand griff in den Sack, um den Weizen
auszustreuen. Aber er mußte innehalten, die Traurigkeit übermannte
ihn. Mit banger Sorge sah er in die Zukunft. Sein kleines Be-
sitztum hatte er schon stark verschuldet von seinem seligen Vater über-
nommen; im Herbste hatte er das letzte Geld darauf angeliehen, um
seine Abgaben bezahlen zu können. Zur Wintersaat war es damals
auch bei ihm, wie bei vielen anderen in diesen Kriegsnöten, nicht ge-
kommen. Schwer, sehr schwer hatte er sich mit den Seinigen durch
den Winter geholfen. Nun hatte ihm ein mitleidiger Nachbar, der
noch in einigem Wohlstände lebte, Weizen zur Aussaat geliehen. Wenn
nun die Ernte ausblieb — was dann? Das Schlimmste mußte ihm
und seiner Familie bevorstehen. —
Seine Augen füllten sich mit Thränen. Aber plötzlich kam ihm
aus seiner Jugendzeit ein Bibelwort in den Sinn, das nun lebendig
und kräftig vor seine bekümmerte Seele trat. „Die mit Thränen
säen, werden mit Freuden ernten" — so klang es in ihm, und das
Wort gab ihm Trost und Zuversicht. „Der alte Gott lebt noch,"
sprach er zu sich selbst, „ihm will ich vertrauen und meine Sache
anheimstellen. Vielleicht ernte auch ich mit Freuden, was ich jetzt mit
Thränen säe." Es war licht geworden in seiner Seele. Das Jubel-
lied der Lerche, die sich vor ihm aufwärts zum Himmel schwang,
tönte nun auch in seinem Herzen wieder. Und mit fleißiger und
sorgsamer Hand bestellte er sein Tagewerk.
Das Jahr war eins der fruchtbarsten, die man seit langer Zeit
erlebt hatte, und nach vielen Jahren haben noch die Landleute von
dem reichen Segen gesprochen, den ihre Felder damals getragen. Auch
Valentins Ähren neigten sich tief unter der Last ihrer Körner und
gaben eine herrliche Ernte. Als nun der letzte Wagen, mit dem
Erntekränze geschmückt, in die volle Scheuer einfuhr, und Valentins
beide Kleinen, welche die Mutter an der Hand hielt, dem heim-
kehrenden Vater und der Garbenfülle entgegenjauchzten, da jubelte
es auch in seinem Herzen vor Freude und Dank gegen Gott. „Die
mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten," betete er still in
sich. Es wurde der Spruch seines Lebens, dessen er stets eingedenk
blieb. Ihn trug er frommen Sinnes in die alte Familienbibel ein,
und als er nach einer Anzahl von Jahren, wo durch seiner Hände
Fleiß und Gottes Segen bei ihm Wohlstand eingekehrt war, sich ein
neues Haus baute — womit hätte er es besser schmücken können und
anders schmücken mögen, als mit dem Worte: Die mit Thränen
säen, werden mit Freuden ernten."
So etwa erzählte der Pfarrer.
Im Weitergehen aber redeten wir beiden davon, wie so manches
Werk auf Erden mit banger Sorge muß begonnen werden und doch
mit standhaftem Mute und gläubigem Vertrauen zu gutem Ende ge-
führt wird, und wie oft nach Vollendung eines schweren. Werkes die
einst zagende Seele es froh und dankbar empfindet, daß mit
Freuden ernten, die mit Thränen gesäet haben.
August Kippenberg. (Mit Benutzung einer älteren Erzählung.)
3. Lied eines Landmannes in der Fremde.
1. Traute Heimat meiner Lieben,
sinn' ich still an dich zurück,
wird mir wohl; und dennoch trüben
Sehnsuchtsthränen meinen Blick.
2. Stiller Weiler, grün umfangen
von beschirmendem Gesträuch,
kleine Hütte — voll Verlangen
denk' ich immer noch an euch;
3. an die Fenster, die mit Reben
einst mein Vater selbst umzog;
an den Birnbaum, der daneben
auf das niedre Dach sich bog;
4. an die Stauden, wo ich Meisen
im Holunderkasten fing;
an des stillen Weihers Schleusen,
wo ich Sonntags fischen ging.
5. Was mich dort als Kind erfreute, i 8. Wann erblick'ich selbst die Linde,
kommt mir wieder leibhaft vor; j auf den Kirchenplatz gepflanzt,
das bekannte Dorfgeläute wo, gekühlt im Abendwinde,
wiederhallt in meinem Ohr. unsre frohe Jugend tanzt?
6.Selbst desNachts in meinenTräumen
schiff' ich auf der Heimat See;
schüttle Äpfel von den Bäumen,
wäff're ihrer Wiesen Klee;
7. lösch' aus ihres Brunnens Röhren
meinen Durst am schwülen Tag;
pflück' im Walde Heidelbeeren,
wo ich einst im Schatten lag.
9. Wann des Kirchturms Giebelspitze,
halb im Obstbaumwald versteckt,
wo der Storch auf hohem Sitze
friedlich seine Jungen heckt?
10. Traute Heimat meiner Väter,
wird bei deines Friedhofs Thür
nur einst, früher oder später,
auch ein Ruheplätzchen mir!
Johann Gaudenz v. 5alts.
4. Das Erkennen.
1. Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand,
kommt wieder heim aus dem fremden Land.
2. Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt;
von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
3. So tritt er ins Städtchen durchs alte Thor,
am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
4. Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
oft tjatte der Becher die beiden vereint.
5. Doch sieh, Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
zu sehr hat die Sonn' ihm verbrannt das Gesicht.
6. Und weiter wandert nach kurzem Gruß
der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
7. Da schaut aus dem Fenster sein Schätze! fromm:
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!"
8. Doch sieh, auch das Mägdlein erkennt ihn nicht;
die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
9. Und weiter geht er die Straße entlang;
ein Thränlein hängt ihm an der braunen Wang'.
10. Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her.
„Gott grüß' Euch!" — so spricht er und sonst nichts mehr.
11. Doch sieh — das Mütterchen schluchzet voll Lust:
„Mein Sohn!" — und sinkt an des Burschen Brust.
12. Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Johann Nepomuk Vogl.
5. I>61' Kleine Tambour.
Es war im Kriege von 1795, als die Österreicher die Fran-
zosen aus ihrem befestigten Lager vor Mainz so rasch vertrieben,
dass diese sich nur durch die schleunigste Flucht retten konnten.
I)er lange, in der letzten Zeit recht erbittert geführte Krieg
hatte die Herzen der Soldaten verhärtet; so war es denn kein
Wunder, dass die Sieger, als sie den Feind verfolgten, die
Fliehenden, deren sie habhaft wurden, erbarmungslos nieder-
machten und ihren Zorn auch an den Bewohnern der Gegend
ausliefsen, von denen es hiess, sie hätten den Franzosen durch
allerlei Mitteilungen Vorschub geleistet. Mit banger Besorgnis
sah man in dem nahegelegenen Städtchen Oppenheim der An-
kunft der wutentbrannten Sieger entgegen. Alle Thüren und
Fensterläden waren verschlossen, die Strassen leer. Niemand
liess sich sehen; die ganze Stadt war wie ausgestorben. Da
hörte man in den Häusern am Markte von fern her den schal-
lenden Hufschlag vieler Bosse, dazwischen wildes Gejauchze und
Busen. Die Österreicher zogen ein. In diesem Augenblicke
stürzte ein kleiner französischer Tambour, ein Knabe von
zwölf Jahren, der nicht einmal ein Wort deutsch verstand, aus
einer Strasse, die auf den Markt führte, hervor und lief
schreckensbleich in der entsetzlichsten Todesangst an den Häusern
hin, welche den Platz umgaben. Auch hier waren alle Thüren
verschlossen, alles öde und stumm. Hülflos lief der Knabe hin
und her; er hörte den Feind immer näher kommen und fühlte
sich in unabwendbarer Lebensgefahr. Dieser schreckliche Zu-
stand währte einige Minuten. Viele Bewohner, die durch die
Spalten ihrer Fensterläden spähten und des Knaben verzweif-
lungsvolle Lage sahen, bedauerten und beklagten ihn sehr,
aber — niemand wollte für seine Bettung sich selbst in Gefahr
bringen. In diesem Augenblicke, dem letzten, der zur Bettung
noch möglich schien, that sich plötzlich die Thür des Gasthofes
„Zur Kanne“ auf; der Besitzer desselben eilte auf den Knaben
16
zu und zog ihn blitzschnell ins Haus hinein, das sich augen-
blicklich wieder schloss. Sofort wurde die französische Uniform
durch die Kleider von einem der Knaben des Wirtes ersetzt und
der kleine Franzose der Familie desselben, die im Wohnzimmer
versammelt war, zugesellt. Die österreichischen Krieger liessen
sich nicht die Zeit, sich im Städtchen länger aufzuhalten. Als
sie hier keine Feinde mehr fanden, zogen sie nach kurzer Be-
redung auf dem Marktplatze weiter, zum entgegengesetzten
Thore der Stadt, um wo möglich auf den Feind zu treffen.
Damit war die Gefahr für den kleinen Tambour verschwunden.
Mehrere Tage vergingen, und Kühe und Sicherheit kehrten
in die Stadt zurück, Handel und Wandel lebte neu auf, und
bald ging das Leben seinen alten, gewohnten Gang. Es ent-
stand nun die Frage, was mit dem Geretteten weiter anzu-
fangen sei. Herr Braun, der Gasthofbesitzer, erfuhr von dem
Knaben, dass er der Sohn eines Tischlers bei Nîmes, im süd-
lichen Frankreich, sei, und es ging ein Brief an die Eltern
ab, in welchem der Knabe von seinen Schicksalen und seinem
jetzigen Aufenthaltsorte Mitteilung machte. Das Schreiben
blieb ohne Beantwortung, und genau so ging es mit einem
später abgeschickten Briefe. In der damaligen unruhigen Kriegs-
zeit liess sich, zumal in den Gegenden, welche der Schauplatz der
Kämpfe waren, auf regelmässige Beförderung wenig rechnen.
Der kleine Franzose wurde bald der erklärte Liebling
der Familie, ja des ganzen Hauses. Er war allezeit munter
und thätig, und es war rührend anzusehen, mit welcher Sorg-
falt und Achtsamkeit er bestrebt war, seinen Pflegeeltern und
der alten Grossmutter alle Wünsche von den Augen zu lesen
und ihnen flink und geschickt mit kleinen Dienstleistungen bei-
zuspringen. Um so weniger konnte Herr Braun sich ent-
schliefsen, den Knaben aufs Ungewisse hin in die Ferne ziehen
zu lassen, wozu ihm oft genug geraten wurde; ebensowenig
wollte er ihn einem Fremden überlassen, der ihm etwa für
allerlei häusliche Dienste den Lebensunterhalt gäbe. Noch
immer hoffte er, Gelegenheit zu finden, den gewiss um ihren
Sohn sehr besorgten Eltern den Knaben wieder zuführen zu
können.
Am meisten hingen aber die Kinder des Herrn Braun an
dem kleinen Louis. Schneller als alle übrigen und besser als
diese lernten sie sich mit dem französischen Kameraden ver-
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stehen. Sie redeten mit ihm eine eigentümliche Sprache, aus
Deutsch und Französisch gemischt, die aber gleichwohl allen
sehr verständlich war. Mit staunender Freude hörten die
Braunschen Kinder dem neugewonnenen Kameraden zu, wenn
er ihnen blitzenden Auges mit heller Stimme seine heiteren
französischen Lieder sang, aus denen es sozusagen herauslachte
und -jauchzte.
So verfloss fast ein Jahr. Alle Hausgenossen hatten den
Knaben lieb, der alles, was ihm aufgetragen wurde, pünktlich,
freudig und rasch vollbrachte und in der Arbeit wahrhaft un-
ermüdet und unverdrossen war. Unter den Gästen, welche in
der „Kanne“ den Knaben sahen und an seinem Schicksal An-
teil nahmen, befand sich auch ein in der Umgegend wohnender
Edelmann, der hier einzukehren pflegte, wenn er die Stadt
besuchte. Er wandte ihm in solchem Grade seine Teilnahme
zu, dass er in verschiedenen französischen Zeitschriften eine
Aufforderung an die Angehörigen des Knaben erliefs und, als
dies fruchtlos blieb, einen Freund in Lyon ersuchte, wo mög-
lich die Eltern davon zu benachrichtigen, dass ihr Sohn noch
lebe, und wo sich derselbe jetzt aufhalte.
Fast dreizehn Monate waren verflossen seit dem Tage, an
welchem Louis im Braunschen Hause Rettung und Obdach
gefunden hatte, als eines Nachmittags ein Mann von etwa
fünfzig Jahren in die Wohnstube trat, in welcher sich nur die
Mutter des Herrn Braun befand. Ausser ihr war nur noch
der kleine Franzose zu Hause; er weilte gerade in einem
Nebenzimmer. Alle übrigen Familienglieder waren zufällig
abwesend. Da fragte der eintretende Fremde die alte Frau
in einem sehr gebrochenen Deutsch, ob sich nicht ein Knabe
aus Frankreich hier aufhalte, der im letzten Feldzuge hier
zurückgeblieben; es sei das sein Sohn. Die Grofsmutter ver-
mochte vor Überraschung nicht zu antworten; in ihrem Herzen
kämpften Freude und Wehmut miteinander. Halb nahm sie
innigen Anteil an der Wiedervereinigung von Vater und Kind,
halb schmerzte sie der Gedanke, dass sie das liebgewordene
Pflegekind nun verlieren sollten. Endlich erhob sie sich, sprach
ein paar Worte, ging nach dem Nebenzimmer und rief Louis,
ohne ihm weitere Nachricht zu geben, in die Wohnstube.
Sprachlos standen Vater und Sohn einige Augenblicke vor ein-
ander und sahen sich unverwandt an. Plötzlich eilte Louis
Kippenberg, ^ 5 (N. A.). 2
18
auf seinen Vater zu, schlang voll Inbrunst seine Arme um ihn
und bedeckte sein Gesicht mit tausend Küssen. Thränen der
Freude und Rührung flössen über beider Wangen, aber auch
über die der wackeren alten Frau, welche Zeuge solches Wieder-
sehens war. Bald kamen auch Herr Braun und seine Gattin
nach Hause. Als die Mutter sie von weitem erblickte, ging
sie auf den Flur des Hauses ihnen entgegen, um sie auf die
frohe und zugleich betrübende Nachricht vorzubereiten. Auch
sie nahmen diese mit gemischtem Gefühle auf, ebenso ihre
Kinder, die gleich nachher eintraten, bei denen aber doch der
Schmerz bei dem Gedanken an die bevorstehende Trennung
von dem Freunde noch die Freude über die Wiedervereinigung
desselben mit den Seinigen überwog.
Aufs herzlichste begrüfste man den Vater, der zwar mit
Worten nur unvollkommen seinen Dank zu äufsern vermochte,
dessen Blicke und Mienen solchen aber beredt genug aus-
drückten. Der Knabe aber umschlang seine Wohlthäter unter
Thränen des Dankes; seine ganze Liebe zu ihnen offenbarte
sich in diesem Augenblicke. Bald war er bei ihnen, bald
schmiegte er sich wieder an seinen Vater, bald wieder stand
er mitten zwischen den Kindern, die sich nun herzlich mit ihm
freuten. Es war, als ob er sich bemühe, seine Zärtlichkeit auf
alle gleichmässig zu verteilen, und doch dachte er daran nicht
im geringsten; sein Herz gehörte eben allen und zog ihn zu
allen hin.
Nach den Minuten dieser ersten Begegnung trat nun,
nachdem man sich ruhig am Tische niedergelassen hatte, der
Gedanke an Louis’ Abschied wieder hervor. Die Kinder wollten
davon nichts hören, und das kleinste meinte, Louis könne mit
seinem Vater ja nun für immer bei ihnen bleiben. Das war
nun freilich nicht möglich; doch gab Louis’ Vater zu, dass der
Knabe noch drei Tage bei ihnen verweile, und machte ihnen
Hoffnung, dass er sie später wieder besuchen werde. Damit
beruhigte sich denn die kleine Familie. Vergnügt verbrachten
sie nun die wenigen Tage, welche ihr Freund noch bei ihnen
verlebte. Dieser erzählte seinem Vater alles, was er gesehen
und erlebt hatte, besuchte mit ihm und den Kindern die
Felder und Weinberge seines Pflegevaters und führte ihn zu
den Nachbarn und Bekannten desselben, die ihm auch Freund-
lichkeit erwiesen hatten. Mit den Gefühlen des lebhaftesten
Dankes und tiefster Rührung schied dann der Knabe von der
guten Familie, in deren Kreise er mehr als ein Jahr so glück-
lich Verlebt hatte. Nach Johann Ludwig Ewald.
6. Drei Freunde.
Traue keinem Freunde, worin du ihn nicht geprüft hast; an der
Tafel des Gastmahls giebt's mehrere derselben als an der Thür
des Kerkers.
Ein Mann hatte drei Freunde; zwei derselben liebte er sehr, der
dritte war ihm gleichgültig, ob dieser es gleich am redlichsten mit ihm
meinte. Einst ward er vor Gericht gefordert, wo er unschuldig, aber
hart verklagt war. „Wer unter euch," sprach er, „will mit mir gehen
und für mich zeugen? denn ich bin hart verklagt worden, und der
König zürnt."
Der erste seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, daß er nicht
mit ihm gehen könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite begleitete
ihn bis zur Thür des Richthauses; da wandte er sich und ging zurück
aus Furcht vor dem zornigen Richter. Der dritte, auf den er am
wenigsten gebaut hatte, ging hinein, redete für ihn und zeugte von
seiner Unschuld so freudig, daß der Richter ihn losließ und beschenkte.
-i- *
*
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt. Wie betragen sie
sich in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht fordert?
Das Geld, sein bester Freund, verläßt ihn zuerst und geht nicht mit
ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten ihn bis zur
Thür des Grabes und kehren wieder in ihre Häuser. Der dritte, den
er im Leben oft am meisten vergaß, sind seine wohlthätigen
Werke. Sie allein begleiten ihn bis zum Throne des Richters; sie
gehen voran, sprechen für ihn und finden Barmherzigkeit und Gnade.
Johann Gottfried v. Herder.
7. Ein Friedhofsganz.
1. Beim Totengräber pocht es an:
„Mach auf, mach auf, du greiser Mann!
2. Thu auf die Thür und nimm den Stab;
mußt zeigen mir ein teures Grab!"
3. Ein Fremder spricht's, mit strupp'gem Bart,
verbrannt und rauh, nach Kriegerart.
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4. „Wie heißt der Teure, der Euch starb
und sich ein Pfühl bei mir erwarb?"
5. „Die Mutter ist es, kennt Ihr nicht
der Marthe Sohn mehr am Gesicht?"
6. „Hilf Gott, wie groß! wie braun gebrannt!
Hätt' nun und nimmer Euch erkannt!
7. Doch kommt und seht; hier ist der Ort,
nach dem gefragt mich Euer Wort.
8. Hier wohnt, verhüllt von Erd' und Stein,
nun Euer totes Mütterlein!"
9. Da steht der Krieger lang und schweigt,
das Haupt hinab zur Brust geneigt.
10. Er steht und starrt zum teuren Grab
mit thränenfeuchtem Blick hinab.
11. Dann schüttelt er sein Haupt und spricht:
„Ihr irrt, hier wohnt die Tote nicht.
12. Wie schlöss' ein Raum, so eng und klein,
die Liebe einer Mutter ein!"
Johann Nepomuk Vogl.
8. Der Lindenbaum.
1. Am Brunnen vor dem Thore,
da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt' in seinem Schatten
so manchen süßen Traum.
2. Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebe Wort;
es zog in Freud' und Leide
zu ihm mich immer fort.
3. Ich mußt' auch heute wandern
vorbei in tiefer Nacht,
da hab' ich noch im Dunkel
die Augen zugemacht.
4. Und seine Zweige rauschten,
als riefen sie mir zu:
Komm her zu mir, Geselle,
hier findst du deine Ruh!
5. Die kalten Winde bliesen
mir grad' ins Angesicht,
der Hut flog mir vom Kopfe,
ich wendete mich nicht.
6. Nun bin ich manche Stunde
entfernt von jenem Ort,
und immer hör' ich's rauschen:
Du fändest Ruhe dort!
Wilhelm Müller.
— 21 —
9. Das Gewitter.
1. Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
in dumpfer Stube beisammen sind;
es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
sitzt hinter dem Ofen im Pfühl —
wie wehen die Lüfte so schwül!
2. Das Kind spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Wie will ich spielen im grünen Hag!
Wie will ich springen durch Thal und Höhn!
Wie will ich pflücken viel Blumen schön!
Dem Anger, dem bin ich hold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
3. Die Mutter spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Da halten wir alle fröhlich Gelag;
ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
dann scheint die Sonne wie Gold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
4. Großmutter spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Großmutter hat keinen Feiertag;
sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid;
das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;
wohl dem, der that, was er sollt'!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
5. Urahne spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Am liebsten morgen ich sterben mag.
Ich kann nicht singen und scherzen mehr;
ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
was thu' ich noch auf der Welt!" —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
6. Sie hören's nicht, sie sehen's nicht;
es flammet die Stube wie lauter Licht;
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
vom Strahl miteinander getroffen sind;
vier Leben endet ein Schlag —
und morgen ist's Feiertag. Gustav Schwab.
22
10. Das Totenhemdchen.
Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren, das war so
schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne ihm gut zu
sein, und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt. Nun geschah
es, daß es Plötzlich krank ward und der liebe Gott es zu sich nahm;
darüber konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tag und Nacht.
Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts
an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte.
Weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam,
war es verschwunden. Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte
zu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen,
in welchem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf
dem Kopfe, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: „Ach,
Mutter, höre doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht
einschlafen; denn mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen
Thränen, die alle darauf fallen." Da erschrak die Mutter, als sie das
hörte, und weinte nicht mehr. Und in der andern Nacht kam das
Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: „Siehst
du, nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem
Grabe!" Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug
es still und geduldig, und das Kind kam nicht wieder, sondern schlief
in seinem unterirdischen Bettchen. Brüder summ.
11. Der Regenbogen.
1. Das Wetter zieht hernieder
an ferner Bergeswand;
die Vögel singen wieder,
frisch duftet Flur und Land;
am Himmel, noch umzogen
vom grauen Wolkenflor,
thut schon der Regenbogen
mildleuchtend sich hervor.
2. Er steht mit einem Fuße
im nassen Wiesengras;
das brennt im goldnen Gusse
wie feuriger Topas;
er schwingt gleich einer Brücken
von lauter Edelstein
am dunklen Waldesrücken
sich in die Luft hinein.
3. Und in den Wolken schimmert's
wie mit Juwelenschrift,
und in den Gräsern flimmert's
mich an von Flur und Trift:
Herz, traue deinem Retter,
der seines Bunds gedenkt
und Sonnenschein auf Wetter
und Trost in Thränen schenkt.
Karl v. Gerok.
23
12. Ein unverhofftes Wiedersehen.
In Falun in Schweden küsste vor nunmehr über hundert
Jahren ein junger Bergmann seine junge, hübsche Braut und
sagte zu ihr: „Auf Sankt Luciä wird unsere Liebe von des
Priesters Hand gesegnet. Dann sind wir Mann und Weib und
bauen uns ein eigenes Nestlein,“ — „und Friede und Liebe
soll darin wohnen,“ sagte die schöne Braut mit holdem Lächeln,
„denn du bist mein einziges und alles, und ohne dich möchte
ich lieber im Grabe sein als an einem andern Orte.“ Als aber
gen Sankt Luciä der Pfarrer sie zum zweiten Male ausgerufen
und gesagt hatte: „So nun jemand Hindernis wüsste anzu-
zeigen, warum diese Personen nicht möchten ehelich zu-
sammenkommen“ — da meldete sich der Tod. Denn als der
Jüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmanns-
kleidung an dem Hause seiner Braut vorbeiging, da klopfte er
zwar noch einmal an ihr Fenster und sagte ihr guten Morgen,
aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer aus dem
Bergwerke zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen
ein schwarzes Halstuch mit rotem Band, für ihn zum Hochzeits-
tage, und als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um
ihn und vergase ihn nie.
Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch
ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vor-
über; Amerika wurde frei; die französische Revolution und der
lange Krieg fingen an; Napoleon eroberte Preussen, und die
Engländer bombardierten Kopenhagen. Und die Ackerleute
säeten und schnitten, die Müller mahlten, und die Schmiede
hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern
in ihrer unterirdischen Werkstatt.
Als aber die Bergleute in Falun im Jahre 1809, etwas vor
oder nach Johannis, zwischen zwei Schächten eine Öffnung
durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem
Boden, gruben sie aus dem Schutte und Vitriolwasser den Leich-
nam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durch-
drungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also dass
man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen
konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben oder ein
wenig bei der Arbeit eingeschlafen wäre. Als man ihn aber
zu Tage gefördert hatte, da wollte kein Mensch den schlafenden
Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglücke wissen —
bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der eines
Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte.
Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an
den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit
freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte
Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen, heftigen
Bewegung des Gemüts erholt hatte, sagte sie endlich: „Es ist
mein Verlobter, um den ich fünfzig Jahre getrauert habe, und
den mich Gott noch einmal sehen lässt vor meinem Ende. Acht
Tage vor der Hochzeit ist er auf die Grube gegangen und
nimmer wiedergekommen.“ Da wurden die Gemüter aller Um-
stehenden von Wehmut ergriffen, und ihre Thränen flössen,
als sie die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hin ge-
welkten, kraftlosen Alters sahen und den Bräutigam noch in
seiner jugendlichen Schönheit, und wie in ihrer Brust nach
fünfzig Jahren die Flamme der jugendlichen Liebe noch ein-
mal erwachte, er aber den Mund nimmer öffnete zum Lächeln
oder die Augen zum Wiedererkennen, und wie sie ihn endlich
von den Bergleuten in ihr Stüblein tragen liess, als die einzige,
die ihm angehöre und ein Recht auf ihn habe, bis sein Grab
gerüstet sei auf dem Kirchhofe. Den andern Tag, als das
Grab bereitet war auf dem Kirchhofe und ihn die Bergleute
holten, legte sie ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten
Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als
wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung
wäre. Dann, als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte,
sagte sie: „Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn in
der kühlen Kammer und lass dir die Zeit nicht lang werden.
Ich habe nur noch ein wenig zu thun und komme bald, und
bald wird’s wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben
hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten,“ sagte sie,
als sie fortging und noch einmal umschaute. Johann Peter Hebel.
13. Morgengebet.
1. Die Nacht ist nun vergangen,
der Morgen steht so herrlich da,
und alle Blumen prangen
und alle Bäume fern und nah;
auf Feldern und auf Wiesen,
in Wald und Berg und Thal
wird Gottes Macht gepriesen
von Stimmen ohne Zahl.
25
2. Die frommen Nachtigallen
sie klingen Hellen Freudenklang,
die Lerchen höchst vor allen
zum Himmel tragen sie Gesang,
der Kuckuck auf den Zweigen
und auch der Zeisig klein,
sie wollen sich dankbar zeigen,
'» will keiner hinten sein.
3. Das Wild im grünen Walde,
der Vogel auf dem grünen Baum,
sie preisen alsobalde
den Vater überm Sternenraum;
es sumsete die Imme,
das Würmchen seine Lust:
und ich hätt' keine Stimme
des Lobes in der Brust?
4. Nein, Vater aller Güte,
du meiner Seele Freudenlicht,
wie gern will mein Gemüte!
Doch meine Worte können nicht.
Wer mag dich würdig preisen,
durch den die Welten sind,
von dem die tiefsten Weisen
kaum lallen wie ein Kind?
5. O Herr, laß mich auch heute
in deiner Liebe wandeln treu,
daß ich der Sünden Beute,
der Eitelkeiten Spiel nicht sei;
laß mich nach deinem Bilde
den Weg der Tugend gehn:
so wird der Tag mir milde,
so kommt der Abend schön.
Lrnst Moritz Arndt.
14. Der Gotteskasten.
Es war einmal ein wohlhabender, angesehener Mann, der hieß
Benediktus, das heißt Segenreich. Solchen Namen führte er mit
Recht, denn Gott hatte ihn reichlich mit Gütern gesegnet, und alle
Welt segnete ihn desgleichen; so suchte er auch jeden zu erfreuen, den
Fremdling wie den Nachbarn, besonders die Armen und Notleidenden.
Er that aber folgendermaßen:
Wenn er einen frohen Tag gehabt hatte mit seinen Freunden,
so ging er in sein Kämmerlein und dachte: „Es sind viele, die
keines solchen Tages sich erfreut haben, und was wäre es, so ich der
Gäste noch einmal so viel geladen hätte!" — Also legte er von
seinem Gelde so viel, als ihm die Mahlzeit gekostet, in eine Lade, die
nannte er den Gotteskasten. Desgleichen, wenn er vernahm, daß
irgendwo eine Feuersbrunst gewütet, so gab er seinen Beitrag zur
Unterstützung der Unglücklichen reichlich. Darauf sah er sein
Haus an und ging in sein Kämmerlein und sprach: „Alles steht bei
mir fest und unversehrt!" und legte dafür in den Gotteskasten. Aber-
mals, wenn er von Hagelschlag, Wassernöten und andern Unfällen
hörte, legte er dafür in den Gotteskasten. Also auch, wenn ihm kost-
barer Wein und schönes Geräte geboten wurde, so kaufte er davon,
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jedoch mäßig, so daß sie sein Haus zierten und seine Freunde er-
freuten, und ging alsdann in sein Kämmerlein und sprach: „Solches
hast du dir kaufen und deinen Vorrat mehren können;" und legte in
den Gotteskasten. Dazu sendete er gern von dem köstlichen Wein, so
ein Kranker dessen bedurfte. Also that er sein lebenlang.
Als er nun sterben sollte, da klagten und weinten die Armen,
die Witwen und Waisen und sprachen: „Wer wird unser sich er-
barmen, wenn Benediktus von uns scheidet?"
Er aber sprach: „Ein guter Hausvater sorget, daß auch dann,
wenn er nicht daheim ist, den Kindlein nichts gebreche. So nehmt
den Gotteskasten mit allem, was darinnen ist. Er gehört den Armen,
den Witwen und Waisen; teilet davon aus und verwaltet es wohl
und weislich." Darauf starb er, und es geschah, wie er gesagt hatte.
Also bestehet der Gotteskasten seit hundert Jahren zum Troste
der Bedürftigen, und des Mannes Andenken bleibet in Segen.
Friedrich Adolf Arummacher.
15. Der Savoyarde und der Erzbischof.
Einst kam ein armer, kleiner Savoyardenknabe aus dem fernen
Berglande an die gesegneten Ufer der Mosel und auch nach Trier.
Er hatte zwei Murmeltiere; denn das eine hatte er noch zu dem seinigen
geerbt von einem Brüderchen, das weit vom Mutterherzen und von der
lieben Heimat, vielleicht am Heimweh — genau weiß ich's nicht —
gestorben war. Er ließ nun die Tierchen tanzen, und die guten
Trierer hatten recht ein Einsehen und gaben ihm gern ein paar Kreuzer.
Einst saß das Bübchen auf einem Steine vor dem Schlosse des
Kurfürsten und Erzbischofs von Trier und wärmte sich in der milden
Frühlingssonne, wo es nichts kostete. Es dachte an seine ferne Heimat,
an die väterliche Hütte, an die liebe Mutter, den Vater und die Ge-
schwister und auch au das Brüderlein, das heimgegangen war zum
rechten Vater über alles, was da Kind heißt auf Erden. Und wie die
Frühlingssonne die Veilchen aufblühen macht, so schien ihm die Sonne
der Liebe ins arme Savoyardenherz hinein, und es traten zwei große
Tautropfen in die beiden Augen. Das Bübchen faltete seine Hände
und betete um einen guten Tag für seine fernen Lieben,
So etwas hört niemand lieber als der liebe Gott. Seine Hand
rührt dann allemal auch ein Menschenherz an, daß es sich aufthut,
und er sendet einen Engel hinein, der ganz nahe an seinem Throne
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steht und „ Mitleid" heißt. Dieser Engel Gottes kam dazumal in ein
recht gutes Herz, welches in der Brust des Erzbischofs Klemens Wenzes-
laus wohnte. Der stand an seines Schlosses Fenster und beobachtete
lange das Bübchen in der Stille und meinte bei sich, er habe da ein
gar schönes Kapitel in einem Menschenherzen gelesen. Und so war's
auch. Er ließ sich das Bübchen herausrufen und die Murmeltierchen
alle beide tanzen.
„Du singst ja nicht," sagte liebreich der Erzbischof.
„Ich kann nicht," antwortete das Bübchen mit zitternder Stimme,
und die bewußten zwei Tautropfen traten ihm wieder in die Augen.
Da flüsterte der Engel, von dem ich euch sagte, dem Erzbischof
zu: „Red 'mal mit ihm zutraulich, vielleicht geht ihm das Herz auf!"
Und er that's, und das Bübchen erzählte ihm alles vom A bis zum Z.
„Ei," sagte der Erzbischof, „wenn es so steht, so könntest du mir
ja eins von deinen Tierlein verkaufen; denn ich bin ein Liebhaber
davon und will dir's gut bezahlen."
Das Savoyardenbübchen sann ein wenig nach, und dann sprach
es: „Zwei Kasten zu tragen wird mir schwer, wenn es nun heiß wird;
— wohlan, Herr, Ihr sollt meins haben, aber das vom Brüderlein
behalt' ich; denn es hat's gar lieb gehabt und hat's noch geküßt, ehe
es starb." Das Bübchen fing an zu weinen, und der Erzbischof fuhr
mit der Hand über die Augen. Ich glaube, er hat auch so ein paar
Tautropfen weggewischt. —
Daß ich es kurz mache, sie wurden handelseins, und der Erz-
bischof bezahlte das Tierlein nicht, wie man in Savoyen bezahlt,
sondern kurfürstlich — und der bewußte Engel half das Geld zählen.
Das Bübchen zog fröhlich und mit Danksagung von dannen, und
der Erzbischof gab das Tierchen einem Diener zur sorglichen Pflege
und —r dachte nicht weiter an den Savoyarden und an sein Murmel-
tierchen. Der Sommer kam und ging. Es wurde Herbst, und ein
reicher Traubensegen kam in das Moselthal, und endlich gab es
Blumen an den Fenstern in Trier, wie heiß auch die Saarkohlen die
Öfen machten, und der Schnee legte sich wie ein weißes Leintuch über
die müde Erde. Selbst im schönen Gemache des Erzbischofs tauten
die großen Fenster erst auf, als die Wintersonne darauf schien und
dem Ofen wärmen half.
Da trat der Erzbischof an das Fenster und blickte hinaus in die
schneebedeckte Landschaft und mochte wohl dabei an die Armen denken,
die's nicht so gut hatten wie er. Und wie er so dastand, fiel sein
Blick auf eine kleine Gestalt, die an der Hofmauer kauerte. Er machte
das Fenster auf, und — siehe da, das Savoyardenbüblein war's, das
vor Frost zitterte wie ein Espenlaub im Winde, aber doch mit den
fast erstarrten Fingern sein Hütchen abnahm und mit einem gar
traurigen Gesichte heraufgrüßte.
Flugs war auch der Engel wieder da, der Mitleid heißt. Der
sprach zum Erzbischof: „Ruf ihn herauf, daß er sich wärme!" Er
that's, und das Büblein kommt herauf. Der Erzbischof führt's zum
Ofen und fragt mildiglich: „Wie geht's, und wo ist dein Murmel-
tierlein ?"
Da taute das Herz des Bübchens auf, und die Tautropfen jagten
einer den andern aus seinen großen, schwarzen Augen.-
„Ach Herr," sprach das Bübchen, „es geht schon lange nimmer
gut, und mein Tierlein ist tot. Lebt Eures noch?"
Der Erzbischof sagte: „Ja," und fragte weiter: „Wie kam
denn das?"
„Ach," sprach das Bübchen, „ich glaub', es hat sich tot gegrämt
über mein Brüderlein, das ich auch nimmer vergessen kann."
Das Bübchen aber hatte noch etwas auf dem Herzen; denn es
drehte sein Hütchen mit den Fingern und seufzte tief auf.
„Woher bekommst du aber ein anderes?" fragte der Erzbischof,
und der bewußte Engel in seinem Herzen lächelte unter Thränen.
„Ei — ei —," stotterte das Bübchen, „darum komm' ich ja
zu Euch, um Euch zu fragen, ob Ihr mir nicht das Tierlein wieder
verkaufen wollt. Ich geb' Euch Euer Geld zurück und zwei Gulden
Draufgeld."
Und er trat zum Tische, legte blank des Erzbischofs Geld daraus
und noch zwei Gulden mehr und sah dann dem Erzbischof flehent-
lich in die Augen.
Der Engel im Herzen, welcher Mitleid heißt, pochte laut und
flüsterte: „Gieb's ihm doch!" Aber der Erzbischof sprach: „Das kann
ich nicht; denn mir hat's nichts eingebracht, wohl aber Futter gekostet;
doch will ich dir einen Vorschlag machen, der dir anstehen wird.
Wir zwei wollen einen Vertrag schließen und miteinander halbpart
machen. Ich gebe dir das Tierchen umsonst; aber du teilst mit mir
allen Gewinn ehrlich und treu und lieferst mir meinen Anteil jährlich
am Sylvestertage ab. Ist dir das so recht, so schlag ein!"
Er hielt ihm nun die offene Hand hin, daß das Büblein nach
Landesbrauch einschlage, so es ihm gefiele.
Das Bübchen sieht lange den Erzbischof an, weil es nicht weiß,
ob das Ernst oder Spaß ist. Als es aber sieht, daß der Erzbischof
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keinen Scherz mit ihm treiben will, schlägt's freudig ein, und der Ver-
trag war geschlossen. Darauf bat das Bübchen um das Murmeltier
und wollte fröhlichen Herzens gehen. Allein der Erzbischof, dem der
Knabe über die Maßen wohlgefiel, hatte gesehen, daß seine Kleidung
dürftig und zerrissen war, und er ließ ihn nicht sogleich fortziehen,
sondern ließ ihn erst gut pflegen und ihm ein neues Biberkleid machen.
Als nun das Bübchen fortzog, dankte es viel tausendmal, und sein
Herz schlug federleicht unter der warmen, neuen Jacke. Wir wollen
nun, denk' ich, das Bübchen ziehen lassen in den kalten Wintertagen
und nur noch erzählen, daß ein Jahr verging und der Erzbischof
nichts von ihm hörte. Als das Neujahr kam und die Leute dem Erz-
bischof die Neujahrssprüchlein sagten, da dachte er: „Nun wird auch.
bald mein Geschäftsfreund, das Savoyardenbüblein, kommen, prost
Neujahr sagen und mit mir abrechnen." Aber diesmal hatte der Erz-
bischof fehlgeschossen, denn mein Büblein kam nicht. Wieder ein Jahr
verging, und — mein Büblein blieb aus. „O weh," dachte der Erz-
bischof wehmütig, „der ist auch auf den breiten Weg geraten, den viele
gehen, und fährt zum Abgrund!" Es that ihm gar weh, daß er sich
in einem Menschenherzen geirrt hatte, wie er meinte.
Es waren drei, vier, ja am Ende sechs Jahre vergangen, und der
Erzbischof hatte reinweg die ganze Geschichte vergessen. Da ließ sich
einmal am Sylvestertage ein junger Mann melden, der dringend den
Erzbischof zu sprechen wünschte.
Als ihn nun der Erzbischof vorließ, trat ein schmucker Bursche
herein, gut gekleidet und recht reputierlich und manierlich. „Ihr ent-
sinnt Euch wohl noch, gnädigster Herr," hob nach einer ehrfurchtsvollen
Begrüßung der junge Bursche an, „daß Ihr einst einem Savoyarden
ein Murmeltierchen auf halbpart gabt?"
„Ach ja," sagte der Erzbischof, „der hat aber sein Wort schlecht
gehalten. Wißt Ihr etwas von ihm?"
„O," sagte der junge Mensch, „urteilt nicht so hart über ihn!
Dazumal, als er von Euch schied, ging er bei Koblenz über den Rhein,
durchwanderte ganz Deutschland und ging dann bei Straßburg über
den Rhein zurück und wandte sich nach Paris. Er dachte immer an
Euch und an seine Schuld; aber es war so weit, und Sylvestertag
ist im hohen Winter. Da meinte er denn, er könne wohl seine
Schuld auf einmal und in einem Bündel abthun. Als er nach Paris
kam, starb ihm das Tierchen. Nun war guter Rat teuer. Aber der
liebe Gott weiß überall ein Thürlein aufzuthun für den, der ihm
vertraut. Er fand einen ehrlichen Kameraden, der sich auch etwas-
30
erspart hatte. Mit dem machte er halbpart, und beide fingen einen
Handel an in Metz. Der ging gut, und als der Kamerad heimging,
übernahm der andere den ganzen Handel, und Gottes Segen wich
nicht von ihm. Doch länger konnte er's nicht mehr aushalten. Als
er dieses Jahr seine Bücher abschloß und die Bilanz zog, nahm er
die Hälfte mit zweitausend Gulden und bringt's Euch hier mit tausend-
fachem Danke." Dabei legte der junge Mensch ein paar tüchtige Rollen
mit Brabantern auf den Tisch.
Der Erzbischof fuhr wieder mit der Hand über die Augen und
rief aus: „Wie? Ihr seid's am Ende selber? Habt Ihr denn so viel
mit dem Tierlein gewonnen?"
„Das gerade nicht," erwiderte der Savoyarde, „aber das, was
ich gewann, legte den Grund zu dem andern; daher gebührt Euch
auch die Hälfte und überdies der Preis des Tierleins, und die fünf
Prozent Zinsen mögt Ihr auch noch berechnen."
Jetzt aber traten deutlich zwei solcher Tautropfen in des Erz-
bischofs Augen, und er sagte: „Du grundehrliche Seele, hast du es
denn nicht gemerkt, daß alles nur ein Spaß war mit dem Halbpart?
Nein, nimm dein ehrlich Gut, und Gott der Herr segne dir's reichlich!''
w. D. v. Horn. (Wilhelm Drtel.)
16. Für die sieben Tage.
Sprich, liebes Herz, in deines Tempels Mitten
für sieben Wochentage sieben Bitten.
Zum ersten Tag: Laß deine Sonne tagen
und Licht verleihn der Erd' und meinen Schritten!
Zum zweiten Tag: O laß nach dir mich wandeln,
wie Mond der Sonne nach mit leisen Tritten!
Zum dritten Tag: Lehr deinen Dienst mich kennen,
und wie ich dienen soll mit rechten Sitten!
Zum vierten Tag: Du wollst mich nicht verlassen
in meiner Woch', in meines Tagwerks Mitten!
Zum fünften Tag: O donur' ins Herz mir deine
Gebote, wann sie meinem Sinn entglitten!
Zum sechsten Tag: O laß mich freudig fühlen,
wodurch du mir die Freiheit hast erstritten!
Zum siebenten: Die Sonne sinkt am Abend;
o, dürft' ich mir so hellen Tod erbitten! Friedrich «ackert.
31
17. Wie schön leuchtet der Morgenstern.
Wir waren wohl oft in grosser Angst nnd Not (erzählt ein
alter Dorfschulmeister in Schlesien), wenn wir im siebenjährigen
Kriege auf jenen Anhöhen die Österreicher, hier in den
Schluchten unsere Preussen schlagfertig stehen sahen. Weder
Pferd noch Kuh, weder Milch noch Brot gab es in unserm
Dörfchen mehr. Fast in jeder Nacht hörten wir die Kanonen
donnern, und mit jedem neuen Morgen stellte sich auch neues
Elend und neuer Jammer für uns ein.
Einst hatten wir wieder die ganze Nacht hindurch schiessen
hören; an Zubettgehen war gar nicht mehr zu denken, weil man
in jeder Nacht horchen musste, ob die Flamme nicht schon im
Dachgiebel knisterte. Eben hatte ich das Morgengeläute be-
sorgt, guckte zum Schallloche hinaus, um zu schauen, was uns
an dem schrecklichen Tage wohl wieder bevorstehen könne, und
zog, zum Himmel blickend und Gott dankend, mein Mätzchen
vom Kopfe, da mir alles ganz ruhig schien. Ehe ich es jedoch
wieder aufgesetzt hatte, jagte ein alter schwarzer Husar zum
Kirchhofe hinein, warf sich vom Pferde und band seinen Braunen
an meinen Fensterladen. Wie mir zu Mute ward, kann man
sich leicht vorstellen. Ich flog mehr, als ich ging, die Turm-
treppe hinunter. Er aber liess mir nicht einmal Zeit, meinen
so freundlich als möglich hervorgestammelten „Guten Morgen!“
anzubringen, sondern rief mir in barschem Tone zu: „Geb’ Er
mir den Kirchenschlüssel, Schulmeister!“ Ich erschrak; denn
obgleich das bisschen Kirchenvermögen und der vergoldete
Kelch mit der Hostienschachtel in Sicherheit gebracht waren,
so befand sich doch noch eine ziemlich reiche Altarbekleidung
mit Tressen in der Kirche. Ich legte mich auf Bitten und Vor-
stellungen ; allein der alte Kriegsmann wollte davon nichts
wissen. Er sah mit einer so ganz eignen Manier bald auf mich,
bald auf seinen Säbelgriff, dass ich, um Unglück zu verhüten,
voranging, um ihm die Kirchenthür zu öffnen. Meine Frau, die
hinter der Hausthür gehorcht hatte, und die vor der Gefahr immer
verzagter, in der Gefahr aber immer entschlossener war als ich,
kam aus Besorgnis um mich von freien Stücken hinter uns her.
Der Husar drängte sich in der Halle hastig voran, ging, ohne
sich umzusehen, an der Sakristei und dem Altar vorüber und schritt,
so schnell es sein Alter erlaubte, klirr! klirr! die Chortreppe
32
hinauf. Hier setzte er sich, Atem schöpfend, auf eine Bank
und rief mir gebieterisch zu: „Schulmeister, mach’ Er die Orgel
auf, und geb’ Er mir ein Gesangbuch!" Ich that augenblicklich,
was er verlangte; meine Frau musste die Bälge ziehen, der
Husar hatte ein Lied aufgeschlagen und sagte nun in einem
weit milderen Tone: „Wie schön leuchtet der Morgenstern!
Spiel’ Er das, lieber Schulmeister, und so recht fein und ordent-
lich. Er versteht mich wohl!"
Ich spielte mit Herzenslust, und nach geendetem Vorspiele
fiel der Husar mit seiner tiefen Bassstimme ein; meine Frau
hinter der Orgel und ich sangen gleichfalls mit. Mein Herz wurde
so mutig, dass ich mich oft nach meinem Zuhörer umschaute
und ihm ganz dreist in das Gesicht sah. Er sang mit grosser
Andacht, hatte die Hände gefaltet, und die hellen Thränen
fielen ihm über den eisgrauen Knebelbart auf das Buch hinab.
Jetzt war das Lied beendet; ich ging auf ihn zu; er schüttelte
mir recht treuherzig die Hand und sprach: „Grossen Dank,
Herr Kantor; wo ist der GotteskastenV“
Mein früherer Argwohn, dass es auf Plünderung abgesehen
sei, war nun gänzlich verschwunden. Ich holte unsere Armen-
büchse, und der Husar warf ein Achtgroschenstück hinein.
„Wir beide aber, wir teilen den Rest, Herr Schulmeister!“ sagte
er dann, indem er noch zwei Achtgroschenstücke aus der Tasche
zog, „da nehm’ Er das für Seine Mühe.“ Ich schlug es aus;
aber er war so ungestüm, dass ich es schlechterdings nehmen
musste. „Nehm’ Er, nehm’ Er,“ sprach er; „es klebt kein Blut
daran!“ Jetzt verliess er das Gotteshaus, und wir begleiteten
ihn. Sowohl meine Frau als ich waren unglaublich bewegt; ich
konnte mich aber nicht enthalten, unsern wunderbaren Gast
auf dem Kirchhofe zu fragen, wie ihm denn der Gedanke ge-
kommen sei, hier seine Morgenandacht zu halten.
„Das will ich euch wohl sagen, liebe Leute,“ antwortete
er, indem er uns beide an der Hand nahm. „Gestern abend
sollte ein verlorner Posten ausgestellt werden, um mitten unter
den umherschweifenden Patrouillen den Feind auf einem ge-
wissen Punkte zu beobachten. Jeder von uns wusste, was die
Sache auf sich hatte — wir sind seit einigen Wochen brav daran
gewesen. — Unser Rittmeister fragte nach Freiwilligen; niemand
bezeigte Lust. Endlich ritt ich vor, und meine drei Jungens
konnten ja wohl den alten Vater nicht allein lassen. Er braucht
33
es nicht zu wissen, wie wir es anfingen, Herr Schulmeister; ge-
nug, wir schlichen uns durch und hielten die ganze Nacht auf
einer huschigen Anhöhe. Links und rechts blitzte es um uns
her; wir sahen bald hier, bald dort feindliche Mannschaften. —
Nicht meinetwegen, — denn wie lange werde ich noch reiten?
— sondern nur wegen meiner Söhne seufzte ich in der finstern
Nacht: Herr, erhalte uns! Kaum hatte ich es heraus, als es
anfing zu dämmern und der Morgenstern mir ins Auge blitzte.
Wie schön leuchtet der Morgenstern! fiel mir in diesem Augen-
blicke aus meiner Jugendzeit ein. Gar manches, was ich seit-
dem gethan, — und was wohl nicht allemal recht war — hing
sich wie eine Bleilast daran; ich rechnete nach, seit wieviel
Jahren ich in keine Kirche gekommen, und ich that Gott das
Gelübde, wenn ich diesmal davonkäme, wieder einmal eine An-
dacht zu halten. Das hab’ ich denn nun gethan, und Er kann
wohl denken, ob mir das: „Du, Herr, bist’s, der mich diese
Nacht durch seine Engel hat bewacht!“ von und zu Herzen
gegangen ist!“ Mit diesen Worten setzte er sich auf und ritt
daVOn. Karl Heinrich.
18. Alles zum Guten.
Immer gewöhne sich der Mensch zu denken: „Was Gott schickt,
ist gut; es dünke mir gut oder böse."
Ein frommer Weiser kam vor eine Stadt, deren Thore geschlossen
waren; niemand wollte sie ihm öffnen. Hungrig und durstig mußte
er unter freiem Himmel übernachten. Er sprach: „Was Gott schickt,
ist gut!" und legte sich nieder. Neben ihm stand sein Esel, zu seiner
Seite eine brennende Laterne um der Unsicherheit willen in der selben
Gegend. Aber ein Sturm entstand und löschte sein Licht aus. Ein
Löwe kam und zerriß seinen Esel. Er erwachte, fand sich allein und
sprach: „Was Gott schickt, ist gut!" Er erwartete ruhig die Morgen-
röte. Als er ans Thor kam, fand er die Thore offen und die Stadt
verwüstet, beraubt und geplündert. Eine Schar Räuber war ein-
gefallen und hatte eben in dieser Nacht die Einwohner gefangen weg-
geführt oder getötet. Er war verschont. „Sagte ich nicht," sprach er,
„daß alles, was Gott schickt, gut sei? Nur sehen wir meistens am
Morgen erst, warum er uns etwas des Abends versagte."
_____________ Johann Gottfried v. Herder.
3
K i P P e n b e r g, A 5 (R. A.).
19. Abends.
1. Es wird schon dunkel draußen,
kein Vogel rührt sich mehr,
nur ferne hör' ich brausen
den Mühlbach übers Wehr.
2. Still kommt der Mond gegangen
und spiegelt sich im Teich,
und mir umfließt die Wangen
die Nachtluft mild und weich.
3. Wie so zur Ruh gegangen
die weite Welt ich seh',
da schweigt all mein Verlangen
und schwindet all mein Weh.
4. Vom Lärm des Tags geschieden,
vergess' ich Not und Pein;
im Herzen tiefen Frieden,
so schlaf' ich selig ein.
Friedrich Güll.
20. Gute Nacht, mein Kind!
1. Guten Abend, gute Nacht,
mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt,
schlupf unter die Deck',
morgen früh, wenn's Gott will,
wirst du wieder geweckt.
2. Guten Abend, gute Nacht,
von Englein bewacht,
die zeigen im Traum
dir Christkindleins Baum.
Schlaf nun selig und süß,
schau im Traum 's Paradies.
Des Anoden Wunderhorn; 2. Sir. Aarl Simrock.
21. Seemorgen.
1. Der Morgen frisch, die Winde gut
die Sonne glüht so helle,
und brausend geht es durch die Flut.
Wie wandern wir so schnelle!
2. Die Wogen stürzen sich heran;
doch wie sie auch sich bäumen,
dem Schiff sich werfend in die Bahn,
in toller Mühe schäumen:
3. das Schiff, voll froher Wanderlust,
zieht fort unaufgehalten,
und mächtig wird von seiner Brust
der Wogendrang gespalten.
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4. Gewirkt von goldner Strahlenhand,
aus dem Gesprüh der Wogen,
kommt ihm zur Seit' ein Jrisband
hellflatternd nachgeflogen.
5. Soweit nach Land mein Auge schweift,
seh' ich die Flut sich dehnen,
die uferlose; mich ergreift
ein ungeduldig Sehnen.
6. Daß ich so lang' euch meiden muß,
Berg, Wiese, Laub und Blüte! —
Da lächelt seinen Morgengruß
ein Kind aus der Kajüte.
7. Wo fremd die Luft, das Himmelslicht,
im kalten Wogenlärme,
wie wohl thut Menschenangesicht
mit seiner stillen Wärme!
Nikolaus Lenau.
22. Das Schifflein.
1. Ein Schifflein ziehet leise
•den Strom hin seine Gleise.
Es schweigen, die drin wandern,
denn keiner kennt den andern.
2. Was zieht hier aus dem Felle
der braune Weidgeselle?
Ein Horn, das sanft erschallet;
das Ufer wiederhallet.
3. Von seinem Wanderstabe
schraubt jener Stift und Habe
und mischt mit Flötentönen
sich in des Hornes Dröhnen.
4. Das Mädchen safs so blöde,
als fehlt’ ihr gar die Rede,
jetzt stimmt sie mit Gesänge
zu Horn und Flötenklange.
5. Die Rudrer auch sich regen
mit taktgemäfsen Schlägen.
Das Schiff hinunter flieget,
von Melodie gewieget.
6. Hart stöfst es auf am Strande,
man trennt sich in die Lande.
Wann treffen wir uns, Brüder!
auf einem Schifflein wieder?
Ludwig Uhl and.
3*
36
23. Der Lotse.
1. „Siehst du die Brigg dort auf den Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muß am Vorgebirg' zerschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.
2. Ich muß hinaus, daß ich sie leite!"
„Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor."
3. „Allein ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt;
ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohl ein altes Leben wert.
4. Gieb mir das Sprachrohr! Schifflein, eile;
es ist die letzte, höchste Not!" —
Vor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile
hin durch die Scheren eilt das Boot.
5. Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„Links müßt ihr steuern!" hallt ein Schrei.
Kiel oben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei.
Ludwig Giesebrecht.
34. Der Lchiffbruch.
Mitten in des Weltmeers wilden Wellen
scheiterte das Schiff. Die Edlen retten
sich im Fahrzeug. „Wo ist Don Alonso?"
riefen sie. Er war des Schiffes Priester.
„Reiset wohl, ihr Freunde meines Lebens,
Bruder, Oheim!" sprach er von dem Borde,
„meine Pflicht beginnt, die eure endet."
37
Und er eilt' hinunter in des Schiffes
Kammern, seine Sterbenden zu trösten,
höret ihre Sünden, ihre Buße,
ihr Gebet, und wehret der Verzweiflung,
labet sie und geht mit ihnen unter.
Johann Gottfried o. Herder.
25. Der kleine Hydriot.
Ich war ein kleiner Knabe, stand fest kaum auf dem Bein;
da nahm mich schon mein Vater mit in das Meer hinein
und lehrte leicht mich schwimmen an seiner sichern Hand
und in die Fluten tauchen bis nieder auf den Sand.
Ein Silberstückchen warf er dreimal ins Meer hinab,
und dreimal mußt' ich's holen, eh' er's zum Lohn mir gab.
Dann reicht er mir ein Ruder, hieß in ein Boot mich gehn;
er selber blieb zur Seite mir unverdrossen stehn,
wies mir, wie man die Woge mit scharfem Schlage bricht,
wie man die Wirbel meidet und mit der Brandung ficht.
Und von dem kleinen Kahne ging's flugs ins große Schiff;
es trieben uns die Stürme um manches Felsenriff.
Ich saß auf hohem Maste, schaut' über Meer und Land;
es schwebten Berg und Türme vorüber mit dem Strand.
Der Vater hieß mich merken auf jedes Vogels Flug,
auf aller Winde Wehen, auf aller Wolken Zug.
Und bogen dann die Stürme den Mast bis in die Flut,
und spritzten dann die Wogen hoch über meinen Hut:
da sah der Vater prüfend mir in das Angesicht —
ich saß in meinem Korbe und rüttelte mich nicht.
Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot:
„Glück zu auf deinem Maste, du kleiner Hydriot!"
Und heute gab der Vater ein Schwert mir in die Hand
und weihte mich zum Kämpfer für Gott und Vaterland.
Er maß mich mit den Blicken vom Kopf bis zu den Zeh'n;
mir war's, als thät sein Auge hinab ins Herz mir sehn.
Ich hielt mein Schwert gen Himmel und schaut' ihn sicher an
und deuchte mich zur Stunde nicht schlechter als ein Mann.
Da sprach er, und die Wange ward ihm wie Blut so rot:
„Glück zu mit deinem Schwerte, du kleiner Hydriot!"
Wilhelm Müller.
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26. Das Geburtstagsgeschenk,
l.
Der junge Baron Reinhold, ein reicher Gutsbesitzer, war
eines Tages auf seinem leichten Wägelchen allein spazieren
gefahren. Er hatte sich unterwegs etwas verspätet, daher trieb
er jetzt seinen feurigen englischen Rappen um so eiliger an
damit er beizeiten zu Hause sein könne. Er wollte heute abend
in Haus und Garten manche Anordnung treffen, denn den mor-
genden Tag, seinen Geburtstag, gedachte er durch allerlei Fest-
lichkeiten zu feiern.
Als er nun in einen steinigen Hohlweg kommt, wo es so
schmal ist, dass nur eben ein Wagen fahren kann, sieht er,
wie vor ihm der alte Hildebrand, ein Bauer aus seinem Dorfe,
fährt; auf dessen Wagen stehen einige Körbe, die oben mit
Stroh und Leinwand bedeckt sind. Der Bauer fährt aber lang-
sam wie eine Schnecke. „Vorwärts, vorwärts!“ ruft Reinhold
dem Manne zu. „Es geht nicht, Herr Baron!“ ruft dieser zu-
rück. „Beim besten Willen, es ist unmöglich!“
Der Baron wird verdriesslich. Der Bauer spricht zu seiner
Entschuldigung manches, was Reinhold vor dem Gerassel auf
den Steinen nicht versteht, und da jener noch immer in dem-
selben Schneckengange fortfährt, ruft er: „Jetzt habeich Euren
Eigensinn satt; entweder vorwärts, oder ich mache Ernst mit
Euch!“
Noch einmal verteidigt sich der Bauer mit aller Würde und
Ruhe. Er sagt, es seien da Dinge in den Körben, die er auf
dem steinigen Wege nicht zu Schanden fahren dürfe. „Haben
Sie doch nur etwas Geduld, Herr Baron!“ ruft er, „der Weg
wird bald wieder breiter, da können Sie mit Gemütlichkeit an
mir vorbeifahren.“ Aber der ungestüme Reinhold achtet nicht
darauf, was jener sagt; er fährt zornig auf, schilt und droht
endlich, wenn Hildebrand seine Pferde nicht auf der Stelle rascher
antreibe, so werde er ihm mit der Deichsel seines Wagens in
die Körbe hineinfahren. Das wird dem Bauer denn doch etwas
zu arg. Sein Gesicht verfinstert sich, und mit nachdrücklichem
Tone spricht er: „Herr Baron, um Ihrer selbst willen bitte ich
Sie inständigst, lassen Sie das bleiben. Ich sag’ Ihnen, Sie
würden es bereuen!“
39
„Was?“ ruft Reinhold in vollem Jähzorne, „auch drohen
wollt Ihr mir noch obendrein? Ihr sollt erfahren, dass ich ge-
wohnt bin, mein Wort zu halten!“ Und ohne weiter zu über-
legen, was er thut, treibt er seinen Rappen mit einem tüchtigen
Hiebe am Richtig fährt er mit der Deichsel gegen die Körbe,
die nun einer gegen den andern stofsen. Klirr—rr! bricht und
knackt es in den Körben zusammen. Erschrocken über die
eigne That, reifst Reinhold jetzt schnell sein Pferd zurück.
Aber das feurige junge Tier nimmt das übel, springt rechts
und links, schlägt nach allen Seiten um sich und bäumt sich
hoch in die Luft.
Unterdessen hatte der Bauer durch alles das, was bisher
geschehen war, sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Ohne
sich auch nur umzusehen nach dem Klirren der Körbe, war
er ruhig weitergefahren, und selbst seine Tabakspfeife, die er
im Munde hielt, war ihm nicht einmal ausgegangen. Jetzt
aber sieht er plötzlich, dass der Baron durch das wütende Tier
in offenbarer Lebensgefahr ist. Ohne sich lange zu besinnen,
springt er von seinem Wagen, eilt dem, der ihn noch eben so
arg beleidigt hat, zur Hülfe und bringt bald durch seine kluge
und ruhige Behandlung das wilde, schnaubende Tier wieder in
Ordnung. Darauf geht er gelassen zu seinem Wagen zurück.
Ehe Reinhold, der seines immer noch sehr unruhigen Pferdes
wegen jetzt langsam fahren muss, ihn erreichen kann, ist der
alte Bauer bereits in eine Seitenstrasse eingelenkt, die auf
einem Nebenwege zum Gute führt.
Jetzt erst erkannte der junge, übermütige Mann sein Un-
recht. Am liebsten wäre er gleich seinem Retter nachgefahren
und hätte ihm den Schaden, den er ihm an seinen Körben
zugefügt, bezahlt; aber leider musste er des Pferdes wegen sich
beeilen, dass er sobald wie möglich nach Hause kam, denn das
Tier war bei seinen Sprüngen am Beine verletzt worden.
Schon am Anfange der alten Kastanienallee, die zum Schlosse
führte, empfing den Heimkehrenden seine junge Frau mit freund-
licher, herzlicher Bewillkommnung. Reinhold wagte es nicht,
ihr frei in die Augen zu sehen. Sein Unrecht gegen den alten
Hildebrand drückte ihn wie ein Stein auf dem Herzen. Von
dem ganzen Vorfalle sagte er seiner Frau nichts. Sonst hatte
es ihm immer so viel Freude gemacht, ihr alles, auch das Ge-
ringste, was ihm auf seinen Spazierfahrten begegnete, mitzuteilen.
-7-—
Das erste, was Reinhold that, als er sich auf seinem Zimmer
allein befand, war, dass er an den alten Hildebrand einen Brief
schrieb. Am Schlüsse des Schreibens hat er, der Alte möge
ihm doch sagen lassen, was er in den Körben gehabt, er wolle
ihm den Schaden wieder ersetzen. Diesen Brief schickte er
sogleich an Hildebrand ab. Der aber liess ihm ganz kurz als
Antwort sagen, das werde sich alles schon finden. Mehr wusste
der einfache, schlichte Mann in diesem Augenblicke nicht zu
sagen. Der Gutsherr hatte ihn mit seinen harten Scheltworten
doch zu tief gekränkt.
II.
Der Geburtstag Beinholds war angebrochen. Schon am
frühen Morgen sah es auf dem Schlosse gar festlich aus. Die
junge Baronin pflegte an solchen Tagen sämtliche Festgeschenke
im Frühstückszimmer zierlich unter schönen Blumen aufzubauen.
Auch heute that sie das; als alles in der besten Ordnung da-
stand, führte sie ihren Mann, nachdem sie ihm von Herzen
Glück gewünscht, vor den reichbesetzten Tisch.
Sie hatte ihm diesmal eine ganz besondere Freude zugedacht.
Schon lange hatte Reinhold sich ein hübsches, neumodisches
Essgeschirr von Porzellan gewünscht. Das hatte die Frau heim-
lich in der Stadt eingekauft und es gestern durch den alten
Hildebrand herausbringen lassen. Erst vor einigen Minuten
hatte der Bauer die Körbe durch seinen Knecht hergeschickt.
Ohne sie vorher viel anzusehen, hatte die Baronin sie, wie sie
da waren, auf den Tisch gesetzt. Die Überraschung sollte auf
diese Weise um so grösser sein; gerade das Auspacken solcher
Geschenke machte ihrem Manne immer so viel Vergnügen.
„Hier, lieber Reinhold,“ sprach sie mit leuchtenden Augen
zu ihm, „ist mein Hauptgeschenk. Ehe du aber die Körbe
öffnest, rat’ einmal, was darin ist!“
Reinhold riet hin und her, aber er traf es nicht. „Da
wollen wir denn doch lieber gleich die wunderbaren Schätze
ans Tageslicht bringen!“ rief er. Mit freudiger Erwartung hob
er den ersten der Körbe vom Tische auf die Erde herunter
und fing an, den Bindfaden, der über den Inhalt geschnürt
war, herunter zu schneiden. Als er dabei den Korb näher be-
trachtet, fällt ihm ein, er habe doch ganz kürzlich irgendwo
ähnliche Körbe gesehen. Nachdenklich hält er in seiner eifrigen
41
Arbeit inne. Plötzlich aber wird sein Blick ernst, seine Stirn
zieht sich in Falten zusammen; er hat sich erinnert, dass dies
dieselben Körbe sind, die er gestern auf Hildebrands Wagen
mit kindischem Arger so übel behandelt hat. — Seine Frau
merkt die Veränderung seines Ausdrucks. „Ist dir etwas,
lieber Mann?“ fragt sie und sieht ihn besorgt an.
Nach einigem Zögern rief der Baron: „Nichts, nichts!“
dann öffnete er den Korb und wickelte mit sichtbarer Unruhe
die einzelnen Tücher und Papiere von den Paketen ab, die in
dem Korbe sorgfältig nebeneinander lagen. Aber gleich in
dem ersten Pakete, welch ein trauriger Anblick! da lagen die
bunten Scherben einer kostbaren Porzellanterrine wirr durch-
einander, und bald ahnte er, dass das ganze Service wohl in
ähnlichem Zustande in dem Korbe liegen würde.
„Aber mein Himmel!“ rief die junge Frau, „wie ist denn
das nur geschehen! daran kann doch niemand anders schuld
sein als der alte Hildebrand, der mir gestern die Körbe aus
der Stadt gebracht hat.“ Aber Beinhold sah ihr ernst ins
Gesicht und sprach: „Liebe Hedwig, der alte Mann ist un-
schuldig daran. Der jähzornige, übermütige Mensch, der uns
beiden diese Freude, der mir diesen schönen Tag durch seine
unverzeihliche Übereilung verbittert hat, das bin ich selbst.“
Und nun erzählte er der Frau sein ganzes Unrecht von gestern
und verschwieg auch nicht das Allergeringste dabei. Zuletzt
sprach er: „Liebe Frau, du hast mir ein so schönes Geschenk
machen wollen, und ich habe dir die Freude verdorben. Jetzt
will ich dir ein Geschenk machen, das nicht so leicht zer-
brechen soll wie dieses da. Nimm hier mein festes Versprechen,
dass ich nie wieder einem so sträflichen Übermute mich über-
lassen will.“ Gern verzieh ihm die freundliche Frau; denn
Reinhold war sonst brav und gut; nur wenn die Hitze ihn
hinriss, vergafs er sich in Ausbrüchen eines so heftigen Jäh-
zornes.
Aber die. Verzeihung seiner Gattin genügte Reinhold noch
nicht. Er hatte ja noch bei einem andern sein Unrecht gut
zu machen. Ohne lange zu zögern, griff er zu Stock und Hut
und eilte selbst zum alten Hildebrand. Er traf ihn nicht zu
Hause. Der Alte war ins Feld hinaus gefahren. Wohl eine
halbe Stunde musste Reinhold durch die Acker laufen, ehe er
ihn fand. Endlich erblickte er ihn, wie er eben sein kleines
Feld umpflügte. Schon von weitem schwenkte der Baron ihm
den Hut entgegen. „Alter, lieber Hildebrand/4 rief er, „ich
danke Euch für das Geburtstagsgeschenk, das Ihr mir ins
Haus geschickt habt." Der Bauer, der seinen Gutsherrn sonst
wohl kannte und ihn bisher trotz seiner Fehler immer lieb
gehabt hatte, glaubte jetzt doch, Reinhold spräche so im
bittern Spott über das zerbrochene Geschenk; denn zu welchem
Zwecke die Baronin das Service gekauft hatte, wusste der
Mann. Er nahm kurz und schlicht seine Mütze ab und wollte
sich eben rechtfertigen, als Reinhold auch schon bei ihm war.
Mit Innigkeit ergriff dieser die Hand des Alten und
schüttelte sie. „Ja," sprach er, „aus vollem Herzen danke
ich Euch! Durch Eure Ruhe und Würde, die Ihr gestern mir
gegenüber gezeigt habt, und die mir erst jetzt recht in ihrem
ganzen Werte erscheint, habt Ihr mir die Erkenntnis eines
meiner schlimmsten Fehler geschenkt, und das ist das Beste,
was ein Mensch dem andern geben kann. Verzeiht mir, was
ich gestern in sträflichem Ubermute an Euch gesündigt! Heute
ist mein Geburtstag, und da will ich keinen Menschen zum
Feinde haben, am allerwenigsten einen solchen Ehrenmann, wie
Ihr seid, der mir treu in der Gefahr beigestanden hat."
Das Gesicht des Bauern wurde ganz verklärt vor Freude
über die Worte des jungen Mannes. „Herr Baron!“ rief er,
„ich habe es ja immer gewusst, Ihr Blut ist heiss, aber Ihr
Herz ist gut. Gleich gestern habe ich es mir denken können,
Sie würden Ihr Unrecht nicht auf sich sitzen lassen. So ist
es denn auch eingetroffen. Und jetzt denken Sie nicht weiter
daran. Ich habe nichts weiter gethan, als was jeder rechtliche
Mann gegen seinen Mitmenschen thun muss. Ich habe Geduld
mit Ihnen gehabt, und dafür verdiene ich weiter keinen Dank."
Hildebrand musste nun dem Baron versprechen, dass er
im häuslichen Kreise heute bei ihm zu Mittag essen wolle. Der
gute Alte ging mit Freuden darauf ein. — Er erschien pünkt-
lich zur festgesetzten Stunde im Schlosse.
Als sich die Familie des Barons mit ihrem Gaste eben
zu Tische gesetzt hatte und Reinhold gerade mit seiner Mutter
und Frau sich sehr eifrig unterhielt, holte Hildebrand unter
seinem weiten Rocke heimlich ein Päckchen hervor, nahm den
Inhalt heraus, setzte ihn vor Reinholds Teller hin und deckte
dessen Serviette darüber. Bald bemerkte dieser den geheimnis-
43
vollen Gegenstand. „Was ist denn da wieder angekommen?“
sprach der Überraschte und hob die Serviette ab. Da fand
er darunter einen gar hübschen, alten Weinkrug, auf dem ge-
schrieben stand:
Ist auch der Krug nicht, wie er soll,
sei er doch gutes Weines voll.
Ist gut das Herz, der Wille fest,
viel Schlechtes gut sich machen lässt.
„Wer in aller Welt hat mir denn den ehrwürdigen Humpen
da hergestellt?“ fragte Reinhold, „das ist ein köstlich Ding
für meine Sammlung!“ Aber der alte Hildebrand fasste Rein-
holds Hände und sprach: „Lieber Herr Baron! Mein Wagen
war es, auf dem gestern Ihr schönes Porzellangerät zu Schaden
gekommen ist, dafür wollte ich Ihnen wenigstens aus meinem
Hause ein Geburtstagsgeschenk mitbringen. Der Krug da ist
ein altes Erbstück in meiner Familie, ich habe aber zwei der-
selben Art, daher bitte ich, behalten Sie diesen zum Andenken
von mir. Ich weiss, Sie haben es sonst immer gut mit mir ge-
meint und wissen solch altes Stück wert zu halten, wie solches
es verdient.“
Hocherfreut und mit herzlichem Danke nahm Reinhold
das Geschenk aus den Händen des braven Mannes an. So
schlicht der Krug war, für den Baron und seine Frau bekam
er einen grösseren Wert, als das Porzellanservice jemals für
sie hätte haben können. Der Geber des Kruges war ja der
Lebensretter Reinholds. Dieser liess den Krug sogleich mit
dem besten Rheinweine seines Kellers bis an den Rand füllen,
und die erste Gesundheit, die er daraus trank, war die des
alten Hildebrand. Jubelnd stimmten Frau, Mutter und Schwester
des jungen Mannes in die Gesundheit mit ein.
Dass nun der übrige Tag in voller Lust gefeiert wurde,
dass der alte Hildebrand auch am Abend an dem glänzenden
Feste mit teilnehmen musste, kann man sich denken.
Das Versprechen, das Reinhold seiner Frau gegeben, hielt
fest und stark wie kein Porzellan der Welt, aber auch der
Krug ist noch ganz unbeschädigt und erfreut noch manches
Herz durch den köstlichen Rebensaft, den sein Besitzer hinein-
giesst , und durch den ehrlichen Spruch, den der Töpfer,
welcher den Krug vor hundert Jahren machte, darauf ge-
schrieben hat. Robert Reinick.
44
27. Der kleine Friedensbote.
Ein Gerber und ein Bäcker waren einmal Nachbarn, und die gelbe
und die weiße Schürze vertrugen sich aufs beste. Wenn dem Gerber
ein Kind geboren wurde, hob es der Bäcker aus der Taufe. Wenn der
Bäcker in seinem Obstgarten an Stelle eines ausgedienten Invaliden
eines Rekruten bedurfte, ging der Gerber in seine Baumschule und hob
den schönsten Mann aus, den er darin hatte, eine Pflaume oder einen
Apfel oder eine Birne oder eine Kirsche, je nachdem er auf diesen oder
jenen Posten, auf einen fetten oder magern Platz gestellt werden sollte.
Zu Ostern, zu Martini und am heiligen Abend kam die Bäckerin, welche
keine Kinder hatte, immer mit einem großen Korbe zu den Nachbars-
leuten herüber und teilte unter die kleinen Paten aus, was ihr der Hase
oder der gute Märtel oder gar das Christkindlein selbst unter die schnee-
weiße Serviette gelegt hatte. Je mehr sich die Kindlein über die reichen
Spenden freuten, desto näher rückten sich die Herzen der beiden Frauen.
Aber ihre Männer hatten ein jeder einen Hund, der Gerber als
Jagdliebhaber einen großen, braunen: Feldmann, und der Bäcker einen
kleinen, schneeweißen: Mordax. Beide meinten, die besten und schönsten
Tiere in ihrem Geschlechte zu haben. Da geschah es eines Tages,
daß der Mordax ein Kalbsknöchlein gegen den Feldmann behauptete.
Vom Knurren kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner
Bank vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein mit zer-
malmtem Genicke vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten
Knochen und mit eingezogenem Schweife davon. — Sehr ergrimmt
und entrüstet warf der Herr des Ermordeten dem Raubmörder einen
gewaltigen Stein nach. Aber was halfs? Die Handgranate flog
nicht dem Hunde an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das
Fenster. Ohne zu fragen, woher der Schuß gekommen sei, riß der
Gerber den zertrümmerten Fensterflügel auf und fing an zu schimpfen.
Der Nachbar mit der weißen Schürze blieb nichts schuldig; Kinder
und Leute liefen zusammen, und — hätten sie ihn nur sehen können!
— Satan stand gewiß in einer Ecke der Gasse und blies mit vollen
Backen in das Feuer. — Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst,
aber nur, um seinen Nachbar beim Gerichte zu belangen. Die Sonne
ging über dem Zorne der beiden Männer unter, und den Tag darauf
wurden sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den tot-
gebissenen Mordax mit einem Reichsthaler zu büßen. Der Bäcker
mußte für den zertrümmerten Fensterflügel nicht viel weniger bezahlen
und sich mit seinem Widerpart in die angelaufenen Sporteln teilen.
45
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft
befestigt. Hinüber und herüber flog kein freundliches Wort mehr.
Ging die Gerberin ihren Weg links zur Kirche, so nahm die Nachbarin
ihren Weg rechts. Saß der Bäcker im Posthause beim Bier in der
Stube, so nahm der Gerber seinen Platz im Kabinett. Für die Kinder
des Gerbers gaben weder der Osterhase, noch der gute Märtel, noch
das heilige Kind durch die Frau Patin mehr etwas ab.
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten,
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch,
um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade
herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm,
der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief so-
gleich: „Mutter, einen Groschen, ich hole das Brot." Dann sagte er
zum Vater: „Heute aber laufe ich nicht lange herum; wenn es beim
Thorbäcker kein Brot giebt, geh' ich wieder einmal zu dem Herrn
Paten hinüber."
Der Gerber sagte nicht „ja" und nicht „nein" darauf und ließ den
Knaben ziehen. Im ersten Brotladen hatten aber die Wecken schon
alle ihre Käufer gefunden, und Helm kam wieder zum Thore herein,
laut singend, daß es die ganze Gaffe hören konnte: „Heute geh' ich
zum Herrn Paten! heute geh' ich zum Herrn Paten!" Ungehalten
über den argen Schreihals, wollte sein Vater ihm wehren. Aber ehe
er noch das verquollene Fenster aufbringen konnte, war der kleine
Sänger schon zum Tempel hinein und — kehrte nach einigen Augen-
blicken als Friedensbote wieder zurück. Statt des Ölzweiges hatte er
einen geschenkten Eierring in der Hand und rief, über die Schwelle
in die Stube hineinstolpernd: „Der Herr Pate läßt Vater und Mutter
recht schön grüßen, und ich soll bald wiederkommen."
Noch an dem nämlichen Abend wechselten die Nachbarsleute
einige freundliche Worte über die Gaffe; am folgenden saßen die
weiße und die gelbe Schürze wieder auf der grünen Bank beisammen;
am dritten zeigten die Frauen einander die Leinwand, zu der sie in
den bösen drei Jahren oft mit Thränen über den unseligen Zwist den
Faden genetzt hatten.
Und es war hohe Zeit, daß der Herr den Friedensboten erweckt
hatte; denn einige Wochen darauf verfiel der Bäcker unerwartet
schnell in ein Nervenfteber und aus diesem, nach wenigen lichten
Augenblicken, in den Todesschlummer. Gott gebe ihm eine fröhliche
Auferstehung! Stöber.
46
28. Der liebe Gott geht durch den Wald.
i.
„Der liebe Gott geht durch den Wald" — so singt ein altes Lied,
aber nicht jedem begegnet er. Der Pecher-Lenz aber hat's erfahren
zur Weihnachtszeit, daß der liebe Gott durch den Wald geht.
Sein — des armen Pechers — Haus steht tief im Walde.
Mühsam ernährt er sich, da das Pechschaben nicht mehr gestattet ist,
von Wurzeln- und Kräutergraben. Sein einziger und köstlicher Schatz
ist seine herzige kleine Magdale.
Magdale war nun sieben Jahre alt, war fleißig und brav, und
als Weihnacht herankam, hoffte auch sie auf eine gütige Gabe vom
Christkind. Vater und Mutter aber lächelten schmerzlich dazu in ihrer
Armut.
Der Lenz hatte an dem Tage draußen eine Semmel und etliche
Äpfel erstanden; aber auch ein Tannenbäumchen sollte dazu kommen
und Lichtlein daran. So war's früher stets gewesen, und so wurde
es auch jetzt von dem geliebten Kindesherzen erwartet.
Der Lenz streifte im Walde herum. Der Boden war steinhart
gefroren, das Moos knisterte unter den Füßen, die Äste hingen, von
Eisnadeln des Nebelfrostes belastet, tief herab. Der Lenz wandelte
zwischen den ungezählten Bäumen des Waldes. Vor manchem jungen
Tannenwipfelchen blieb er stehen. „Dies wäre schon das rechte,"
murmelte er, „aber darf ich denn? Es ist ja streng verboten, Holz-
frevel zu begehen. So dürfte ich freilich nicht, aber heute schickt mich
das Christkind, das diesen Wald ja so reich und hoch hat wachsen
lassen. Mein seliger Vater hat viel tausend Bäumlein gepflanzt und
gehütet — so kann's doch nicht gefehlt sein, wenn ich mir ein einzig
Stämmchen davon heimtrage für meine Magdale!"
Mit Hast fuhr er nach seinem Taschenmesser, ein kräftiger Schnitt
— und eine zarte Tannenkrone ist geknickt. In diesem Augenblicke
gellt ein derber Fluch. Zwei Männer, mit Jagdgewehren bewaffnet,
stehen vor dem Lenz: der Gutsherr von Gallheim, der Besitzer des
Waldes, und sein Förster.
„Haben wir dich endlich, du schändlicher Waldfrevler," rief der
Förster. „Schon seit lange werden von boshafter Hand in unseren
Wäldern Bäume geknickt. Dieser Lump da thut's!"
„Ho, ho," brummte Lenz, „nicht not, daß Ihr mich so anknurrt!
Ich bin kein Lump, ihr Herren!"
„Was denn?" sagte Gallheim.
47
„In böser Absicht hab' ich mein Lebtag kein Zweiglein vom Aste
gebrochen."
„So? — Und dieser Wipfel, der weder einen Spatenstiel noch
ein Stück Brennholz giebt?"
„Zu Gnaden, Herr — fürs Kind daheim ein Christbäumel."
„Die Ausrede ist nicht übel," lachte Gallheim; „aber einen er-
tappten Dieb und Waldfrevler läßt man nicht laufen. Förster, nehmt
mir den Lungerer fest; die sichere Kammer wird ihm die Fest-
tage über wohl bekommen." Der Lenz zerstampfte den Moosboden.
In seinem Herzen kochte Trotz und Wut. Einerseits sah er's, er war
ein Dieb; anderseits fühlte er's, es geschah ihm unrecht. Doch ver-
lor er kein bitteres Wort mehr. Finster grub er seinen Blick in den
Boden und ließ sich fesseln und davonführen. Er, der sich gehütet
hat sein lebelang, damit er ein ehrlicher Mann bleibe, wird nun
im Gefängnisse sitzen! Das ist seine Weihnacht.
Das Tanuenbäumchen aber blieb liegen auf dem frosterstarrten
Boden, und statt der lieblichen Christlichter glitzerten Eiskörner an
den Zweigen.
2.
Zornig ob des Waldfrevlers und befriedigt zugleich, denselben
erwischt zu haben, kehrte Gallheim in sein Herrenhaus zurück. Dort
aber war Wirrnis und Jammer.
Theobald, der zehnjährige Sohn des Herrn, war wie gewöhnlich
am Nachmittage auf feinem Schimmel ausgeritten. Das Haus stammte
aus dem sechzehnten Jahrhundert und besaß eine Waffenkammer, in
welcher sich mancherlei Rüstzeug befand. Nun war es heute dem
Knaben eingefallen, etwas davon vom Reitknechte glätten und putzen
zu lassen, daß es glänzte, und sich damit zu behängen. So war er
mit Blechwams und Helm und Schwert ausgezogen. Ein junger
Ritter, dachte er an die Turniere und an die Burgfräulein, für die
er streiten wollte — und das feurige Roß trabte hinaus in den
finsteren Wald.
Die übliche Reitstunde ging vorüber — Theobald kehrte nicht zu-
rück. Es begann zu schneien, es begann zu dämmern — er kehrte
nicht zurück. Als der Hauswart im Hose die Laternen anzündete,
rannte der Schimmel schnaubend und mit fliegender Mähne zum Thore
herein. Aber auf dem Rosse saß kein Reiter.
Jetzt ging das Entsetzen an. Die Mutter fiel in Ohnmacht.
Der Vater schoß planlos umher und war blaß wie die Mauer seines
48
Hauses. Die Dienerschaft stob verwirrt durcheinander; das Gesinde
jammerte um den lieben, jungen gnädigen Herrn. Die Knechte sprengten
auf Pferden zum Thore hinaus. Der Wächter läutete in seiner
Kopflosigkeit die Sturmglocke.
Die Frau des Hauses war die Erste, welche wieder zur Be-
sinnung kam. Sie eilte in den Schnee und in die Nacht hinaus;
laut und hell rief sie ihr Kind, bis ihr die Stimme versagte. —
Durch Heide und Wald irrte sie, und wo ein Kreuzbild stand, da
sank sie auf die Kniee und rang die Hände.
Herr von Gallheim hastete wie ein gehetztes Wild über Berg
und Thal; das Reh und den Edelhirsch, nach denen er sonst so gierig
sein Feuerrohr gerichtet, hätte er flehend anrufen mögen: „Habt ihr
mein Kind nicht gesehen?" Die Tiere flohen erschreckt. In der
Finsternis stolperte Gallheim über ein zerbrochenes Bäumchen; der
Tannenwipfel war's, deswillen der Pecher-Lenz im Gefängnisse lag.
„Auch dieser Mann hat Weib und Kind!" rief es in seinem Herzen.
Er eilte weiter und stieß in sein Horn.
Die ganze Bewohnerschaft des Herrenhauses irrte im Walde
herum. Der Pecher-Lenz war in seinem Gefängnisse zu dieser Stunde
fast der einzige Bewohner des großen Gebäudes.
„Das ist eine arge Weihnacht!" sagten die draußen Suchenden
zu einander; „wir werden morgen einen traurigen Christtag haben!"
Und sie stießen ins Horn und lauschten; sie feuerten Schüsse ab und
horchten vergebens auf ein Gegenzeichen. Wohl vernahmen sie Sig-
nale, aber als sie ihnen zugingen, da waren es die anderen Sucher.
Keiner hatte eine Spur, keiner wußte Rat. Endlich begann ein wildes
Gestöber; der Sturm rüttelte in den Stämmen und erstickte den Schall
der Hörner.
Die Schneeflocken tanzten wie rote Sternchen um die Pechlunten;
da sagte einer: „Der Herrgott legt schon das Bahrtuch darüber."
3.
„Das ist eine arge Weihnacht!" so seufzte auch die Frau des
Lenz im Waldhause. Sie ging von einem Fenster zum andern, eilte
bei jedem Geräusch an die Thür — aber er kam nicht. „Der Vater
wird noch zum Christkinde zu spät kommen," meinte das kleine Mag-
dale. „So lange ist er noch nie ausgeblieben," antwortete die Mutter.
„Mir ist heute den ganzen Tag so bange. Geh ins Bett, Magdale."
Jetzt klopfte es ans Fenster.
„Gottlob! Gottlob!" sagte die Pecherin.
49
Aber er war's nicht. Ein verspäteter Holzhauer ging vorbei,
der rief durch die Scheibe herein: „He, Muhme, was hat er denn
angestellt?" „Ich weiß nicht, was Ihr meint," versetzte die Frau
angstvoll. „Die Muhme wüßte es gar nicht?" lachte der Holzknecht.
„Nun, der Lenz wird heute nicht heimkommen."
Sie stürzte zum Fenster hin: „Wißt Ihr was? Wo ist er denn?"
„Mir sind sie begegnet," berichtete der Holzer, „er hat den Hut tief
im Gesicht gehabt, aber ich habe ihn doch erkannt. Die Hände sind
ihm gebunden gewesen."
Die Frau that einen Aufschrei. Der Holzhauer givg weiter. —
Und so ist anstatt des Christkindes im Waldhause der Jammer
eingekehrt.
Die kleine Magdale blickte verwundert auf, als die Mutter zu
ihr sagte: „Geh schlafen jetzt!" — War denn nicht Christabend?
Immer wieder fragte sie nach dem Vater.
„Sei still!" gab die Mutter kurz zur Antwort und hielt mit
Mühe das Weinen zurück; dann setzte sie weicher hinzu: „Der Vater
sucht das Christkind und hat sich im Walde verirrt." „Er wird es
schon finden," meinte das Magdale, „das Christkind hat ja eine
leuchtende Brust und Äuglein wie Karfunkelsteine." „Freilich," ver-
setzte die Mutter. Weiter sagte sie kein Wort.
Tiefer und tiefer ging es in die Stunden der Nacht hinein.
Draußen rauschte der Wind, und die Fensterwinkel waren vollgestopft
von frischem Schnee. Im weiten Lande ist Glanz und Freude in
dieser heiligen Nacht.
Die Frau des Pechers zündete eine rote Kerze an. Mehrmals
hatte die Kerze schon geleuchtet — es war ein trüber Glanz. Als
der Vater des Lenz gestorben war, da hatte sie gebrannt; als in einer
wilden Gewitternacht die Lawine vom nahen Schollberge niederfuhr
und das große Wasser gegen dieses Haus tobte, hatte sie auch ge-
brannt. Die rote Kerze sollte dereinst brennen, wenn nach diesem
mühevollen Leben der Lenz und sein Weib das Auge schließen müßten
im Waldhause. Es war die Sterbekerze. Und jetzt, da des Hauses
ältester Bewohner, der ehrliche Ruf, gestorben war, jetzt brannte sie
wieder.
Die Mutter knieete vor dem Lichte nieder und betete zum Jesus-
kinde.
Sie betete nicht in wilder Leidenschaft, sondern mit Ergebung:
„Ich lege, Du heiliges Kind, mein Anliegen in Deine Hände. Böses
kann er nicht gethan haben; es ist ja meine tägliche Bitt', daß ihn
Kippenberg, A 5 (N. A.). 4
50
sein Schutzengel nicht sollt' verlassen. Armut und Sorge, o Gott,
wie gern ertrag' ich's, nur nicht Schand' und Schmach!"
„Jetzt sind sie draußen," flüsterte das Magdale plötzlich. Und
wahrhaftig, es war nicht das Klopfen des Windes — das war ein
Pochen an der Thür.
Sogleich erfaßte die Frau die Kerze und eilte zu öffnen.
4.
Ein fremder Knabe stand vor ihr, ein seltsamer Knabe; er hatte
eine leuchtende Brust, die Kleider waren voll Schnee, die Locken voll
Eis, die großen Augen voll Wasser. Vor Frost zitterte er und bat
um Obdach.
„Ist denn kein Mensch bei dir?" rief die Frau. „Bist du
allein? So komm, so komm nur!"
Und sie fächelte den Schnee von seinen Kleidern, aber die Brust
blieb leuchtend; sie trocknete seine Augen, da glänzten sie wie Karfunkel.
„Du liebes Christkind," lispelte das Mädchen, „da setz dich zum
Ofen und wärme dich."
Und immer wieder fragte die Frau, woher er käme, wer er
wäre. Sie faltete dabei die Hände.
„Ich bin Theobald Gallheim," antwortete endlich der Knabe.
„Ich bin ausgeritten; da sind Wildhühner aufgeflogen, das Pferd ist
scheu geworden und hat mich abgeworfen. Ich bin herumgegangen,
bis es finster geworden ist. Dann ist der Wind und der Schnee ge-
kommen, und ich habe gar nichts mehr gehört und gesehen und bin
gefallen. Hierauf bin ich doch wieder weiter gegangen, und dann
habe ich das Licht gesehen. Laßt mich in Eurem Hause und thut
mir nichts Böses! Mein Vater wird schon kommen!"
Das Fieber schüttelte ihn, als er das sprach. Die Pecherin hatte
Mühe, ihm die Schuhe von den Füßen zu bringen; sie waren schier
angefroren. Der Knabe ächzte vor Schmerz; sie legte ihm kaltes
Grubenkraut auf Hände und Füße, brachte dann eine warme Suppe
und führte den Löffel selbst zu seinem Munde.
Das Magdale schlich spähend um den Knaben herum, schaute
seine zarten Locken und seine frischen Wangen an und seine glänzende
Brust und seine Augen. „Du armes Christkind, so ist es doch richtig
wahr, daß du so viel Kälte leiden mußt!"
Die Frau trug von allen drei Betten, die in der Stube standen,
die Kissen zusammen und baute damit auf der Ofenbank dem kleinen
Gaste ein Lager. Theobald legte sich hin und schloß bald die Augen.
51
Dem geängstigten Weibe war leichter ums Herz geworden. Ihr
war dieser Knabe, der in der Christnacht hilflos zu ihr gekommen,
ein gutes Vorbedeuten. Das Magdale, das gar nicht schlafen wollte,
zerstreute sie mit etlichen jener alten Weihnachtslieder, die so reich
an Gemüt und Humor sind. Und das eine vom „Häuserl im Dörfer!"
mußte sie wiederholen:
„Ach, wie friert das göttlich' Kind,
wie geht nicht aus noch ein der Wind —
es liegt auf Heu und Stroh.
Ei, wenn ich nur das Häuserl hätt',
das dort unt' im Dörferl steht,
wie wär' ich doch so froh!
Ich nähm' die Mutter mit dem Kind,
thät's führen in mein Häuserl geschwind!"
Dabei unterbrach sich die Sängerin und horchte auf den Atem
des Schlummernden; und das Magdale saß daneben und faltete die
kleinen Hände.
5.
Gellender Waldhornschall schlug an die Wände der Hütte. Dem
Weibe blieb der Ton in der Kehle stecken. Draußen knisterten schwere
Tritte, die Thür ging auf, über und über beschneite Männer traten
herein, neben ihnen eine stattliche Frau. Die Pecherin that einen
flehenden Blick auf die Eintretenden, legte den Finger auf den Mund
und wies auf den schlafenden Knaben. Kaum aber erblickte diesen die
eintretende Frau, als sie mit einem Freudenschrei auf den Schläfer zu-
stürzte. Der Knabe fuhr empor und blickte um sich. Und als er in dieser
düstern Hütte sich und seine Mutter sah, da zuckten seine roten Lippen.
Sogleich wurde auf dem Schollberge ein großes Feuer an-
gezündet; hoch empor und weithin durchdrang der Schein die Nebel
und das Schneegestöber. Gallheim, der reiche Mann, hatte wohl in
seinem Leben einen so glückseligen Christbaum nicht gesehen, als
diese Feuersäule war, die ihm verkündete, daß sein Kind lebe.
„Er ist gesunden!"
So kamen sie nun alle hier zusammen, und noch nie hatte das
kleine Haus im Walde so viele und so fröhliche Gäste gesehen, als
in dieser Nacht. Dem reichen Manne barst schier das Herz. Da sah er
seinen Sohn so liebevoll gehalten von der Familie dessen, den er heute —
Er dachte es nicht aus. Den schnellsten Reiter sandte er nach
dem Herrenhause, um die eiserne Thür zu öffnen.
X
52
Sie waren noch beisammen, als der Lenz in einem vornehmen
Schlitten, bespannt mit zwei Rappen, angefahren kam. Zur Stunde
ging schon der Morgen auf.
„Lenz, ich habe dir unrecht gethan!" sagte Gallheim in tiefem
Ernste zum Pecher. „Hier sehe ich dein Weib, dein Kind, denen du
das Christbäumchen hast aufstellen wollen. Verzeih mir! Verzeiht
mir alle drei! Ich will es gut zu machen trachten."
Er sprach dem Pecher die Meierstelle im großen Felberhose zu.
Der Lenz war wortkarg. Er schüttelte den struppigen Kopf: der
Felberhof wäre ihm zu groß. „Zu groß!" lachten die Leute, „das
sollte ein Mann, wie Ihr seid, niemals sagen. Manch anderer wäre
froh, könnte er seine Familie ohne Sorgen ernähren und vorwärts bringen."
„Mag nicht fort von da," sagte der Lenz tonlos, „wollt mir
lieber das Pechhacken wieder erlauben."
„Das Pechhacken, Lenz, das thut Euch schlecht und den Bäumen
nicht gut," versetzte Gallheim. „Aber die Försterstelle wird frei, und
zu Christbäumen für Eure Nachkommenschaft sind von heute an
dreißig Joch Waldgrund Euer eigen. Dann, Lorenz Hackbretter,
wollen wir wieder gut sein."
„Ich bin nicht bös'," sagte der Lenz, „ich wollt' den Herrn nur
gebeten haben, daß er's hier vor meinem Weib und vor meinem Kind
laut thät sagen, daß ich nicht schuldigerweis' eingesperrt worden bin."
Gallheim faßte mit beiden Händen des anderen Rechte und rief:
„Lenz, Ihr seid ein braver Mann!"
Und so ist Gott durch den Wald gegangen, und so ist das Christ-
kind doch noch in die Hütte der Pechersleute gekommen.
sseter Rosegger.
29. Weihnachten.
1. Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus;
sinnend geh' ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.
2. An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt.
Tausend Kindlein stehn und schauen,
sind so wunderstill beglückt.
3. Und ich wandre aus den Mauern
bis hinaus ins freie Feld.
Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
4. Sterne hoch die Kreise schwingen;
aus des Schnees Einsamkeit
steigt's, wie wunderbares Singen.
O du gnadenreiche Zeit!
Joseph v. Lichendorff.
53
30. Zum neuen Jahre.
1. Horch, die Neujahrsglocken klingen
durch die Frühluft hell und klar;
Schneereif auf den lichten Schwingen,
schwebt herab das neue Jahr,
grüßt in frischer Winterhelle
rings die Welt im Morgenglanz,
legt auf jedes Hauses Schwelle
seiner Gaben reichen Kranz.
2. Mut und Hoffen jedem Streben,
ernstem Wollen Heil und Preis!
Goldne Ähren, goldne Reben
sauren Müh'n und treuem Fleiß!
Wackrem Schaffen: Glück und Frieden!
Klugem Wagen: Ruhm, Gewinn!
Reinstes Lebensglück hienieden
dankbar gottergebnem Sinn!
Julius Lobmeyer.
31. Der gute König.
1. Ich kenne einen guten König,
gar einen lieben, milden Herrn;
viel Tausend sind ihm unterthänig,
und alle sind's von Herzen gern.
2. Es ruht ein stiller Gottesfrieden
auf seinem weiten, lichten Reich;
so schön die Welt, es ist hienieden
kein andres ihm auf Erden gleich.
3. Viel heller leuchtet hier die Sonne,
viel tiefer strahlt des Himmels Blau,
und Kinderlust und Kinderwonne
jauchzt überall in Wald und Au.
4. Wie Festglanz ruht's auf Busch und Bäumen,
auf Markt und Gaffen, Wies' und Feld,
als ob aus Paradiesesräumen
ein Schimmer auf die Lande fällt.
5. Der König zieht mit Segensspenden
von Stadt zu Stadt, von Haus zu Haus,
und teilt mit immer reichen Händen
sie in Palast und Hütte aus.
— 54
6. Und wo er naht mit frommem Walten,
da hallt's von Glocken hell und klar,
voll Andacht folgen ihm die Alten,
mit Jubel ihm der Kinder Schar.
7. Er tritt herein mit mildem Grüßen,
er fetzt sich zu uns auf die Bank,
er trägt zu festlichem Genießen
das Beste auf an Speis' und Trank.
8. Er führt hinaus auf fonn'ge Auen
und aus der Gassen dumpfer Luft,
er läßt uns Gottes Wunder schauen
und atmen freien Waldesduft.
9. Zu frischer Kraft, zu frohem Mute
fühlt jedes Herz sich neu verjüngt,
denn König Sonntag ist's, der gute,
der Trost und Freuden allen bringt. Lohme?».
32. Das Haus Gruit van Steen.
Das Handelshaus Gruit van Steen war im Anfange des sieb-
zehnten Jahrhunderts eins der angesehensten und reichsten in Hamburg.
Aber der verheerende dreißigjährige Krieg machte feine traurigen
Folgen zuletzt auch ihm fühlbar, und zwar um so mehr, je ausge-
breiteter die Geschäfte des Hanfes früher gewesen waren. Städte und
Dörfer waren zu Hunderten verheert und verlassen; und bei der Un-
sicherheit der Straßen war es kein Wunder, daß der Handel stockte
und vorzüglich der Absatz in das Innere von Deutschland gering war.
Ein Kaufmann nach dem andern ward unfähig zu zahlen und zog
auch jenes Handelshaus in feine Verluste mit hinein. Dagegen wagte
das große Seeschiff, welches als sein Eigentum im Hafen lag, des
Krieges wegen nicht auszulaufen, und die gangbarsten Waren mußten
von den Holländern zu außerordentlich hohen Preisen aus der zweiten
Hand erkauft werden.
Hermann Gruit, der Besitzer der Handlung, faß mit dem alten
Jansen, einem erfahrenen Diener des Hauses, ums Jahr 1638 in der
Schreibstube und verglich mit ihm die großen Bücher. „So thut es
nicht länger gut!" sagte dieser endlich; „wir müssen es anders an-
55
fangen. Überlaßt mir auf ein Jahr das Schiff und so viel Geld und
Nürnberger Waren wie möglich, und laßt mich damit selbst in die neue
Welt segeln. Ihr wißt, ich bin in jüngeren Jahren schon zweimal
dort gewesen und verstehe das Geschäft; mit Gott wird es mir gelingen."
Die beiden Männer beratschlagten miteinander über diesen Einfall,
und nachdem sie die mögliche Gefahr und den möglichen Vorteil auf
das beste erwogen hatten, kamen sie dahin überein, daß Jansen reisen
solle. Vier Wochen später schritt Herr van Steen in seinem Rats-
herrngewande, den alten Buchhalter neben sich, dem Hafen zu, wo
eine große Menschenmenge der Abfahrt des stattlichen Schiffes harrte.
Einige Handelsfreunde traten grüßend auf sie zu und äußerten be-
denklich, sie wünschten, Herr Hermann möge bei dieser Ausrüstung
nicht zu viel gewagt haben. Aber Jansen antwortete: „Lasset es euch
nicht anfechten, ihr Herren; ich hoffe, wir sehen uns gesund und
freudig wieder; denn ich traue auf das gute Sprichwort: Gott ver-
läßt keinen Deutschen."
Da donnerte der erste Signalschuß zur Abfahrt, und das Boot,
welches den alten Jansen zum Schiffe führen sollte, hatte eben ge-
landet. Noch einmal drückte er seinem Herrn die Hände, dann stieg
er schnell ein und schiffte hinüber. Jetzt wurde der große Anker auf-
gewunden, der letzte Kanonenschuß ward gelöst, alle Wimpel flaggten,
und mit vollen Segeln stog das Schiff dahin, dem Meere entgegen.
Drei Vierteljahre gingen vorüber, und kein Jansen kehrte zurück
oder ließ auch nur etwas von sich hören; wohl aber verbreiteten sich
dunkle Gerüchte von deutschen Handelsschiffen, die in der Gegend von
Neu-Amsterdam, dem jetzigen New-Iork, gescheitert seien. Die Miene
des Herrn Hermann Gruit ward immer bedenklicher. Einen großen
Verlust nach dem andern erlitt er durch den Fall mehrerer Handlnngs-
häuser zu Braunschweig, Nürnberg, Augsburg und Ulm, und täglich
noch trafen neue Unglücksnachrichten ein. Am Jahresschlüsse verglich
er seine Bücher — und siehe da, was er gefürchtet hatte, erwies sich
als Wahrheit: die Schulden überstiegen sein Vermögen. Da legte er
langsam die Feder weg, klappte leise das Buch zu und ging schwer
seufzend aus der Schreibstube hinauf in das Familienzimmer. Dort
kleidete er sich in seine volle Amtstracht als Ratsherr, küßte seine
Frau und seine drei Knaben und ging mit der Äußerung, daß heute
Sitzung sei, hinunter. Die grüne Gasse entlang schritt er dem Rat-
hause zu; ein Diener trug ihm das schwere Hauptbuch nach. Im
Rathause legte er vor den erstaunten Amtsgefährten die Ehrenzeichen
seiner Würde ab und erklärte seine Zahlungsunfähigkeit.
56
Man kann denken, wie groß das Staunen aller war, daß das
große Haus Gruit van Steen zu zahlen aufhören müsse. Indes über-
zeugten sie sich aus der genauen Ansicht der Bücher, daß Herr Hermann
an seinem Unglücke nicht schuld sei, und beschlossen, ihm noch eine
halbjährige Frist zu gestatten, als die äußerste Zeit, in welcher man
Jansen noch zurückerwarten könne, wenn das Schiss nicht verunglückt wäre.
Aber das halbe Jahr verfloß; es vergingen zwei Monate darüber
-— und Jansen war noch nicht gekommen. Herrn Hermanns Um-
stände hatten sich noch verschlimmert.
Da drangen die schon durch die bewilligte Frist erbitterten
Gläubiger so ungestüm auf die strenge Vollziehung des Gesetzes und
die Versteigerung aller ihrem Schuldner gehörigen Sachen, daß die
Obrigkeit dem Rechte seinen Gang lassen mußte. Alles wurde unter
Siegel gelegt, und dem armen Gruit nebst seiner Familie blieb nur
das kleine Stübchen, wo sonst der Hausknecht geschlafen, links am
Haupteingange des Hauses.
Die Versteigerung begann; sie geschah in dem geräumigen
Schreibzimmer, jenem Stübchen gegenüber; man konnte hier die laute
Stimme des Ausrufers deutlich hören. Mit jedem Niederfallen des
Hammers fuhr es dem Herrn Hermann wie ein Schwert durchs
Herz. Er saß tiefsinnig am Fenster und starrte das Schild seines
Nachbars, des Wirts zum Westindienfahrer, an. Die Frau saß in
der Tiefe der Stube mit rotgeweinten Augen; die Knaben aber
spielten mit dem großen Hunde.
Da trat der Ratsdiener herein und sagte mitleidig: „Herr
Senator, den Lehnsessel soll ich holen."
Herr Hermann seufzte, und Thränen traten in seine Augen; in
diesem mit grünem Sammet beschlagenen Lehnsessel war sein seliger
Vater sanft entschlafen, und er war darum als ein Heiligtum im
Hause gehalten. Doch nun wurde er hinausgetragen, und die ganze
Familie folgte ihm nach, als könnte sie sich nicht von ihm trennen.
Der Versteigerer rief: „Ein noch guter Lehnsessel, mit Sammet
beschlagen!" — und eine lange Pause folgte, weil sich alle Blicke
nach den jammernden Hausbewohnern wandten. Endlich bot jemand
darauf mit vier Mark, und der Auktionator rief mißmutig: „Also
vier Mark zum ersten!"
In diesem Augenblicke rief eine starke Baßstimme zum offenen
Fenster hinein: „Vierhundert Mark zum ersten!"
Alles staunte; der Hund drängte sich gewaltsam und freudig
bellend vor das Haus. Jetzt trat ein Mann in Schiffertracht ins
57
Zimmer und rief nachdrücklich, indem er mit seinem spanischen Rohre
auf den Tisch schlug: „Vierhundert Mark zum andern-, zum dritten-
und letztenmal!"
„Gott, unser Jansen!" rief Herr Hermann und fiel ihm um den
Hals. Der aber fuhr fort: „Ja, ich bin's, und unser Schiff liegt voll
Gold und Waren im Hafen. Die Auktion ist aus! Fort jetzt, ihr
alle; morgen kommt aufs Rathaus; da soll alles samt den Interessen
bezahlt werden. Denn wissen sollt ihr: Unser Herrgott lebt noch!
und das Haus Hermann Gruit van Steen steht noch! — und nun
erst seid freudig gegrüßt in der Heimat, mein Herr Hermann und
Frau Elisabeth, von Eurem alten Jansen!" nari Barih.
33. Barbara Uttmann.
Gegen die runden, grünen Fensterscheiben schlug der Regen,
und um das Haus pfiff der Wind, und in der Stube war es still,
ganz still. In dieser Stube safsen oben am Tische, der fast den
ganzen Raum zwischen Kamin und Thür einnahm, der Bergherr
Christoph Uttmann und seine Gemahlin Barbara, und blühende
Söhne und Töchter umgaben dieses würdige Paar. Dann folgten
zu beiden Seiten Bergleute mit Frauen und Kindern, Uttmanns
Knechte und Mägde und Händler, Ackerbauer und sonstige
Bewohner des Städtchens; denn wer nur irgend Lust hatte,
an einem Samstage zum Bergherrn zu wandern, der war hier
herzlich willkommen. Da ging denn der Humpen von Hand
zu Hand, und prächtige Geschichten vom hörnernen Siegfried und
von der schönen Magelone wurden erzählt, und lustige und
rührende Lieder wurden gesungen, und dazu schnurrten die
Rädchen und scherzten die Burschen mit den Dirnen, und das
währte oft bis in die Nacht hinein.
Aber an diesem Abend — der 15. Mai des Jahres 1561
stand im Kalender — war es an dem eichenen Tische so still,
dass man die einförmige Musik des Regens deutlich hören
konnte. Herr Christoph, die Arme über die Brust kreuzend,
safs da in tiefe Gedanken versunken; eine Thräne zitterte an
Frau Barbaras Wimper; die Männer liessen den Kopf hängen,
und die Frauen legten die Hände in den Schoss; der Humpen
ging nicht herum, und die Räder schnurrten nicht, und niemand
dachte daran, eine Geschichte zu erzählen oder ein Lied zu
singen.
58
Plötzlich richtete Herr Christoph sich auf: „Kinder, wir
lassen ja den Mut sinken! Das ist nicht recht von uns; und ich
will's nur zu meiner Schande bekennen, dass ich mich selbst
über finsteren Gedanken ertappt habe.“ Aber der greise Berg-
mann Ohlentrud versetzte: „Herr, wer kann da fröhlich sein,
wenn’s Elend vor der Thür steht? Und Ihr redet ganz anders,
lieber Herr, als es Euch ums Herz ist; Ihr wollt uns nur auf
andere Gedanken bringen.“
„Guter Alter,“ sagte darauf der Bergherr, „du willst ver-
zweifeln, weil der eine gelahrte Mann aus Dresden nichts ge-
funden hat? Nun, so Gott will, findet der zweite, zu dem ich
Klaus geschickt habe, und den wir in nächster Zeit erwarten
können, eine neue Silber- oder Kobaltstufe.“
„Lieber Herr,“ erwiderte der erfahrene Bergmann trübe,
„ich habe zu der Hülfe, die uns die gelahrten Herren bringen
sollen, wenig Zutrauen. Die Schrecken- und Schottenberggruben
wollen nichts mehr hergeben, mit dem bisschen Ernte wird’s in
diesem Jahre traurig werden, und über das Vieh kommt die
Seuche!“
Welchen Nachhall diese Worte erweckten, das zeigten die
traurigen Mienen ringsum. Frau Barbara bedeckte ihr Antlitz
mit beiden Händen, und Herr Christoph sprach mit zitternder
Stimme: „Hoffen wir, dass der zweite aus Dresden neue Stufen
entdecken wird.“ Aber die andern schüttelten in bangem Zweifel
die Häupter.
Denn fürwahr, es war eine traurige Zeit und gewiss kein
Wunder, dass die braven Annaberger den Mut tiefer und immer
tiefer sinken liessen. Was sollte aus ihnen werden, wenn die
Gruben wirklich ausgebraucht waren? Sie mussten dann ver-
hungern ; denn sie hatten da oben im Gebirge keinen andern
Erwerb. — Und in der nächsten Woche kam Klaus mit dem
zweiten Herrn Studierten aus Dresden an. Der fuhr bald in
diesen, bald in jenen Schacht, der beklopfte alle Wände und
sprach dazu nur lateinisch, der nahm Messungen nach rechts
und links in die Höhe und Tiefe vor, aber er fand auch nichts.
Schliesslich schüttelte er dann sein weises Haupt und ging mit
einer Rolle Silbergulden aus dem Seckel des Bergherrn wieder
von dannen.
Nun gab es keine Hoffnung mehr für die armen Leute.
Ihre Hämmer und Eisen rosteten, in den Ställen ward es leerer
59
und stiller, und obendrein brach noch ein grausiges Hagelwetter
los. Da sank denn auch unserm Herrn Christoph zuletzt aller
Mut, und die heitere Miene, die er bisher der Umgebung willen
zur Schau getragen, verschwand gänzlich.
Da geschah es eines Tages, dass ein armes Weib mit drei
hungernden Kindern an die Thür von Herrn Uttmanns Hause
pochte. Sie war eine Fremde, kam weit her und bat um Gottes-
willen, ihnen ein Stück Brot und für kurze Zeit eine Ruhestatt
zu geben. Frau Barbara empfing die Arme nach ihrer Ge-
wohnheit mit gütigen Worten, lud sie ins Haus ein und er-
quickte sie aufs beste mit Speise und Trank. Sie wies den
hüls losen Wanderern ein gar behagliches Kämmerlein an, und
sie freute sich herzlich der Ruhe, welche die Müden darin
fanden.
Sie hatte die Fremde nicht gefragt, woher sie komme, noch
wohin sie wolle; sie war arm und ihrer Hülfe bedürftig — das
war ihr genug. Aber kurze Zeit danach trat aus dem Käm-
merlein die fremde Frau wieder zu ihr herein, setzte sich auf
Barbaras Einladung zu ihr an den Tisch und begann nun un-
aufgefordert von ihrer Heimat, Flucht und Wanderung zu er-
zählen. Dabei griff sie, um nicht müfsig zu sitzen, in die Tasche
und zog ein Päckchen hervor. Es enthielt kurze, hölzerne
Stäbchen, die in kleine Haken von Eisendraht ausliefen, eine
Rolle Zwirn und ein auf Papier gezeichnetes Muster. Dieses
Muster ward nun über den Tisch gebreitet, von der Rolle ein
Faden abgelöst und um das eine Stäbchen geschlungen, und
Barbara hätte über die Geschwindigkeit, mit der die Fremde
bald die Hölzer zu kreuzen, bald die Fäden um die Haken zu
wickeln, bald die wunderlichen Knoten zu schlingen wusste, er-
staunt sein müssen, wenn sie darauf achtgegeben hätte. Doch
sah sie nur in das Gesicht der Frau, deren Erzählung das grösste
Mitleid hervorrufen musste. Sie war aus Brabants Glücklich
hatte sie mit den Ihrigen bis zu der Zeit gelebt,'' da Herzog
Alba von König Philipp von Spanien als Statthalter nach den
Niederlanden geschickt wurde. Kaum in Flandern angelangt,
setzte er einen Blutrat ein, von dem alle, deren Meinungen Ver-
dacht erregten, verurteilt wurden. Entsetzlich war die Be-
schreibung, welche die Frau von dem Abend machte, an dem
Albas Knechte auch in ihre friedliche Hütte gedrungen; wie
der Mann in unnützer Gegenwehr vor ihren eignen Augen ge-
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fallen, und wie man ihr über dem Kopfe das Dach angezündet.
„Da hab’ ich in wenigen Stunden,“ sagte sie, „meinen Mann
und meine Heimat verloren und war gezwungen auszuwandern,
gleich tausend anderen Familien, die sich teils nach England,
teils nach Deutschland wandten. Mein Werkzeug,“ fuhr sie
fort, auf Stäbe und Zwirn deutend, „fand ich in der Tasche,
als ich am andern Morgen aus einer Erstarrung erwachte. Dem
Herrn sei Dank! solange mir das bleibt, brauche ich nicht zu
betteln. Nun wanderten wir, und wenn wir ausruhten, klöppelte
ich; überall wurden meine Spitzen gern statt Gieldes ange-
nommen. Eine weite Strecke von hier war meine Kraft zu
Ende; ich konnte die Füsse und die Hände nicht mehr rühren,
und da meine letzten Spitzen fortgegeben waren, so wies man
uns überall die Thür; denn ich hatte nichts mehr anzubieten.
Zum Tode matt kamen wir bis vor dieses Haus, und wenn Ihr,
Herrin, nicht . ,
Eine lange Stille trat ein. Als sich die Frau dann gefasster
zeigte und in heisse Dankbarkeit sich zu. ergiefsen begann, unter-
brach sie Barbara durch die schnell hingeworfene Frage: „Also
du hast eben Spitzen geklöppelt? Ich hatte vorhin nicht acht
darauf.“
Die Stäbchen und die Rolle Zwirn vor sich auf den Tisch
legend, versetzte die Brabanterin: „Herrin, für Euch kann das
auch nichts sein. Ihr tragt da an Eurem Tuche seidene Spitzen,
wie sie nur in Brüssel geklöppelt werden; und für eine Frau
Eures Standes passt sich das auch so. Aber die Bürgerfrauen
lieben doch auch den Putz, und für die sind unsere zwirnenen
Spitzen da.“
„Freilich,“ sagte Barbara, „wenn ich an meine Heimat, an
Nürnberg, denke, da muss ich dir recht geben. Keine Patricierin
würde sich herbeilassen, Spitzen von Zwirn zu tragen. Aber
wenn man, wie du sagtest, nur in Brüssel seidene Spitzen klöp-
peln kann, da muss es in den niederländischen Provinzen küm-
merlich hergehen. Wie wenig kann mit den zwirnenen Kanten
erworben werden! Die Leute, die sie kaufen, können ja nicht
viel dafür ausgeben.“
„Wie man’s nimmt, Herrin. Uns in Wavre hat diese Arbeit
von Kindesbeinen an ernährt; wir kannten keine Not und waren
zufrieden und glücklich dabei. Und glaubt nicht, dass das nur
immer aus der Hand in den Mund ging; nein, nicht bloss
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mein Mann, alle Leute in Wavre haben so in jedem Jahre ein
Sümmchen für schlimme Zeit zurückgelegt. Und wie da ein-
mal der halbe Ort wegbrannte und ein andermal der Blitz
unsern Turm bis zu unterst verzehrte, da haben wir mit dem
Ersparten nicht nur alles wieder aufbauen können, sondern es
blieb auch noch etwas übrig, was nun freilich Albas Knechte
an sich gerissen haben. Lieber Gott! die in Brüssel werden
wohl nicht wissen, was sie mit ihrem vielen Gelde anfangen
sollen, aber beneidet haben wir schlichten Zwirnklöppler sie des-
halb doch niemals. Und dann, welch ein Vorzug ist bei unserm
Klöppeln! Zu den seidenen Spitzen gehört eine grosse Übung
und eine sehr geschickte Hand, aber auf unsere zwirnenen
Spitzen versteht sich ein jedes Kind. Fünfjährige Kinder klöp-
pelten in Wavre. Und seht nur her; was wäre leichter als
das? Da seh’ ich erst das Muster an, dann schlinge ich den
Faden um den einen Stab, dann werden beide Stäbe kreuzweis
übereinander gelegt, und so wickelt sich der Faden ganz von
selbst um die Häkchen und — seht nur her, da ist schon eine
Masche fertig! . . . Aber Ihr weint ja, Herrin; was habt Ihr?“
Die Hände über die Brust gefaltet, das Auge zum Himmel
erhoben — so stand Barbara Uttmann da, und Thränen des
Dankes und unendlicher Freude rollten über ihre Wangen, und
ihr Herz jubelte: „Ja, mein Gott und Vater, wie du willst, so
geschieht’s. Auf deine Gnade habe ich gebaut, und du hast
uns diese Arme gesandt, damit unsere Trübsal in Freude ver-
wandelt werde und nun das Glück in alle Häuser der Stadt
wieder einziehe. — Liebes Weib, du bleibst bei uns! Ich will
dir und deinen Kindern Freundin, Schwester, Mutter sein! Sieh,
in diesem Orte herrscht Trauer. Der Hammer des Bergmanns
rostet, das Vieh stirbt hin, verwüstet liegen die Felder. Mein
Gemahl giebt mit vollen Händen; doch was können die Gaben
des einen sein, wenn alle Not leiden? — Lehre uns das Klöp-
peln! Wir wollen arbeiten Tag und Nacht und mit unseren
Spitzen die Kräftigsten unter uns durch das ganze Land senden
und so wieder Wohlstand und Freude in unsere Häuser bringen;
und wenn's Gott gefällt, wird auch, wie bei dir in Wavre, ein
Sümmchen zurückgelegt werden, wenn abermals eine traurige Zeit
über uns hereinbrechen sollte. Deine Hand, gute Frau, du willst?“
Mit beiden Händen schlug die Brabanterin ein; halb nur
verstand sie Barbaras Worte.
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Am andern Morgen wurden auf Herrn Ilttmanns Betreiben
alle Leute mit ihren Kindern (nur die unter fünf Jahren blieben
daheim) zusammengerufen. Der Bergherr, der, als er am ver-
gangenen Abend heimgekehrt, seine fromme Gemahlin nur stumm
in die Arme geschlossen hatte, teilte jetzt den Leuten Barbaras
Pläne mit. Staunen und Zweifel herrschte ringsum; auf die
Brabanterin und deren Kinder blickte man mit ungläubigen
Mienen. Aber unser würdiges Paar beachtete das alles nicht;
es liess Stäbchen anfertigen, die der Schmied mit Haken ver-
sah, und Klaus ward nach Dresden geschickt, um Zwirn zu kaufen;
von dorther kam auch ein Maler, der Muster nach Mustei zeich-
nete. DerUnterricht begann; wie im Spielen lernte man das Klöppeln.
Darüber wurde so manche Sorge vergessen; denn mit jedem
Tage ward der Zweifel geringer und die Hoffnung grösser; und
nun erschallte nach langer Zeit hier wieder ein artiger Scherz,
dort ein heiteres Liedchen. Und als zwei Monate verflossen
waren — o, wer beschreibt die Freudenrufe, die da durch
Annaberg ertönten! Denn zwei, die man derweilen mit den
fertigen Spitzen hinausgeschickt, waren eben und zwar mit
leeren Banzen wieder heimgekehrt, aber dafür mit so vollen
Taschen, dass man meinte , der Reichtum müsse bis in alle
Ewigkeit währen.
Die Brabanterin konnte diese Freude nicht mehr teilen.
Unweit der grossen Linde, die noch heute inmitten des Kirch-
hofes steht, wurde sie wenige Tage vorher bestattet; der Gram
um den Verlust ihres Mannes und all das Entsetzliche, was
über sie hereingebrochen, hatten den Todeskeim in ihr Herz
gesenkt. Und das hatte ruhiger brechen können, denn ihre
Kinder lagen ja in Barbaras Armen. Gepriesen sei diese
Frau! Solange die Sonne am Himmel stand, legte sie die
Klöppel nicht aus der Hand, und das musste der beste Sporn
für alle übrigen sein. Und mit der Freudigkeit und Hoffnung
wuchsen die Spitzenvorräte, obgleich die rüstigsten Männer im-
mer mit der fertigen Ware wieder von dannen zogen durch
ganz Sachsen und Böhmen. Erst der strenge Winter gebot
ihnen Einhalt.
Und als dann der Frühling und der Sommer wieder kamen
— welch ein Abstand gegen das vorige Jahr! Kerngesundes
Vieh im Stalle und auf den Wiesen, Segen auf den Feldern,
und die Menschen glücklich. Denn eben war der Herr Studierte,
63
der auf des Bergherrn Bitte aus Kölln an der Spree zur noch-
maligen Untersuchung der Gruben gekommen war, wieder ab-
gereist, nachdem er sich nicht gerade zum allerbesten über die
Weisheit seiner Kollegen in Dresden erklärt hatte. Die Gruben
im Schrecken- und Schottenberge waren nicht ausgebraucht;
man musste nur verstehen, sie auf die rechte Weise zu öffnen.
Und da liess der kluge Mann aus Kölln an der Spree von dem
schwarzen Pulver herbeibringen, von dem die Annaberger bisher
noch keine Ahnung gehabt, und — hei, wie das krachte und
platzte, wie da die Wände barsten und Silber- und Kobaltstufen
in unabsehbarer Menge blossgelegt wurden!
In diesem Sommer war es auch, dass Barbara eine grosse
Reise nach Brüssel unternahm. Das wüste Treiben der Spanier
in den Niederlanden schreckte sie nicht zurück. Frische Kräfte
nach Annaberg zu ziehen, um so auch die Anfertigung von
seidenen Spitzen zu erlernen, dahin ging ihr Plan, und dass er
ihr gelungen ist, das weiss die ganze Welt. Und noch eins
brachte sie aus der Fremde mit: die Bandfabrikation. Spitzen-
und Bändermärkte, Spitzen- und Bänderläden, Spitzen- und
Bänderverkäuferinnen — kann man sich davor retten, wenn
man heute nach Annaberg kommt?
Ja heute! Da ist Fabrik an Fabrik; da arbeiten überall
Maschinen; da schallt’s hüben und drüben: „Glück auf! Glück
auf!“ Und wie würde das wohl hier aussehen, wenn nicht
Christoph und Barbara Uttmann gewesen wären? Als unsere
Frau von Brüssel zurückkehrte, fand sie ihren Gemahl auf dem
Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erhob. Was hätte
sie in ihrem Schmerze besser trösten können als der Friede
und das Glück, welche ringsum walteten? Solange noch ihr
Herz schlug, schlug es nur für ihre Kinder, für die Kinder
der Brabanterin und für alle, die im Weichbilde Annabergs
wohnten.
Sie hatte noch ein langes und durch das Glück anderer
beglücktes Leben. Als sie starb, ward sie neben Christoph und
der Brabanterin an einem Frühlingstage hinabgesenkt. Ein
Denkmal erhebt sich jetzt zu Häupten der drei Hügel, und
in der grossen Linde jubilieren viel tausend Vöglein. Und
abends, wenn das rotgelbe Sonnengold über Annaberg glitzert,
dann verlassen die Menschen, in deren Augen Zufriedenheit
glänzt, Fabriken und Gruben und lagern sich um die Linde
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und reden von denen, die hier unten schlafen, von der Bra-
banterin, von Christoph und Barbara Uttmann. Das im Jahre
1886 in Annaberg errichtete schöne Standbild Barbara Uttmanns
legt ein beredtes Zeugnis ab von der dankbaren Gesinnung,
die der Wohlthäterin des Erzgebirges bis zur Gegenwart ge-
zollt Wird. Karl Neumann-Strela.
34. Spinnerlied.
1. Spinn, Mägdlein, spinn!
So Wachsen dir die Sinn';
Wachsen dir die gelbe Haar',
kommen dir die kluge Jahr'!
2. Ehr, Mägdlein, ehr
die alte Spinnkunst sehr;
Adam hackt', und Eva spann,
zeigen uns die Tugendbahn.
3. Sing, Mägdlein, sing -
und sei fein guter Ding;
fang dein Spinnen lustig an,
mach ein frommes End' daran.
4. Lern, Mägdlein, lern,
so hast -du Glück und Stern;
lerne bei dem Spinnen fort
Gottesfurcht und Gotteswort.
5. Dank, Mägdlein, dank
dem Herrn, daß du nicht krank,
daß du kannst fein oft und viel
treiben dieses Rockenspiel.
Dank, Mägdlein, dank. Des Anoden lvunderdorn.
35. Meister Hämmerlein.
Vor vielen Jahren lebte in einem preußischen Dorfe der Gemeinde-
schmied Jakob Horn. Im gemeinen Leben hieß er nicht anders als
Meister Hämmerlein.
„Meister Hämmerlein? Ei, warum denn Meister Hämmerlein?"
Weil er die sonderbare Gewohnheit hatte, wo er ging und stand,
sein Hämmerlein und ein paar Nägel in der Tasche zu führen und an
allen Thoren, Thüren und Zäunen zu hämmern, wo er etwas los und
ledig fand; vielleicht auch, weil er durch sein Hämmerlein Gemeinde-
schmied des Dorfes geworden war.
— 65 —
„Wie wäre denn das zugegangen?"
Ganz natürlich, wie ihr sogleich hören sollt. Sein Vorfahr war
gestorben. Vier wackere Burschen hatten sich um den Dienst beworben
und dem und jenem allerlei versprochen, Meister Hämmerlein hatte sich
nicht gemeldet und nichts versprochen, er hämmerte bloß ein wenig an
einer Gartenthür und erhielt dafür den Dienst.
„Und bloß für ein bißchen Hämmern?"
Bloß für ein bißchen Hämmern! — An einer Gartenthür nahe
dem Dorfe war schon wochenlang ein Brett los. Meister Hämmerlein
kam mit seinem Felleisen des Weges her. Flugs langte er einen Nagel
und sein Hämmerlein aus der Tasche und nagelte das Brett fest. Das
sah der Dorfschulze. Ihm schien es sonderbar, daß der landftemde
Mensch das Brett nicht los sehen konnte, das doch der Eigentümer des
Gartens wohl zwanzigmal so gesehen hatte. Er wollte ihn anreden,
aber der Bursche war fort, ehe er ihm nahe genug kam.
Ein paar Stunden darauf ging der Dorfschulze in die Dorfschenke.
Sogleich fiel ihm der junge Mensch ins Gesicht. Er saß ganz allein an
einem Tische und verzehrte sein Abendbrot. „Ei, willkommen!" rief der
Schulze, „treffen wir uns hier, guter Freund?" Der junge Mann stutzte,
sah ihm steif ins Gesicht und wußte nicht, woher die Bekanntschaft kam.
„Ist Er nicht der junge Mann," fragte der Schulze, „der diesen Abend
da draußen am Wege das Brett einer Gartenthür festgemacht hat?" —
„Ja, der bin ich." — „Nun gut, so kommt, Nachbar Hans," sagte der
Schulze zu dem Eigentümer des Gartens, der auch zugegen war, „kommt
und bedankt Euch bei dem wackern Fremdling! Er hat im Vorbeigehen
Eure zerbrochene Gartenthür wieder zurecht gemacht." — Nachbar Hans
schmunzelte, sagte seinen Dank, setzte sich neben den Schulzen traulich zu
dem Fremdling, und alle Gäste lauschten auf ihr Gespräch. Es betraf
das Handwerk, die Wanderungen und Kundschaften desselben, und in
allen erwachte der einmütige Wunsch, ihn zum Gemeindeschmied zu be-
kommen, weil allen der Zug von gemeinnütziger Denkart gefallen hatte.
Hämmerlein mußte bleiben; und da er schon am folgenden Morgen einen
Beweis von seiner Geschicklichkeit in der Vieharzneikunst und im Be-
schlagen gab, so war nur eine Stimme für ihn: „Dieser und kein an-
derer soll Gemeindeschmied werden!" Man schloß den Vertrag mit ihm
ab, und Meister Hämmerlein war unvermutet Schmiedemeister eines
großen Dorfes, das er wenige Stunden zuvor nicht einmal dem Namen
nach gekannt hatte. Sage mir nun noch einer: „Wer ungebeten zur
Arbeit geht, geht ungedankt davon!" Johann Ferdinand Lchlez.
Kippen berg, A 5 (N. A.).
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36. Das Lied vom braven Mann.
1. Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
und schnob durch Welschland trüb und feucht.
Die Wolken flogen vor ihm her,
wie wann der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den Forst;
auf Seen und Strömen das Grundeis borst.
2. Am Hochgebirge schmolz der Schnee;
der Sturz von tausend Wassern scholl;
das Wiesenthal begrub ein See;
des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
und rollten gewaltige Felsen Eis.
3. Auf Pfeilern und auf Bogen schwer,
aus Quaderstein von unten aus,
lag eine Brücke drüber her,
und mitten stand ein Häuschen drauf.
Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind.
„O Zöllner, o Zöllner, entfleuch geschwind!"
4. Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran.
Laut heulten Sturm und Wog' ums Haus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
und blickt' in den Tumult hinaus. —
„Barmherziger Himmel! erbarme dich!
Verloren! Verloren! Wer rettet mich!"
5. Die Schollen rollten Schuß auf Schuß;
von beiden Ufern, hier und dort,
von beiden Ufern riß der Fluß
die Pfeiler samt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind,
er heulte noch lauter als Strom und Wind.
6. Die Schollen rollten Stoß auf Stoß;
an beiden Enden, hier und dort,
zerborsten und zertrümmert, schoß
ein Pfeiler nach dem andern fort.
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich. —
„Barmherziger Himmel! erbarme dich!"
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7. Hoch auf dem fernen Ufer stand
ein Schwarm von Gaffern, groß und klein,
und jeder schrie und rang die Hand,
doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind
durchheulte nach Rettung den Strom und Wind. —
8. Rasch galoppiert' ein Graf hervor,
auf hohem Roß ein edler Graf.
Was hielt des Grafen Hand empor?
Ein Beutel war es, voll und straff. —
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
dem, welcher die Rettung der Armen wagt!"
9. Und immer höher schwoll die Flut,
und immer lauter schnob der Wind,
und immer tiefer sank der Mut. —
O Retter! Retter! komm geschwind! —
Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach;
laut krachten und stürzten die Bogen nach.
10. „Hallo! hallo! Frisch auf gewagt!" —
Hoch hielt der Graf den Preis empor.
Ein jeder hört's, doch jeder zagt,
aus Tausenden tritt keiner vor.
Vergebens durchheulte mit Weib und Kind
der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind.
11. Sieh, schlecht und recht, ein Bauersmann
am Wanderstabe schritt daher,
mit grobem Kittel angethan,
an Wuchs und Antlitz hoch und hehr.
Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort
und schaute das nahe Verderben dort.
12. Und kühn in Gottes Namen sprang
er in den nächsten Fischerkahn;
trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
kam der Erretter glücklich an.
Doch wehe! der Nachen war allzuklein,
der Retter von allen zugleich zu sein.
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13. Und dreimal zwang er seinen Kahn,,
trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang;
und dreimal kam er glücklich an,
bis ihm die Rettung ganz gelang.
Kaum kamen die letzten in sichern Port,
da rollte das letzte Getrümmer fort.
14. „Hier," rief der Graf, „mein wackrer Freund!
Hier ist dein Preis; komm her! nimm hin!"
Sag an, war das nicht brav gemeint?
Bei Gott! der Graf trug hohen Sinn.
Doch höher und himmlischer, wahrlich! schlug
das Herz, das der Bauer im Kittel trug.
15. „Mein Leben ist für Gold nicht feil.
Arm bin ich zwar, doch eff' ich satt.
Dem Zöllner werd' Euer Gold zu teil,
der Hab und Gut verloren hat!"
So rief er mit herzlichem Biederton
und wandte den Rücken und ging davon.
Gottfried August Bürger.
37. Herzog Leopold von Lraunschrveig.
Am 27. April des Jahres 1785 durchbrach die furchtbar an-
geschwollene Oder die Dämme bei Frankfurt, überflutete bald die
Dammvorstadt und bedrohte sie mit schnellem Untergange. Ungeheure
Eisblöcke zertrümmerten zwei Joche der Brücke und schnitten hierdurch
jene Vorstadt von aller Hülfe ab. Ein Haus nach dem andern stürzte
ein. Die Einwohner flüchteten nach dem hohen und festen Gebäude
der Seidenfabrik, dem letzten Rettungsorte. Man sah wohl von der
Stadt aus die mit jedem Augenblicke zunehmende Gefahr der um
Hülfe Flehenden, wußte aber nicht, wie man ihnen Hülfe senden
sollte, da der wütende, Eisschollen treibende Strom nicht mehr durch-
rudert werden konnte. Dennoch wollte der menschenfreundliche, un-
erschrockene Leopold, der schon bei mancher Feuersnot sein Leben daran-
gesetzt hatte, sich durch eine Gefahr, wovor alle übrigen zurückschauderten,
nicht aufhalten lassen. Zuerst wollte er von der Gubener Vorstadt
aus mit zwei Kähnen sich durcharbeiten. Ratsherren, die ihn be-
gleiteten, boten alles auf, ihn zurückzuhalten. Er antwortete: „Bin
ich nicht ein Mensch wie jene? Wir müssen hier Menschen retten!"
Nun aber warfen sich zwei seiner Soldaten vor ihm auf die Kniee,.
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umfaßten die seinigen und flehten, er möchte doch sein allen so teures
Leben hier nicht in den augenscheinlichen Tod stürzen, sondern desselben
zur Stütze und Freude so vieler Tausende schonen! — Dieses herzliche
Flehn, womit sich die Bitten der Umstehenden vereinten, bewog endlich
den Herzog, dieses Mal wieder aus dem Kahne zu treten und sich in
die Stadt zu begeben, um dort alles zur Mithülfe aufzubieten.
Währenddessen — mittags 12 Uhr — hatte sich ein Schiffer
entschlossen, vom Fischerthore aus nach dem Damme sich durchzuarbeiten.
Da er aber hierzu die Hülfe zweier Knechte nötig hatte, deren einer
ein Soldat war, so eilte dieser zu dem Herzoge, um sich zu dem
Wagestück die Erlaubnis zu erbitten. Da loderte in dem menschen-
freundlichen Herzen Plötzlich das edle Feuer wieder auf; er eilte mit
dem Soldaten ungesäumt zum Fischerthore, stieg, ohne ein Wort zu
reden, um nicht von neuem aufgehalten zu werden, rasch in den Kahn
und stieß ihn, ehe noch der Schiffer selbst herankam, vom Lande ab.
Kaum gewann dieser noch Zeit nachzuspringen; er wollte durchaus
nicht einwilligen, daß sich der Herzog in diese Gefahr stürze, und
versuchte — außer sich vor Bestürzung — die Überfahrt zu verhindern.
„So werde ich," entgegnete Leopold mit fester Stimme, „ohne Euch,
mit Euren beiden Knechten allein hinüberfahren." — „Aber es wird
nicht gut gehen!" rief der geängstigte Schiffer, „der Kahn hält es
nicht aus!" — „Ich muß sehen," antwortete Leopold, „ob es denn
nicht irgend möglich ist, jene Unglücklichen zu retten!" — Nun sah
der Schiffer wohl ein, daß er sich fügen müsse. Die unglückliche
Fahrt hub an. Zwar stieß der Kahn schon an der Brücke sehr hart
an einen Eisblock, kam aber doch glücklich durch die zertrümmerten
Joche, und Leopold war so vergnügt, daß er den Major von Köppern,
der auf der Brücke stand und noch von dort bekümmert warnte, freund-
lich und tröstend grüßte. Alle Augen der großen Volksmenge, die
zitternd das diesseitige Ufer bedeckte, waren auf den Herzog gerichtet;
alle Herzen bebten und beteten für ihn. Aber welch ein ungeheurer
Schreck ergriff sie, als sie nun sahen, wie der wütende Strom Plötzlich
den Kahn ergriff, ihn nach dem Dammbruche bei der Seidenfabrik
hinabriß und den Steuerbord an einen: vorhängenden Weidenbaume
zerschellte, wie nun der Kahn Wasser zu schöpfen anfing, der Steuer-
mann zuerst in den Strom hinabstürzte und auch der Herzog tau-
melte, noch aber durch einen Sprung sich für einen Augenblick in die
Mitte des Kahnes rettete und sich an dem zweiten Schiffsknechte hielt,
dann aber auch das Vorderteil des Kahnes gegen eine Weide anstieß,
das Fahrzeug umschlug, und Leopold — ach! — in den gräßlichen
j.
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Strudel hinunterstürzte und eine hohe, düstere Woge über ihm zu-
sammenschlug und ihn verschlang! Zwar wurden stracks Ruderstangen
und Stricke vom Damme ausgestreckt und hineingeworfen; aber die
wütende Flut ließ nichts bis zur Stelle der Not hin gelangen.
Die Schiffer tauchten indessen wieder auf und retteten sich; aber Leo-
pold war verloren. „Ach, unser gütiger und bester Fürst!" diese
Wehklage durchschallte die ganze Stadt. — Erst nach zwei Tagen
unablässigen Nachsuchens entdeckte man des Herzogs Stock, dann auch
den Hut. Aber erst sechs Tage nach dem unglücklichen Ereignisse
wurde mittels der hervorragenden Hand der Körper selbst gefunden,
schon mit Sand überdeckt, zweihundert Schritte von dem Orte, wo
der Menschenfreund sein Leben für die Brüder geopfert hatte, und
wo ihm nachmals ein Denkmal errichtet worden ist.
------------ Johann Ludwig Ewald.
38. Der fromme Makarius.
Zum Abt Makarius wohlbetagt
tritt einst ein Landmann ein und sagt:
„Nimm, frommer Vater, die kleine Gabe,
die ich für dich gesparet habe,
zu deiner Erquickung und milden Labe," (5)
und reicht ihm drauf mit treuem Sinn
eine große, schöne Weintraube hin.
Makarius freut sich, sagt ihm Dank,
und jener geht nun seinen Gang.
Als der Abt allein ist, fällt ihm bei, (10)
daß nebenan ein Bruder sei,
einer schweren Krankheit kaum entkommen;
„dem wird die Traube mehr noch frommen,"
spricht er und geht und sie ihm reicht,
der freut sich drob und Dank bezeigt. (15)
Doch wie er nun sie kosten will,
der Abt ist fort, so steht er still,
schüttelt das Haupt und fängt dann an:
„Ei, ei, wär' das auch recht gethan?
Du bist ja wieder ziemlich genesen; (20)
für dich ist die Traube nicht gelesen;
doch drüben liegt einer im heißen Fieber,
den soll sie kühlen! Trag sie hinüber!"
71
Drauf tritt er bei dem Kranken ein
und bringt ihm freundlich den füßen Wein. (25)
Der Franke freut sich, bezeigt feinen Dank,
und der andere geht nun seinen Gang.
Und als er schon ein Beerlein berührt,
schnell er zurück den Finger führt.
„Nein," spricht er, „von so köstlicher Frucht (30)
sind unsere Zellen nur selten besucht!
Nein! diese kein anderer genießen muß,
als unser frommer Abt Makarius!"
Sobald nun ausgetobt das Fieber,
schleicht er an seiner Krücke hinüber, (35)
und, ohne daß es ihm bekannt,
er seine Traube derselben Hand,
von der sie ausgegangen, reicht.
Makarius blickt empor und schweigt,
doch seine Freudenthränen rinnen; (40)
dann hört man ihn dies Wort beginnen:
„Du Gott der Liebe, sei gepreist,
daß sich dein liebevoller Geist
an meinen Brüdern so schön beweist!
Mein Sorgen ist nun all gestillt, (45)
mein Tagewerk auf Erden erfüllt!
Drum, wenn dein Will' es hat beschieden,
rufe mich bald zu deinem Frieden!" Friedrich Roch,ih.
39. Die ewige Bürde.
Der Kalif Hakam, der die Pracht liebte, wollte die Gärten
seines Palastes verschönern und erweitern. Er kaufte alle be-
nachbarten Ländereien und bezahlte den Eigentümern so viel
dafür, als sie verlangten.
Kur eine Witwe fand sich, die das Erbteil ihrer Väter aus
frommer Gewissenhaftigkeit nicht veräufsern wollte und alle
Anerbietungen, die man ihr deswegen machte, geradezu aus-
schlug. Den Aufseher der königlichen Gebäude verdross der
Eigensinn dieser Frau; er nahm ihr das kleine Land mit Ge-
walt weg, und die arme Witwe kam weinend zum Richter.
Ibn Bächir war eben Kadi der Stadt. Er liess sich den Fall
vortragen und fand ihn schlimm ; denn obschon die Gesetze der
72
Witwe ausdrücklich Recht gaben, so war es doch nicht leicht,
einen Fürsten, der gewohnt war, seinen Willen für die voll-
kommene Gerechtigkeit zu halten, zur freiwilligen Erfüllung
eines veralteten Gesetzes zu bewegen. Was that also der ge-
rechte Radi? Er sattelte seinen Esel, hing ihm einen grossen
Sack um den Hals und eilte unverzüglich nach den Gärten
des Palastes, wo der Kalif sich eben in dem schönen Gebäude
befand, das er auf dem Erbteile der Witwe erbaut hatte. Die
Ankunft des Kadi mit seinem Esel und Sacke setzte ihn in
Verwunderung, und noch mehr erstaunte er, als Ihn Bächir
sich ihm zu Füssen warf und also sagte: „Erlaube mir, dass
ich diesen Sack mit Erde von diesem Boden fülle.“ Hakam
gab es zu. Als der Sack voll war, hat Ibn Bächir den Kalifen,
ihm den Sack auf den Esel heben zu helfen. Hakam fand
dieses Verlangen noch sonderbarer als das vorige. Um aber
zu sehen, was der Mann vorhabe, so griff er mit an. Allein
der Sack war nicht zu bewegen, und der Kalif sprach: „Die
Bürde ist zu schwer, Kadi, sie ist zu gewichtig!“
„Herr,“ antwortete Ibn Bächir mit einer edlen Dreistigkeit,
„du findest diese Bürde schwer, und sie enthält nur einen
kleinen Teil der Erde, die du ungerechterweise einer armen
Witwe genommen hast. Wie willst du denn das geraubte
Land tragen können, wenn es der Richter der Welt am letzten
Gerichtstage auf deine Schultern legt?“
Der Kalif war betroffen; er lobte die Herzhaftigkeit und
Klugheit des Kadi und gab der Witwe das Land mit allen
Gebäuden, die er darauf hatte anlegen lassen, zurück.
Herder und Liebeskind. (Palmblätter.)
40. Der Glockenguß zu Breslau.
1. War einst ein Glockengießer
zu Breslau in der Stadt,
ein ehrenwerter Meister,
gewandt in Rat und That.
2. Er hatte schon gegossen
Viel' Glocken gelb und weiß
für Kirchen und Kapellen
zu Gottes Lob und Preis.
3. Und seine Glocken klangen
so Voll, so hell, so rein:
er goß auch Lieb' und Glauben
mit in die Form hinein.
4. Doch aller Glocken Krone,
die er gegossen hat,
das ist die Sünderglocke
zu Breslau in der Stadt.
73
5. Im Magdalenenturme,
da hängt das Meisterstück,
rief schon manch starres Herze
zu seinem Gott zurück.
6. Wie hat der gute Meister
so treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände
gerührt bei Tag und Nacht!
7. Und als die Stunde kommen,
daß alles fertig war,
die Form ist eingemauert,
die Speise gut und gar:
8. da ruft er seinen Buben
zur Feuerwacht herein:
„Ich lass' auf kurze Weile
beim Kessel dich allein.
9. Will mich mit einem Trünke
noch stärken zu dem Guß;
das giebt der zähen Speise
erst einen vollen Fluß!
10. Doch hüte dich und rühre
den Hahn mir nimmer an;
sonst wär' es um dein Leben,
Fürwitziger, gethan!"
11. Der Bube steht am Kessel,
schaut in die Glut hinein;
das wogt und wallt und wirbelt
und will entfesselt sein —
12. und zischt ihm in die Ohren
und zuckt ihm durch den Sinn
und zieht an allen Fingern
ihn nach dem Hahne hin.
13. Er fühlt ihn in den Händen,
er hat ihn umgedreht! —
Da wird ihm angst und bange,
er weiß nicht, was er thät —
14. und läuft hinaus zum Meister,
die Schuld ihm zu gestehn,
will seine Knie umfassen
und ihn um Gnade flehn.
15. Doch wie der nur vernommen
des Knaben erstes Wort,
da reißt die kluge Rechte
der jähe Zorn ihm fort.
16. Er stößt sein scharfes Messer
dem Buben in die Brust,
dann stürzt er nach dem Kessel,
sein selber nicht bewußt.
17. Vielleicht, daß er noch retten,
den Strom noch hemmen kann; —
doch sieh, der Guß ist fertig,
es fehlt kein Tropfen dran.
18. Da eilt er abzuräumen
und sieht, und will's nicht sehn,
ganz ohne Fleck und Makel
die Glocke vor sich stehn.
19. Der Knabe liegt am Boden,
er schaut sein Werk nicht mehr.
Ach, Meister, wilder Meister,
du stießest gar zu sehr!
20. Er stellt sich dem Gerichte,
er klagt sich selber an.
Es thut den Richtern wehe
wohl um den wackern Mann.
21. Doch kann ihn keiner retten,
und Blut will wieder Blut.
Er hört sein Todesurtel
mit ungebeugtem Mut.
22. Und als der Tag gekommen,
da man ihn führt hinaus,
da wird ihm angeboten
der letzte Gnadenschmaus.
74
2 3.„Jchdank'euch,"spricht derMeister,
„ihr Herren lieb und wert;
doch eine andre Gnade
mein Herz von euch begehrt:
24. Laßt mich nur einmal hören
der neuen Glocke Klang!
Ich hab' sie ja bereitet,
möcht' wissen, ob's gelang."
25. Die Bitte ward gewähret,
sie schien den Herrn gering;
die Glocke ward geläutet,
als er zum Tode ging.
26. Der Meister hört sie klingen
so voll, so hell, so rein!
Die Augen gehn ihm über,
es muß vor Freude sein.
27. Und seine Blicke leuchten,
als wären sie verklärt;
er hat in ihrem Klange
wohl mehr als Klang gehört.
28. Hat auch geneigt den Nacken
zum Streich voll Zuversicht;
und was der Tod versprochen,
das bricht das Leben nicht.
29. Das ist der Glocken Krone,
die er gegossen hat,
die Magdalenenglocke
zu Breslau in der Stadt.
30. Die ward zur Sünderglocke
seit jenem Tag geweiht. —
Weiß nicht, ob's anders worden
in dieser neuen Zeit, f
Wilhelm Müller.
41. Die Lonne bringt es an den Tag.
1. Gemächlich in der Werkstatt saß
zum Frühtrunk Meister Nikolas;
die junge Hausfrau schenkt' ihm ein,
es war im heitern Sonnenschein. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
2. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
malt zitternde Kringeln an die Wand;
und wie den Schein er ins Auge faßt,
so spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag."
3. „Wer nicht? was nicht?" die Frau fragt gleich,
„was stierst du so an? Was wirst du so bleich?"
Und er darauf: „Sei still, nur still;
ich's doch nicht sagen kann noch will.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag."
75
4. Die Frau nur dringender forscht und fragt,
mit Schmeicheln ihn und Hadern Plagt,
mit süßem und mit bitterm Wort,
sie fragt und plagt ihn fort und fort:
„Was bringt die Sonne nicht an den Tag?"
5. „Nein, nimmermehr!" — „Du sagst es mir noch." —
„Ich sag' es nicht!" — „Du sagst es mir doch!" —
Da ward zuletzt er müd und schwach
und gab der Ungestümen nach. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
6. „Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr,
da traf es mich einst gar sonderbar;
ich hatt' nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh,
war hungrig und durstig und zornig dazu."
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
7. „Da kam mir just ein Jud' in die Quer,
ringsher war's still und menschenleer:
Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not,
den Beutel her, sonst schlag' ich dich tot!"
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
8. „Und er: Vergieße nicht mein Blut,
acht Pfennige sind mein ganzes Gut!
Ich glaubt' ihm nicht und fiel ihn an;
er war ein alter, schwacher Mann."
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
9. „So rücklings lag er blutend da,
sein brechendes Aug' in die Sonne sah;
noch hob er zuckend die Hand empor,
noch schrie er röchelnd mir ins Ohr:
Die Sonne bringt es an den Tag!"
10. „Ich macht' ihn schnell noch vollends stumm
und kehrt' ihm die Taschen um und um;
acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld.
Ich scharrt' ihn ein auf selbigem Feld."
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
11. „Dann zog ich weit und weiter hinaus,
kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus.
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
so halte den Mund und sei gescheit!"
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
12. „Wann aber sie so flimmernd scheint,
ich merk' es wohl, was sie da meint,
wie sie sich müht und sich erbost;
du, schau nicht hin und sei getrost:
sie bringt es doch nicht an den Tag!"
13. So hat die Sonn' eine Zunge nun,
der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. —
„Gevatterin, um Jesus Christ,
laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt!" —
Nun bringt's die Sonne an den Tag.
14. Die Raben ziehen krächzend zumal
nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund'?
Was hat er gethan? Wie ward es kund?
Die Sonne bracht' es an den Tag.
Adalbert v. Lhamiffo.
42. Die drei Hausräte.
„Möcht' nur wissen, wie Jhr's anfangt, Nachbar, daß Euer Haus-
wesen so wohl bestellt ist, und man sieht doch nichts Besonderes an
Euch und an dem, was bei Euch vorgeht? Wir andern arbeiten doch
auch und lassen's uns sauer werden, wenn's an den Mann geht, und
doch will's nicht flecken." Der Nachbar antwortete: „Da wußt' ich
nicht, was schuld daran sein sollte, es müßten denn gerade meine drei
Hausräte sein, denen ich alles zu verdanken habe!" „Eure drei
Hausräte? Wer sind denn die?" „Nun — der Haushahn, die
Hauskatze und der Haushund." — „Geht mir, Ihr spaßet!" — „Nein,
nein, 's ist purer Ernst. In aller Frühe, wenn der Tag anbricht, kommt
der Haushahn und ruft: „Aufgestanden!" Danach kommt die Haus-
katz', sitzt unter dem Ofen und putzt sich, die ruft: „Aufgeputzt!"
77
Und endlich der Haushund, der merkt auf jedermanns Ein- und Aus-
gang, kennt Freund und Feind und ruft: „Aufgepaßt!" „Aha! Ich
verstehe, Nachbar, was Ihr damit sagen wollt! Ihr meinet, daß drei
Dinge notwendig sind, um ein Hauswesen emporzubringen und in
gutem Stand zu halten: Fleiß, Reinlichkeit und Achtsamkeit!" —
„Wenn Jhr's so nehmen wollt, ist mir's auch recht! aber meine Haus-
räte lob' ich drum, weil sie mich alle Tage gemahnen, was zu thun
ist, ich könnt's sonst leicht vergessen!" «an heisch Laspan.
43. Das Hufeisen.
Als noch verkannt und sehr gering
unser Herr auf der Erde ging,
und viele Jünger sich zu ihm fanden,
- die sehr selten sein Wort verstanden,
liebt' er sich gar über die Maßen, (5)
seinen Hof zu halten aus der Straßen,
weil unter des Himmels Angesicht
^ man immer besser und freier spricht. '
Er ließ sie da die höchsten Lehren
aus seinem heiligen Munde hören; (10)
besonders durch Gleichnis und Exempel
macht' er einen jeden Markt zum Tempel.
I So schlendert' er in Geistes Ruh
mit ihnen einst einem Städtchen zu,
sah etwas blinken aus der Straß', (15)
das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!"
Sankt Peter war nicht aufgeräumt;
er hatte soeben im Gehen geträumt (20)
so was vom Regiment der Welt,
was einem jeden wohlgefällt;
denn im Kopf hat das keine Schranken;
das waren so seine liebsten Gedanken.!
Nun war der Fund ihm viel zu klein, (25)
hätte müssen Krön' und Zepter sein;
* aber wie sollt' er seinen Rücken
78
nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
und thut, als hätt' er's nicht gehört. (30)
Der Herr nach seiner Langmut drauf
hebt selber das Hufeisen auf
und thut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
geht er vor eines Schmiedes Thür, (35)
nimmt von den: Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
kauft ihrer so wenig oder so viel,
als man für einen Dreier geben will, (40)
die er sodann nach seiner Art
ruhig im Ärmel aufbewahrt. I
s Nun ging's zum andern Thor hinaus
durch Wies' und Felder ohne Haus,
auch war der Weg von Bäumen bloß; (45)
die Sonne schien, die Hitz' war groß,
so daß man viel an solcher Stätt'
für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
läßt unversehens eine Kirsche fallen.! (50)
Sankt Peter war gleich dahinter her,
als wenn es ein goldner Apfel wär';
das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr, nach einem kleinen Raum,
ein ander Kirschlein zur Erde schickt, (55)
wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit: (60)
„Thät'st du zur rechten Zeit dich regen,
hätt'st du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Dinge wenig acht't,
sich um geringere Mühe macht."
Johann wolfgang
>. Goethe.
79
44. Parabel.
1. Im Feld der König Salomon
schlägt unterm Himmel auf den Thron;
da sieht er einen Sämann schreiten,
der Körner wirft nach allen Seiten.
2. „Was machst du da?" der König spricht;
„der Boden hier trägt Ernte nicht.
Laß ab vom thörichten Beginnen;
du wirst die Aussaat nicht gewinnen."
3. Der Sämann, seinen Arm gesenkt,
unschlüssig steht er still und denkt;
dann fährt er fort, ihn rüstig hebend,
dem weisen König Antwort gebend:
4. „Ich habe nichts als dieses Feld,
geackert hab' ich's und bestellt;
was soll ich weitere Rechnung pflegen?
Das Korn von mir, von Gott der Segen."
Friedrich Rückert.
45. Zeus und das Pferd.
„Vater der Tiere und Menschen,“ so sprach das Pferd und
nahte sich dem Throne des Zeus, „man sagt, ich sei eins der
schönsten Geschöpfe, womit du die Welt geziert, und meine
Eigenliebe heisst mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht
noch Verschiedenes an mir zu bessern sein?“ — „Und was
meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede! ich nehme
Lehre an,“ sprach der gute Gott und lächelte. — „Vielleicht,“
sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn meine
Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals
würde mich nicht entstellen; eine breitere Brust würde meine
Stärke vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast,
deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl
der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohlthätige Reiter auf-
legt.“ — „Gut,“ versetzte Zeus; „gedulde dich einen Augenblick!“
Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung.
Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisierter
Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne — das hässliche Kamel.
Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.
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„Hier sind höhere und schmächtigere Beine,“ sprach Zeus; „hier
ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist
der anerschaffene Sattel. Willst du, Pferd, dass ich dich so umbilden
soll?“ Das Pferd zitterte noch. „Geh!“ fuhr Zeus fort; „dieses
Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermes-
senheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort,
neues Geschöpf!“ — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das
Kamel — „und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern!“
Gotthold Ephraim Lessing.
46. Der Esel mit dem Löwen.
Als der Esel mit dem Löwen, der ihn statt seines Jägerhornes
brauchte, nach dem Walde ging, begegnete ihm ein anderer Esel von
seiner Bekanntschaft und rief ihm zu: „Guten Tag, mein Bruder!"
„Unverschämter!" war die Antwort. „Und warum das?" fuhr jener
Esel fort, „bist du deswegen, weil du mit einem Löwen gehst, besser als
ich, Mehr als eiN Esel?" «otthold «ptiraim Ceffing.
47. Der Rabe und der Fuchs.
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte
Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen
Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich
ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: „Sei mir gesegnet, Vogel des
Jupiter!" — „Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe. — „Für
wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. „Bist du nicht der rüstige
Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche herab
kommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe
ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein
Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"
Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler ge-
halten zu werden. Ich muß, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrtume
nicht bringen. — Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub
herabfallen und stog stolz davon.
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit bos-
hafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerz-
haftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte
Schmeichler! Gotthold Ephraim Lessing.
81
48. Der Hänfling.
1. Ein Hänfling, den der erste Flug
aus seiner Eltern Neste trug,
hub an, die Wälder zu beschauen,
und kriegte Lust sich anzubauen;
ein edler Trieb, denn eigner Herd
ist, sagt das Sprichwort, Goldes wert.
2. Die stolze Glut der jungen Brust
macht' ihm zu einem Eichbaum Lust.
Hier wohn' ich, sprach er, wie ein König,
dergleichen Nester giebt es wenig.
Kaum stand das Nest, so ward's verheert
und durch den Donnerstrahl verzehrt.
3. Es war ein Glück bei der Gefahr,
daß unser Hänfling auswärts war;
er kam, nachdem es ausgewittert,
und fand die Eiche halb zersplittert.
Da sah er mit Bestürzung ein,
er könne hier nicht sicher sein.
4. Mit umgekehrtem Eigensinn
begab er sich zur Erde hin
und baut' in niedriges Gesträuche,
so scheu macht' ihn der Fall der Eiche.
Doch Staub und Würmer zwangen ihn,
zum andernmal davon zu ziehn.
5. Da baut' er sich das dritte Haus
und las ein dunkles Büschchen aus,
wo er den Wolken nicht so nahe,
doch nicht die Erde vor sich sahe,
ein Ort, der in der Ruhe liegt;
da lebt er noch und lebt vergnügt.
Magnus Gottfried tichtwer.
Kippenberg, A 5 (R. A.).
6
— 82 —
49. Der Löwe und der Fuchs.
„Herr Löwe," sprach der Fuchs, „ich muß
dir's nur gestehen, mein Verdruß
hat sonst kein Ende:
Der Esel spricht von dir nicht gut;
er sagt, was ich an dir zu loben fände,
das wisst er nicht; dein Heldenmut
sei zweifelhaft, du gäbst ihm keine Proben
von Großmut und Gerechtigkeit,
du Würgetest die Unschuld, suchtest Streit;
er könne dich nicht loben."
Ein Weilchen schwieg der Löwe still;
dann sprach er: „Fuchs, er spreche, was er will;
denn was von mir ein Esel spricht,
das acht' ich nicht!" Ludwig wiiheim Gleim.
50. Der Tanzbär.
Ein Bär, der lange Zeit sein Brot ertanzen müssen,
entrann und wählte sich den ersten Aufenthalt.
Die Bären grüssten ihn mit brüderlichen Küssen
und brummten freudig durch den Wald.
Und wo ein Bär den andern sah, (5)
so hiess es: Petz ist wieder da!
Der Bär erzählte drauf, was er in fremden Landen
für Abenteuer ausgestanden,
was er gesehn, gehört, gethan,
und fing, da er vom Tanzen red’te, (10)
als ging er noch an seiner Kette,
auf polnisch schön zu tanzen an.
Die Brüder, die ihn tanzen sahn,
bewunderten die Wendung seiner Glieder,
und gleich versuchten es die Brüder; (15)
allein anstatt wie er zu gehn,
so konnten sie kaum aufrecht stehn,
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und mancher fiel die Länge lang darnieder.
Um desto mehr liess sich der Tänzer sehn;
doch seine Kunst verdross den ganzen Haufen. (20)
Fort, schrieen alle, fort mit dir!
Du Narr, willst klüger sein als wir?
Man zwang den Petz, davon zu laufen.
Christian Fürchtegott Geliert.
51. Vom Kranich und Wolf.
Da der Wolf einstmals ein Schaf geiziglich fraß, blieb ihm ein
Bein im Halse überzwerch stecken, davon er große Not und Angst
hatte, und erbot sich, groß Lohn und Geschenk zu geben, wer ihm
hülfe. Da kam der Kranich und stieß seinen langen Kragen dem
Wolf in den Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber das
verheißene Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch Lohn
haben? Danke du Gott, daß ich dir den Hals nicht abgebissen habe;
du solltest mir schenken, daß du lebendig aus meinem Rachen ge-
kommen bist."
Diese Fabel zeigt an:
Wer den Leuten in der Welt will wohlthun, der muß sich er-
wägen, Undank zu verdienen. Die Welt lohnt nicht anders denn mit
Undank, wie man spricht. Wer einen vom Galgen erlöset, dem Hilst
derselbige gern dran. mamn Luther.
52. Vom Frosch und -er Maus.
Eine Maus wäre gern über ein Wasser gewesen und konnte nicht
und bat einen Frosch um Rat und Hülfe. Der Frosch war ein
Schalk und sprach zur Maus: „Binde deinen Fuß an meinen Fuß,
so will ich schwimmen und dich hinüberziehen." Als sie aber aufs
Wasser kamen, tauchte der Frosch hinunter und wollte die Maus er-
tränken. Indem aber die Maus sich wehrt und arbeitet, fliegt ein
Weihe daher und erhascht die Maus, zieht den Frosch auch mit
heraus und frißt sie beide.
Lehre: Sieh dich vor, mit wem du handelst, die Welt ist falsch
und voll Untreu; denn welcher Freund den andern vermag, der steckt
ihn in den Sack. Doch schlägt Untreu allzeit ihren eigenen Herrn,
wie dem Frosch hie geschieht. Martin Luther.
6*
84
53. Fabel von den zwei Mäusen.
Eine Hausmaus, die ging über Feld,
hatte doch weder Zehrung noch Geld;
da begegnet' ihr eine Feldmaus,
dieselbige bat sie zu Haus,
die Nachtherberge bei ihr zu han. (5)
Das nahm die Hausmaus willig an,
ging mit ihr in eine Hecke 'nein,
da schlüpften sie in ein Löchlein.
Die Feldmaus gar freundlicher Weis'
setzt ihr vor ihre geringe Speis', (10)
als Eicheln, Haselnuß und Korn.
Als sie nun gesättigt waren,
schliefen sie in sanfter Ruh;
aber des andern Tages früh
nahm Urlaub mit manchem Dankeswort (15)
die Hausmaus und zog ihre Straße fort.
Als sie nun ihre Sache gerichtet aus
und wollte wiederum heim nach Haus,
kehrt' sie auch bei der Feldmaus ein
und sagte: „Liebe Schwester mein, (20)
du hast deine Armut mit mir geteilt,
komm mit mir heim, wo ich geweilt,
da will ich dir gut thun und Herberg' geben,
daß du sollst fröhlich und wohl leben."
Da ging mit ihr heim die Feldmaus (25)
in ein schön köstliches Steinhaus;
in die Speiskammer schlüpften sie frei,
darin sie fanden mancherlei
der guten Speise von Fleisch und Fisch,
was man aufhob von des Herren Tisch, (30)
Konfekt, Rosinen, Mandel und Feigen,
das thät sie alles der Feldmaus zeigen
und sprach: „Hier magst du trinken und essen
und deiner Armut gar vergessen."
Die Feldmaus aß, war wohlgemut (35)
und sprach: „Wie hast du es so gut!
Solch Leben dir wohl behagen soll."
Sie sprach: „Täglich leb' ich so wohl,
doch du mußt mit mühseligen Dingen
deine kärgliche Nahrung zuwege bringen; (40)
willst du, so magst du bei mir bleiben,
die Zeit dir in diesem Haus vertreiben
und so wohl leben für und für."
Da plötzlich rüttelte an der Thür
der Kellner, sperrt' auf und ging hinein. (45)
Die Mäuse erschraken, doch schnell schlüpft' ein
die Hausmaus unten in der Wand
in ein Löchlein, ihr wohlbekannt;
die Feldmaus, in Gefahr gar sehr,
lief an den Wänden hin und her, (50)
wußt' nicht wo ein und nicht wo aus,
weil sie war unbekannt im Haus,
und war in Todesängsten dort.
Doch als der Kellner nun ging fort,
da kam die Hausmaus, sprach: „Sei froh, (55)
wie stellst du traurig dich also?
Du hast ja guter Speis' genug."
Da antwort't ihr die Feldmaus klug:
„O nein, laß mir die Armut mein
und behalte du den Reichtum dein, (60)
darin du Abend mußt und Morgen
viel Angst und viel Gefahr besorgen.
Ich seh', dir sind all Augenblick
deinem Leben gestellt tödliche Strick
von Katzen und von Mausefallen (65)
und dergleichen von Menschen allen,
und wer dich nur umbringen kann,
der meint, er hat gut Werk gethan;
gram und feind ist dir jedermann,
drum eile ich, so schnell ich kann, (70)
hinaus auf meinen Acker öd'.
Ist gleich meine Nahrung gering und spröd',
so hab' ich aber doch daneben
ein fröhlich, frei und sicher Leben,
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da hab' ich gute Ruh und Gemach, (75)
niemand mir feindlich stellet nach;
da will ich wieder eilen hinaus,"
und nahm Abschied von der Stadtmaus
und lief aus der Gefährlichkeit
wieder heim in ihre Sicherheit. (80)
54. Das grüne Tier und der Naturkenner.
1. Die Thadener zu Hanerau find ausgewitzte Leute:
wär' noch kein Pulver in der Welt, erfänden sie es heute!
Allein, allein
so wird es immer fein:
Was man zum erstenmal erficht,
kennt selber auch der Klügste nicht!
Und — wie einmal die Thadener mähn,
sie einen grünen Frosch ersehn,
so grüne, so grüne!
2. So grüne war der liebe Frosch und blähte mit dem Kropfe:
den Thadnern fiel vor Schreck dabei die Mütze von dem Kopfe.
Mit Beinen vier
ein grünes, grünes Tier!
Das war für sie zu wunderlich,
zu neu und zu absunderlich!
Da mußte gleich der Schultheiß her,
sollt' sagen, welch ein Tier das wär',
das grüne, das grüne!
3. Das grüne Tier der Schultheiß sah, als einen Hupf es machte.
Die Thadner wollten schon davon; da sprach der Alte: „Sachte!
Lauft nicht davon,
es sitzt und ruhet schon;
seid still! und ich erklär' es bald:
Das Tier kommt aus dem grünen Wald;
der grüne Wald ist selber grün,
davon ist auch das Tier so grün,
so grüne, so grüne!
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4. So grüne; denn es lebt darin von eitel grünem Laube:
und wenn es nicht ein Hirschbock ist, ist's eine Turteltaube!"
Da hub der Haus
den Schulz mit Schultern auf,
sie riefen: „Das ist unser Mann,
der jeglich Ding erklären kann:
Er kennt und nennt es keck und kühn,
kein' Kreatur ist ihm zu grün,
zu grüne, zu grüne!" August «op«*.
55. Sprüche.
1. Trost, daß Glück und Unglück wechselt,
daß es über alle fährt.
Freund, wer diesen Spruch gedrechselt,
nie war der des Trostes wert.
Nein, es muß in fester Seele
fest der Spruch des Guten stehn:
Gutes wolle, Gutes wähle,
und es wird dir wohl ergehn. Ernst morih Arndt.
2. Wolle Gutes, bedürfe wenig,
und du bist des Lebens König.
Glaube mir, das Leben sieht dich drauf an,
verneiget sich und ruft: ein Mann! Ernst morih Arndt.
3. Nie kampflos wird dir ganz
das Schöne im Leben geglückt sein;
selbst Diamantenglanz
will seiner Hülle entrückt sein,
und windest du einen Kranz,
jede Blume dazu will gepflückt sein. Friedrich Badenstedt.
4. Wem wohl das Glück die schönste Palme beut?
Wer freudig thut, sich des Gethanen freut. woifgang v. soeibe.
3. Es ließe sich alles trefflich schlichten,
könnte man die Sachen zweimal verrichten. woifgang ». Goethe.
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6. Streue nur getrost die Saat!
Auch in Frost und Winterschauern
wird sie wachsen, wird sie dauern,
bis der Welt der Frühling naht.
7. Was du Irdisches willst beginnen, heb zuvor
deine Seele im Gebet zu Gott empor.
Einen Prüfstein wirst du finden im Gebet,
ob dein Jrd'sches vor dem Göttlichen besteht.
8. Nicht der ist auf der Welt verwaist,
dessen Vater und Mutter gestorben,
sondern der für Herz und Geist
keine Lieb' und kein Wissen erworben.
9. Prahl nicht heute: Morgen will
dieses oder das ich thun.
Schweige doch bis morgen still,
sage dann: Das that ich nun!
Julius kohme^er.
Friedrich Rückert.
Friedrich Rückert.
Friedrich Rückert.
10. Es weichen Sonn' und Mond einander freundlich aus,
selbst ihnen wäre sonst zu eng ihr weites Haus. Friedrich Rückert.
11. Ist das Leben so lang, daß gute Menschen einander
dürfen durch Irrung und Zwist schmälern die Stunden des Glücks?
Heinrich Viehoff.
12. Halte die Zeit zu Rat, wofern das Leben dir lieb ist,
ist das Leben doch nur jedem gesponnen aus Zeit. Heinrich viehoff.
II. Sage und verwandte Dichtung.
56. Prometheus.
Himmel und Erde waren geschaffen: das Meer wogte in
seinen Ufern, und die Fische spielten darin; in den Lüften
sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren.
Aber noch fehlte es an dem Geschöpfe, dessen Leib so be-
schaffen war, dass der Geist in ihm Wohnung machen und von
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ihm aus die Erdenwelt beherrschen konnte. Da betrat Prome-
theus die Erde, ein Sprössling des alten Göttergeschlechtes, das
Zeus entthront hatte; er nahm vom Thone, befeuchtete ihn
mit Wasser und formte daraus ein Gebilde nach dem Ebenbilde
der Götter. Athene, die Göttin der Weisheit, bewunderte die
Schöpfung des Titanensohnes und blies dem Bilde den Geist,
den göttlichen Atem, ein.
So entstanden die ersten Menschen und füllten bald ver-
vielfältigt die Erde. Lange aber wussten sie nicht, wie sie sich
ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen
sollten. Da nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an: er
lehrte sie den Auf- und Niedergang der Gestirne beobachten,
erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift; er
lehrte sie Tiere ans Joch spannen, gewöhnte die Bosse an Zügel
und Wagen, erfand Nachen und Segel für die Schiffahrt. Er
zeigte ihnen die Mischung milder Heilmittel wider allerlei
Krankheiten und führte ihren Blick unter die Erde und liess
sie hier das Erz, das Eisen, das Silber und das Gold entdecken.
Kurz in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens leitete
er sie ein.
Jetzt wurden die Götter aufmerksam auf das eben entstan-
dene Menschenvolk. Sie verlangten Verehrung von ihm für den
Schutz, welchen sie demselben angedeihen zu lassen bereitwillig
waren. Prometheus aber fürchtete, dass den Sterblichen allzu
grosse Lasten von den Göttern auferlegt wurden, und suchte sie
davor zu schützen. Darüber ergrimmte Zeus und versagte den
Sterblichen die letzte Gabe, deren sie zur vollendeteren Gesittung
bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wusste der schlaue
Titanensohn Bat. Er nahm den langen Stengel des markigen
Biesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahrenden
Sonnenwagen und setzte so den Stengel in glostenden Brand.
Mit diesem Feuerzünder kam er hernieder auf die Erde, und
bald loderte der erste Holzstoss gen Himmel. In innerster
Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhinleuchtenden
Glanz des Feuers unter den Menschen emporsteigen sah. Sofort
formte er, da er ihnen das Feuer nicht nehmen konnte, ein
neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuer-
gott Hephästos musste ihm das Scheinbild einer schönen Jung-
frau fertigen; Athene, die, auf Prometheus eifersüchtig, ihm ab-
hold geworden war, warf dem Bilde ein weifses, schimmerndes
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Gewand über, liess ihr einen Schleier über das Gesicht wallen,
bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es
mit einer herrlich verzierten goldenen Binde. Hermes musste
dem holden Gebilde Sprache verleihen und Aphrodite allen
Liebreiz. Zeus nannte sie Pandora, die Allbeschenkte, denn
jeder der Unsterblichen hatte dem Mägdlein irgend ein unheil-
bringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf
führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, und sie schritt
zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm
das Geschenk zu bringen. Epimetheus, der Warnung des Bru-
ders uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf
und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten
die Geschlechter der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei
vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit.
Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein grosses
Gefäss, mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus
angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog
dem Gefässe eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit
Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zu unterst
in dem Gefässe verborgen, die Hoffnung; aber auf den Bat
des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe
sie herausflattern konnte, und verschloss so die Hoffnung für
immer in dem Gefässe. Das Elend erfüllte inzwischen in
allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten
bei Tag und Nacht unter den Menschen umher, heimlich
und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben;
eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod,
früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte
seinen Schritt.
Darauf wandte sich Zeus mit seiner Bache gegen Prome-
theus. Er übergab den Verbrecher dem Hephästus und seinen
Dienern, und diese mussten ihn in die scythischen Einöden
schleppen und hier über einem schauderhaften Abgrunde mit
unauflöslichen Ketten an eine Felswand schmieden. Täglich
sandte Zeus einen Adler, der an seiner Leber zehren durfte,
die sich immer wieder erneuerte. Obwohl laut aufseufzend und
Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die Allmutter Erde
und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein auf-
rufend, blieb Prometheus doch ungebeugten Sinnes. „Was das
Schicksal beschlossen hat,“ sprach er, „muss derjenige tragen,
Herakles war ein Sohn des Zeus und der Alkmene, Königin
in Theben. Schon als er noch in dem Schilde gewiegt wurde, zeigte
er seine göttergleiche Kraft. Hera nämlich, die Gemahlin des Zeus,
war der Alkmene feind und suchte ihren Sohn Herakles zu verderben.
Sie sandte deshalb, als der Knabe schlief, zwei giftige Schlangen aus,
die durch die offenen Pforten in Alkmenes Schlafgemach schlichen, ohne
daß die Dienerinnen und die schlafende Mutter sie gewahrten. Schon
ringelten sie sich an dem Knaben empor und fingen an, seinen Hals
zu umstricken. Da erwachte der Knabe mit einem Schrei, richtete sich
empor, ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erwürgte
die beiden mit einem einzigen Druck. Die erschrockenen Wärterinnen
wagten sich nicht heran; Alkmene aber war erwacht und stürzte Hülfe
rufend zu ihrem Kinde. Sie fand die entsetzlichen Schlangen schon
erwürgt. Als der König Amphitryon herbeikam und sah, was ge-
schehen war, erstaunte er und rief den großen Seher Tiresias herbei.
Dieser weissagte ihnen, Herakles werde in seinem Leben noch viele
große Heldenthaten vollbringen und am Schlüsse seiner mühevollen
Erdenlaufbahn zu den ewigen Göttern erhoben werden.
Amphitryon ließ nun Herakles aufs sorgfältigste erziehen; in
allen Künsten und Leibesübungen wurde er unterwiesen, und bald
that er es allen Jünglingen seines Alters zuvor. Er wurde groß
und stark und war als Sohn des Zeus furchtbar anzusehen; Feuer-
glanz entströmte seinen Augen. Als er achtzehn Jahre alt geworden,
war er der schönste und stärkste Mann Griechenlands, und es sollte
sich jetzt entscheiden, ob er diese Kraft zum Guten oder zum Schlimmen
anwenden werde.
Um diese Zeit begab sich Herakles allein in eine einsame Gegend
und überlegte bei sich, welche Lebensbahn er einschlagen sollte. Als
er so sinnend dasaß, sah er auf einmal zwei Frauen von hoher Ge-
stalt auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Wesen An-
stand und Adel, ihr Blick war bescheiden, einfach und fleckenlos weiß
ihr Gewand. Die andere erschien keck und trug buntfarbige, reichge-
92
schmückte Gewänder. Während die erste ruhig ihren Weg wandelte,
eilte die zweite auf den Jüngling zu und redete ihn an: „Herakles,
ich sehe, daß du unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du
einschlagen sollst. Willst du mich zur Freundin wählen, so werde
ich dich die angenehmste und gemächlichste Straße führen. Keine
Freude soll dir versagt sein, und jede Unannehmlichkeit sollst du
meiden. Um Kriege und Geschäfte hast du dich nicht zu bekümmern,
sondern du darfst nur darauf bedacht fein, mit den köstlichsten Speisen
und Getränken dich zu laben und alle Genüsse des Lebens dir ohne
Mühe und Arbeit zu verschaffen. Du wirst die Früchte fremden
Fleißes genießen und brauchst dir nichts zu versagen, was dir gefällt.
Meinen Freunden gebe ich das alles."
Als Herakles diese lockenden Anerbietungen hörte, sprach er ver-
wundert: „O Weib, wie ist denn aber dein Name?" — „Meine
Freunde," antwortete sie, „nennen mich die Glückseligkeit; meine Feinde
hingegen, welche mich herabsetzen wollen, heißen mich das Laster."
Mittlerweile war auch die andere Frau hinzugetreten. „Auch
ich," sagte sie, „komme zu dir, Herakles, denn ich kenne deine Eltern,
deine Anlagen und deine Erziehung. Dies' alles giebt mir die Hoff-
nung, daß du ein Meister in allem Guten und Großen werdest, wenn
du meine Bahn einschlagen willst. Wisse aber, daß die Götter den
Menschen nichts, was gut und wünschenswert ist, ohne Mühe und
Arbeit gewähren. Wünschest du, daß die Götter dir gnädig sind, daß
deine Freunde dich lieben, und daß ganz Griechenland dich ehrt und
bewundert, so mußt du Edles und Großes vollbringen und durch
Arbeit und Mäßigkeit dich dazu tüchtig machen." „Du siehst," fiel
ihr das Laster in die Rede, „was für einen langen und mühseligen
Weg zur Zufriedenheit dich dieses Weib führt. ■ Ich dagegen werde
dich auf dem kürzesten und bequemsten Pfade zur Glückseligkeit leiten."
„Elende," erwiderte die Tugend, „wie kannst du etwas Gutes be-
sitzen? Folgt nicht deinen Genüssen stets Überdruß und Reue? Ver-
magst du den Menschen ein zufriedenes, glückseliges Alter zu gewähren?
— Das größte Glück, die Freude am eignen guten Werke, erfahren
diejenigen niemals, welche deine Freunde sind. — Wer aber mir folgt,
der hat Verkehr mit allen guten Menschen. Ihm schmeckt Speise und
Trank; glücklich ist er bei seinem Thun, und mit Freude erinnert
er sich seiner früheren Handlungen. Geliebt von den Göttern und von
den Freunden, geachtet vom Vaterlande, geht er durchs Leben, und
sein Andenken bleibt gesegnet bei der Nachwelt. — Zu solchem Leben,
Herakles, entschließe dich, und vor dir liegt das seligste Los."
Die Gestalten verschwanden, und Herakles war wieder allein.
Er sann nach über die Erscheinung und faßte den festen Entschluß,
den Weg der Tugend zu gehen. Viele ruhmvolle Thaten vollbrachte
er in seinem Leben, und sein Andenken bleibt unsterblich im Wechsel
der Jahrhunderte. Nach Gustav Schwab.
58. Niobe.
Niobe, die Königin von Theben, war sehr stolz. In der That
hatte das Geschick sie mit den reichsten Gaben überhäuft. Amphion,
ihr Gemahl, hatte von den Musen die herrliche Leier erhalten, nach
deren Spiel sich die Steine der thebischen Stadtmauern von selbst zu-
sammensetzten; ihr Vater war Tantalus, der Gast der Götter; sie war
die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und voll Hoheit des Geistes
und von majestätischer Schönheit. Nichts aber von alle diesem
schmeichelte ihr so sehr als die stattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden
Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren.
Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichste, und sie wäre
es gewesen, wenn sie sich nur selbst nicht dafür gehalten hätte; so
aber wurde das Bewußtsein ihres Glückes ihr Verderben.
Einst rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahrsagers
Tiresias, von göttlicher Regung angetrieben, mitten in den Straßen
die Frauen Thebens zur Verehrung der Leto und ihrer Zwillings-
kinder, Apolls und der Artemis, auf, hieß sie die Haare mit Lorbeer
bekränzen und frommes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als
nun die Thebanerinnen zusammenströmten, kam auf einmal Niobe im
Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Ge-
wände angethan, prunkend einhergeranscht. Sie strahlte von Schönheit.
Stolzen Schrittes trat sie in die Mitte der unter freiem Himmel mit
dem Opfer beschäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem
Kreise der Versammelten ruhen und rief: „Wenn ihr der Leto Altäre
errichtet, warum bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Ist
doch mein Vater Tantalus der einzige Sterbliche, der am Tische der
Himmlischen gesessen hat, meine Mutter Dione die Schwester der
Plejaden, die als leuchtendes Gestirn am Himmel glänzen; einer meiner
Ahnen ist Atlas, der Gewaltige, der das Gewölbe des Himmels auf
dem Nacken trägt; mein Vatersvater ist Zeus, der Vater der Götter.
Mir und meinem Gatten ist die Stadt des Kadmus, sind die Mauern
Unterthan,, die sich dem Saitenspiel gefügt haben; jeder Teil meines
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Palastes zeigt mir unermeßliche Schätze; dazu kommt eine Kinderschar,
wie keine Mutter sie aufweisen kann: sieben blühende Töchter, sieben
starke Söhne. Fragt nun, ob ich auch Grund habe, stolz zu sein;
wagt es noch ferner, Leto, die unbekannte Titanentochter, mir vorzu-
ziehen! Sie ist nur Mutter zweier Kinder, die Armselige. Das ist
der siebente Teil meiner Mutterfreude! Darum fort mit den Opfern!
Zerstreuet euch in eure Häuser und laßt euch nicht wieder über so
thörichtem Beginnen treffen!"
Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen
die Opfer unvollendet und schlichen nach Hause, mit stillen Gebeten die
gekränkte Gottheit verehrend.
Aus dem Gipfel des delischen Berges Cynthus stand mit ihren
Zwillingen Leto und schaute mit ihrem Götterauge, was in dem fernen
Theben vorging. „Seht, Kinder, ich, eure Mutter, die auf euch so
stolz ist, die keiner Göttin außer Hera weicht, werde von einer frechen
Sterblichen geschmäht; ich werde von den alten heiligen Altären hin-
weggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder! Ja, auch ihr
werdet von Niobe beschimpft!" Leto wollte zu ihrer Erzählung noch
Bitten hinzufügen, aber Apollo unterbrach sie und sprach: „Laß die
Klage, Mutter, sie hält die Strafe nur auf!" Ihm stimmte seine
Schwester bei; beide hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem
raschen Schwünge durch die Lüfte hatten sie die Stadt und die Burg
des Kadmus erreicht. Hier breitete sich vor den Mauern ein ge-
räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat bestimmt, sondern
den Wettläufen und Übungen zu Roß und zu Wagen gewidmet war.
Da belustigten sich eben die sieben Söhne Amphions; die einen be-
stiegen mutige Rosse, die anderen erfreuten sich des Ringspieles. Der
älteste, Jsmenus, trieb eben sein Tier im Vierteltrabe sicher im Kreise
um, als er plötzlich: „Wehe mir!" ausrief, den Zaum aus den er-
schlaffenden Händen fahren ließ und, einen Pfeil mitten ins Herz
geheftet, langsam rechts am Bug des Rosses heruntersank. Ähnlich
erging es den sechs übrigen Söhnen. Von den Pfeilen des erzürnten
Gottes.getroffen, sank einer nach dem andern entseelt zu Boden.
Der Ruf des Unglückes gelangte bald in die Stadt. Als Amphion,
der Vater, die Schreckenskunde hörte, durchbohrte er sich die Brust mit
dem Stahl. Der laute Jammer seiner Diener und alles Volkes drang
bald auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das Schreckliche
nicht zu fassen; aber bald konnte sie nicht mehr zweifeln. Sie kam heraus-
gestürzt auf das Feld; sie warf sich auf die erkalteten Leichname, sie ver-
teilte ihre letzten Küsse an die Söhne, bald an diesen, bald an jenen.
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Dann hob sie die Arme gen Himmel und rief: „Weide dich nun an meinem
Jammer, sättige dein grimmiges Herz, du grausame Leto, der Tod
dieser sieben wirft mich in die Grube; triumphiere, siegende Feindin!"
Jetzt waren auch ihre sieben Töchter, schon in Trauergewande
gekleidet, herbeigekommen und standen mit fliegenden Haaren um die
gefallenen Brüder her. Ein Strahl der Schadenfreude zuckte bei ihrem
Anblicke über Niobes blasses Gesicht. Sie vergaß sich, warf einen
spottenden Blick gen Himmel und sagte: „Siegerin! nein, auch in
meinem Unglücke bleibt mir mehr als dir in deinem Glücke. Auch
nach so vielen Leichen bin ich noch die Überwinderin!" Kaum hatte
sie es gesprochen, als man eine Sehne ertönen hörte wie von einem
straff angezogenen Bogen. Alles erschrak, und plötzlich fuhr eine der
Schwestern mit der Hand ans Herz; sie zog einen Pfeil heraus, der
ihr im Innersten haftete. Ohnmächtig zu Boden gesunken, beugte sie
ihr sterbendes Antlitz über den nächstgelegenen Bruder. Eine andere
Tochter eilt auf die unglückselige Mutter zu, sie zu trösten; aber von
einer verborgenen Wunde gebeugt, verstummt sie plötzlich. Eine dritte
sinkt im Fliehen zu Boden, andere fallen, über die sterbenden
Schwestern hingeneigt. Nur die letzte war noch übrig, die sich in
den Schoß der Mutter geflüchtet und an diese, von ihrem faltigen
Gewände zugedeckt, sich kindlich anschmiegte. „Nur die einzige laß
mir," schrie Niobe wehklagend zum Himmel, „nur die jüngste von so
vielen!" Aber während sie noch flehte, stürzte schon das Kind aus
ihrem Schoße nieder, und einsam saß Niobe zwischen ihres Gatten,
ihrer Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erstarrte sie vor Gram;
kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes; aus dem Gesichte
wich das Blut; die Augen standen unbewegt in den traurigen Wangen;
im ganzen Bilde war kein Leben mehr; die Adern stockten mitten im
Pulsschlage, der Nacken drehte, der Arm regte, der Fuß bewegte sich
nicht mehr; auch das Innere des Leibes war zum kalten Felsstein
geworden. Nichts lebte mehr an ihr als die Thränen; diese rannen
unaufhörlich aus den steinernen Augen hervor. Jetzt faßte den Stein
eine gewaltige Windsbraut, führte ihn fort durch die Lüfte über das
Meer und setzte ihn erst in der alten Heimat Niobes, in Lydien, im
öden Gebirge, unter den Steinklippen des Sipylus nieder. Hier
haftete Niobe am Gipfel des Berges als ein Marmorfelsen, dem heiße
Thränen als ein schimmernder Quell entflossen. —
Im Jahre 1583 wurde in Rom eine Marmorgruppe ausge-
graben, welche die Niobe mit ihren Kindern darstellt. Die Gruppe
besteht aus fünfzehn Figuren und zeichnet sich aus durch glückliche
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Erfindung und durch einen das innigste Mitgefühl erweckenden Aus-
druck. Sie ist die altrömische Nachbildung eines älteren Kunstwerkes,
vielleicht jenes des berühmten Praxiteles, auf welches das alte griechische
Epigramm sich bezieht, wenn es die Niobe sprechen läßt:
Götter verwandelten einst in Stein mich lebend; dem Steine
H-I Praxiteles jetzt Leben und Anmut bcrlichn. ^ ^
59. Hektor und Andromache.
Hektar hatte für kurze Zeit den heißen Kampf verlassen, um seine
Mutter Hekuba zu mahnen, daß sie durch Opfer und Gebet die den
Troern feindlich gesinnte Göttin Athene zu versöhnen suche. Bevor
er wieder in die Schlacht eilte, wünschte er noch Weib und Söhnlein
zu schauen. Allein er fand die Gattin nicht zu Hause. „Als sie
hörte," sprach zu ihm die Schaffnerin, „daß die Trojaner Not leiden
und der Sieg sich zu den Griechen neige, verließ sie die Wohnung
wie außer sich, um einen der Stadttürme zu besteigen, und die
Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen."
Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Trojas jetzt
wieder zurück. Als er das Skäische Thor erreicht, kam seine Ge-
mahlin Andromache eilenden Laufes gegen ihn her; die Dienerin, ihr
folgend, trug das unmündige Knäblein Astyanax, schön wie ein Stern,
an der Brust. Mit stillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben;
Andromache aber trat ihm unter Thränen zur Seite, drückte ihm
zärtlich die Hand und sprach: „Entsetzlicher Mann! gewiß tötet dich
noch dein Mut, und du erbarmst dich weder deines stammelnden
Kindes, noch deines unglückseligen Weibes, das du bald zur Witwe
machen wirst. Werde ich deiner beraubt, so wäre es das beste, ich
sänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir Achilles getötet,
meine Mutter hat der Bogen der Artemis erlegt, meine sieben
Brüder hat auch der Pelide umgebracht; ohne dich habe ich keinen
Trost, Hektor; du bist mir Vater und Mutter und Bruder. Darum
erbarme dich, bleib hier auf dem Turme; mache dein Kind nicht zur
Waise, dein Weib nicht zur Witwe! Das Heer stelle dort an den
Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe frei und ist am
leichtesten zu ersteigen; dorthin haben die tapfersten Krieger, die Ajax
beide, Idomeneus, die Atriden und Diomedes schon dreimal den
Sturm hingelenkt, sei es, daß ein Seher es ihnen offenbarte, sei's,
daß das eigne Herz sie trieb!"
Liebreich antwortete Hektor seiner Gemahlin: „Auch mich härmt
alles dieses, Geliebte; aber ich müßte mich vor Trojas Männern und
Frauen schämen, wenn ich, erschlafft wie ein Feiger, hier aus der
Ferne zuschaute. Auch mein eigner Mut erlaubt es mir nicht; er
hat mich immer gelehrt, im Vorderkampfe zu streiten; zwar das Herz
weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja hin-
sinkt und Priamus und all sein Volk; aber weder der Trojaner Leid,
noch der eignen Eltern und der leiblichen Brüder, wenn sie dann
unter dem Schwerte der Griechen fallen, geht mir so zu Herzen wie
das deine. O des Schmerzes, wenn dich, die Weinende, ein Danaer
in die Knechtschaft führen wird, und du dann zu Argos am Web-
stuhle sitzest oder Wasser trägst, vom harten Zwange belastet, und dann
wohl ein Mann, dich in Thränen schauend, spricht: Das war Hektors
Weib! Decke mich der Grabhügel, ehe ich dein Geschrei hören muß,
wenn sie dich entführen!" So sprach er und streckte die Arme nach
seinem Knäblein aus; aber das Kind schmiegte sich schreiend an den
Busen der Amme, von der Zärtlichkeit des Vaters erschreckt und vor
dem ehernen Helm und dem fürchterlich flatternden Roßschweif er-
bangend. Der Vater schaute das Kind und die Mutter lächelnd an,
nahm sich schnell den schimmernden Helm vom Haupte, legte ihn
zu Boden, küßte sein geliebtes Söhnchen und wiegte es auf dem Arme.
Dann flehte er zum Himmel empor: „Zeus und ihr Götter! Laßt
dieses mein Knäblein werden wie mich selbst, voranstrebend dem Volke
der Trojaner; laßt es mächtig werden in Troja und die Stadt be-
herrschen, und dereinst sage man, wenn es beutebeladen aus dem
Streite heimkehrt: Der ist noch weit tapferer als sein Vater, und
darüber soll sich seine Mutter herzlich freuen!" Mit diesen Worten
gab er den Sohn der Gattin in den Arm, die unter Thränen lächelnd
ihn an den Busen drückte. Hektor aber streichelte sie, inniger Wehmut
voll, mit der Hand und sagte: „Armes Weib, traure mir nicht so
sehr im Herzen; gegen das Geschick wird mich niemand töten, dem
Verhängnis aber ist noch kein Sterblicher entronnen. Auf, geh du
zur Spindel und zum Webestuhl und befiehl deinen Weibern! Den
Männern Trojas liegt die Sorge für den Krieg ob, am meisten aber
mir!" Als er dies gesagt, setzte sich Hektor den Helm auf und ging
davon. Auch Andromache schritt dem Hause zu, indem sie wiederholt
rückwärts blickte und herzliche Thränen weinte. Als die Mägde in
der Kammer sie erblickten, teilte sich ihnen allen ihr Gram und ihre
Betrübnis mit, und Hektor wurde schon bei Lebzeiten in seinem Palaste
wie ein Verstorbener betrauert. Gustav Schwab.
Kippenberg. A 5 (9t 31.).------------- 7
98
60. Hektors Tod.
Die Achäer harrten des Achilles dicht unter den Mauern
von Troja, die Schilde über die Schultern geworfen. Alle Troer
waren in der Stadt, nur der einzige Hektor war draussen am
Thore zurückgeblieben, entschlossen, noch einmal den Kampf
mit Achilles zu versuchen. Traurig sah sein alter Vater von
der Mauer herab und winkte ihm mit bittenden Gebärden, her-
einzukommen; aber vergeblich.
Jetzt kam Achilles, die Lanze auf der Schulter. Unmutig
wie der Löwe, dem eine erwünschte Beute entsprungen ist, kam
er daher, und seine Waffen glänzten im Strahle der Abend-
sonne wie ein leuchtender Stern am nächtlichen Himmel. Ihn
sah der alte Briamus mit raschem Gange einherschreiten, da
schlug er in banger Todesahnung an sein graues Haupt, und
ihm bebte das Herz, indem er seinen Sohn draussen allein sah.
„Lieber Sohn,“ rief er flehend mit ausgebreiteten Armen hin-
unter, „erwarte doch ja nicht den grausamen Mann, der stärker
ist als du. 0, komm doch schnell herein, ehe er dich erblickt,
damit nicht auch du noch seinen Ruhm verherrlichst und von
seiner Hand sterbest. Komm, erbarme dich meiner! Schon
hat Zeus mit unendlichem Gram mein trauriges Alter belastet;
und raubt er mir noch dich, so sehe ich’s im Geiste voraus,
wie sie hereinbrechen in die Burg, wie sie die Weiber hinweg-
reifsen, die Kinder töten und die Schätze in den Kammern
ausplündern.“
So rief weinend der alte Vater; auch die Mutter klagte
und schlug an die Brust; aber sie konnten Hektor nicht
bewegen. Standhaft blieb er am Thor und erwartete den
Achilles, wie die Schlange, in Ringeln zusammengerollt,
seitwärts am Wege auf den Wanderer lauert, auf den sie
losspringen will.
Sich wappnend, erwartete er den Feind. Jetzt nahte sich
Achilles, dem Ares gleich an Gestalt; das Erz umleuchtete ihn
ähnlich dem Schimmer lodernder Feuersbrunst und der hell
aufgehenden Sonne. Hektor erzitterte, als er ihn sah; er ver-
mochte nicht standzuhalten; ängstlich entfliehend, wandte er
sich von ihm, der Taube gleich, die dem Habicht entrinnen
möchte. Aber wie der Habicht mit stärkerer Kraft den schüch-
99
ternen Vogel verfolgt, so Achilles den fliehenden Hektor. Bald
rechts, bald links sprang jener ah, um den verfolgenden Läufer
zu ermüden, aber umsonst. Jetzt rannten sie an der Warte
vorüber, jetzt bei dem Feigenbäume, und jetzt bei den heissen
Quellen, neben welchen die steinernen Gruben für die Wäsche-
rinnen waren. Und rings um die weite Stadt trieb ihn der ge-
waltige Verfolger, ja noch einmal und zum dritten Male jagte er
ihn um die Mauer, und so oft Hektor durch ein offenes Thor
zu entschlüpfen versuchte, sprang Achilles seitwärts ab und
trieb ihn wieder ins offene Feld hinaus, selbst an der Seite
der Stadt hinfliegend. Kamen sie aber bei dem Orte vorbei,
wo die Achäer noch auf ihre Lanzen gelehnt standen und der
Entscheidung harrten, so winkte Achilles und verbot, dass etwa
jemand ein Geschoss auf Hektor schleudere und ihm die Ehre
des Sieges raube.
Alle Götter sahen von der Höhe des Olymp dem bangen
Wettlaufe zu. Keiner durfte sich Hektors annehmen, denn seine
Stunde war gekommen, und dem Schicksal konnten ja die Götter
selbst nicht wehren. Zeus ergriff die Schicksalswage und warf
zwei Todeslose hinein, und siehe, sogleich sank die Schale mit
Hektors Lose tief hinab.
„Wohlan denn, ich wage den Kampf!“ sprach Hektor und
stellte sich dem Verfolger entgegen. „Nicht will ich dir, o
Fehde,“ rief er dem Achilles zu, „länger entfliehen. Aber lass
uns zuvor einen Bund beschwören vor den allsehenden Göttern.
Verleiht mir Zeus den Sieg, so werde ich dich nicht miss-
handeln: ich raube dir die Rüstung und lasse deinen Leib
den Achäern, dass sie ihn rühmlich bestatten. So thue du
auch mir !“
Aber mit wutfunkelndem Blicke brüllte Achilles ihm zur
Antwort: „Nichts von Verträgen, verhasster Hektor! Macht
auch der Löwe mit Rindern, der Wolf mit Lämmern Verträge?
Sieh, so ist zwischen mir und dir auch nimmer an Vertrag
oder Bündnis zu denken! Ich aber gedenke jetzt des Kampfes.
Du, das hoffe ich, sollst mir nicht entrinnen und alles auf ein-
mal hülsen, all der Meinigen Weh, die du, Rasender, mit der
Lanze erschlagen!“
So sprach er, und im Schwünge entsandte er die entsetz-
liche Lanze. Doch Hektor, schnell aufs Knie sich werfend,
7*
100
■wich ihr aus, und über ihn hinweg in die Erde flog der eherne
Wurfspiess. Jetzt kehrte ihm neuer Mut in die Seele, und
freudig aufspringend rief er: „Ha, weit gefehlt, du götter-
gleicher Achill; jetzt wahre deine Brust, denn nicht schwach
soll meine Lanze dich treffen!“
Er warf den Speer mit gewaltigem Schwünge und verfehlte
sein Ziel nicht, denn mit lautem Krachen fuhr die eiserne Spitze
gegen die Buckel des Schildes und hätte Schild und Brust
durchbohrt, wäre nicht der Schild aus des Hephästus Schmiede
gewesen. Aber so prallte die Lanze zurück wie ein Ball, der
gegen die Wand geworfen wird, und Hektor stand erschrocken
da, denn er hatte nur die eine Lanze gehabt.
In der letzten Verzweiflung ergriff er sein Schwert, anstür-
mend wie ein hochfliegender Adler, welcher, aus den Wolken
auf die Erde gesenkt, den Hasen im Busch erhascht, oder ein
Lämmlein. Aber Achilles hatte schon Hektors Lanze aufge-
hoben, und als sie gegeneinander rannten, erreichte der lange
Speer leichter sein Ziel als das kurze Schwert. Über dem
Panzer in den Hals getroffen, sank Trojas Hort in den Staub,
und sein grausamer Sieger und alle Achäer frohlockten.
Schwach atmend, begann jetzt Hektor: „Bei deinem Leben
beschwöre ich dich, bei deinen Knieen und den Elternt lass
mich nicht bei den Schiffen der Danaer Hunde zerreissen,
sondern nimm des Erzes genug und köstlichen Goldes, das dir
mein Vater bietet und die würdige Mutter. Den Leib entsende
gen Bios, dass in der Heimat Trojas Männer und Frauen des
Feuers letzte Ehre mir geben!“
Aber mit fürchterlicher Stimme schrie Achilles: „Mögen
die Troer auch zwanzigfältige Sühnung bieten, ja, wollte Pria-
mus dich mit Gold aufwiegen, dennoch soll die Mutter dich
nicht in weiche Gewänder hüllen und mit Wehklagen bestatten,
sondern Hunden und Vögeln des Feldes will ich dich zum
Fraise geben ohne Verschonung.“
Sterbend erwiderte Hektor: „Wohl ahnte mir, du seiest
nicht zu erweichen, denn du trägst ein eisernes Herz im Busen,
aber denke an mich, wenn die Götter mich rächen und du in
den Staub sinkest, von Phöbus Apollos Geschosse getroffen.“
— Und des Schlafes Bruder, der Tod, trug des Helden Seele
in die Tiefe des Hades.
Nach Karl Friedrich Becker.
61. Priamns bei Achilles.
In Troja war indessen das Haus des alten Priamus eine .
Wohnung des Jammers geworden. Er selbst, der bekümmerte
Greis, hatte seit seines Sohnes Tode keine Speise und keinen
Trank zu sich genommen, und die Klagen der Mutter und der
Gattin rührten alles Volk so sehr, dass es täglich in grossen
Haufen das Haus umstand. Mitleidsvoll sahen selbst die
Götter auf die Unglücklichen herab, und Apollo liess sich in einer
Traumerscheinung zu Priamus hernieder und stärkte sein Herz
mit Mut, dass er sich aufmache zum Lager der Griechen, um
mit Lösegeschenken den Leichnam seines Sohnes von Achilles
zu erflehen. Zeus selbst befahl dem Hermes, den Greis zu ge-
leiten, damit kein böser Feind ihn hindere oder ihm Leid zu-
füge auf dem Wege.
Fröhlich über die Göttererscheinung, vergafs nun Priamus
der Klage und ging eilig zur Kammer, wo die Kisten standen,
in denen er seine Kostbarkeiten verwahrte. „Ich will mich
aufmachen,“ rief er der trauernden Gattin Hekuba zu,
„den fürchterlichen Mann mit Geschenken zu versöhnen; ein
Gott hat mir Mut in die Seele gelegt, er wird mich auch
schützen.“
Da schluchzte die Königin laut auf und rief ihm zu: „Wie
wolltest du doch allein zu den Schiffen der Achäer gehen und
dem Manne unter die Augen treten, der dir so viele und so
tapfere Söhne erschlagen hat! Ha! wenn er dich sieht und dich
ergreift, der falsche, entsetzliche Mann; nimmermehr ja hat er
Erbarmen mit dir, noch Scheu und Ehrfurcht vor deinem
Alter. O, bleibe doch hier und lass uns den Verlorenen aus
der Ferne beweinen! Bleibe du, Teurer, bei uns, damit du
dein eigenes Leben erhaltest!“
Aber der alte Mann erwiderte mit Zuversicht: „Nimmer
würde ich ja gehen, wenn nur ein Opferpriester oder ein Zeichen-
deuter es mir geboten hätte. Aber ich sah den Gott im Traume;
er wird mich nicht täuschen, und zu sehr treibt auch das eigne
Herz mich. Er wird mich töten, sagst du, der Wüterich? O, er
mag doch, wenn er mich nur in meines geliebten Sohnes Armen,
an seiner Brust niederstöfst!“
Br öffnete den zierlichen Deckel der Lade und nahm die
feinen Gewänder heraus, die er zu Geschenken mitnehmen
wollte: zwölf herrliche Feierkleider, zwölf wärmende Decken
und ebensoviele Leibröcke und prächtige Mäntel. Dann nahm
er aus einer andern Lade zehn Talente Goldes, vier glänzende
Becken und zwei dreifüfsige Kessel; seihst des köstlichen
Bechers schonte er nicht, den ihm einst thracische Männer
zum Gastgeschenk verehrten, als er als Botschafter seines Vaters
zu ihnen kam. Denn er wollte sein Bestes nicht sparen, um
nur des harten Achilles Herz zu erweichen und seinen lieben Sohn
auszulösen.
Er rief die Schaffnerin aus dem Hause heraus in den Hof,
dass sie ihm Wasser brächte, und sie trug es herbei in silberner
Kanne, besprengte ihm daraus mit der Rechten die Hände
und hielt mit der Linken das Waschbecken unter. Darauf
empfing er aus den Händen der Gattin den Becher Weins,
goss die ersten Tropfen dem Zeus zu Ehren aus und betete
laut, den Blick zum Himmel gerichtet: „Vater Zeus, du grösster
und mächtigster Herrscher, lass mich doch als Freund dem
Achilles nahen und Mitleid vor ihm finden! Gewähre mir auch
ein Zeichen, dass du mich schützen willst, damit ich getrost
und sicher die Reise antrete!“
Sein Wunsch ward erfüllt, denn nicht lange darauf flog
einer von den Adlern, die hoch in den Gebirgsklüften des Ida
nisteten, ihm zur Rechten vorüber. Da freuten sich alle, die
es sahen, und voll Vertrauen bestieg nun der König den Wagen,
und sein Wagenlenker mit ihm. Bis vor das Stadtthor hinaus
begleiteten ihn die Söhne und wünschten ihm weinend Glück
auf den Weg. —
Der König stieg ab und liess den Wagen und die Ge-
schenke draussen im Gehege unter der Obhut seines alten Be-
gleiters stehen. Das Herz klopfte ihm heftiger, als er die
Schwelle des furchtbaren Mannes betrat. Nach einem Augen-
blicke unschlüssigen Zauderns trat er ein. Er fand den Achilles
noch sitzend an dem Tische, an welchem er die Nachtkost
verzehrt hatte; ihm zur Seite standen seine beiden liebsten Ge-
fährten nächst Patroklus, der treffliche Wagenlenker Automedon
und der lanzenkundige Alkimos. Er selbst ruhte, der starke
Held, auf den Ellenbogen gestützt und in düstere Gedanken
103
versunken, und ward des eintretenden Greises nicht eher gewahr,
his dieser ihm zu Füssen fiel, seine Kniee umfasste und die
Hände küsste, die entsetzlichen, die ihm so viele Söhne ge-
mordet hatten. Achilles erstaunte, denn seltsam war er über-
rascht. Einen Augenblick sahen sich beide starr ins Gesicht,
Achilles verwirrt und erschüttert, Priamus bittend und be-
klommen. Endlich machte ein Strom von Thränen dem ge-
pressten Herzen des Greises Luft, und mit zitternder Stimme
sprach er die flehenden Worte: „Gedenke deines Vaters, du
göttergleicher Achilles, der alt und kraftlos wie ich zu Hause
schmachtet. Ach, vielleicht umdrängen auch ihn jetzt die
Nachbarn, und niemand ist, der ihn schirmt! Aber er weiss
doch, dass einer ihm lebt, wenn auch fern, ein lieber und
trefflicher Sohn, der, wenn er zurückkehrt, allem Jammer ein
Ende macht. Des freut sich der hoffende Greis, und alle Tage
erneuert sich ihm der süsse Gedanke an dich. Aber wehe mir!
ich war der glücklichste Vater: fünfzig Söhne hatte ich gross
gezogen. Sie waren meine Freude und mein Stolz. Da zöget
ihr gegen meine Stadt, und der unselige Krieg raffte sie,
einen nach dem andern, bis auf wenige dahin. Unter den
wenigen aber war mir der beste doch übrig geblieben, der mich
und uns alle bisher geschirmt hatte; aber auch der ist nun
nicht mehr. Ach! für sein Leben kann ich nicht mehr flehen,
aber den Toten wünschen wir alle nur einmal noch wieder-
zusehen und ihm die schuldige Ehre zu erweisen. Zu Hause
jammern Geschwister, Gattin, Mutter, und siehe, hier liege ich
selbst, der unglückliche Vater, zu deinen Füssen. Gieb ihn
mir wieder; ich bringe dir reiche Geschenke. Scheue die
Götter! Denke, wenn dein alter .Vater so vor einem jüngern
Manne knieen müsste. Ich aber bin des Mitleids noch würdiger,
dulde ich doch, was noch kein Sterblicher erduldet hat, und
drücke die Hand an die Lippen, die meine Kinder erschlagen
hat!“
Solchen Worten und solchen Thränen widerstand das Herz
des Unbezwinglichen nichts Tief erschüttert war er von dem
Anblicke des flehenden Greises; das Bild seines eigenen er-
grauten Vaters trat ihm vor die Seele, und wehmütige Sehn-
sucht nach seiner Umarmung erfüllte sein Herz. Er weinte
laut und beugte sich sanft zu dem Greise nieder, ihn auf-
zuheben, aber Priamus hielt noch immer seine Kniee fest um-
104
fasst, und so schluchzten sie beide, ein jeder sein eignes
Schicksal im Grame des andern beschauend. Endlich, als sie
beide der Thränen genug vergossen hatten, sprach Achilles:
„Ja, fürwahr, unglücklicher Greis, du hast der Leiden viele
erfahren! Und doch wagst du’s, so allein in der Nacht zu den
Schiffen der Achäer zu kommen, zu dem Manne, der dir deine
tapfersten Söhne getötet. Stark und mutig fürwahr ist dein
Herzt Aber wohlan, vergiss des Grames und lass mich nicht
mehr deine Thränen sehen. Erhebe dich und setze dich hier
auf den Sessel! Edler Greifs, lass jetzt uns auch des Mahles
gedenken; deinen Sohn beweine daheim, denn wohl ist er der
Thränen wert.“
Sie nahmen miteinander das reichliche Mahl ein. Dann
befahl Achilles den Genossen, draussen unter der Halle ein
weiches Lager für Priamus und seinen Gefährten zu bereiten.
Schnell holten die Mägde prächtige Polster und wärmende
Decken und Mäntel herbei, legten alles zurecht und leuchte-
ten dem Fremden mit der Fackel. Achilles geleitete darauf
den Greis bis an die Thür und drückte ihm scheidend die
Hand.
Nur wenige Stunden Schlafs genügten dem Greise, dann
erhob er sich, den Achilles vom Schlafe zu wecken; denn er
wünschte sehr, noch vor Beginn des Tages aufzubrechen,
damit kein anderer im feindlichen Lager ihn bemerke und
noch auf dem Rückwege beängstige.
„Unruhiger Alter," sprach Achilles freundlich, „so ziehe
denn heim! Doch eins sage mir noch zuvor: In wie viel Tagen
gedenkst du den edlen Sohn zu bestatten? Denn so lange will
ich mich des Streites enthalten und auch das Volk am Kampfe
verhindern."
„O Achilles," antwortete der Greis gerührt, „wenn du uns
das vergönnen willst, so gewähre uns neun Tage, den Toten
zu beweinen und die Anstalten zu seiner Bestattung zu treffen.
Dann wollen wir ihn am zehnten verbrennen, am elften das
Grabmal aufrichten, am zwölften aber beginne, wenn es denn
so sein muss, wieder der Krieg."
„Auch dies," versetzte Achilles, „geschehe, wie du be-
gehrst. So lange werde ich das Heer zurückhalten, als du
gefordert."
105
So sprechend, fasste er die Rechte des Greises, um seinem
Herzen alle Furcht zu benehmen. Darauf geleitete er den
Wagen bis ans Thor der Yerschanzung und gab acht, dass von
keinem der Achäer dem alten Manne eiu Leid widerfahre.
Glücklich kam derselbe wieder an das wohlbekannte Gefilde.
Jetzt, als er wieder an derselben Stelle seine Rosse tränkte,
ging eben die Sonne auf; da erkannte die Kommenden Kassan-
dra, des Priamus liebste Tochter, die schon seit früher Morgen-
dämmerung auf der Warte gestanden und mit ängstlich pochen-
dem Busen der Ankunft des Vaters geharrt hatte. Sie wartete
noch, bis sie alles genau erkannt hatte, auch den verhüllten
Leichnam ihres Bruders im Wagen; dann lief sie eilig djp
Stufen hinab in die Königswohnung und rief Mutter und Ge-
schwister mit lauter Stimme herbei: „Schaut hin dort, sie
kommen! Eilet, ihr Troer und Troerinnen, den Leichnam Hektors
zu schauen, wenn ihr euch des Lebenden gefreut habt, so oft
er wiederkehrte aus der Feldschlacht! War er ja doch die
Freude der Stadt und alles Volkes."
Da lief herbei, wer nur die rufende Stimme hörte, Mann
und Weib; keiner blieb zu Hause, denn aller Herzen durch-
drang unermessliche Trauer. Vor allen aber drängten sich die
alte Mutter und Andromache, die liebende Gattin, hervor; sie
zogen den Kommenden entgegen und umringten mit lautem
Geschrei den Wagen vor dem Stadtthor. Hier stürzten sich
Mutter und Gemahlin auf den Leichnam und netzten ihn mit
Thränen, rauften ihre Haare, rührten ihm das Haupt an und
deckten die Tücher auf, seine Wunden zu schauen. Weinend
umstand sie die Menge. Sicher hätten sie ihn dort vor dem
Thore den ganzen Tag betrauert bis spät zur sinkenden Sonne,
wenn nicht der König im Wagen sich erhoben und laut ge-
rufen hätte: „Weicht und lasst mir die Rosse hindurchgehen!
Satt mögt ihr euch weinen, nachdem ich ins Haus ihn geführt
habe!“
Da wichen sie alle zurück, und der König fuhr in die
Stadt. Ihm folgte die Schar in seine Wohnung. Als man
hier den Leichnam vom Wagen hob und auf ein zierliches
Gestell legte, begann die allgemeine Wehklage von neuem;
sie ordneten Sänger, dass sie die Klage anstimmten, mit
jammernden Tönen sangen sie den Trauergesang, und rings
im Kreise schluchzten die Weiber, vor allen Andromache, die
106
blühende Fürstin. Sie hielt des Toten Haupt in den Händen
und rief, laut klagend: „Teurer Mann, du verlörest dein Leben,
aber mich Witwe lässest du hier im Palast und das unmündige
Söhnlein! Unaussprechlichen Gram hast du, o Hektor, den
Eltern bereitet, doch mich vor allen betrübt nie endender
Jammer. Nicht hast du mir sterbend die Hand aus dem Bette
gereicht, noch ein Wort mir gesagt, dessen ich ewig gedächte
bei Tag und bei Nacht, Thränen der Wehmut vergiefsend.“ So
sprach sie weinend, das Herz erfüllt von unsäglichem Jammer.
Nach Karl Friedrich Becker.
62. Der Ring des Polykrales. f 1fr-sfr
\ fl. Er stand auf feines Daches Zinnen,
gr schaute mit vergnügten Sinnen
auf das beherrschte Samos hin.
„Dies alles ist mir unterthänig,"
begann er zu Ägyptens König,- c 'A
„gestehe, daß ich glücklich bin!"
2. „Du hast der Götter Gunst erfahren!
Die vormals deinesgleichen waren,
sie zwingt jetzt deines Zepters Macht.
Doch Einer lebt noch, sie zu rächen; -S"
dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen,
so lang des Feindes Auge wacht."
3. Und eh' der König noch geendet,
da stellt sich, von Milet gesendet,
ein Bote dem Tyrannen dar:
„Laß, Herr, des Opfers Düfte steigen,
und mit des Lorbeers muntern Zweigen
bekränze dir dein festlich Haar!
4. Getroffen sank dein Feind vom Speere;
mich sendet mit der frohen Märe
dein treuer Feldherr Polydor."
Und nimmt aus einem schwarzen Becken,
noch blutig, zu der beiden Schrecken,
ein wohlbekanntes Haupt hervor.
— 107 —
5. Der König tritt zurück mit Grauen.
„Doch warn' ich dich, dem Glück zu trauen,"
versetzt er mit besorgtem Blick;
„bedenk, auf ungetreuen Wellen —
wie leicht kann sie der Sturm zerschellen —
schwimmt deiner Flotte zweifelnd Glück."
6. Und eh' er noch das Wort gesprochen,
hat ihn der Jubel unterbrochen,
der von der Reede jauchzend schallt;
mit fremden Schätzen reich beladen,
kehrt zu den heimischen Gestaden
der Schiffe mastenreicher Wald.
7. Der königliche Gast erstaunet:
„Dein Glück ist heute gut gelaunet;
doch fürchte seinen Unbestand.
Der Kreter waffenkund'ge Scharen
bedräuen dich mit Kriegsgefahren;
schon nahe sind sie diesem Strand."
8. Und eh' ihm noch das Wort entfallen,
da sieht man's von den Schiffen wallen,
und tausend Stimmen rufen: „Sieg!
Von Feindesnot sind wir befreiet,
die Kreter hat der Sturm zerstreuet,
vorbei, geendet ist der Krieg!"
9. Das hört der Gastfreund mit Entsetzen.
„Fürwahr, ich muß dich glücklich schätzen!
Doch," spricht er, „zittr' ich für dein Heil.
Mir grauet vor der Götter Neide;
des Lebens ungemischte Freude
ward keinem Irdischen zu teil.
10. Auch mir ist alles wohlgeraten;
bei allen meinen Herrscherthaten
begleitet mich des Himmels Huld.
Doch hatt' ich einen teuren Erben,
den nahm mir Gott, ich sah ihn sterben,
dem Glück bezahlt' ich meine Schuld.
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11. Drum willst du dich vor Leid bewahren,
so flehe zu den Unsichtbaren,
daß sie zum Glück den Schmerz verleihn.
Noch keinen sah ich fröhlich enden,
auf den mit immer vollen Händen
die Götter ihre Gaben streun.
12. Und wenn's die Götter nicht gewähren,
so acht auf eines Freundes Lehren
und rufe selbst das Unglück her;
und was von allen deinen Schätzen
dein Herz am höchsten mag
das nimm und wirf's in di
13. Und jener spricht, von Furcht beweget:
„Von allem, was die Insel heget,
ist dieser Ring mein höchstes Gut;
ihn will ich den Erinnen weihen,
ob sie mein Glück mir dann verzeihen;"
und wirft das Kleinod in die Flut.
14. Und bei des nächsten Morgens Lichte,
da tritt mit fröhlichem Gesichte
ein Fischer vor den Fürsten hin:
„Herr, diesen Fisch hab' ich gefangen,
wie keiner noch ins Netz gegangen;
dir zum Geschenke bring' ich ihn."
15. Und als der Koch den Fisch zerteilet,
kommt er bestürzt herbeigeeilet
und ruft mit hocherstauntem Blick:
„Sieh, Herr, den Ring, den du getragen,
ihn fand ich in des Fisches Magen.
O, ohne Grenzen ist dein Glück!"
16. Hier wendet sich der Gast mit Grausen.
„So kann ich hier nicht ferner hausen,
mein Freund kannst du nicht weiter sein;
die Götter wollen dein Verderben;
fort eil' ich, nicht mit dir zu sterben —"
und sprach's und schiffte schnell sich ein. Kiedrich ». schm-r.
ergötzen,
ses Meer!" ,
109
63. Die Bürgschaft.
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Dämon, den Dolch im Gewände;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!"
entgegnet ihm finster der Wüterich. —
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!" —
„Das sollst du am Kreuze bereuen."
2. „Ich bin," spricht jener, „zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen."
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen."
Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
so bleib du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande."
5. Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen;
der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab —
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
7. Und trostlos irrt er an Ufers Rand;
wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende, schicket,
da stößet kein Nachen vom sichern Strand,
der ihn setze an das gewünschte Land,
kein Schiffer lenket die Fähre,
und der wilde Strom wird zum Meere.
8. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
„O, hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
die Sonne, und wenn sie niedergeht,
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muß der Freund mir erbleichen."
9. Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
und Welle auf Welle zerrinnet,
und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
und wirft sich hinein in die brausende Flut
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
^0. Und gewinnt das Ufer und eilet fort
und danket dem rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
und hemmet des Wanderers Eile
mit drohend geschwungener Keule.
111
11. „Was wollt ihr?" ruft er, vor Schrecken bleich,
„ich habe nichts als mein Leben,
das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streich
erlegt er, die andern entweichen.
/\12. Und die Sonne versendet glühenden Brand,
und von der unendlichen Mühe
ermattet, sinken die Kniee.
„O, hast du mich gnädig aus Räubershand,
aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
und soll hier verschmachtend verderben,
und der Freund mir, der liebende, sterben!^
13. Und horch! da sprudelt es silberhell,
ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
und stille hält er, zu lauschen.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
und freudig bückt er sich nieder
und erfrischet die brennenden Glieder.
14. Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
und malt auf den glänzenden Matten
der Bäume gigantische Schatten;
und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
will eilenden Laufes vorüberfliehn,
da hört er die Worte sie sagen:
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."
15. Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
ihn jagen der Sorge Qualen;
da schimmern in Abendrots Strahlen
von ferne die Zinnen von Syrakus,
und entgegen kommt ihm Philostratus,
des Hauses redlicher Hüter,
der erkennet entsetzt den Gebieter:
112
16. „Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
so rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
mit hoffender Seele der Wiederkehr;
ihm konnte den mutigen Glauben
der Hohn des Tyrannen nicht rauben." —
17. „Und ist es zu spät. und kann ich ihm nicht
ein Retter willkommen erscheinen,
so soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht;
er schlachte der Opfer zweie
und glaube an Liebe und Treue!"
18. Und die Sonne geht unter, — da steht er am Thor
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet;'
an dem Seile schon zieht man den Freund empor;
da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker," ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
19. Und Erstaunen ergreifet das Volk umher;
in den Armen liegen sich beide
und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge thränenleer,
und zum Könige bringt man die Wundermär;
der fühlt ein menschliches Rühren,
läßt schnell vor den Thron sie führen.
20. Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
ihr habt das Herz mir bezwungen;
und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;
so nehmet auch mich zum Genossen an!
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der dritte." Lriedrich ». Schiller.
113
64. Die Götter der Germanen.
Wie bei allen heidnischen Völkern führten auch bei den Germanen
die großartigen Erscheinungen der Natur auf die Götter und andere
übermenschliche Wesen als Lenker und Regierer der Welt hin. Voll
Bewunderung und Ehrfurcht fchauten unsere Vorfahren empor zu dem
allumfassenden Himmel, der sich hoch über der Erde wölbt. Sie
ahnten das Walten höherer Mächte in dem leuchtenden Sonnenstrahle,
dem sanften Glanze des Mondes und dem vielfach schimmernden
Regenbogen. Sie fühlten die Nähe des Göttlichen in dem sanften
Säuseln wie in dem Sturmesgebrause der bewegten Luft; sie ahnten
es in dem Blitzstrahle, den der rollende Donner begleitet, wie in dem
befruchtenden Regen und der Kraft des Wachstums, welche den
Baum nach oben treibt und die Blume zur Entfaltung bringt.
In Liebe und Dankbarkeit wandten sich die Menschen den segnenden
Göttern zu und standen in Furcht und Bekümmernis vor den
zürnenden.
Drei Götter waren es vor allen, welche als die Hochwaltenden
herrschten und das Los der Völker und der einzelnen Menschen bestimmten.
Von ihnen ist der erste und vornehmste Wodan oder Wuotan, bei
den Nordgermanen Odin genannt. iEr ist der hohe Herr des
Himmels, der auch die Luft mit seinen? Hauche bewegt. Als König
und Oberster der Götter thront er in seiner himmlischen Wohnung
auf einem Hochsitze, von leuchtendem Golde gefertigt, von wo aus er
durch ein Fenster die Erde und die Wohnungen der Menschen über-
schaut. Wie er selbst die höchste Kraft und Schönheit ist, so verleiht
er diese Gabe auch den Menschen. In vollem Waffenschmucke, mit
Helm, Schwert und Lanze beivehrt, durchschneidet er auf seinem
weißen Rosse die Lüfte und fliegt über die Wasser dahin. Wodan ist
aber nicht bloß der Gott der höchsten Stärke und Tapferkeit, sondern
auch der tiefsten Weisheit und der Weissagung der verborgensten Zu-
kunft. Eins seiner Augen gab er dahin, um bei dem Riesen Mimir
aus dem Brunnen der Weisheit zu schöpfen, und tagtäglich sendet der
einäugige hohe Herr des Himmels zwei Raben aus, um die Welt
und das Treiben der Menschen zu erkunden; zurückgekehrt sitzen sie
dann auf seinen beiden Schultern und flüstern ihm geheim ins Ohr,
was sie auf ihrem Fluge erforscht haben. Aber er steigt auch selbst
manchmal zu den Menschen hernieder, um sie zu prüfen, seine Lieblinge
zu beschützen und die Bösen auszuforschen. Dann erscheint er ver-
Kippenberg, A5 (N. 81). 8
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kleidet, in schlichtem Gewände. Den großen, breitrandigen Schlapp-
hut hat er tief in die Stirn gedrückt, um seine Einäugigkeit zu ver-
bergen; sein Bart wogt wirr und ist grau gesprenkelt; ein weitfaltiger
Mantel, dunkelblau und fleckig, umhüllt seine Glieder. In der Hand
trägt er einen Speer, am Finger den Zauberring Draupnir. So
schreitet er einher als ein Mann von fünfzig Jahren oder auch als
Greis, doch gewaltig, von ungebrochener Kraft. — Oft teilt er seinen
Lieblingen reiche Güter und Gaben aus; was ihr Herz wünscht, das
vermag er ihnen zu verleihen. Wem er die Wünschelrute in die
Hand giebt, der kann die köstlichsten Schätze erspähen und heben, die
tief im Schoße der Erde verborgen sind.
Majestätisch aber erscheint der Gott vor allem, wenn er an der
Spitze seiner Helden zur Jagd oder zum Kampfe auszieht. Dann
steht er auf von seinem Hochsitze in Walhall; es erheben sich die beiden
Wölfe, die zu seinen Füßen kauern, und es rauscht das Gefieder des
Adlers, der über dem Westthore seines Saales schwebt. In den
zwölf heiligen Nächten, zur Zeit der Wintersonnenwende, wo die
Äsen der Erde nahen und freundlich bei den Menschen einkehren, da
braust Wodans wilde Jagd heran, und' das Herz der Menschen
erbebt bei dem Nahen des gewaltigen Gottes. Freundlicher ist's^
wenn er auf dem leuchtenden Sternenwagen einherfährt, oder wenn
er hernieder steigt, um die Sänger zu lehren, die hallende Harfe
zu schlagen und das tönende Lied anzustimmen. Denn der Gott des
Kampfes ist auch der Gott des Sanges, der die Thaten der Helden
preist.
Mit Wodan teilt den Hochsitz des Himmels Frigga, seine
Gemahlin. Sie ist die Göttin der Familie, des heiligen Herdfeuers^
des Hauses; huldvoll nimmt sie die Kinder in ihren mütterlichen
Schutz und bewahrt sie vor Gefahren. Am Gürtel führt sie die
Schlüssel als Zeichen der Leitung des Hausstandes. Und diese hohe
himmlische Hausfrau weiß vortrefflich mit dem Spinnen Bescheide
Noch heute glänzt Friggas Spinnrocken zu uns hernieder; es sind
die drei Sterne in der Mitte des Orion, die als dessen Gürtel be-
zeichnet werden. Von ihr haben die Frauen die Kunst des Spinnens
gelernt. Im Winter wandelt sie als leuchtende Frau, ganz in
schimmernde Leinwand gekleidet, — nur daß sich wohl eine goldene
Locke durch die Verhüllung des Hauptes stiehlt — abends zur
Dämmerstunde auf den verschneiten Steigen. Sie kehrt in die
Wohnungen der Menschen ein und prüft, ob die Spinnarbeit sauber
vollendet ist; die fleißigen, reinlichen Mädchen lobt und belohnt die
115
holde Göttin; wehe aber den trägen und unsauberen! — Wenn
Wodans Gemahlin als waltende Hausfrau in den Lufthöhen die
Betten schüttelt, so schneit es aus der Erde. Ihr Wagen wird von
einem Widdergespann gezogen, den Haustieren, deren Wolle das Ge-
webe zu wärmender Kleidung giebt.
Der zweite der Götter ist Wodans kraftvollster und erhabenster
Sohn Donar, im Norden Thor genannt. Er ist seines Vaters
rechte Hand und gebietet über Wolken und Regen. Wenn er einher-
fährt im Wetterstrahle und rollenden Donner, so ist er nicht bloß der
erhabene, furchtbare, sondern vor allem auch der gütige, segnende
Gott. Er bringt den frischen, erquickenden Hauch, welcher die brütende
Schwüle des Sommertages in wohlige Kühle auflöst, und den warmen
Gewitterregen, welcher das Saatkorn aufquellt und keimen läßt. So
ist Donar den Menschen hülfreich und freundlich gesinnt, und nament-
lich denen, welche die Erde bebauen. Wie Wodan vor allem der
Gott der kriegerischen Helden, so ist Donar vorzugsweise der Gott
des friedlichen Ackerbaues. Zu ihm flehen die Landleute um Segen,
damit ihr Stroh kupferrot, ihr Getreide goldgelb werde. Wenn der
rotbärtige Donnerer in seinem Wagen daherrollt, mit der Linken das
Bocksgespann lenkend, in der Rechten den allzermalmeuden Hammer
Miölmir, der nach jedem Wurfe wieder von selbst in seine Hand
zurückstiegt, so verläßt zwar der Mensch erbebend seine Arbeit und
sein Mahl, aber er getröstet sich auch des Segens, den der gewaltige
Herr über die Erde ausgießt. Der „Donnerkeil," den der Gott her-
niederschleuderte, sowie alles, was vom Blitze getroffen ward, galt
für heilig und wurde als besonders geweiht und wunderkräftig an-
gesehen. Auch waren die Berge dem Donar geweiht; dort loderten
im Frühjahre die Opferfeuer, um welche sich das Volk singend und
jubelnd im Kreise drehte.
Der Gott, der den Hammer führt, ist aber nicht bloß durch
die Pstege des Ackerbaues Freund des Menschen, sondern auch durch
den Schutz, den er dem Gewerbe und dem Eigentume angedeihen läßt.
Ist doch der Hammer dem Menschen bei der Bearbeitung der Natur-
stoffe das unentbehrliche Werkzeug. Im Namen Donars heiligte man,
indem man mit dem Hammer die Schwelle des Hanfes berührte,
dasselbe als eine unverletzliche Stätte und ein festes Besitztum. Die
Grenzsteine und Wegsäulen wie die Brücken wurden auf die-
selbe Weise geweiht. Bei der Landzuteilung wurde das erworbene
Eigentum Init dem Hammerschlage seinem Besitzer feierlich
zugesprochen, und bei der Vermählung wurde die Braut mit dem
8*
116
Hammer berührt, zum Zeichen, daß sie nun für immer dem Manne
angetraut war.
Der dritte der großen germanischen Götter ist Zio oder Tyr,
der auch unter den Namen Ziu oder Tin vorkommt. Auch er ist ein
Sohn des erhabenen Himmelskönigs, der als Allvater über alle
Wesen herrscht. Ist Wodan der Lenker der Schlachten, so ist Zio
der Gott des wilden Kriegsgetümmels. Ihm war das Schwert ge-
weiht; daher auch sein Name Sachsnot, der Schwertwaltende, bei den
angelsächsischen Stämmen; an ihn erinnerte im deutschen Walde der
kriegerisch behelmte Eisenhut.
In zahlreichen anderen Gottheiten hat sich der religiöse Sinn
unserer Altvordern gezeigt. Da ist Fro oder Freyr, der Sonnen-
gott, der die segnenden Strahlen der Erde zuführt. Wie er selbst, der
gütige, freundliche Herr, auf dem goldborstigen Eber reitet, so ist auch
an seinem herrlichen Feste zur Zeit der Wintersonnenwende ein ge-
bratenes Wildschwein, das einen goldfarbigen Apfel oder eine Zitrone
im Rachen trägt, das auserlesene Gericht. Ihm ähnlich ist seine
Schwester Freya. Sie segnet die Erde mit Fruchtbarkeit, ist aber
auch zugleich die Anführerin der Walküren, jener Schildjung-
srauen Wodans, welche die gefallenen Helden aufwärts tragen in
Folkwang, der Göttin Palast. Hier wird ihnen der Trank der
Unsterblichkeit gereicht, durch den sie zu den Freuden Walhalls eingehen
können.
Von Frigga, der Götterkönigin, geschieden, deren Züge sie im
übrigen trägt, tritt bei manchen germanischen Stämmen die freundliche,
milde Göttin Hulda oder Holda auf, auch Frau Holle oder — bei
den süddeutschen Stämmen — Frau Berchta genannt. Überall be-
zeigt sie sich wohlwollend und mütterlich gegen die Menschen und
zürnt nur da, wo sie Trägheit und Unordnung im Haushalte wahr-
nimmt. Auf einem Wagen fährt sie durch das Land, überall Segen
und Fruchtbarkeit spendend. Wo der Flachs fein und richtig gesponnen
wird, da spricht sie ihren Segen über das Haus: „So manches ge-
sponnene Haar, so manches gute Jahr." — Der trägen Hausfrau
ruft sie zu: „So manches ungesponnene Haar, so manches böse
Jahr." Fleißigen Spinnerinnen schenkt sie Spindeln, die das Garn
wunderbar vermehren, oder Flachsfäden, die sich hernach in Gold ver-
wandeln. Auch von ihr heißt es, daß es auf Erden schneit, wenn sie
ihre Betten macht. Hulda liebt die Brunnen und Seen; oft sieht
man sie zur Mittagsstunde als schöne, weiße Frau am Ufer sitzen
und in die Tiefen des Gewässers hinabtauchen zu ihrer goldglänzenden
117
Wohnung unten im Grunde. Ihr, der lieblichsten deutschen Göttin,
grünte und blühte der schönste deutsche Baum, die anmutige, süß-
duftende Linde. Dankbar läßt man ihr nach der Ernte ein Bün-
del Flachs als Opfer auf dem Felde zurück und begrüßt mit Freuden
auf dem Dache des Hauses den Storch, Huldas glückverheißenden
Vogel.
Wenn dieser aus dem Süden heimkehrt, dann wendet sich die
Göttin des im Osten nun immer schöner erglänzenden Lichts, die
Frühlingsgöttin Ostara, freundlich der Erde zu. Der muntere
Hase, der an ihrem Feste die bunten Eier bringt, ist bedeutungsvoll
das Sinnbild des sich in der holden Frühlingszeit froh entwickelnden
Lebens. Sommerglanz und Sommerleben mit Blumenschmuck und
Rauschen klarer Quellen bringt nun der jugendlich schöne Gott
Balder, der da leuchtet wie das reine Licht und der volle Tag. Ein
Sohn Wodans und seiner Gemahlin Frigga, wohnt er gleich dem
Vater in einem Saale, worin alles wie Gold und Silber funkelt.
Wie er die Welt mit seinem milden Lichte durchdringt und erhellt,
so daß nichts in ihr dunkel und verborgen bleibt, so ist ihm auch
licht und offen, was unter den Menschen verworren und unklar
scheint. Weise und gerecht entscheidet er, wo die Menschen ums Recht
hadern, und stellt zwischen ihnen den milden Frieden her.
Längst sind sie untergegangen im Glauben unseres Volkes, die
großen, gütigen Götter, zu denen einst unsere Urahnen andachtsvoll
emporblickten, — mit ihnen so manche Genossen, die sich freundlich
ihnen zugesellten. Bragi, der göttliche Sangesmeister, greift nicht
mehr in die Saiten, um zum Klange seiner Harfe den Göttern ein
Lied zu singen; Iduna reicht ihnen nicht mehr die Zauberäpfel, durch
deren Genuß sie ewig jung bleiben. Ebenso sind die bösen Gottheiten
verschwunden, die den Göttern und Menschen Unheil brachten: der
tückische Loki und die unerbittliche, furchtbare Hellia. Sie alle sind
einer höheren, reineren Erkenntnis gewichen. Aber sie leben dennoch
in gewissem Sinne fort, — nicht bloß in der Geschichte unseres
Volkes, sondern auch in gar vielen Märchen und Sagen, in manchen
festlichen Gebräuchen, die wir noch heute begehen, und in dem Namen
von Bergen und anderen Orten wie in denen unserer Wochentage; der
Dienstag, der Donnerstag und der Freitag, bei anderen germanischen
Völkern auch der Mittwoch, tragen noch heute ihre Namen.
Nach Felix Dahn und Georg Weber.
— 118 —
65. Lied der Walküre.
1. i>oh sah ich dich aufblühn,
du freudiger Held;
lang folgt’ ich dir, schwebend
und schweigend gesellt.
5. Ich zog dir zum Ziele
den zischenden Pfeil,
auf riss ich das Hofs dir,
das gestrauchelt am Steil.
2. Oftküfst’ich desSchlummernden 6. Oft fing ich des Feindes
Schläfe gelind j geschwungenes Schwert,
und leise die Locken,
die dir wehen im Wind.
3. Hoch flog ich zu Häupten
— du ahntest mich kaum —
durch die Wipfel der Wälder,
dein Trost und dein Traum.
4. Ich brach vor dem Bugspriet
durch Brandung dir Bahn;
vor demSchiffe dir schwamm ich,
weifsschwingig, ein Schwan.
lang hab’ ich die Lanzen
vom Leib dir gewehrt.
7. Und nun, da die Norne
den Tod dir verhängt,
hab’ ich dir den schnellsten,
den schönsten geschenkt!
8. „Sieg!“ — riefest du selig -
„Sieg, Sieg allerwärts!“
Da lenkt’ ich die Lanze
dir ins herrliche Herz.
9. Du lächeltest lieblich —
ich umfing dich im Fall —
ich küsse die Wunde —
und nun auf — nach Walhall!
____________ Felix Dahn.
66. Die altgermamschen Iahresftste.
Außer den Wochentagen, die den Göttern geheiligt waren, gab
es auch bestimmte festliche Zeiten, in denen man ihnen besondere
Verehrung weihte. Diese Feste schlossen sich an die vier Jahres-
zeiten. Wenn im Beginn des Frühlings das Eis krachend auf den
Strömen zerbarst und der Sturmwind rauschend über die Berge da-
hinsuhr, dann sahen unsere Ahnen in diesem Walten der Natur
Donars mächtige Hand. Sie sangen: „Donar fährt durch die Lüfte;
sein Barthaar flattert im Sturme; die Wolken, mit fruchtbarem Regen
geladen, sind sein Gewand." Siegreich bestand der Donnergott den
Kampf mit den Eisriesen, nach denen er seinen gewaltigen Hammer
warf. Nach dem Streite rief er seine Schwester, die holde Ostara,
daß sie den Frühling schaffe. Diese brachte durch Sonnenschein und
Frühtau die Pflanzen zum Keimen und Grünen und schmückte die
Erde mit den ersten Blumen. Sie teilte sich daher mit ihrem Bruder
in die Ehren des Frühlingsfestes, das nach ihr den Namen des
Osterfestes empfing. Es war ein hohes Freudenfest. Helle
Freudenfeuer leuchteten nun auf den Höhen, ein Sinnbild der höher
und höher steigenden und kräftiger scheinenden Sonne. Donars ge-
heiligte Tiere, Ziegenböcke, wurden, mit Erstlingsgrün geschmückt, um-
hergeführt, dann geschlachtet und, nachdem die Köpfe und die besten
Stücke als Opfer dargebracht waren, in gemeinsamem Mahle verzehrt.
Der Ostara war der Hase heilig, und als Opfer wurden ihr besonders
Eier dargebracht, ein Sinnbild des erwachenden Lebens.
Was die Frühlingsgöttin begonnen, das vollendete Freya, die
Göttin der Schönheit und des Segens der Natur. Nun blühte alles
in reichster Fülle und Pracht empor, und die Vögel sangen holde
Lieder. Ihnen hatte zwar Bragi, der Gott der Dichtkunst, einst die
Gabe des Gesanges gegeben, aber Freya war es, die ihnen in jedem
Jahre aufs neue Sangeslust und frohe Lieder verlieh. Zur Zeit der
Sommersonnenwende feierte man Freyas hohes Fest, das schöne
Mittsommerfest. Nun blühten im Hag die Rosen, der Göttin
Lieblingsblumen, nun dufteten süß die Linden, Freyas heilige Bäume,
die allen teuer waren und bei vielen deutschen Stämmen auch als
Lieblinqsbäume der freundlichen Göttin Hulda hochgehalten wurden.
Feuerräder rollten von den Bergen, ein Zeichen der jetzt in vollem
Glanze strahlenden, aber von nun an wieder herabsinkenden Sonne,
und die Mittsommernacht verbrachte man draußen am klaren Wasser
rauschender Quellen. Bei manchen germanischen Stämmen war das
Fest der Sommersonnenwende auch noch anderen Gottheiten geweiht,
so bei den Sachsen, welche den Tyr (Ziu), bei ihnen Sachsnot ge-
nannt, dann durch kriegerische Spiele verehrten.
Ein bedeutsames Fest war auch das Herbst- oder Erntefest,
nach dem Gott, zu dessen Ehren es gefeiert wurde, auch Wodansfest
genannt. Außer den Opfern an ausgewählten Pferden, Stieren,
Gänsen und anderen Tieren brachte man dem gütigen Himmelsherrn
noch eine besonders sinnige Gabe dar, indem man auf den abge-
ernteten Feldern einige Garben oder Früchte zurückließ und sie ihm
widmete. Dagegen waltete auch, namentlich wenn die Ernte schlecht
geraten war oder sonst dem Volke Not und Gefahr drohte, die schreck-
liche Sitte, daß Kriegsgefangene oder Sklaven am Wodansseste ge-
opfert wurden. Im übrigen ist von den Gebräuchen desselben mit
Sicherheit nicht viel bekannt.
120
Desto mehr wissen wir von dem fröhlichen Jul- oder Rad-
feste. Wenn die Sonne gegen Ende des Jahres tiefer und tiefer
gesunken war und bald ganz zu verschwinden drohte, dann, am
kürzesten Tage des Jahres, feierte man Freyrs, des Sonnengottes,
hohes Fest. Er gab dem strahlenden Balle, dem glühenden Feuer-
funken aus Muspilheim, wieder neue Kraft, damit Licht und Wärme
ihm erhalten blieben. Nun mußte die Sonne bald wieder höher am
Himmel emporsteigen und ihre segnenden Strahlen kräftiger verbreiten.
So jubelte denn alles dem Lichtgott und seinem Werke entgegen.
Da ward an dem heiligen Tage das Herdfeuer in den Wohnungen
gelöscht. Man zog hinaus zu dem heiligen Rade, das durch rasche
Drehung in Brand gesetzt wurde. An seiner geweihten Flamme
ward von jedem Hausvater ein Scheit entzündet und mit diesem
stammenden Holze das Herdfeuer wieder hergestellt. Ein gewaltiger
Block, meistens der Stumpf einer alten Eiche, der Julklotz, brannte
oder glomm nun lange Zeit auf dem häuslichen Herde, ein Zeichen
der fortlebenden und wieder siegreich vordringenden Sonnenkraft.
Immergrüne Pflanzen, wie die Fichte und Tanne, die Stechpalme
mit den lederartigen, glänzenden Blättern und scharlachroten Früchten,
oder die seltsame Mistel mit ihren gelblichweißen Beeren, schmückten
die Wohnungen und erinnerten daran, daß die Natur nicht erstorben
sei, sondern nur schlummere, um zu neuem Leben kraftvoll zu er-
wachen. Beim Festmahle war Freyrs goldborstiger Eber das vor-
nehmste Gericht. Um ihn scharte sich das ganze Hausgesinde und ge-
lobte Treue dem Hausherrn für das kommende Jahr: ebenso schwuren
die Mannen aufs neue dem König oder Herzog unverbrüchliche Ge-
folgschaft. Aber auch die Gebietenden legten, die Hand auf des
heiligen Tieres Kopf haltend, das feierliche Gelübde ab, gegen alle
Untergebenen gerecht und treulich ihres Amtes zu walten. An des
Sonnengottes frohem Feste sollten auch Knechtschaft und Kettenlast
schwinden. Darum durfte sich jetzt auch der Sklave seines Lebens
freuen, und dem Gefangenen wurden für diese Tage die Fesseln gelöst.
Während nun auf Erden Frohsinn und Freude herrschten, ließ
Freyr in Lichtalfenheim, seinem schimmernden Reiche, die Alfen die
gewaltigen Schwungräder aus härtestem Felsengestein drehen, deren
mächtige Funken er den absterbenden Flammen Muspilheims, mit
denen die Sonne leuchtet, zuführte und sie so wieder zu voller Glut
anfachte. — Nach dem Julfeste oder dem Feste der Wintersonnen-
wende folgten die heiligen Zwölfnächte, wo die Götter der Erde
nahten oder auf ihr wandelten. Nun zog Wodan auf seinem weißen
Rosse mit hohem Gefolge einher durch die Lüfte, und seine Gemahlin
kehrte als gütige Frau HoNe in die Häuser der Irdischen ein.
Manche Gebräuche bei den altgermanischen Festen haben sich bis
heute erhalten. Als die christlichen Glaubensboten den germanischen
Stämmen die frohe Botschaft von der Erscheinung Christi brachten
und nun die alten Götter allmählich im Glauben des Volkes dahin-
schwanden, sollten damit noch nicht alle liebgewordenen Gewohnheiten
fallen. So hat denn die christliche Zeit manches, was an Sinnigem
und Schönem im alten Brauche war, freundlich geschont und in den
Kreis ihrer Feste aufgenommen. Noch heute suchen am hohen Feste
der Auferstehung, in dem bei den germanischen Völkern sich der Name
der alten Frühlingsgöttin erhalten hat, die Kinder die Eier, die der
Osterhase gelegt hat, und bei den skandinavischen Stämmen hat der
Johannistag manche Züge des alten Mittsommerfestes. Nun grünen
die Tannen bei uns Deutschen, die Stechpalmen und Misteln bei den
Engländern am herrlichen Feste der Weihnacht zur Ehre dessen, der
der erstorbenen Welt neues Leben brachte. Die Christtanne gehört
notwendig zum deutschen Hause. Wo nur Deutsche wohnen, da
schmückt sich Weihnachten der Familientisch mit dem lichtstrahlenden
Baume, und müßte er in fernen Zonen durch einen ihm ähnlichen
ersetzt werden. So schlingt schöner, uralter Brauch ein freundliches
Band um alle Genossen unseres Volkes, wie weit auch Länder und
Meere fie trennen. Nach Johann Hermann Albers.
67. Der Schmied von Helgoland.
1. Meister Oluf, der Schmied von Helgoland,
stand noch vor dem Amboß um Mitternacht.
Laut heulte der Wind am Meeresstrand,
da klopft es an seine Thür mit Macht.
2. „Mach auf, mach auf, beschlag mir mein Roß!
Ich muß noch weit, und der Tag ist nah."
Meister Oluf öffnet der Thüre Schloß;
ein stattlicher Reiter steht vor ihm da.
3. Schwarz ist sein Panzer, sein Helm und Schild,
an der Hüfte hängt ihm ein breites Schwert;
fein Rappe schüttelt die Mähne gar wild
und stampft mit Ungeduld die Erd'.
4. „Woher so spät? Wohin so schnell?" —
„Auf Norderney kehrt' ich gestern ein;
mein Pferd ist rasch, und die Nacht ist hell —
vor der Sonne muß ich in Norwegen sein."
5. „Hättet Ihr Flügel, so glaubt' ich's gern." —
„Mein Rappe läuft wohl mit dem Wind;
doch bleicht schon da und dort ein Stern;
drum her mit dem Eisen und mach geschwind!"
6. Meister Oluf nimmt das Eisen zur Hand;
es ist zu klein, doch es dehnt sich aus,
und wie es wächst um des Hufes Rand,
da faßt den Meister Angst und Graus.
7. Der Reiter sitzt aus; es klirrt sein Schwert:
„Nun, Meister Oluf, gute Nacht!
Wohl hast du beschlagen Odins Pferd;
ich eile hinüber zur blutigen Schlacht."
8. Der Rappe schießt fort über Land und Meer,
um Odins Haupt erglänzt ein Licht;
zwölf Adler fliegen hinter ihm her,
sie fliegen schnell und erreichen ihn nicht.
9. Der Reiter singt eine Melodei
wie Zauberspruch vom Strome der Zeit,
vom Geiste, der da schaffet frei
Sein und Vergehen in Ewigkeit.
10. Der Sturmwind rast, laut braust das Meer,
wie Harfenklingen zum Liede schallt,
und wer es vernimmt, der Wiederkehr
zur Heimat er vergißt alsbald.
11. Und wer es hört auf schäumender See
und im Thalesgrund, im schattigen Hain,
der fühlt ein Bangen von Lust und Weh,
beim Odin am liebsten möcht' er sein.
BoUsballade.
123
68. Erlkönig.
1^ Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
2. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Krön' und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —
3. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir;
manch bunte Blumen sind an dem Strand,
meine Mutter hat manch gülden Gewand." —
4. Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
was Erlenkönig mir leise verspricht? —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
in dürren Blättern säuselt der Wind. -§
/ 5. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
und wiegen und tanzen und singen dich ein."
6. Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau:
es scheinen die alten Weiden so grau. —
7. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt." —
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids gethan! —
8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
er hält in Armen das ächzende Kind,
erreicht den Hof mit Mühe und Not;
in seinen Armen das Kind war tot. Johann rvoifgang v. Goethe.
124
69. Die Gründung Frankfurts.
1. Die besten seiner Helden, sie lagen in Sachsen tot;
da flöhe Karolus Magnus, der Kaiser, in großer Not.
2. „Laßt eine Furt uns suchen, längshin am schönen Main!
O weh, da liegt ein Nebel, der Feind ist hinterdrein!"
3. Nun betete Kaiser Karol auf Knieen an seinem Speer,
da teilte sich der Nebel, eine Hirschin ging daher;
4. die führte ihre Jungen hinüber zum andern Strand;
so machte Gott den Franken die rechte Furt bekannt.
5. Hinüber zogen alle wie Israel durchs Meer;
die Sachsen aber fanden im Nebel die Furt nicht mehr.
6. Da schlug der Kaiser Karol mit seinem Speer den Sand:
„Die Stätte sei hinfüro der Franken Furt genannt!"
7. Er kam da bald zurücke mit neuer Heeresmacht,
damit er der Sachsen Lande zu seinem Reich gebracht.
8. Doch dort am Main erpranget nun eine werte Stadt,
die reich ist aller Güter und edle Bürger hat.
9. Es ward da mancher Kaiser gekrönt mit Karols Krön'
und feierlich gesetzet auf goldgestickten Thron.
10. Da briet man ganze Rinder, es strömte der Fülle Horn,
es schöpfte jeder Arme Wein sich aus reichem Born.
11. Im Römer füllte dem Kaiser der Erzschenk den Pokal,
mit Kaiserbildern wurden bedeckt alle Wände im Saal.
12. Bedeckt sind alle Wände bis an den letzten Saum,
kein neuer Herrscher fände zu seinem Bildnis Raum:
13. Der erste deutsche Kaiser gab Namen dieser Stadt,
die auch den letzten Kaiser in ihr gekrönet hat. August Arisch.
70. Der blinde König.
2. „Gi^, Räuber, aus dem Fels-
1. Was steht der nord'schen Fechter
Schar
hoch auf des Meeres Bord?
verließ
die Tochter mir zurück!
Was will in seinem grauen Haar Ihr Harfenspiel, ihr Lied so süß
der blinde König dort?
war meines Alters Glück.
Vom Tanz auf grünem Strande
hast du sie weggeraubt;
dir ist es ewig Schande,
mir beugt's das graue Haupt."
Er ruft in bittrem Harme,
auf seinen Stab gelehnt,
daß überm Meeresarme
das Eiland wiedertönt:
125
3 Da tritt aus seiner Kluft hervor
der Räuber, groß und wild;
er schwingt sein Hünenschwert
empor
! und schlägt an seinen Schild:
„Du hast ja viele Wächter,
warum denn litten's die?
Dir dient so mancher Fechter,
und keiner kämpft um sie?"
4. Noch stehn die Fechter alle
stumm,
tritt keiner aus den Reihn;
der blinde König kehrt sich um:
„Bin ich denn ganz allein?"
Da faßt des Vaters Rechte
sein junger Sohn so warm:
„Vergönnt mir's, daß ich fechte!
Wohl fühl' ich Kraft im Arm."
5. „O Sohn! der Feind ist riesen-
stark,
ihm hielt noch keiner stand.
Und doch! in dir ist edles Mark,
ich fühl's am Druck der Hand.
Nimm hier die alte Klinge!
Sie ist der Skalden Preis;
und fällst du, so verschlinge
die Flut mich armen Greis!"
6. Und horch! es schäumet, und es
rauscht
der Nachen übers Meer;
der blinde König steht und lauscht,
und alles schweigt umher,
bis drüben sich erhoben
der Schild' und Schwerter Schall
und Kampfgeschrei und Toben
und dumpfer Wiederhall.
7. Da ruft der Greis so freudig bang:
„Sagt an, was ihr erschaut!
Mein Schwert, ich kenn's am guten
Klang,
es gab so scharfen Laut!" —
„Der Räuber ist gefallen,
er hat den blut'gen Lohn.
Heil dir, du Held vor allen,
du starker Königssohn!"
8. Und wieder wird es still
umher,
der König steht und lauscht:
„Was hör' ich kommen übers Meer?
Es rudert, und es rauscht!"
„Sie kommen angefahren,
dein Sohn mit Schwert und Schild,
in sonnenhellen Haaren
dein Töchterlein Gunild."
9. „Willkommen!" ruft vom hohen Stein
der blinde Greis hinab,
„nun wird mein Alter wonnig sein
und ehrenvoll mein Grab.
Du legst mir, Sohn, zur Seite
das Schwert von gutem Klang,
Gunilde, du Befreite,
singst mir den Grabgesang."
Ludwig Uhlaud.
126
71. Lohengrin.
i.
Ein Herzog von Brabant und Limburg hinterliess bei seinem
Tode sein Land und alles, was er hatte, seiner einzigen Tochter,
Elsa genannt. Damit diese aber nicht ohne Beschützer sei,
hatte er vor seinem Tode denjenigen seiner Mannen, den er für
den mächtigsten und getreuesten hielt, Friedrich von Telramund,
zu sich kommen lassen und zu ihm gesprochen: „Lieber
Friedrich, ich habe nie eine Untreue an dir befunden; nun bitte
ich, dass du solche Treue auch nach meinem Tode beweisest
und ein treuer Verwalter meines Landes, ein treuer Beschützer
meiner Tochter seiest.“
Friedrich von Telramund versprach es seinem Herrn, und
ruhig schied dieser aus der Welt. Friedrich bewies aber später
nicht die Treue, die er versprochen, vielmehr ward er übermütig,
erhob sein Auge zu seiner Fürstin und drang in sie, dass sie
ihn zum Gemahl nehmen sollte. Als sie aber erwiderte, dass
er ihres Vaters Dienstmann gewesen sei und darum nicht die
Hand einer Fürstin besitzen könne, drang er nur um so unge-
stümer in sie und verklagte sie sogar bei dem Kaiser Heinrich I.,
dem er vorlog, sie habe ihm die Ehe versprochen, wolle nun
aber ihr Wort nicht halten.
Da sprach der Kaiser zu Recht, die Fürstin solle Friedrich
von Telramund zum Manne nehmen, oder einen Kämpfer stellen,
der im Zweikampfe mit Friedrich beweise, dass sie diesem die
Ehe nicht versprochen habe. Die Fürstin bat alle ihre Man-
nen, sich für ihre Ehre zum Kampfe mit Telramund bereit
finden zu lassen, aber keiner wollte es wagen. Sie fürchteten
alle Friedrichs grosse Kraft. Da weinte die Fürstin in ihrer
grossen Not. Sie warf sich betend am Altare nieder, und zum
Zeichen ihrer Bedrängnis läutete sie ein goldenes Glöckchen,
das sie einst einem verwundeten Falken abgenommen hatte.
Der Klang drang fernhin durch die Wolken; wie Donner war
er anzuhören. Er drang bis nach Montsalvatsch, der Burg, wo
fromme Ritter dem heiligen Gral dienten. An dem Klange
merkten die Ritter, dass jemand in grosser Bedrängnis war.
Sie gingen alle vor den Gral, um zu erfahren, was geschehen
sei. Da fanden sie an ihm geschrieben von der Not der Her-
zogin Elsa von Brabant.
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Alsbald entstand ein Wettstreit unter den Bittern, wer der
Befreier der Herzogin sein sollte. Jeder hätte gern in ihrem
Dienste sein Schwert gezogen. Noch stritten sie. Da erschien
an dem Gral, eine neue Schrift; der Name Lohengrins, des
Sohnes Parzivals, stand daran geschrieben, und die Helden er-
kannten daran, dass er zu Elsas Retter erkoren war.
Sie beneideten ihn zwar um das Abenteuer, das seiner
wartete, aber sie halfen ihm willig, als er sich wappnete und
zum Zuge rüstete. Ein Knappe führte ihm auch ein Boss vor;
das war so schnell, dass es mit den Eüfsen kaum die Erde zu
berühren, vielmehr in den Lüften zu fliegen schien. Lohengrin
nahm Abschied von seinem Könige, von Vater und Mutter und
von den Freunden. Schon griff er nach dem Zaume des Rosses,
schon wollte er seinen Fuss in den Steigbügel setzen, — da er-
schien an dem Gestade ein scbneeweifser Schwan, der ein
Schifflein hinter sich zog. Sein Erscheinen hielt Lohengrin für
eine Weisung des Himmels. Darum sprach er: „Nun führet
das Ross wieder in den Stall, ich will mit diesem Vogel fahren,,
wohin er mich führt.“ Damit stieg er in das Schiff. Man
wollte ihm Speise in dasselbe tragen; er aber lehnte es ab und
sprach: „Der mich von hinnen ruft, wird mich nicht ungepflegt
lassen.“ Da schwamm der Schwan von dannen mit dem Schifflein.
Fünf Tage schon war Lohengrin auf dem Meere, und noch
batte er nichts gegessen. Da fing der Schwan mit seinem
Schnabel ein Fischlein und verschlang es. Lohengrin sah es
und sprach: „Du issest allein, und doch bin ich dein Gefährte.
Du solltest wohl die Speise mit mir teilen.“ Noch einmal
tauchte da der Schwan den Kopf unter, und als er wieder her-
vorkam, hielt er eine Oblate in seinem Schnabel, die er dem
Fürsten reichte. Danach entschlief Lohengrin auf seinem Schilde,,
während das Schifflein gefahrlos auf den Wellen dahinglitt.
Unterdessen lebte Elsa von Brabant in grosser Sorge. Ihr
Kaplan aber tröstete sie und sprach: „Seid wohlgemut, teure
Fürstin. So wahr Gott lebt, er wird Euch nicht in den Händen
der Ungerechten lassen, sondern Euch einen Kämpfer senden,
der Eure Ehre rette.“ Die der Fürstin gesetzte Frist, binnen
welcher sie einen Kämpfer gegen Friedrich von Telramund
stellen sollte, war aber fast verstrichen. Da entbot sie alle ihre
Mannen aus Brabant und Limburg zu einer Beratung nach
Antwerpen. Sie kamen, und die Fürstin erzählte ihnen ihre
128
Not. Noch standen sie alle stumm und unbeweglich, keiner
hatte Lust, den Kampf mit dem starken Friedrich zu wagen —
da sah man auf den Wellen des Flusses einen Schwan daher-
schwimmen, der ein Schifflein nach sich zog, in welchem ein
herrlicher Ritter schlafend lag. Als der Kaplan das sah, sprach
er zu seiner Herrin: „Nun merket, teure Herrin, ob Euch Gott
nicht einen Retter schicken will.“
Der Schwan war unterdessen an das Ufer herangekommen,
und das Volk rief laut, als es den herrlichen Ritter erblickte:
„Ein Wunder, ein Wunder!“ Von diesem Rufen erwachte Lohen-
grin, denn er war der schlafende Ritter. Er richtete sich auf
und stieg ans Land, der Schwan aber zog wieder von dannen.
Lohengrin ward herrlich empfangen. Speise und Trank
und gutes Gemach bot man ihm alsbald. Als ihm aber die
Fürstin die Bedrängnis erzählte, in der sie war, erbot er sich,
ihr Kämpfer gegen Friedrich von Telramund zu sein. Auch
gefiel ihm die Fürstin so sehr, dass er wohl wünschte, sie
möchte sein Weib werden. Elsa aber konnte den herrlichen
Ritter gar nicht genug anschauen und ward von herzlicher Liebe
zu ihm entzündet.
Dem Grafen Friedrich ward angesagt, dass sich ein Kämpfer
für die Herzogin Elsa gefunden habe. Er wunderte sich wohl
darüber und zumal über dessen sonderbare Ankunft, aber er
fürchtete sich nicht, sondern verliess sich auf seinen starken
Arm. Da der Kampf in des Kaisers Beisein stattfinden sollte,
so ward den Freunden und Unterthanen der Herzogin angesagt, dass
sie sich zu einem Zuge an des Kaisers Hoflager rüsten sollten.
Bereitwillig kamen sie alle herbei. Der Zug machte sich auf
den Weg, aber auch unterwegs kamen immer noch neue Scharen
hinzu. In Saarbrücken endlich waren alle beisammen, und von
da zogen sie auf einen Anger zwischen Oppenheim und Mainz.
Der Kaiser aber hielt sich zu dieser Zeit in Frankfurt auf.
Es ward ihm angesagt, dass die Fürstin mit ihren Mannen ge-
kommen sei und einen Kämpfer mitbringe, der ihre Ehre im
Kampfe erweisen wolle. Da versprach der Kaiser, nach Mainz
zu kommen; dort sollte der Kampf stattfinden.
Unterdessen war auch Friedrich von Telramund angekommen
und als der Kaiser erschien, ward der Tag des Kampfes fest-
gesetzt, auch nach dem Willen der Kämpfer bestimmt, dass der
Kampf zu Ross und mit dem Speere stattfinden sollte.
Als der Tag des Kampfes erschien, hörten die beiden
Helden am Morgen eine Messe; dann zogen sie, von vielem
Volke begleitet, zum Kampfplatze. Sie ritten in die Schranken,
die Zuschauer aber nahmen auf dem Gestühle Platz, welches
ringsum hergerichtet war. Der Kampf begann. Mit neuen,
starken Speeren rannten die Kämpfer gegeneinander an, und
so kräftig waren ihre Stösse, dass die Rosse davon sich hoch
empor bäumten und die Speere zerbrachen. Da warfen sie die
Trümmer der Speere weg und griffen nach den Schwertern.
Kräftige Schläge führten sie gegeneinander. Es schien, als
wären beide Kämpfer gleich stark; lange konnte keiner dem
andern einen Vorteil abgewinnen, und ängstlich harrten die Zu-
schauer des Ausgangs. Endlich schlug Lohengrin mit solcher
Gewalt durch Friedrichs Helm, dass seinem Gegner die Sinne
vergingen. Da bat Friedrich um Frieden für eine kurze Weile,
und Lohengrin gewährte ihm denselben, indem er sprach: „Es
wäre mir keine Ehre, wenn ich Euch jetzt, da Ihr betäubt seid,
erschlagen wollte.“ Bald aber begann der Kampf von neuem.
Friedrich kam in demselben durch den starken Lohengrin so
sehr in Not, dass er sich ihm ergab und gestand, dass Fürstin
Elsa ihm nie die Ehe versprochen hätte.
Als darauf Gericht gehalten ward über den Lügner, war
mancher edle Herr, der für ihn bat. „Es ist ein edler Held,“
sprachen viele „und hätte er diese Lüge nicht gesagt, so wäre
kein Makel an ihm.“ Der Kaiser aber wollte nichts von Gnade
hören; er verurteilte den Grafen, der auch sofort enthauptet
wurde. Ihn beklagte mancher, dem sein jugendliches, rosiges
Antlitz Mitleid emgeflöfst hatte.
Elsa wählte nun mit der Zustimmung ihrer Fürsten den
Helden Lohengrin, den sie vom ersten Anblick an lieb gewon-
nen hatte, zu ihrem Gemahl. Sie traten beide miteinander in
den Ring, und der Kaiser gab sie vor allen Anwesenden zu-
sammen. Doch hatte Lohengrin vorher noch eine Bedingung
gestellt: Elsa sollte nie fragen, woher er gekommen sei. Werde
sie das halten, so werde er immerdar bei ihr bleiben dürfen;
thue sie aber die verbotene Frage, so müsse er von ihr scheiden.
Elsa versprach, was er verlangte, und so wurden die beiden ein
glückliches Paar und kehrten voll Freuden, geleilet von ihren
Unterthanen, nach Brabant zurück.
Kippenberg, A 5 (N. 81.).
9
130
2.
Lohengriii nahm seine Lande von dem Kaiser zn Lehen
und herrschte gewaltig und weise in denselben. Auch that er
dem Kaiser gute Dienste in dem Kriege, den dieser gegen die
Hunnen zu führen hatte. Mit Elsa aber lebte er in ungestörtem
Glücke.
Einst waren Lohengrin und seine Gemahlin mit vielen an-
deren Fürsten und Herren an den Hof des Kaisers geladen, um
die Vermählung der kaiserlichen Tochter mit dem Herzoge von
Lothringen mitzufeiern. Grosse Pracht war da zu schauen, und
kein Tag verging, ohne dass die Ritter in Kampfspielen sich
übten. Bei einem solchen Kampfspiele war es, dass Lohengrin
in kurzer Frist vier seiner Gegner in den Sand streckte. Der
Kaiser lobte ihn dafür, und die Kaiserin, die mit den übrigen
Frauen den Kämpfen zuschaute, pries ihn gegen die Frauen und
erinnerte an die Heldenthaten, die er in dem Kriege gegen die
Hunnen vollführt hatte.
Dieses Lob verdross aber die Herzogin von Cleve, und
neidisch sprach sie: „Lohengrin mag ein kühner Held sein und
der Christenheit zur Zierde gereichen. Nur schade, dass man
nicht weiss, von wannen er gekommen ist. Fast möchte man
glauben, er sei nicht von adeligem Geschlechte, und das sei die
Ursache der Verheimlichung seiner Abkunft.“ Solches sagte
sie aber, weil sie es Lohengrin nicht vergessen konnte, dass er
einst im Turnier ihren Gemahl vom Rosse gestochen hatte, so
dass er zur Erde fiel und den rechten Arm brach.
Diese Rede ging der Herzogin von Brabant durchs Herz,
und eine lichte Röte schoss ihr darüber ins Angesicht. Die
Kaiserin aber verwies der Herzogin von Cleve ihr ungeziemendes
Reden und tröstete die gekränkte Frau. Elsa konnte aber den
ganzen Tag die Rede der Herzogin nicht aus dem Gedächtnisse
bringen. Sie war traurig, und als am Abend Lohengrin in ihr
Zimmer kam, fand er sie weinend. Erfragte sie: „LiebesWeib,
was fehlt dir?“ Sie schwieg und weinte nur um so mehr, denn
sie wusste wohl, dass ihr der Held verboten hatte, nach seiner
Herkunft zu fragen. So ging es drei Tage. Länger vermochte
die Herzogin ihren geheimen Kummer nicht zu tragen, und auf
Lohengrins erneute Bitte, ihm zu sagen, was ihr fehle, erzählte
sie ihm, wie die Herzogin von Cleve ihr weh gethan habe, und
131
dann that sie die verhängnisvolle Frage. Lohengrin erschrak,
denn er wusste, dass er sich nun von seinem Weibe trennen
musste. Er vertröstete sie aber bis auf ihre Heimkehr, da wolle er
ihr sagen, woher er sei. Damit war Elsa zufrieden. Darauf bat
der Held die anwesenden Herren, ihn nach Antwerpen zu begleiten.
Die erklärten sich dazu bereit, und selbst der Kaiser zog mit.
Als man in Antwerpen angekommen war, versammelte er
alle seine Gäste um sich und sprach zu ihnen: „Ihr wisst, dass
ich mir ausbedungen hatte, mein Weib sollte mich nie nach
meiner Herkunft fragen; denn wenn sie eine solche Frage thäte,
müsste ich von ihr scheiden. Nun hat sie leider doch die Frage
gethan, und so will ich denn vor euch allen antworten. Ich
bin wohl aus edlem Geschlechte. Parzival, der dem Gral dient,
ist mein Vater, und von dem heiligen Gral selbst bin ich ausge-
sandt, der bedrängten Herzogin von Brabant zu Hülfe zu
kommen.“
Darauf bat er die Herren, sich in Treuen seines Weibes
anzunehmen, das er jetzt verlassen müsste, und auch für seine
beiden Söhnlein zu sorgen. Er liess sich die Kinder bringen,
herzte und küsste sie und gab den Umstehenden sein Schwert
und sein Horn, damit sie es sorgsam bewahrten, bis seine Söhne
herangewachsen wären. Seinem Weibe aber, das in sprachlosem
Schmerze und fast ohne Bewusstsein alles gehört und mit an-
gesehen hatte, gab er ein Ringlein, das er einst von seiner Mutter
zum Andenken erhalten hatte. Siehe, da kam der Schwan
wieder herbeigeschwommen, der vor Jahren den Helden gebracht
hatte, und hinter sich zog er wieder das Schifflein. Als die
Fürstin ihn sah, schien ihr die Besinnung erst wiederzukommen.
Sie hing sich an den Hals des Helden, und laut weinend rief
sie: „Bleibt hier, viel lieber Herr! Macht mich nicht so elend,
dass ich mein Leben lang um Euch weinen müsste.“
Lohengrin aber machte sich sanft von ihr los und stieg in
das Schiff. Sofort schwamm der Schwan von dannen. Einen
Grafs noch rief der Held der Geliebten zu; diese aber sank
ohnmächtig den Frauen in die Arme. Der Kaiser und die
übrigen Herren nahmen sich der verwaisten Söhne an. Johann
und Lohengrin hiessen sie und wurden Helden, die ihres
Vaters würdig waren. Die Herzogin aber klagte und weinte
ihr übriges Leben lang um den geliebten Gemahl, der nimmer
wiederkehrte. Alben Richter.
----------- 9*
132
72. Taillefer.
1. Normannenherzog Wilhelm sprach einmal:
„Wer singet in meinem Hof und in meinem Saal?
Wer singet vom Morgen bis in die späte Nacht
so lieblich, daß mir das Herz im Leibe lacht?"
2. „Das ist der Taillefer, der so gerne singt,
im Hofe, wann er das Rad am Brunnen schwingt,
im Saale, wann er das Feuer schüret und facht,
wann er abends sich legt, und wann er morgens erwacht."
3. Der Herzog sprach: „Ich hab' einen guten Knecht,
den Taillefer, der dienet mir fromm und recht;
er treibt mein Rad und schüret mein Feuer gut
und singet so hell, das höhet mir den Mut."
4. Da sprach der Taillefer: „Und wär' ich frei,
viel besser wollt' ich dienen und singen dabei.
Wie wollt' ich dienen dem Herzog hoch zu Pferd!
Wie wollt' ich singen und klingen mit Schild und mit Schwert!"
5. Nicht lange, so ritt der Taillefer ins Gefild
auf einem hohen Pferde mit Schwert und mit Schild.
Des Herzogs Schwester schaute vom Turm ins Feld,
sie sprach: „Dort reitet, bei Gott, ein stattlicher Held!"
6. Und als er ritt vorüber an Fräuleins Turm,
da sang er bald wie ein Lüftlein, bald wie ein Sturm.
Sie sprach: „Der singet, das ist eine herrliche Lust;
es zittert der Turm, und es zittert mein Herz in der Brust."
7. Der Herzog Wilhelm fuhr wohl über das Meer,
er fuhr nach Engelland mit gewaltigem Heer.
Er sprang vom Schiffe, da fiel er auf die Hand.
„Hei," rief er, „ich fass' und ergreife dich, Engelland!"
133
8. Als nun das Normannenheer zum Sturme schritt,
der edle Taillefer vor den Herzog ritt:
„Manch Jährlein hab' ich gesungen und Feuer geschürt,
manch Jährlein gesungen und Schwert und Lanze gerührt.
9. Und hab' ich Euch gedient und gesungen zu Dank,
zuerst als ein Knecht und dann als ein Ritter frank,
so laßt mich das entgelten am heutigen Tag;
vergönnet mir auf die Feinde den ersten Schlag!"
10. Der Taillefer ritt vor allem Normannenheer
auf einem hohen Pferde mit Schwert und mit Speer;
er sang so herrlich, das klang übers Hastingsfeld;
von Roland sang er und manchem frommen Held.
11. Und als das Rolandslied wie ein Sturm erscholl,
da wallete manch Panier, manch Herze schwoll.
Da brannten Ritter und Mannen von hohem Mut;
der Taillefer sang und schürte das Feuer gut.
12. Dann sprengt' er hinein und führte den ersten Stoß,
davon ein englischer Ritter zur Erde schoß;
dann schwang er das Schwert und führte den ersten Schlag,
davon ein englischer Ritter am Boden lag.
13. Normannen sahen's, die harrten nicht allzulang,
sie brachen herein mit Geschrei und mit Schilderklang.
Hei! sausende Pfeile, klirrender Schwerterschlag,
bis Harald fiel und sein trotziges Heer erlag!
14. Herr Wilhelm steckte sein Banner aufs blutige Feld,
inmitten der Toten spannt' er sein Gezelt.
Da saß er am Mahle, den goldnen Pokal in der Hand,
auf dem Haupte die Königskrone von Engelland.
15. „Mein tapfrer Taillefer, komm, trink mir Bescheid!
Du hast mir viel gesungen in Lieb' und in Leid;
doch heut im Hastingsfelde dein Sang und dein Klang,
der tönet mir in den Ohren mein Leben lang."
Ludwig Uhland.
134
73. Der Sängerkrieg auf der Wartburg.
Am Hofe des edeln Landgrafen Hermann und feiner Gemahlin
Sophia auf Schloß Wartburg stellten im Jahre 1207 sechs meister-
liche Minnesänger ein Wettsingen an. Die Namen dieser Meister
waren: Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Rein-
mar von Zweier, Biterolf, Heinrich, genannt der tugendhafte Schreiber,
und Heinrich von Ofterdingen. Sie hatten aber untereinander be-
dungen, wer im Streit des Singens unterliege, der solle sterben durch
des Henkers Hand. Sie fangen aber alle ihrem edlen Wirte, Hermann,
dem Landgrafen von Thüringen und Hessen, zu Ehren, verglichen ihn
dem hellen Tage und erhoben ihn über alle Fürsten. Nur Heinrich
von Ofterdingen pries Leopold, den Herzog von Österreich, noch
höher und stellte ihn der Sonne gleich. Darüber wurden die andern,
die ihn ohnehin aus Neid am Thüringer Hofe nicht gern sahen, gegen
ihn erbittert; und da sie alle sich wider ihn vereinten, mußte er trotz
seiner hohen Kunst den Gegnern endlich unterliegen. Diese riefen
nun Stempfel, den Henker, der sollte Heinrich an einen Baum knüpfen.
Der geängstete Sänger floh in die Gemächer der Landgräfin und
barg sich vor den Verfolgern unter ihrem Mantel. Da mußten sie
von ihm abstehen; und er dingte mit ihnen, daß sie ihm ein Jahr
Frist gäben, er wolle aus Siebenbürgen Meister Klingsor holen, der
solle ihren Streit entscheiden. Dieser nämlich galt für den berühm-
testen deutschen Minnesänger jener Zeit und war zugleich ein großer
Zauberer. Auf die Fürsprache der Fürstin wurde Heinrich diese Frist
von seinen Gegnern bewilligt, und so machte er sich auf und kam erst
zum Herzog von Österreich, seinem geliebten Herrn, um dessentwillen
er sich in diese tödliche Gefahr gebracht hatte. Von da ging er mit
Briefen des Herzogs gen Siebenbürgen zu Klingsor, dem er die
Ursache seiner Fahrt erzählte und seine Lieder vorsang. Der Meister
war mit diesen Proben seiner Kunst wohl zufrieden und versprach,
mit ihm nach Thüringen zu ziehen und den Streit zu schlichten. Doch
hielt er seinen Gast unter allerlei Kurzweil fast ein ganzes Jahr hin,
und die bewilligte Frist lief ihrem Ende zu. Weil aber Klingsor
noch immer keine Anstalt zur Reise machte, wurde Heinrich bange
und sprach: „Meister, ich fürchte, Ihr lasset mich im Stich, und ich
muß allein und traurig meine Straße ziehn und werde zur bestimmten
Zeit die Wartburg nicht erreichen; dann bin ich ehrenlos und darf
zeitlebens nimmermehr nach Thüringen." Klingsor sagte lächelnd:
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„Sei unbesorgt; wir haben starke Pferde und einen leichten Wagen
und wollen den Weg kürzlich gefahren haben."
Als es Abend geworden, gab er ihm einen Trank ein, davon er
augenblicklich in tiefen Schlummer sank, legte ihn auf eine lederne
Decke und sich daneben und befahl seinen Geistern, daß sie ihn schnell
nach Eisenach im Thüringer Lande tragen und daselbst im besten
Wirtshanse niedersetzen sollten. Die Geister thaten, wie ihnen befohlen
war, und brachten noch in selbiger Nacht den Meister mit seinem Ge-
fährten gen Eisenach in den Hellegrafenhof, der am St. Georgenthor
liegt zur linken Hand, wenn man aus der Stadt geht.
Als nun der Tag anbrach, erwachte Heinrich; er hörte die Glocken
zur Frühmesse läuten und sprach verwundert: „Mir ist, als hätt' ich
diese Glocken schon mehr gehört, und deucht mich, daß ich zu Eisenach
wäre." Der Meister sprach: „Dir träumt wohl!" Aber Heinrich stand
auf und trat ans Fenster. „Gottlob," rief er, „daß wir hier sind, das
ist Helgrevenhaus, und hier sehe ich St. Jürgenthor und die Leute,
die davor stehen und über Feld gehen wollen."
Sobald die Ankunft der beiden Gäste denen auf der Wartburg
kund wurde, befahl der Landgraf, sie ehrlich zu empfangen. Klingsor
behielt seine Herberge im Hellegrafenhof zu Eisenach; und als er des
Abends im Garten seines Wirtes saß und viele ehrbare Leute aus
des Fürsten Hofe und Bürger aus der Stadt bei ihm faßen und
tranken den Abendtrunk, da baten sie ihn, daß er ihnen etwas Neues
sagen wollte, wie er denn immer dergleichen wußte. Da stund er vor
ihnen auf und sah das Gestirne mit Fleiß eine Weile an und sprach
darauf: „Ich will euch neue und fröhliche Mär sagen: in dieser Nacht
wird meinem Herrn, dem König Andreas von Ungarn, eine Tochter
geboren, die wird schön, tugendreich und heilig und dem Sohne eures
Herrn, des Landgrafen, vermählt werden." Wie die Kunde hiervon
vor den Landgrafen Hermann und seine Gemahlin kam, freuten sie
sich dieser Weissagung überaus und entboten den weisen Meister aufs
neue zu sich auf die Wartburg und an den fürstlichen Tisch. Nach
dem Mahle begab man sich in das Ritterhaus, wo die Sänger zur
Austragung ihres Wettstreites sich versammelt hatten. Klingsor machte
Heinrich von Ofterdingen ledig und versöhnte die Sänger miteinander;
und nachdem er alles gut und wohl ausgerichtet, nahm er
Urlaub vom Landgrafen und fuhr, mit Geschenken reich belohnt,
samt seinen Knechten in der Decke wieder weg, wie und woher er
gekommen war. Ferdinand Bäßler.
)
136
74. Der Schenk von Limburg.
1. Zu Limburg auf der Feste
da Wohut' ein edler Graf,
den keiner seiner Gäste
jemals zu Hause traf.
Er trieb sich allerwegen
Gebirg und Wald entlang;
kein Sturm und auch kein Regen
verleidet' ihm den Gang.
2. Er trug ein Wams von Leder
und einen Jägerhut
mit mancher wilden Feder,
das steht den Jägern gut;
es hing ihm an der Seiten
ein Trinkgefäß von Buchs;
gewaltig konnt' er schreiten
und war von hohem Wuchs.
3. Wohl hatt' erKnecht und Mannen
und hatt' ein tüchtig Roß,
ging doch zu Fuß von dannen
und ließ daheim den Troß.
Es war sein ganz Geleite
ein Jagdspieß, stark und lang,
an dem er über breite
Waldströme kühn sich schwang.
4. Nun hielt auf Hohenstaufen
der deutsche Kaiser haus,
der zog mit hellen Haufen
einstmals zu jagen aus.
Er rannt' auf eine Hinde
so heiß und hastig vor,
daß ihn sein Jagdgesinde
im wilden Forst verlor.
5. Bei einer kühlen Quelle
da macht' er endlich halt;
gezieret war die Stelle
mit Blumen mannigfalt.
Hier dacht' er sich zu legen
zu einem Mittagsschlaf,
da rauscht' es in den Hägen
und stand vor ihm der Graf.
6. Da hub er an zu schelten:
„Treff' ich den Nachbar hie?
Zu Hause weilt er selten,
zu Hofe kommt er nie.
Man muß im Walde streifen,
wenn man ihn sahen will;
man muß ihn tapfer greifen,
sonst hält er nirgends still."
7. Als drauf ohn' alle Fährde
der Graf sich niederließ
und neben in die Erde
die Jägerstange stieß,
da griff mit beiden Händen
der Kaiser nach dem Schaft:
„Den Spieß muß ich mir pfänden,
ich nehm' ihn mir zu Hast.
8. Der Spieß ist mir verfangen,
des ich so lang begehrt;
du sollst dafür empfangen
hier dies mein bestes Pferd.
Nicht schweifen im Gemälde
darf mir ein solcher Mann,
der mir zu Hof und Felde
viel besser dienen kann."
137
9. „Herr Kaiser, wollt vergeben!
Ihr macht das Herz mir schwer.
Laßt mir mein freies Leben
und laßt mir meinen Speer!
Ein Pferd hab' ich schon eigen,
für Eures sag' ich Dank;
zu Rosse will ich steigen,
bin ich mal alt und krank."
10. „Mit dir ist nicht zu streiten,
du bist mir allzu stolz.
Doch führst du an der Seiten
ein Trinkgefäß von Holz;
nun macht die Jagd mich dürsten,
drum thu mir das, Gesell,
und gi|b mir eins zu bürsten
aus diesem Wasserquell."
11. Der Graf hat sich erhoben;
er schwenkt den Becher klar,
er füllt ihn an bis oben,
hält ihn dem Kaiser dar.
Der schlürft mit vollen Zügen
den kühlen Trank hinein
und zeigt ein solch Vergnügen,
als wär's der beste Wein.
12. Dann faßt der schlaue Zecher
den Grafen bei der Hand:
„Du schwenktest mir den Becher
und fülltest ihn zum Rand,
du hieltest mir zum Munde
das labende Getränk:
du bist von dieser Stunde
des Deutschen Reiches Schenk!"
Ludwig Uhland.
75. Der Reiter und der Bodensee.
1. Der Reiter reitet durchs helle Thal,
auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl.
2. Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee,
er will noch heut an den Bodensee,
3. noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn,
will drüben landen vor Nacht noch an.
4. Auf schlimmem Weg über Dorn und Stein,
er braust auf rüstigem Roß feldein,
5. aus den Bergen heraus ins ebene Land,
da sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand.
6. Weit hinter ihm schwinden Dorf und Stadt,
der Weg wird eben, die Bahn wird glatt;
7. in weiter Fläche kein Bühl, kein Haus!
Die Bäume gingen, die Felsen aus.
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8. So flieget er hin eine Meil' und zwei;
er hört in den Lüften der Schneegans Schrei,
9. es flattert das Wasserhuhn empor,
nicht anderen Laut vernimmt sein Ohr.
10. Keinen Wandersmann sein Auge schaut,
der ihm den rechten Pfad vertraut.
11. Fort geht's wie auf Samt auf dem weichen Schnee.
Wann rauscht das Wasser? Wann glänzt der See?
12. Da bricht der Abend, der frühe, herein;
von Lichtern blinket ein ferner Schein.
13. Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Bamn,
und Hügel schließen den weiten Raum.
14. Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn;
dem Rosse giebt er den scharfen Sporn,
15. und Hunde bellen empor am Pferd;
und es winkt im Dorf ihm der warme Herd.
16. „Willkommen am Fenster, Mägdelein!
An den See, an den See, wie weit mag's sein?"
17. Die Maid, sie staunet den Reiter an:
„Der See liegt hinter dir und der Kahn;
18. und deckt' ihn die Rinde von Eis nicht zu,
ich sprach', aus dem Nachen stiegest du."
19. Der Fremde schaudert, er atmet schwer.
„Dort hinten die Eb'ne, die ritt ich her."
20. Da recket die Magd die Arm' in die Höh:
„Herr Gott, so rittest du über den See!
21. An den Schlund, an die Tiefe bodenlos
hat gepocht des rasenden Hufes Stoß!
22. Und unter dir zürnten die Wasser nicht?
Nicht krachte hinunter die Rinde dicht?
23. Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut,
der hungrigen Hecht' in der kalten Flut?"
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24. Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär,
es stellen die Knaben sich um ihn her;
25. die Mütter, die Greise, sie sammeln sich:
„Glückseliger Mann, ja segne du dich!
26. Herein, zum Ofen, zum dampfenden Tisch!
Brich mit uns das Brot und iß vom Fisch!"
27. Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
er hat nur das erste Wort gehört.
28. Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.
29. Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund,
sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.
30. Im Ohr ihm donnert's wie krachend Eis,
wie die Well' umrieselt ihn kalter Schweiß.
31. Da seufzt er, da sinkt er vom Roß herab,
da ward ihm am User ein trocken Grab. Gustav Schwab.
76. Die wiedergefundenen Söhne.
sLegende.j
1. Was die Schickung schickt,ertrage!
Wer ausharret, wird gekrönt.
Reichlich weiß sie zu vergelten,
herrlich lohnt sie stillen Sinn.
Tapfer ist der Löweusieger,
tapfer ist der Weltbezwinger,
tapfrer, wer sich selbst bezwang.
2. Placidus, ein edler Feldherr,
reich an Tugend und Verdienst,
Beistand war er jedem Armen,
Unterdrückten half er auf.
Wie er einst den Feind bezwungen,
wie er einst das Reich gerettet,
rettet' er, wer zu ihm floh.
3. Aber ihn verfolgt' das Schicksal,
Armut und der Bösen Neid.
„Laß dem Neid uns und der Armut
still entgehn!" sprach Placidus;
„auf! laß uns dem Fleiße dienen!"
sprach sein Weib, „und gute Knaben,
tapfre Knaben, folget uns!"
4. Also gingen sie; im Walde
traf sie eine Räuberschar,
trennen Vater, Mutter, Kinder —
lange sucht der Held sie auf.
„Placidus," rief eine Stimme
ihm im hochbeherzten Busen,
„dulde dich, du findest sie."
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5. Und er kam vor eine Hütte.
„Kehre, Wandrer, bei mir ein,"
sprach der Landmann, „du bist traurig;
auf, und fasse neuen Mut!
Wen das Schicksal drückt, den liebt es;
wem's entzieht, dem will's vergelten;
wer die Zeit erharret, siegt."
6. Und er ward des Mannes Gärtner,
dient ihm unerkannt und treu,
pflegend tief in seinem Herzen
eine bittre Frucht, Geduld.
„Placidus," rief eine Stimme
ihm im tiefbedrängten Busen,
„dulde dich, du findest sie."
7. So verstrichen Jahr' auf Jahre,
bis ein wilder Krieg entsprang.
„Wo ist Placidus, mein Feldherr?"
sprach der Kaiser, „suchet ihn!"
Und man sucht' ihn nicht vergebens:
denn die Prüfzeit war vorüber,
und des Schicksals Stunde schlug.
8. Zween seiner alten Diener
kamen vor der Hütte Thür,
sahn den Gärtner und erkannten
an der Narb' ihn im Gesicht,
an der Narbe, die dem Feldherrn
statt der Schätze, statt der Lorbeern
einzig blieb als Ehrenmal.
9. Alsobald ward er gerufen;
es erjauchzt das ganze Heer.
Vor ihm ging der Feinde Schrecken,
ihm zur Seite Sieg und Ruhm.
Stillen Sinns nahm erden Palmzweig,
gab die Lorbeern seinen Treuen,
seinen Tapfersten im Heer.
10. Als nach ausgefochtnem Kriege
jetzt der Siegestanz begann,
drängt mit zween seiner Helden
eine Mutter sich hervor:
„Vater, nimm hier deine Kinder!
Feldherr, sieh hier deine Söhne,
mich, dein Weib Eugenia.
11. Wie die Löwin ihre Jungen
jagt' ich sie den Räubern ab.
Nachbarlich in dieser Hütte —
komm und schau! — erzog ich sie.
Glaubte dich uns längst verloren,
deine Söhne mir statt deiner,
deiner wert erzog ich sie.
12. Als die Post erscholl vom Kriege,
rufend deinen Namen aus,
auferweckt vom Totentraume
rüstet' ich die Jünglinge:
Zieht, verdienet euren Vater!
Streitet unerkannt und werdet,
werdet eures Vaters wert!
13. Und ich seh', sie tragen Kränze,
Ehrenkränze, dir zum Ruhm,
die du unerkannt den Söhnen,
nicht als Söhnen, zuerkannt.
Vater, nimm jetzt deine Kinder!
Feldherr, sieh, hier deine Söhne
und dein Weib Eugenia." —
114. Was die Schickung schickt, ertrage;
wer ausharret, wird gekrönt.
Placidus, der stillgesinnte,
lebet noch in Hymnen jetzt;
christlich wandt' er feinen Namen,
seinen Namen nennt die Kirche
preisend Sankt Eustachius.
Johann Gottfried t>. Herder.
---Gr--
141
III. Geschichtliches.
77. Belsazer.
1. Die Mitternacht zog näher schon;
in stummer Ruh lag Babylon.
2. Nur oben, in des Königs Schloss,
da flackert’s, da lärmt des Königs Tross.
3. Dort oben in dem Königssaal
Belsazer hielt sein Königsmahl.
4. Die Knechte sassen in schimmernden Reihn
und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
5. Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht’;
so klang es dem störrigen Könige recht.
6. Des Königs Wangen leuchten (Hut;
im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
7. Und blindlings reifst der Mut ihn fort,
und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
8. Und er brüstet sich frech und lästert wild;
die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
9. Der König rief mit stolzem Blick;
der Diener eilt und kehrt zurück.
10. Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt,
das war aus dem Tempel Jehovahs geraubt.
11. Und der König ergriff mit frevler Hand
einen heiligen Becher, gefüllt bis an» Rand. ' ^ *
12. Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
und rufet laut mit schäumendem Mund:
13. „Jehovah! dir künd’ ich auf ewig Hohn! —
Ich hin der König von Babylon! “
14. Doch kaum das grause Wort verklang,
dem König ward’s heimlich im Busen bang.
15. Das gellende Lachen verstummte zumal;
es wurde leichenstill im Saal.
16. Und sieh! und sieh! an weifser Wand,
da kam’s hervor wie Menschenhand;
142
17. und schrieb und schrieb an weisser Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
18. Der König stieren Blicks da sass,
mit schlotternden Knieen und totenblass.
19. Die Knechtenschar sass kalt durchgraut
und sass gar still, gab keinen Laut.
20. Die Magier kamen, doch keiner verstand
zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
21. Belsazer ward aber in selbiger Nacht
von seinen Knechten umgebracht. Heinrich Heine.
78. Das Grab im Gufento.
1. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder,
aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder.
2. Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten,
die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
V 3. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben,
während noch die Jugendlocken seine Schulter blond umgaben.
4. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette,
um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette.
5. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung, auf dem Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen.
Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.
8. Und es sang ein Chor von Männern: Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je das Grab versehren!
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere;
wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!
August r>. Plate».
79. Germanische Gastfreundschaft.
Die liebste Unterhaltung der deutschen Frauen auf den Burgen
und Schlössern im Mittelalter war, an den Fenstern oder Söllern zu
stehen und in die Weite zu schauen, ob auf den Straßen jemand nahe,
143
der ihnen bunte Kunde in das alltägliche Grau der häuslichen Ge-
schäfte bringe. Ein Gast brachte stets besondere Bewegung in das
Haus, wo er einkehrte, und Gäste nahten dem Schlosse wie der Hütte.
Die germanische Gastfreundlichkeit war altberühmt; schon Cäsar
und Tacitus hatten sie der Welt verkündet. Cäsar erzählt, wie heilig
man das Gastrecht hielt, wie den Fremden alle Häuser offen ständen
und ihnen geboten würde, was an Speise und Trank vorhanden sei.
Tacitus spricht aus, daß sich kein anderes Volk mit den Germanen
in dieser Tugend messen könne; kein Fremder, wer er auch sei, werde
von einer Thür fortgewiesen, es werde dem Gaste vorgesetzt, was das
Haus biete; und sei alles aufgezehrt, dann gehe der Wirt mit dem
Gaste zu dem nächsten Hofe, wo beide gleich freundlich aufgenommen
würden. Beim Abschiede würden erbetene Geschenke gern gewährt.
Was die Römer hier rühmen, wird uns viele Jahrhunderte später
durch Chronisten und in Gedichten und Erzählungen von den Isländern,
Angelsachsen und den südgermanischen Stämmen berichtet. In Sitte
und Spruch hatte sich eine feste Regel über die Aufnahme des Gastes
gebildet, die ebenso zart und rücksichtsvoll als edelsinnig und voll Ver-
trauens war. Die Gesetze erhoben sogar die Sitte zur Forderung;
sie verlangten von einem jeden, mochte er arm oder reich sein, daß
er keinen, wer er auch sei, von Haus und Herd weise, denn die Gast-
freundschaft sei etwas Billiges und Heiliges. Von dem Gaste
forderte man dagegen, daß er die Gastlichkeit nicht mißbrauche und
nicht zu lange unter einem und demselben Dache verweile. Drei
Nächte (oder Tage) waren in Skandinavien die angenommene längste
Frist, und in England galt der gleiche Grundsatz; mit der dritten
Nacht hörte der Fremde auf Gast zu sein und trat in ein näheres
Verhältnis zu seinem Wirte. Ein alter englischer Spruch war: Die
erste Nacht fremd, die zweite Nacht Gast, die dritte Hausgenosse.
Eine Erweiterung der Frist ergab sich auf Island bei dem Winter-
aufenthalte Fremder von selbst; die nordische Gastlichkeit bewährte sich
zugleich dabei auf das schönste. Ganz Unbekannte wurden samt ihrem
Schiffsgefolge von den Isländern in das Haus aufgenommen und
den langen Winter hindurch wie Glieder des Hauses gehalten. Selbst
unangenehme Entdeckungen an den Gästen änderten im wesentlichen
nichts; der Wirt zog sich wohl von dem Verkehre mit ihnen zurück,
ließ ihnen indessen nach wie vor Obdach und, was sie bedurften, zu-
kommen. Eine schöne, bilderreiche nordische Rede war, daß bei der
Ankunft eines lieben und ersehnten Gastes die Hunde sich freuen und
das Haus sich von selbst öffne. In vielen isländischen Häusern, die
144
an der Landstraße lagen, stand stets ein Tisch für Gäste bereit, und
die Hausfrau saß draußen vor der Thür, um jeden Wanderer einzu-
laden, unter ihr Dach zu treten und sich wohl darinnen sein zu
lassen. Es war überhaupt Forderung auch noch im höfischen Leben
des späteren Mittelalters, daß der Wirt des Hauses, wenn er einen
Gast kommen sah, ihm entgegenging, ihn bewillkommnete und einzu-
treten bat. Die Wirtin ging gewöhnlich mit und fügte dem Gruße
den Kuß hinzu. In den vornehmen, höfischen Kreisen wurde der
Willkommenkuß indessen nur dem Ebenbürtigen zu teil. Ging die
Wirtin nicht mit vor das Haus, so mußte sie doch wenigstens, wenn
der Gast in das Zimmer trat, aufstehen und ihn willkommen heißen.
Freundlich und aufmerksam war die Aufnahme in der einfachen
Hütte Skandinaviens. Dem Gaste, der über die kalten Gebirge und
durch feuchte Nebelluft kam, that Wärme und trockene Kleidung not.
Darum war es das erste, ihn an den Herd zu führen, ihm seine
Kleider auszuziehen und warme, trockene Gewänder zu reichen. Dann
brachte man ihm Speise und Trank. Die Aufnahme auf den Ritter-
burgen stimmt damit überein. Dem ritterlichen Fremden wurde von
der Frau oder der Tochter des Hauses seine Rüstung abgenommen,
ihm frische, reinliche Kleidung gereicht und, nachdem er einen Trunk
genossen, ein Bad geboten, das für die Ritter, die vielleicht lange in
der schweren, staubigen Rüstung gesteckt hatten, namentlich eine große
Ergötzung war. Nach dem Bade legte sich der Gast entweder für
kurze Zeit zu Bette, oder er begab sich, mit den Kleidern des Wirtes
angethan, zu der Hausgenossenschaft, wo unterdessen eine Mahlzeit
bereitet war. Hier nahm er den Sitz dem Wirte gegenüber als den
Ehrenplatz ein. Neben ihn setzte sich die Wirtin oder die Tochter des
Hauses, um ihm den Becher zu kredenzen und die Speisen vorzu-
schneiden; denn es sollte ihm alles recht bequem sein.
Die freundliche Sorgfalt des Wirtes geleitete den Gast zu Bett
und suchte ihn am Morgen wieder auf. Vor seinem Bette fand er
frische Wäsche, die Wirtin erkundigte sich, wie er geschlafen habe, und
wollte er bald Weiterreisen, so übernahm sie es samt dem Wirte, ihm
die Rüstung anzulegen.
Ehe der Gast aufbrach, ward ihm noch Imbiß und Trunk ge-
reicht, und alte Sitte wollte, daß der Wirt seinem Gaste ein Gast-
geschenk gab, das dieser wohl auch forderte. Auch ein Austausch von
Geschenken zwischen Gast und Wirt und der Abschluß eines dauernden
Freundschaftsbundes läßt sich nachweisen und erinnert an die alt-
hellenische Sitte. Bei dem Aufbruch ward der Gast ein Stück Weges
begleitet. «an w-inhoid.
145
80. Gotentreue.
1. Erschlagen lag mit seinem Heer
der König der Goten, Theodemer.
2. Die Hunnen jauchzten auf blut'ger Wal,
die Geier stießen herab zu Thal.
3. Der Mond schien hell, der Wind pfiff kalt,
die Wölfe heulten im Föhrenwald.
4. Drei Männer ritten durchs Heidegefild,
den Helm zerschroten, zerhackt den Schild.
5. Der erste über dem Sattel quer
trug seines Königs zerbrochnen Speer.
6. Der zweite des Königs Kronhelm trug,
den mittendurch ein Schlachtbeil schlug.
7. Der dritte barg mit treuem Arm
ein verhüllt Geheimnis im Mantel warm.
8. So kamen sie an die Donau tief,
und der erste hielt mit dem Roß und rief:
9. „Ein zerhau'ner Helm — ein zerspellter Speer
vom Reiche der Goten blieb nicht mehr!"
10. Und der zweite sprach: „In die Wellen dort
versenkt den traurigen Gotenhort;
11. dann springen wir nach von dem Uferrand —
was säumest du, Vater Hildebrand?"
12. „Und tragt ihr des Königs Krön' und Speer -
ihr treuen Gesellen — ich habe mehr."
13. Auf schlug er seinen Mantel weich:
„Hier trag' ich der Goten Hort und Reich;
14. und habt ihr gerettet Speer und Krön' —
ich habe gerettet des Königs Sohn!
15. Erwache, mein Knabe, ich grüße dich,
du König der Goten, Jungdieterich!"
Lelix Dahn.
K i ppe nb er g, A 5 (N. A.).
10
146
81. Gotenzug.
1. Gebt Raum, ihr Völker, unsrem Schritt:
wir sind die letzten Goten!
Wir tragen keine Schätze mit —
wir tragen einen Toten.
2. Mit Schild an Schild und Speer an Speer
ziehn wir nach Nordlands Winden,
bis wir im fernsten grauen Meer
die Insel Thule finden.
3. Das soll der Treue Insel sein,
dort gilt noch Eid und Ehre:
dort senken wir den König ein
im Sarg der Eichenspeere.
4. Wir kommen her — gebt Raum dem Schritt —
aus Roma’s falschen Thoren:
wir tragen nur den König mit---------
die Krone ging verloren. Felix Dahn.
82. Lonradins Tod.
Der letzte männliche Sprosse des hohenstaufischen Hauses, der jugend-
liche Konradin, war von Karl von Anjou, der seine schönen Erblande
Neapel und Sicilien in Besitz genommen hatte, gefangen genommen
und nach Neapel gebracht worden.
Auf unparteiischem, leidenschaftlosem, rechtlichem Wege, so hieß
es, müsse über das Schicksal der Gefangenen entschieden werden; des-
halb ließ der König Karl Richter und Rechtsgelehrte aus mehreren
Teilen des Reiches nach Neapel kommen, welche untersuchen und das
Urteil sprechen sollten. Jeder von ihnen, das hoffte er, werde der
Anklage beistimmen: Konradin sei ein Frevler gegen die Kirche, ein
Empörer und Hochverräter an seinem rechtmäßigen Könige und gleich
allen seinen Freunden und Mitgefangenen des Todes schuldig.
Als die Richter diese Anklage hörten, erschraken sie sehr, wagten
aber, der wilden Grausamkeit Karls eingedenk, lange nicht, ihre ent-
gegengesetzte Ansicht unverhohlen darzulegen. Da trat endlich der
147
edle Guido von Suzara hervor und sagte mit lauter und fester
Stimme: „Konradin ist nicht gekommen als ein Räuber oder Empörer,
sondern im Glauben und Vertrauen auf sein gutes Recht. Er fre-
velte nicht, indem er versuchte, sein angestammtes väterliches Reich
durch offnen Krieg wieder zu gewinnen; er ist nicht einmal im An-
griffe, sondern auf der Flucht gefangen, und Gefangene schonend zu
behandeln, gebietet göttliches wie menschliches Recht." — Erstaunt
über diese unerwartete Erklärung, wandte König Karl, das niedrige
Geschäft eines Anklägers selbst übernehmend, dagegen ein, daß Kon-
radins Leute sogar Klöster angezündet hätten; — worauf aber Guido
ungeschreckt erwiderte: „Wer kann beweisen, daß Konradin und seine
Freunde dies anbefohlen haben? Ist nicht ähnliches von anderen
Heeren geschehen? Und steht es nicht allein der Kirche zu, über
Vergehen wider die Kirche zu urteilen?" — Alle Richter, bis auf
einen, den unbedeutenden, knechtisch gesinnten Robert von Bari, sprachen
jetzt Konradin und seine Gefährten frei, welches preiswürdige Be-
nehmen den König indes so wenig zur Mäßigung und Besonnenheit
zurückbrachte, daß er vielmehr in verdoppelter Leidenschaft jeden Schein
von Form und Recht selbst zerstörte und, ffech jener einzelnen Knecht-
stimme folgend, aus eigner Macht das Todesurteil über alle Ge-
fangenen aussprach.
Als Konradin diese Nachricht beim Schachspiel erhielt, verlor er
seine Fassung nicht, sondern benutzte gleich seinen Unglücksgefährten
die wenige ihnen gelassene Zeit, um sein Testament zu machen und
sich mit Gott durch Beichte und Gebet auszusöhnen.
Unterdessen errichtete man in aller Stille das Blutgerüst dicht
vor der Stadt, nahe bei dem später so genannten neuen Markte und
der Kirche der Karmeliter. Es schien, als sei dieser Ort boshaft
ausgewählt worden, um Konradin alle Herrlichkeit seines Reiches vor
dem Tode noch einmal zu zeigen. Die Wogen des hier so schönen
als friedlichen Meeres dringen nämlich bis dahin, und der diesen
herrlichsten aller Meerbusen einschließende Zauberkreis von Portici,
Castellamare, Sorrento und Massa stellt sich, durch den blendenden
Glanz südlich reiner Lüfte noch verklärt, dem erstaunten Beobachter
dar. Auf furchtbare Mächte der Natur deutet jedoch das zur Linken
sich erhebende schwarze Haupt des Vesuv, und rechts begrenzen den
Gesichtskreis die schroffen, zackigen Felsen der Insel Capri, wo einst
Tiberius, ein würdiger Genosse Karls von Anjou, frevelte.
Am 29. Oktober 1268, zwei Monate nach der Schlacht bei
Scurcola, wurden die Verurteilten zum Richtplatze geführt, wo der
10*
148
Henker, mit bloßen Füßen und aufgestreiften Ärmeln, schon ihrer
wartete. Nachdem König Karl in dem Fenster einer benachbarten
Burg einen angeblichen Ehrenplatz eingenommen hatte, sprach Robert
von Bari, jener ungerechte Richter, auf dessen Befehl: „Versammelte
Männer! Dieser Konradin, Konrads Sohn, kam aus Deutschland,
um als ein Verführer seines Volkes fremde Saaten zu ernten und
mit Unrecht rechtmäßige Herrscher anzugreifen. Anfangs siegte er
durch Zufall; dann aber wurde durch des Königs Tüchtigkeit der
Sieger zum Besiegten, und der, welcher sich durch kein Gesetz für ge-
bunden hielt, wird jetzt gebunden vor das Gericht des Königs geführt,
welchen er zu vernichten trachtete. Dafür wird, mit Erlaubnis der
Geistlichen und nach dem Rate der Weisen und Gesetzverständigen,
über ihn und seine Mitschuldigen als Räuber, Empörer, Aufwiegler,
Verräter das Todesurteil gesprochen und, damit keine weitere Gefahr
entstehe, auch sogleich vor aller Augen vollzogen."
Als die Gegenwärtigen dieses sie größtenteils überraschende Ur-
teil hörten, entstand ein dumpfes Gemurmel, welches die lebhafte Be-
wegung der Gemüter verkündete; alle aber beherrschte die Furcht,
und nur Graf Robert von Flandern, des Königs eigner Schwieger-
sohn, ein so schöner als edler Mann, sprang, seinem gerechten Zorne
freien Lauf lassend, hervor und sprach zu Robert von Bari: „Wie
darfst du, frecher, ungerechter Schurke, einen so großen und herrlichen
Ritter zum Tode verurteilen?" — und zu gleicher Zeit traf er ihn mit
seinem Schwerte dergestalt, daß er für tot hinweggetragen wurde.
Der König verbiß seinen Zorn, als er sah, daß die französischen
Ritter des Grafen That billigten; das Urteil aber blieb ungeändert.
Hierauf bat Konradin, daß man ihm noch einmal das Wort verstatte,
und sprach mit großer Fassung: „Vor Gott habe ich als Sünder den
Tod verdient; hier aber werde ich ungerecht verdammt. Ich frage
alle die Getreuen, für welche meine Vorfahren hier väterlich sorgten
ich frage alle Häupter und Fürsten dieser Erde, ob der des Todes
schuldig ist, welcher seine und seiner Völker Rechte verteidigt. Und
wenn auch ich schuldig wäre, wie darf man die Unschuldigen grausam
strafen, welche, keinem andern verpflichtet, in löblicher Treue mir an-
hingen?" — Diese Worte erzeugten Rührung, aber keine That, und
der, dessen Rührung allein hätte in Thaten übergehen können, blieb
nicht bloß versteinert gegen die Gründe des Rechts, sondern auch
gegen die Eindrücke, welche Stand, Jugend und Schönheit des Ver-
urteilten auf jeden machten. Da warf Konradin seinen Handschuh
vom Blutgerüste herab, damit er dem Könige Peter von Aragonien
149
als ein Zeichen gebracht werde, daß er ihm alle Rechte auf Apulien
und Sicilien übertrage. Ritter Heinrich Truchseß von Waldburg
nahm, so heißt es, den Handschuh auf und erfüllte den letzten Wunsch
seines Fürsten.
Dieser, aller Hoffnung einer Änderung des ungerechten Spruches
beraubt, umarmte seine Todesgenoffen, besonders Friedrich von Öster-
reich, zog dann sein Oberkleid aus und sagte, Arme und Augen gen
Himmel hebend: „Jesus Christus, Herr aller Kreaturen, König der
Ehren! Wenn dieser Kelch nicht vor mir vorübergehen soll, so be-
fehle ich meinen Geist in deine Hände!" Jetzt kniete er nieder, rief
aber dann noch einmal sich emporrichtend aus: „O Mutter, welches
Leiden bereite ich dir!" — Nach diesen Worten empfing er den Todes-
streich. — Als Friedrich von Österreich das Haupt seines Freundes
fallen sah, schrie er in unermeßlichem Schmerze so gewaltsam auf,
daß alle anfingen zu weinen. Aber auch sein Haupt fiel; nach diesem
mordete man noch mehrere. Es wird angegeben, daß über tausend
allmählich auf solche Weise ihr Leben verloren. Die Leichen der Hin-
gerichteten wurden nicht in geweihter Erde begraben, sondern am
Strande des Meeres verscharrt. Friedrich v. Raumer.
83. König Konrad der Junge.
1. Es rauscht daheim im Tannenwald,
die Drossel hat ausgesungen,
der Abend verglimmt, und das Läuten verhallt
um König Konrad den Jungen.
2. Ihn traf der Henker, und alsofort
hat den Henker ein Dolch durchdrungen:
er sollt' sich nicht rühmen, daß er gemord't
König Konrad den Jungen.
3. Dann hat sich aus blauer Himmelsflut
ein Adler niedergeschwungen
und zog seinen Fittich durchs rote Blut
von König Konrad dem Jungen.
4. Weit draußen aber an deutschem Geländ'
ist manches Herz zersprungen. —
So ging der Staufen Pracht zu End'
mit König Konrad dem Jungen!
Karl Stieler.
150
| 84. Die Ritterburgen.
Die meisten mittelalterlichen Burgen waren auf steiler, unzu-
gänglicher Höhe eines Berges gelegen. Inmitten der Umfassungsmauer
erhob sich hier der Bergfried, ein großer Turm von festestem Mauer-
werk, gewöhnlich rund, von dessen Höhe man die ganze Gegend über-
schauen und den unten Stehenden mit Geschoß und Gestein übel mit-
spielen konnte. Hinauf zu steigen vermochten sie nicht, denn der Ein-
gang befand sich ziemlich hoch über dem Erdboden, und die Leiter
war hinaufgezogen. Einbrechen ließ sich auch nicht leicht, denn ge-
rade dieser Turm war aus mächtigen und in einander verbundenen
Quadern gebaut, und die Steinblöcke, die von oben fielen, zerschmetterten
Gebälk und Gebein. Hunger und Durst mußten zur Übergabe zwingen;
ihre Bedingungen zu vereinbaren, hatten die auf den Turm Geflüchteten
jedenfalls etwas Zeit gewonnen. Wenn sie aber herabstiegen, so
suchte der Eroberer eilends nach der Schatzkammer. Diese befand sich
gewöhnlich im untern Teile des Turms; dort lagen das Gold und
Silber, vielleicht auch im tiefsten Verließe bleiche Gefangene, wo nicht
Sonne noch Mond sie beschien.
Um den Bergfried umher, jedoch stets getrennt von ihm, standen
regellos die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Weitaus das mächtigste
war der Pallas, der ebenso wenig auf einer Burg fehlen durfte, wie
im germanischen Altertum auf einem großen Gehöfte die Halle. Denn
der Pallas war diese Halle, der Fest- und Rittersaal, der zu Gelagen,
zum Gästeempfang, zu Versammlungen diente. Gewöhnlich stieg man
ein paar Stufen zu ihm hinauf und sah dann an den Wänden präch-
tige Waffenrüstung, und wer es konnte, ließ diese geliebte Halle
schmücken mit Farben, Gemälden und allerlei glänzendem Metalle.
An Pallas und Bnrgkapelle knüpften sich die wertvollsten geschichtlichen
Erinnerungen. Jeder Burgherr, auch wenn ihm seine Einkünfte nicht
erlaubten, einen Kaplan zu halten, wollte doch seine eigene Kapelle
haben. Gestatteten es Raum und Reichtum, so wurde ein „Gottes-
haus" errichtet und von den Frauen mit gestickten Meßgewändern
bedacht, andernfalls ein Kapellchen irgendwo hineingebaut.
.
Klein und niedrig waren dagegen die Häuser, in denen die Fa-
milie nebst Ingesinde und reisigen Knechten schlief und tags über
sich aufhielt, aß und wirtschaftete. Waren sie gleich dem Saal mit Ka-
minen zum Heizen ausgestattet, so hießen sie Kemenaten. Dann gab es
151
noch ein Küchenhaus, Leutehaus, Brunnenhaus, Räume für Vorräte und
Stallung, alles eng und dürftig, jedoch mit festem Dache eingerichtet;
denn jedes Bauwerk mußte dem Hauptzwecke, der Sicherheit gegen An-
griffe und von außen geschleuderte Blöcke und Balken, dienen. Es
waren deshalb auch die Fenster schmal in den Nischen der dicken
Mauern angebracht, und zwar eine Elle oder mehr über dem Fuß-
boden, so daß man stehend nur eben hinaussehen und nicht mit vollem
Leibe von außen erblickt und getroffen werden konnte. Wo es irgend
anging, Pflanzte man in den Burghof eine Linde oder ein wenig
anderes Blattgrün und legte in einem Winkel ein Gärtchen an, welches
die Küchen- und noch nötigeren Heilkräuter lieferte.!
In der Hohenstaufenzeit und noch mehr im folgenden Jahrhundert
wurden die Burgen stattlicher, ihre Schutzanstalten sorgfältiger, ihre
Wohngebäude behaglicher. Der Pallas erhielt eine Zimmerdecke und
später Gewölbe unten und oben. Frauen und Töchter mochten sich
auch bei schlechtem Wetter gern etwas ergehen in bedeckten, jedoch
nach der einen Seite offenen Gängen, den sogenannten Lauben, und
bei Sonnenschein auf hohem Zwinger oder Söller sitzen und der
freien Aussicht genießen. Wo die Örtlichkeit es zuließ, wurde draußen
vor der Ringmauer und dem Graben eine Vorburg angelegt, in
welcher es mehr Raum gab für Wohnungen, Lauben und Gärten,
wie für Scheunen und Stallung. Auch diese Vorburg wurde dann
mit Verteidigungswerken umgeben. Wenn aber das französische Wort
Faubourg noch andeutet, daß es mit vielem anderen, das mit Krieg
und Waffen zusammenhing, von den Franzosen aus Deutschland ent-
lehnt wurde, so geht das Wort Zingeln auf das lateinische Wort
für Gürtel, Cingulus, zurück. Wenn nämlich ausgedehnte Baulichkeiten
mit Mauern und Gräben oder Pfahlreihen umfangen wurden, so
nannte man diese Werke die Zingeln. Sie mußten erst genommen
werden, ehe man an die Hauptburg heran konnte, gleichwie überhaupt
sämtliche Wehrbauten so ausgedacht waren, daß die Burg nicht auf
einmal, sondern nur stückweise konnte erobert werden.
Die sich weiter und weiter verbreitende Gewohnheit, auf stolzen
Burgfesten zu wohnen, blieb nicht ohne Einfluß auf den Gang der
Kultur. Etwas Hochgemutes, Ritterliches, Naturfrohes kam ins Leben
und wich nicht wieder. Gefördert wurden Ansehen und Dauerhaftigkeit
zahlloser Geschlechter, aber auch ebenso Adelsstolz und Fehdelust,
Eigensinn und Unbotmäßigkeit.
Lranz von töher.
152
85. Kaiser Rudolfs Ritt MM Grabe.
1. Auf der Burg zu Germersheim,
stark am Geist, am Leibe schwach,
sitzt der greise Kaiser Rudolf,
spielend das gewohnte Schach.
2. Und er spricht: „Ihr guten Meister,
Ärzte, sagt mir ohne Zagen:
Wann aus dem zerbrochnen Leib
wird der Geist zu Gott getragen?"
3. Und die Meister sprechen: „Herr,
wohl noch heut erscheint die Stunde."
Freundlich lächelnd spricht der Greis:
„Meister! Dank für diese Kunde!"
4. „AufnachSpeier!AufnachSpeier!"
ruft er, als das Spiel geendet,
„wo so mancher deutsche Held
liegt begraben, sei's vollendet!
5. Blast die Hörner! Bringt das Roß,
das mich oft zur Schlacht getragen!"
Zaudernd stehn die Diener all,
doch erruft: „Folgt ohne Zagen!"
6. Und dasSchlachtroß wirdgebracht.
„NichtzumKampf,zumew'genFrieden,"
spricht er, „trage, treuer Freund,
jetzt den Herrn, den lebensmüden!"
7. Weinend steht der Diener Schar,
als der Greis auf hohem Rosse,
rechts und links ein Kapellan,
zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse.
8. Trauernd neigt desSchlosfes Lind'
vor ihm ihre Äste nieder;
Vögel, die in ihrer Hut,
singen wehmutsvolle Lieder.
9. Mancher eilt des Wegs daher,
der gehört die bange Sage,
sieht des Helden sterbend Bild
und bricht aus in laute Klage.
10. Aber nur von Himmelslust
spricht der Greis mit jenen zweien,
lächelnd blickt sein Angesicht,
als ritt' er zur Lust in Maien.
11. Von dem hohen Dom zu Speier
hört man dumpf die Glocken schallen.
Ritter, Bürger, zarte Frau'n
weinend ihm entgegen wallen.
12. In den hohen Kaisersaal
ist er rasch noch eingetreten;
sitzend-dort auf goldnem Stuhl,
hört man für das Volk ihn beten.
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!"
spricht er dann mit bleichem Munde;
drauf verjüngt sich sein Gesicht
um die mitternächt'ge Stunde.
14. Da auf einmal wird der Saal
hell von überird'schem Lichte,
und entschlummert sitzt der Held,
Himmelsruh im Angesichte.
15. Glocken dürfen's nicht verkünden.
Boten nicht zur Leiche bieten,
alle Herzen längs des Rheins
fühlen, daß der Held verschieden.
16. Nach dem Dome strömt das Volk,
schwarz, unzähligen Gewimmels;
der empfing des Helden Leib,
seinen Geist der Dom des Himmels.
Iustinus Kerner.
i mm
, — 153 —
86. Der reichste Fürst.
1. Preisend mit viel schönen Reden
ihrer Länder Wert und Zahl,
saßen viele deutsche Fürsten
einst zu Worms im Kaisersaal.
2. „Herrlich," sprach der Fürst von
Sachsen,
„ist mein Land und seine Macht;
Silber hegen seine Berge
wohl in manchem tiefen Schacht."
3. „Seht mein Land in üpp'gerFülle,"
sprach der Kurfürst von dem Rhein,
„goldne Saaten in den Thälern,
auf den Bergen edlen Wein!"
4. „Große Städte, reiche Klöster,"
Ludwig, Herr zu Bayern, sprach,
„schaffen, daß mein Land dem
euren
wohl nicht steht an Schätzen nach."
5. Eberhard, der mit dem Barte,
Württembergs geliebter Herr,
sprach: „Mein Land hatkleine Städte,
trägt nicht Berge silberschwer;
6. doch ein Kleinod hält'sverborgen:
daß in Wäldern, noch so groß,
ich mein Haupt kann kühnlich legen
jedem Unterthan in Schoß."
7. Und es rief der Herr von Sachsen,
der von Bayern, der vom Rhein:
„Graf im Bart! Ihr seid der reichste,
Euer Land trägt Edelstein!" zustmus n-rner.
87. Die Erfindung der Buchdruckerkunst.
„Auf keine Erfindung oder sonstige Geistesfrucht“ — so
rühmt ein bedeutender Gelehrter, der in der zweiten Hälfte des
fünfzehnten und zu Anfang des folgenden Jahrhunderts lebte
— „können wir Deutsche so stolz sein als auf die des Bücher-
drucks, die uns zu neuen geistigen Trägern der Lehren des
Christentums, aller göttlichen und irdischen Wissenschaft und
dadurch zu Wohlthätern der ganzen Menschheit erhoben hat.
Welch ein anderes Leben regt sich jetzt in allen Ständen des
Volkes, und wer wollte nicht stets dankbar der ersten Begründer
und Förderer dieser Kunst gedenken, auch wenn er sie nicht,
wie dies bei uns und unseren Lehrern der Fall, persönlich ge-
kannt und mit ihnen verkehrt hat.“ — Wurden beim Übergange
des Mittelalters zur Neuzeit die Entdeckung Amerikas und die
Auffindung des Seeweges nach Indien Buhmesthaten der süd-
lichen, romanischen Völker Europas, so ward in demselben
Jahrhundert die Buchdruckerkunst, die wichtigste Erfindung der
— 154 —
Menschheit seit der Entstehung der Lautschrift, die schönste
Zierde des deutschen Namens.
Früher gab es nur geschriebene Bücher. Die Mönche vor-
züglich beschäftigten sich mit dem Abschreiben, und es ist zum
Erstaunen, wie weit diese es in der Schönschreibekunst gebracht
hatten. Die grossen Anfangsbuchstaben wurden sehr schön mit
bunten Farben gemalt, auch wohl mit Gold ausgelegt, oft
sogar mit niedlichen Bildchen umgeben. Solche Abschrif-
ten kosteten ausserordentlich viel Zeit und vielen Fleiss und
waren deshalb auch sehr teuer. Eine einzige schöne Bibel kostete
wohl mehrere hundert Thaler. Darum konnten auch nur reiche
Leute Bücher haben. Am grössten war dieser Nachteil für die
Schulen, wo nicht jeder Schüler, wie jetzt, sein Buch hatte. Der
Unterricht konnte deshalb nur mangelhaft sein, weil er sich
vornehmlich auf den mündlichen Vortrag des Lehrers be-
schränken musste.
Der Buchdruckerkunst ging die Formschneidekunst, die
schon im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts erfunden war,
voraus und bereitete jene vor. Es wurden nämlich in hölzerne
Täfelchen allerlei Bilder, besonders von Heiligen, geschnitten,
mit Farbe bestrichen und dann auf Pergament oder Leinen-
papier abgedruckt. Diese Holzschnitte waren anfangs sehr roh,
die Figuren oft kaum kenntlich. Um den Heiligen, der abge-
bildet sein sollte, kennbar zu machen, wurde der Name desselben
dabei gesetzt. Bald schnitt man nicht nur einzelne Wörter da-
bei, sondern längere Bibelstellen ; zuletzt schnitt man sogar
ganze Bücherseiten in Holz. Sollte nun ein Buch gedruckt
werden, so mussten gerade so viel Holztafeln da sein, als das
Buch Seiten hatte. Jede Seite wurde in eine Holztafel ge-
schnitten, mit Schwärze bestrichen und dann abgedruckt. Auf
diese Weise konnte man dasselbe Buch auch vervielfältigen.
Nach dem Abdrucke aber hatten diese Tafeln, die so viele
Mühe und Arbeit gekostet, keinen Wert mehr; denn für jedes
andere Buch mussten andere Tafeln sein. Da kam ein deutscher
Edelmann aus Mainz, Johann Gensfleisch, aus der ritter-
lichen Familie Sorgenloch, der von seiner Mutter, der Letzten
ihres Geschlechts, den Namen Gutenberg annahm, zu
Strassburg auf den Gedanken, die einzelnen Schriftzeichen in
Stäbchen auszuschneiden, mit Fäden zu Zeilen aneinander zu
reihen, mit Ol und Lampenrufs zu schwärzen und abzudrucken,
155
damit man sie nachher wieder auseinander nehmen und zu jedem
andern Drucke noch gebrauchen könne. Der erste Versuch ge-
lang nicht nach Wunsch, weil die hölzernen Lettern leicht zer-
sprangen; daher nahm er bleierne, dann zinnerne. Im Jahre
1439 wurde die Presse erfunden. Doch ist keine sichere Spur
davon vorhanden, dass es in Strassburg schon zum wirklichen
Drucken gekommen sei.
Im Jahre 1444 kehrte Gutenberg mittellos nach Mainz zu-
rück und setzte seine Versuche fort. Hier verband er sich im
Jahre 1450 mit Johann Pust oder Faust, einem reichen Gold-
schmiede, und mit Peter Schösser, einem gewandten Bücherab-
schreiber und Zeichner, den Fust später zu seinem Schwieger-
söhne machte. Durch letzteren insbesondere gewann die Kunst
sehr an Vollendung, indem er den Rat gab, die Buchstaben in
festes Metall zu schneiden, diese dann in weicheres einzuschlagen
und in den so gewonnenen Matrizen (Formen) zu giessen, statt
sie mühsam einzeln zu schneiden. Auch erfand er eine bessere
Druckschwärze aus Kienrufs und Leinölfirnis. Von nun an
schritt die Kunst rasch vorwärts; man war schon imstande, ein
ganzes Werk zu drucken. Das erste war eine lateinische Bibel
in drei Bänden, die wahrscheinlich 1455 vollendet wurde ; dann
1457 die Psalmen, bei denen zuerst Drucker und Jahreszahl
genannt sind; das erste in deutscher Sprache gedruckte Buch
ist eine Mahnung der Christenheit wider die Türken. — Dem
edlen Erfinder der Kunst, welcher ihr sein ganzes Vermögen
und alle Kräfte gewidmet hatte, ward aber nicht die Freude,
zur Vollendung derselben mitzuwirken. Fust hatte ihm zu dem
Unternehmen 2020 Gulden vorgestreckt, welche Gutenberg ihm
nicht sogleich zurückgehen konnte. Fust, der ein habsüchtiger
Mann war, verklagte ihn deshalb und bekam zum Ersätze für sein
geliehenes Geld Guten bergs Lettern und Gerätschaften. Guten-
berg selbst wurde von dem Unternehmen ganz ausgeschlossen.
Die ersten Werke der Druckerei, welche schon im Anbe-
ginn der Kunst eine herrliche Vollendung zeigten, setzten alle
in beispielloses Erstaunen; denn man hielt das Gedruckte für
Geschriebenes und konnte nicht begreifen, wie man in so kurzer
Zeit unzählige Blätter auf einmal und so ähnlich beschreiben
konnte, dass in den Schriftzügen nicht der geringste Unterschied
wahrzunehmen war. Manche hielten es sogar für Zauberei.
Insbesondere waren diejenigen erbittert, denen der einträgliche
Erwerb des Bücherabschreibens verkümmert wurde; sie schalten
den Fust, der mit seinen Bibeln, die gern gekauft wurden, auf
Universitäten und Märkten umherzog, einen Schwarzkünstler.
— Die Kunst blieb nur kurze Zeit ein Geheimnis. Als Mainz
1462 in einem Streite zweier Erzbischöfe um das Kurfürsten-
tum erobert und geplündert wurde, ward auch Fusts Werkstätte
zerstört. Die Gehülfen, die vorher wie Gefangene eingeschlossen
gewesen waren, damit die einträgliche Kunst ja nicht verraten
würde, flohen jetzt nach allen Gegenden auseinander und legten
Druckereien an. So ward diese wichtige Erfindung noch vor
dem Ende des Jahrhunderts nicht nur über ganz Deutschland
verbreitet, sondern auch über die meisten europäischen Länder,
namentlich über Italien. Hier hatte man zuerst die alte nach-
geahmte Mönchsschrift, aus welcher unsere jetzige sogenannte
deutsche Druckschrift entstanden ist, in die einfachere und zier-
lichere lateinische Schrift umgeändert und mancherlei Ver-
besserungen eingeführt. — Fust starb 1466 zu Paris an der Pest;
zwei Jahre später starb auch Gutenberg zu Mainz, fast vergessen.
Die Buchdruckerkunst war gleichsam das Thor, durch
welches Bildung und Aufklärung sich schnell nach allen Ge-
genden verbreitete. Alles Grosse und Schöne, das einzelne
Männer gedacht und erfunden hatten, konnte durch sie in kurzer
Zeit zu einem bleibenden Gemeingut aller Völker der Erde
werden. War in früherer Zeit eine Handschrift vernichtet, so
war in der Regel das ganze Werk verloren; jetzt können
mehrere hundert Exemplare zerstört werden, ohne dass darum
das Werk vernichtet ist. Jetzt war es möglich, Kenntnisse zu
sammeln, auch ohne in dem Hörsaale eines Lehrers zu sitzen,
oder in den Bücherschatz eines Klosters sich zu vergraben.
1. „Was willst du, Fernando, s
Du bringst mir traurige Mär." —
„Ach, edler Feldherr, bereitet Euch!
Nicht länger bezähm' ich das Heer.
Wenn jetzt nicht die Küste sich zeigen will,
so seid Ihr ein Opfer der Wut
sie fordern laut wie Sturmgebrüll
des Feldherrn heiliges Blut."
2. Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn,
da drängte die Menge sich nach,
da stürmten die Krieger, die wütenden, schon
gleich Wogen ins stille Gemach.
Verzweiflung im wilden, verlöschenden Blick,
auf bleichen Gesichtern der Tod:
„Verräter, wo ist nun dein gleißendes Glück?
Jetzt rett uns vom Gipfel der Not!
3. Du giebst uns nicht Speise, so gieb uns denn Blut!
Blut!" rief das entzügelte Heer. —
Sanft stellte der Große den Felsenmut
entgegen dem stürmenden Meer:
„Befriedigt mein Blut euch, so nehmt es und lebt!
Doch bis noch ein einziges Mal
die Sonne dem feurigen Osten entschwebt,
vergönnt mir den segnenden Strahl.
4. Beleuchtet der Morgen kein rettend Gestad',
so biet' ich dem Tode mich gern,
bis dahin verfolgt noch den mutigen Pfad
und trauet der Hülfe des Herrn."
Die Würde des Helden, sein ruhiger Blick
besiegte noch einmal die Wut;
sie wichen vom Haupte des Führers zurück
und schonten sein heiliges Blut.
5. „Wohlan denn, es sei noch! doch hebt sich der Strahl
und zeigt sich kein rettendes Land,
so siehst du die Sonne zum letzten Mal!
so zittre der strafenden Hand!"
Geschlossen war also der eiserne Bund,
die Schrecklichen kehrten zurück.
Es thue der leuchtende Morgen nun kund
des duldenden Helden Geschick.
Die Sterne zogen still herauf,
doch ach, kein Hoffnungsstern!
Und von des Schiffes ödem Lauf
blieb Land und Rettung fern.
7. Vom Trost des süßen Schlafs verbannt,
die Brust voll Gram, durchwacht,
nach Westen blickend unverwandt,
der Held die düstre Nacht.
„Nach Westen, o nach Westen hin
beflügle dich, mein Kiel!
Dich grüßt noch sterbend Herz und Sinn,
du meiner Sehnsucht Ziel!
8. Doch mild, o Gott, von Himmelshöhn
blick aus mein Volk herab!
Laß nicht sie trostlos untergehn
im wüsten Flutengrab!"
Es sprach's der Held, von Mitleid weich; —
da horch! welch eiliger Tritt?
„Noch einmal, Fernando, so trüb und bleich?
Was bringt dein bebender Schritt?" —
9. „Ach, edler Feldherr, es ist geschehn,
jetzt hebt sich der östliche Strahl!" —
„Sei ruhig, mein Lieber, von himmlischen Höhn
entwand sich der leuchtende Strahl.
Es waltet die Allmacht von Pol zu Pol;
mir lenkt sie zum Tode die Bahn." —
„Leb wohl denn, mein Feldherr, leb ewig wohl!
Ich höre die Schrecklichen nahn."
10. Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn,
da drängte die Menge sich nach;
da stürmten die Krieger, die wütenden, schon
gleich Wogen ins stille Gemach.
„Ich weiß, was ihr fordert, und bin bereit;
ja, werft mich ins schäumende Meer!
Doch wisset, das rettende Ziel ist nicht weit,
Gott schütze dich, irrendes Heer!"
11. Dumpf klirrten die Schwerter, ein wüstes Geschrei
erfüllte mit Grausen die Luft;
der Edle bereitete still sich und frei
zum Weg in die flutende Gruft.
Zerrissen war jedes geheiligte Band;
schon sah sich zum schwindelnden Rand
der treffliche Führer gerissen, und — „Land!
Land!" rief es und donnert' es, „Land!"
12. Ein glänzender Streifen, mit Purpur gemalt,
erschien dem beflügelten Blick;
vom Golde der steigenden Sonne bestrahlt,
erhob sich das winkende Glück:
Was kaum noch geahnet der zagende Sinn,
was mutvoll der Große gedacht. —
Sie stürzten zu Füßen des Herrlichen hin
und priesen die göttliche Macht. Luise Brachmann.
89. Die Martinsrvand.
1. Willkommen, Tirolerherzen, die ihr so bieder schlagt,
willkommen, Tirolergletscher, die ihr den Himmel tragt,
ihr Wohnungen der Treue, ihr Thäler voller Duft,
willkommen, Quellen und Triften, Freiheit und Bergesluft!
2. Wer ist der kecke Schütze im grünen Jagdgewand,
den Gemsbart aus dem Hütlein, die Armbrust in der Hand,
des Aug' so flammend glühet wie hoher Königsblick,
des Herz so still sich freuet an kühnem Jägerglück?
3. Das ist der Max von Habsburg auf lustiger Gemsenjagd.
Seht ihn auf Felsen schweben, wo's kaum die Gemse wagt!
Der schwingt sich auf und klettert in pfeilbeschwingtem Lauf,
hei, wie das geht so lustig durch Kluft und Wand hinauf!
4. Jetzt über Steingerölle, jetzt über tiefe Gruft,
jetzt kriechend hart am Boden, jetzt fliegend durch die Luft!
Und jetzt? Halt ein, nicht weiter! Jetzt ist er festgebannt,
Kluft vor ihm, Kluft zur Seite, und oben jähe Wand!
r
— 160 —
5. Der Aar, der sich schwingt zur Sonne, hält hier die erste Rast;
des Fittichs Kraft ist gebrochen, und Schwindel hat ihn erfaßt.
Wollt' einer von hier zum Thale hinab ein Stieglein baun,
müßt', traun, ganz Tirol und Steier die Steine dazu behaun.
6. Wohl hat die Amm' einst Maxen erzählt von der Martinswand,
daß schon beim leisen Gedanken das Aug' in Nebeln schwand.
Jetzt kann er's sehn, ob dem Bilde sie treue Farben geborgt;
daß er's nicht weiter plaudre, dafür ist schon gesorgt.
7. Da steht der Kaisersprosse, Fels ist sein Throngezelt,
sein Zepter Moosgeflechte, an das er schwindelnd sich hält;
auch ist eine Aussicht droben, so schön und weit zu sehn,
daß ihm vor lauter Schauen die Sinne fast vergehn.
8. Tief unten, ein grüner Teppich, das schöne Thal des Inn,
wie Fäden durchs Gewebe ziehn Straß' und Strom dahin;
die Bergkolosse liegen rings eingeschrumpft zuhauf
und schaun wie Friedhofhügel zu Maxen mahnend auf.
9. Jetzt stößt er, Hülfe rufend, mit Macht hinein ins Horn,
daß es in Lüften gellet, als dröhnte Gewitterzorn;
ein Teufelchen, das kichert im nahen Felsenspalt:
es dringt ja nicht zu Thale des Hülferuss Gewalt.
10. Ins Horn nun stößt er wieder, daß es fast platzend bricht;
ho, ho, nicht so gelärmet! da hilft das Schreien nicht;
denn liebte ihn sein Volk nicht, was er auch bieten mag,
Herr Max, er bliebe sitzen bis an den jüngsten Tag!
11. Was nicht das Ohr vernommen, das hat das Aug' erkannt;
die unten sahn ihn schweben auf pfadlos steiler Wand,
Gebet und Glocken rufen für ihn zum Himmelsdom,
von Kirche zu Kirche wallfahrt der bange Menschenstrom.
12. Jetzt an dem Fuß des Felsens erscheint ein bunter Chor,
ein Priester inmitten, weisend das Sakrament empor.
Max sieht nicht das dunkle Wimmeln auf ferner Thalesflur,
er sieht das blitzende Glänzen der Goldmonstranze nur.
161
13. „Fahr wohl nun, Welt und Leben! Schwer fällt der Abschied mir.
O unerforschlich Wesen, du winkst, ich folge dir!
Ich schien ein Baum voll Blüten, dein Blitz hat ihn erschlagen,
ach, gerne hätt' er früher noch süße Frucht getrageu!
14. Ich schien ein Bauherr, türmend den Dom zu deinem Ruhm.
Nicht durft' er ganz vollenden der Liebe Heiligtum!
Ein Priester, plötzlich stürzend tot an des Altars Stufen,
er hätte gern erst Segen noch übers Volk gerufen!
15. So mag dies Herz denn brechen, von Lieb' und Segen voll,
so modre nun mein Busen, der thatenschwanger schwoll,
verwelke, Hand, denn nimmer krönt deine Müh Gedeihn!
Nur Gottes bester Engel kann hier mein Retter sein!"
16. Er spricht's und hebt zum Himmel nun Angesicht und Arm,
und in die Kniee sinkt er und betet still und warm;
da klopft's auf seine Schulter, er fährt erschreckt empor:
„Komm heim, du bist gerettet!" so ruft es an sein Ohr.
17. Und einen Bergmann sieht er froh lächelnd vor sich stehn,
der faßt ihn fest beim Arme und winkt ihm fürder zu gehn;
mit Leitern, Stahl und Seilen wird kühn ein Pfad gebahnt;
wo Maxens Fußtritt strauchelt, stützt ihn des Retters Hand.
18. Der lädt ihn auf den Rücken, wo Klüfte schwindelnd drohn;
wohl sind der Treue Schultern des Fürsten schönster Thron!
Rasch geht's zu Thal, wo jauchzend Tirol empfängt die zwei;
kein Spötter kann belächeln die seltne Reiterei.
19. Wohl kündet uns die Sage aus grauer Ahnenzeit
von einem Himmelsboten, der schützend ihn befreit.
Ja, wohl ein Engel war es, ein Schutzgeist stark und kühn,
des treuen Volkes Liebe, so nennt zu deutsch man ihn.
20. Ein Kreuz auf hohem Felsen blickt nieder in das Land
und zeigt den Ort, wo bebend einst Habsburgs Sprosse stand.
Noch lebt die edle Kunde und jubelt himmelwärts
aus manchen Sängers Munde durch aller Tiroler Herz!
Kippenberg, A 5 (N. A.).
Anastasius Grün.
11
162
90. Das Freischießen in Straßburg und das glückhaste Schiff.
Im Sommer 1576 herrschte in der freien Reichsstadt Siraßburg
ein bewegtes Treiben. Die Stadt hatte ein großes Freischießen für
Armbrust und Feuergewehr ausgeschrieben und dazu viele Einladungen
an die befreundeten Orte ergehen lassen. Von nah und fern, vom
Rhein und von der Donau, aus Schwaben und aus der Schweiz,
trafen Abordnungen der Städte ein, um an dem Schießen teilzu-
nehmen, so daß Rat und Bürgerschaft Mühe hatten, alle die lieben
Gäste in den Herbergen unterzubringen.
Auf dem Schützenrain vor dem Judenthore war das Schießhaus
in mehreren Stockwerken aus Holz errichtet, in Weiß und Rot, mit
den Farben der Stadt getüncht. An den beiden Seiten standen zwei
mächtige Bildwerke, ein Greif und ein Löwe, als Wachthalter. Ganz
oben auf dem Bau, gerade über der Scheibe, ragte eine bewegliche
Figur, die Glücksgöttin auf einer Kugel darstellend, welche nach jedem
Fehlschüsse dem Schützen den Rücken zukehrte.
Der eigentliche Schießplan war durch hölzerne Schranken mit
Tannenbäumen, Fähnchen und Gewindeü abgesperrt. Außerhalb
dieser Schranken standen ringsum Zelte, Würfel- und Verkaufsbuden.
Da waren allerlei kostbare Gegenstände — Gefäße, Löffel, Ketten
und Ringe — ausgelegt. Nebenher trugen Spießfechter, Ringkämpfer,
Wettläufer, Kraftmänner und Feuerschlucker zur Unterhaltung des
Publikums bei. Mutige Knaben kletterten an hohen Stangen empor
und haschten nach den oben hängenden Kleidern, bunten Tüchern und
Eßwaren oder nach dem Hahne, der in einem Korbe auf der Spitze
der Stange saß. Die Wogelust der Alten ward durch einen Glücks-
topf herausgefordert, nach dessen Losen die Hände von vornehmen
und geringen Leuten gleich begierig griffen. Auch viel fahrendes
Volk unheimlichen Aussehens drängte sich um die Würfelbuden und
den Glückstopf und trachtete danach, an dem Gewinn ohne Einsatz
teilzunehmen.
Was ist das für eine wunderliche Person, die dort mitten unter
den Schützen einherschreitet und wichtig thut, in auffallend bunten
Kleidern, eine Kappe auf dem Haupte, ein Band mit raffelnden
Schellen um das Knie und eine große Pritsche von gespaltenem,
klatschendem Holz in der Hand? — Das ist der Pritschmeister, eine
bei solchen Festen unentbehrliche Figur, halb Narr, halb Amtsperson.
Er hat für die Aufrechthaltung der Ordnung auf dem Schießplätze zu
sorgen, verhöhnt die schlechten Schützen mit althergebrachten Spott-
163
Versen und straft diejenigen, welche gegen die Schießordnung verstoßen,
unbarmherzig mit der Pritsche. Zu seiner Unterstützung sind ihm
einige mutwillige Buben aus der Stadt beigegeben, die ihm von seinen
Künsten etwas abgelernt haben, und, als Hanswürste gekleidet, die
Volksmenge zwischen den Buden durch Sprünge und Radschlagen
ergötzen.
So herrscht überall ungebundene Festlust. Von dem Schießhause
her tönen die schmetternden Klänge der Musik, da hört man das
Schwirren der Armbrustbolzen, das Krachen der Musketen, dazwischen
die unermüdliche Stimme des Pritschmeisters. Die besten Schützen
erhalten hohe Preise in blankem Golde ausbezahlt; die Nebenpreise
bestehen in kleinen Bechern, silbernen Schalen, Tellern, Löffeln,
Gürteln, Armbrüsten oder auch — in Stoff zu einem Kleidungs-
stücke. Zu jedem Preise gehört eine der zierlich in den Stadtfarben
gemalten seidenen Fahnen. Die Abordnungen der Städte sind stolz
darauf, wenn sie recht viele solche Fähnchen in die Heimat mitnehmen
und dem Rate ihrer Vaterstadt überreichen können, von dem sie zur
ehrenden Erinnerung mit den Namen der Schützen aufbewahrt
werden. Die schlechten Schützen aber erhalten Schimpfpreise. Wider-
strebend folgt der Unglückliche dem Aufrufe des Pritschmeisters, der
sich vor ihm verneigt und ihn anredet: „Seht zu, schöner Schütz, daß
Ihr Eure Kunst besser lernt, und empfangt hier als Ehrengeschenk
eine Fahne von der Art Atlas, in welchem die Bauern ihren Hafer
zu Markte fahren!" Dabei übergiebt er ihm eine riesige Fahne von
roher Sackleinwand und eine Narrenkappe mit Hahnenfeder, während
die Jungen des Pritschmeisters mit Klappern und Pfeifen mißtönenden
Lärm um ihn machen.
Die Kunde von dem Straßburger Schießen lockte, je länger es
dauerte, desto mehr Gäste herbei. Aus der Schweiz hatte schon eine
Abordnung von sechzig der besten Züricher Schützen die ersten vier-
zehn Tage mitgefeiert und war mit vielen Preisfahnen und Gewinnen,
voll des Lobes für die Gastfreundschaft der Straßburger und für die
Herrlichkeit der genossenen Festfreuden, in ihre Vaterstadt zurück-
gekehrt. Da wandelte auch andere Züricher Bürger die Lust an, dem
Schießen beizuwohnen. Einer unter ihnen, Herr Hans im Wöhrd,
machte einen trefflichen Vorschlag. „Liebe Landsleute und Mit-
bürger!" sprach er, „weil die Stadt Straßburg immer so freundlich
gegen die Unseren verfahren, so wollen wir ihr auch unsere Gesinnung
kundthun. Als vor einhuudertundzwanzig Jahren die beiden Städte
zusammen ein Bündnis abgeschlossen, da machten unsere Altvordern
ii*
164
an einem Tage zu Wasser auf Limmat, Aar und Rhein die Fahrt
bis Straßburg und brachten einen Topf mit Hirsebrei, den sie von
Zürich mitnahmen, noch dampfend nach Straßburg, zum Zeichen, daß
sie wie im Scherz, so auch zu ernster Hülfe schnell herbeiziehen
könnten. Dieses Bündnis hat sich in guten und bösen Tagen wohl
bewährt. So laßt uns jetzt das Beispiel unserer Altvordern nachahmen
und den Biedermännern in Straßburg zeigen, daß die Entfernung
uns nicht hindert, gute Freunde und Bundesgenossen zubleiben!" —
Die Rede gefiel den anderen, und alsbald beschlossen dreiund-
fünfzig Züricher Bürger unter Anführung ihres Obmannes, des Stadt-
bauherrn Kaspar Thomann, und anderer Herren vom Rate, von
neuem eine Hirsebreisahrt zu rüsten.
Heutzutage, wo uns der Dampf im Fluge von einem Orte zum
andern führt, vergißt man leicht, was vor dreihundert Jahren eine
Reise auf dem schwer schiffbaren oberen Rhein in so kurzer Zeit zu
bedeuten hatte; brauchte man doch für gewöhnlich bei aller Anstrengung
volle drei Tage dazu. Damals galt sie allgemein als ein Wagstück^
und man weitete mehr dagegen als dafür, daß es den Zürichern ge-
lingen würde. Ein damals in Straßburg lebender Dichter, Namens
Johann Fischart, hat das Andenken an diese Fahrt der Züricher
Bürger durch eine treffliche Dichtung frisch und lebendig für die
Nachwelt bewahrt. Sein Werk führt den Titel: „Das glückhafte Schiff
von Zürich, artliche Beschreibung der ungewohnten und doch glück-
fertigen Schiffahrt etlicher Bürger von Zürich, auf das vielberühmte
Hauptschießen gen Straßburg gethan." Dieses Ehrengedicht für die
Züricher ist zugleich für unser ganzes deutsches Volk geschrieben, weil
es uns zeigt, was wackere Männer durch Willenskraft und rüstiges
Streben nach einem bewußten Ziele, sowie einmütiges Zusammen-
wirken zu leisten vermögen. Wie ein roter Faden geht durch die
ganze Dichtung der Gedanke:
Wer wird fortan noch können sagen,
daß Arbeit nicht könnt' all's erjagen.
Noch ist die kurze Juniusnacht (20. Juni) nicht vorüber, noch
funkeln die Sterne am Himmel, da besteigen dreiundfünfzig fröhliche
Bürger, sämtlich in Rosa und Schwarz gekleidet, mit ihnen sechs
Spielleute — drei Trompeter, zwei Trommler und ein Pfeifer —
das am Ufer der Limmat bereit liegende Boot. In der Mitte des
Schiffleins dampft im gewaltigen ehernen Topfe der Hirsebrei, den die
Züricher Hausfrauen in Milch gekocht und mit allerlei Zuthaten ge-
165
würzt haben. Durch ein mit heißem Sande gefülltes Faß wird er
vor frühem Erkalten geschützt. Auch mit frisch gebackenen Semmel-
ringen haben sich die Reisenden versehen, um sie unterwegs an ver-
schiedenen Haltorten, besonders aber in Straßburg, unter die Jugend
auszustreuen.
Unter dem jubelnden „Glückauf!" der Volksmenge an den Ufern
und den fröhlichen Klängen der Musik gleitet das Schifflein den
reißenden Bergstrom, die Limmat, hinab in die Aar. Mit Sonnen-
aufgang ist der Rhein erreicht.
Da freuten sich die Reis'gefährten,
als sie den Rheinstrom rauschen hörten,
und grüßten laut ihn mit Drommeten:
„Nun Han wir deiner Hüls' vonnöten! —
Du Rhein mit deiner hellen Flut
magst unser Schifflein fördern gut,
leit es nach Straßburg, deiner Zier,
strömst du doch gern vorüber ihr,
weil sie dich freuet und entzückt,
gleichwie der Stein den Goldring schmückt!"
Der Rhein wand sich traulich um das Schiff, schlug vor Freuden
ans Gestade, rauschte und sang:
„So recht, ihr lieben Eidgenossen,
nur frisch gewagt! seid unverdrossen,
wie eure tapfern Vordem waren,
die das gethan vor hundert Jahren;
fahrt fort, fahrt fort, laßt euch nichts schrecken
und thut die Arme kräftig recken!
Die Arbeit hilft gewiß zum Siege
und schafft auch, daß man vorwärts fliege!" —
Den Reisenden deuchte feine Stimme, wie wenn der Wind ins
Segel bläst, oder wie wenn das Jagdhorn im Walde tönt und den
Mut in der Brust des Jägers entfacht. Sie zogen kräftig die Ruder
an in gleichem Zug, in gleichem Flug. Der Steuermann stand an
seinem Wasserpfluge und schnitt tiefe Furchen in den Rhein. Auch
die liebe Sonne hatte ihre Freude daran, daß das Schiff so tapfer
fortschritt, und schien so hell in die Ruder hinein, daß sie von fern
wie Spiegel glänzten. Geschwätzig plaudernd tanzten die Wellen
166
rings um das Schiff; das Gestade warf scherzend die Wasser zurück,
die ans Ufer schlugen.
In Laufenburg, wo neidische Felsblöcke dem Strome den Weg
zu sperren suchen und der Rhein mit gewaltigem Wogensturze sich
zwischen Felsen eine Gasse bahnt, mußten unsere Schiffer ihr Boot
verlassen und mit dem Hirsebrei in ein anderes steigen, das jenseit
der Stromschnelle bereit lag. Unterhalb Säckingen, wo St. Fridolins
Kloster auf der Insel steht, fuhren sie im „Gewilde" des Rheins
zwischen starrenden Felsklippen an dem dritten Strudel, hem Höllen-
haken, glücklich vorüber nach Rheinfelden. Von hier an nimmt der
Fluß ruhiger und sanfter den Lauf; das thut er der Stadt Basel
zuliebe, der er gar wohl gewogen ist wegen der Tapferkeit der
Männer an seinem Gestade und wegen des Fleißes, mit dem sie sein
Thalgelände anbauen.
Von der dichtbesetzten Rheinbrücke in Basel, die sie um die elfte
Stunde erreichten, jauchzte die Volksmenge den waghaften Gesellen
Gruß und Beifall zu. Die unten antworteten mit Trommetenschall,
und das Schiff schoß unter der Brücke hindurch, wie der Pfeil vom
Bogen fliegt. Daß sie nun das Rheinknie. bei Basel erreicht hatten,
freute sie sehr; denn sie dachten: „Der rauheste Weg ist überwunden,
— der weiteste wird wohl auch gefunden." Gegen zwei Uhr ward
im Angesicht von Breisach eine kurze Mittagsrast gehalten, dann ging
es mit frischen Kräften weiter: „Je heißer brannt' der Sonne Glut,
je mehr entzündet ward ihr Mut," so daß sie stärker ruderten. Aber
auch die Sonne beschleunigte ihren Lauf. Schon neigte sie sich dem
Westen zu, da erblickten die Züricher in dämmernder Ferne die
Turmpyramide des Straßburger Münsters und begrüßten sie mit
Freudengeschrei und Trommetenfanfaren.
Gegen acht Uhr fuhren sie aus dem Rheinarm in die Jll. Jetzt
wird die Züricher Flagge, blau und silbern, am Maste aufgehißt, und
das glückhafte Schiff läuft auf dem Straßburger Staden ein. Dort
wartet die Menge, Kopf an Kopf gedrängt. Trompetentusch, Trommel-
wirbel und donnernde Willkommenrufe begrüßen die ankommenden
Gäste. Rings um sie tummelt sich die Jugend, um die ausgestreuten
berühmten Züricher Semmelringe aufzufangen. Zwei Ratsherren
empfangen die Gastfreunde; dann tritt aus den Reihen der letzteren
der Obmann Kaspar Thomann hervor und spricht, auf den dampfenden
Hirsebrei weisend:
„Das soll euch zeigen, daß den Jungen
noch nicht der Alten Kraft gebricht,
167
daß wir den stolzen Rhein bezwungen
und unsre Fahrt anher gericht't;
soll zeigen, daß am Rheingestade
auf etlich' dreißig Meilen g'schwind,
droht euch vom Feind Gefahr und Schade,
die Helfer treu zu finden sind;
eh' daß ein Brei nur mög' erkalten,
und eh' ein Semmelring wird hart,
dem stolzen Feind die Glatz' zu spalten
recht nach der tapfern Vordern Art!" —
Nun setzt sich der Zug in Bewegung, vorauf die Spielleute, die
Straßburger Ratsherren und Festdamen, die Knaben im Festschmucke
mit den Fähnchen, darauf die Züricher, in ihrer Mitte den Hirsebrei
von stämmigen Schultern getragen, umgeben von Straßburger
Bürgern zu Fuß und zu Pferde, während der Pritschmeister Mühe
hat, die neugierig und naschlustig sich hinzudrängende Jugend mit
klatschenden Pritschenschlägen fern zu halten. So geht's unter dem
brausenden Jubel des Volkes bis in die Judengasse nach der Zunft-
stube der Maurer, wo Ammeister und Stadtrat die Gäste beim köst-
lich bereiteten Mahle erwarten. Als erstes Gericht wird der Hirse-
brei aufgetragen, und siehe da, er ist noch so warm, „daß mancher
sich gewundert hat, wenn er am Mund ihm brennen that!"
Erst nach Mitternacht endete das fröhliche Gelage, dann wurden
die Züricher von den Straßburger Ratsherren mit Fackeln nach ihrer
Herberge geleitet.
Nun folgten zwei Tage, reich an Festlichkeiten und Ehren-
erweisungen für die Gastfreunde, darauf (23. Juni) unter einem
Ehrengeleite der Straßburger die Heimfahrt zu Wagen durch die
Elsässer Städte nach Zürich, wo sie (28. Juni) unter dem Jubel
ihrer Mitbürger mit ihren gewonnenen Preisfähnchen und den zum
Gedächtnis des Festes geprägten Schaumünzen eintrafen.
Dies war die Hirsebreifahrt der Züricher, von der Johann
Fischart sagt:
„Wer künftig wird den Rhein befahren
der soll auch euer Lob nicht sparen
und wünschen, daß sein Schifflein frei
wie das von Zür'ch so glückhaft sei!" —
Schon zwölf Jahre später erhielt jene Lustfahrt eine ernstere
Bedeutung durch ein Bündnis, welches die drei Städte Straßburg,
168
Zürich und Bern zum Schutze ihrer Glaubensfreiheit abschlössen. Da
feierte der Dichter des glückhaften Schiffes auch dieses Ereignis mit
neuen Versen, und die Schlußworte derselben klingen noch heute wie
ein Segenswunsch an das deutsche Volk:
„Freiheitsblum' ist die schönste Blüt';
Gott lasse diese werte Blum'
in Deutschland blühen um und um,
so wächst dann Fried', Freud', Ruh und Ruhm!" —
Fedor v. Koppen.
91. JehrdeUin. (18. Juni 1675.)
1. Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der große Kriegesheld,
seht, wie er auf dem Schimmel vor den Geschützen hält!
Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin,
das war ein heißes Streiten am Tag von Fehrbellin!
2. Wollt ihr, ihr trotz'gen Schweden, noch mehr vom deutschen Land?
Was tragt ihr in die Marken den wüt'gen Kriegesbrand?
Herr Ludwig von der Seine, der hat euch aufgehetzt,
daß Deutschland von der Peene zum Elsaß werd' zerfetzt.
3. Doch halt, Graf Gustav Wrangel, hier steh nun einmal still!
Dort kommt Herr Friedrich Wilhelm, der mit dir reden will.
Gesellschaft aller Arten bringt er im raschen Ritt
samt Fahnen und Standarten zur Unterhaltung mit.
4. Nun seht ihn auf dem Schimmel, ein Kriegsgott ist es traun!
Den Boden dort zum Tanze, den will er sich beschaun.
Und unter seinen Treuen, da reitet hintenan
zuletzt, doch nicht aus Scheuen, Stallmeister Froben an.
5. Und wie Herr Wrangel drüben den Schimmel nun erblickt,
ruft er den Kanonieren: „Ihr Kinder, zielt geschickt!
Der auf dem Schimmel sitzet, der große Kurfürst ist's;
nun donnert und nun blitzet! auf wen's geschieht, ihr wißt's."
6. Die donnern und die blitzen und zielen wohl nichts Schlechts,
und um den Herren fallen die Kugeln links und rechts.
Dem Derfflinger, dem Alten, fast wird es ihm zu warm;
er ist kein Freund vom Halten mit dem Gewehr im Arm.
— 169 —
7. Und dicht und immer dichter schlägt in die Heeresreihn
dort in des Schimmels Nähe der Kugelregen ein.
„Um Gott, Herr Kurfürst, weichet!" Der Kurfürst hört es nicht;
es schaut sein Blick, der gleiche, dem Feind ins Angesicht.
8. Dem Schimmel möcht' es ahnen, wem dieses Feuer gilt,
er steigt und schäumt im Zügel, er hebt sich scheu und wild;
die Herren alle bangen, doch sagt's ihm keiner an,
wär' doch nicht rückwärts 'gangen der fürstlich große Mann.
/
9. O Preußen, damals wägte auf eines Auges Blick,
auf eines Zolles Breite sich furchtbar dein Geschick!
O Zollern, deine Krone, o Friederich, dein Ruhm!
Hier galt's im Ahn dem Sohne, im Hut dem Königtum.
10. Hier galt es Deutschlands Freiheit ob nord'scher Übermacht;
und wer, wenn er gefallen, wer schlüge seine Schlacht?
Nicht Homburgs edle Hitze, nicht Derfflings rauher Mut,
nicht Grumbkows Säbelspitze, nicht Heer noch Landsturm gut.
11. Und doch der Tod ist nahe und mäht um ihn herum,
und alles zagt und trauert, und alles bleibet stumm.
Die Scheibe ist der Schimmel, das merket jeder nun;
doch helfen mag der Himmel, von uns kann's keiner thun!
12. Da reitet vor den Fürsten Emanuel Froben her:
„Herr Kurfürst, Euer Schimmel, er scheut sich vorm Gewehr;
das Tier zeigt seine Launen, Ihr bringt's nicht ins Gefecht,
so nehmt nur meinen Braunen, ich reit's indes zurecht."
13. Der Herr schaut ihm herüber: „Es ist mein Lieblingsroß!
Doch das verstehst du besser, so reit es nur zum Troß."
Sie wechseln still; dann sprenget rasch ohne Gruß und Wort,
die Zügel lang verhänget, der wackre Froben fort.
14. Und weit von seinem Herren hält er zu Rosse nun,
für wenig Augenblicke scheint das Geschütz zu ruhn;
der Kurfürst selber sinnet, warum es jetzt verstummt,
und: „Wacker war's geminnet!" der alte Derffling brummt.
170
15. Da plötzlich donnert's wieder gewaltig übers Feld,
doch nur nach einem Punkte ward das Geschütz gestellt;
hoch auf der Schimmel setzet! Herr Froben sinkt zum Sand,
und Roß und Reiter netzet mit seinem Blut das Land.
16. Die Ritter alle schauen gar ernst und treu darein.
O Froben, dort am Boden, wie glänzt dein Ruhmesschein!
Der Kurfürst ruft nur leise: „Ha! war das so gemeint?"
und dann nach Feldherrnweise: „Nun vorwärts in den Feind!"
Julius Minding.
92. Die Schlacht bei Roßbach.
Friedrich traf den Feind bei Roßbach am 5. November 1757.
Er vermochte der feindlichen, über 60000 Mann starken Heeresmacht
nur eine Armee von 22 000 Mann entgegen zu stellen. Der Abstand
war groß; doch baute er auf sein gutes Glück und die Heldenkühn-
heit seiner Truppen. Wie immer in entscheidender Stunde, so ver-
suchte er auch jetzt den Mut der Truppen durch ein begeisterndes
Wort zu beleben. „Die Stunde ist gekommen," redete er sie an, „wo
alles, was uns teuer ist, von unseren Waffen abhängt. Ihr wißt,
daß es keine Beschwerde, keinen Hunger, keine Kälte, keine Nacht-
wachen und Gefahren giebt, die ich nicht bis jetzt mit euch geteilt
habe, und ihr seht mich bereit, mein Leben mit euch und für euch
hinzugeben. Alles, was ich dafür verlange, ist dieselbe Treue und
Freundschaft. Jetzt benehmt euch wie herzhafte Leute und vertrauet
auf Gott." Diese einfachen Worte des Königs waren tief in alle
Herzen gedrungen. Die Soldaten antworteten mit einem donnernden
Jubelgeschrei. „Wir wollen mit Dir sterben!" riefen die graubärtigen
Krieger, indem große Thränentropfen ihnen über die pulvergeschwärzten
Wangen rollten. Der König war von diesen rührenden Beweisen
der Liebe und Treue tief ergriffen. Er hatte zum Lager für feine
Getreuen einen Höhenzug gewählt. Die Feinde frohlockten; denn sie
glaubten nichts sicherer, als daß sie den König samt seiner kleinen
Armee umzingeln und mit Mann und Maus gefangen nehmen
würden. Daher beeilten sie sich, die Hügel, worauf die Preußen
lagerten, von allen Seiten einzuschließen, um ihnen jeden Weg zur
Flucht zu versperren.
Friedrich beobachtete ihr Thun mit scharfen Blicken, schien sich
aber nicht darum zu kümmern. Er ließ vielmehr die Soldaten ruhig
171
ihr Mittagsmahl bereiten und verzehren, während er selbst mit seinen
Generalen offene Tafel hielt. Die Franzosen sahen dies und konnten
über die Sorglosigkeit nicht genug erstaunen; ja, sie glaubten wohl
gar, man wolle sich mit Ruhe in das unvermeidliche Schicksal er-
geben. Die Feinde ahnten nicht, daß es bloßes Blendwerk sei, sie
zu täuschen; denn während ein Teil der Soldaten aß, führte ein
anderer die Pferde in Reihe und Glied und machte die Geschütze
schußbereit. Als alle Vorbereitungen getroffen waren und der König
den rechten Augenblick gekommen glaubte, verschwanden im Nu die
Zelte, und die preußischen Truppen standen in langer Linie marsch-
fertig und zum Einhauen bereit. Doch ehe es dahin kam, erblickte
der König den Oberst Möller von der Artillerie, der ihm in seinen
Feldzügen große Dienste geleistet hatte, und der sich bei wichtigen
Vorfällen, wo er dem Könige zu einem Unternehmen raten oder zur
Ausführung zureden wollte, des Ausdrucks bediente: „Ew. Majestät
glauben mir, es wird alles gut gehen, mein Genius sagt es mir."
Dieser Oberst Möller hatte nämlich vor dem Anfange der Schlacht
eine wichtige Rolle bekommen. Seine Geschütze waren nach des
Königs Anordnung hinter Zelten versteckt, so daß sie der Feind nicht
bemerken konnte, und Friedrich versprach sich davon eine gute
Wirkung. Der König eilte auf ihn zu, legte vertraulich seine Hand
auf die Achsel des Obersten und fragte: „Nun, was sagt Sein Genius,
Möller? Wird's gehen?" — „O ja, Ew. Majestät!" erwiderte
dieser, „mein Genius verspricht mir den Sieg." — „Nun denn, in
Gottes Namen!" antwortete Friedrich, und auf einen Wink von ihm
begann die Schlacht. — Zahlreiche Feuerschlünde sandten einen furcht-
baren Kugelregen auf die Franzosen nieder, und auch das Fußvolk
begleitete das Krachen der Kanonen mit knatterndem Gewehrfeuer, so
daß die Franzosen bei dieser Überraschung ganz verblüfft waren.
Noch hatten sie sich von ihrem Erstaunen nicht erholt, als plötzlich
General Seydlitz seinen Kriegern das Zeichen zum Angriffe gab, indem
er ihnen „Vorwärts!" zurief und seine Tabakspfeife hoch in die
Lüfte schleuderte. Unaufhaltsam brach er mit seinen kühnen Reitern
hinter den Hügeln hervor, und wie ein Hagelwetter stürzte er sich
auf die Franzosen, indem alles, was ihm in den Weg kam, nieder-
gesäbelt oder über den Haufen geritten wurde. Die Feinde waren
vom Schrecken wie gelähmt; sich zur Wehr zu setzen, kam keinem in
den Sinn. Alles, was laufen konnte, lief, um dem Verderben zu
entgehen. Die Schlacht bei Roßbach war daher nur ein wildes
Jagen. Alles, was die flüchtigen Franzosen im Laufen hindern
172
konnte, warfen sie von sich; die Reiter stiegen sogar von den Pferden,
zogen die großen Stiefel von den Füßen und schnallten die schweren
Säbel ab, um desto ungehinderter fliehen zu können. Ganze Bataillone
ließen sich von nur wenigen Husaren ohne Widerstand gefangen
nehmen, während andere sich auf der Flucht im Gebüsche versteckten
oder auf den Ästen der Bäume Schutz suchten. Die meisten hielten
in ihrem Laufe nicht eher inne, bis sie den Rhein im Rücken hatten.
Um zwei Uhr hatte der Angriff begonnen, und bei Einbruch der
Nacht war weithin kein Franzose mehr zu sehen. Es war ein Schau-
spiel, wie es bisher die Welt noch nicht gesehen hatte. 2000 Feinde
bedeckten das Schlachtfeld, und 7000 wurden zu Gefangenen gemacht,
während die Preußen nur 91 Tote hatten. Ganz Deutschland jubelte
über diesen Sieg; denn ihr übermütiges Auftreten hatte die Franzosen
sehr verhaßt gemacht. Überall feierte man den Heldenkönig Friedrich,
und man sang von ihm:
„Und wenn der große Friedrich kommt
und klopft nur auf die Hosen,
so läuft die ganze Reichsarmee,
Panduren Und Franzosen!" Ferdinand Schräder.
93. Prinzessin Luise bei Frau Rat.
Die Landgräfin von Hessen-Darmstadt, die Grossmutter der
Königin Luise, war eine echt pfälzische Natur, lebhaft von Ge-
müt, klar in ihren Anschauungen, natürlich in ihren Äusserungen,
reich besaitet in ihrem Gefühl und von einer rückhaltlosen
Wahrheit des Herzens. Sie war eine Frau vom Schlage der
Frau Rat, der Mutter Goethes, und darum hatten sich diese
Frauen, die Fürstin und die Frankfurter Ratsfrau, auch gleich
gefunden.
Zur Krönung des Kaisers Leopold II. am 11. Oktober 1790
reiste die Landgräfin mit ihren Enkelinnen nach Frankfurt, und
da machte die Frau Rat sich ein besonderes Vergnügen daraus,
sie mit den „Prinzefschern“ in ihrem Hause am Hirschgraben
zu beherbergen. Sie selbst hatte ihre Zimmer in der zweiten
Etage; die Landgräfin mit ihren Enkelkindern und Fräulein
von Gelieu wohnte in den Staatszimmern des ersten Stocks.
So ein Haus — mit aller bürgerlichen Behäbigkeit mag den
Fürstenkindern wie eine neue Lebenserfahrung erschienen sein,
und dazu eine Frau wie die Frau Rat, die so viel Herz für
173
junge Menschenkinder sich bewahrt hatte. Unten in dem ge-
pflasterten Hofe stand der Brunnen aus rotem Sandstein ge-
meifselt; aus dem pausbackigen Gesichte einer mythologischen
Figur erstreckte sich das eiserne Wasserrohr, das seinen Strahl
in ein steinernes Muschelbecken sandte; über dem Brunnen und
dem eisernen Schwengel wölbte sich ein gebogenes Dächelchen
von Eisenblech. Das ist heute noch so wie vor hundert Jahren.
Wenn die herbstliche Sonne ihre ersten Morgenlichter über die
hohe Mauer warf, dann hörten die Prinzessinnen in ihrem
Schlafzimmer unten den Schwengel an dem Brunnen gehen,
sahen auch, wie Lieschen, das Dienstmädchen der Frau Rat,
sich das Wasser pumpte, und wie am Morgen so am Abend.
Wenn sie das auch einmal thun dürften! — ,,Ist denn das ä
Sünd?“ mag die Frau Rat auf den leicht hingeworfenen Wunsch
geäufsert haben. „Wenn auch das nicht, aber — wenn „die
Gelieu“ dazu käme!" — „Ach, wie wird se — und wenn auch!"
— Gedacht — gethan! Die Prinzessinnen liefen hinunter in
den Hof — die Frau Rat mit ihnen. Luise hielt den Krug —
Friederike bewegte den eisernen Schwengel aus vollen Leibes-
kräften, bis denn das silberklare Wasser aus der eisernen Röhre
in vollem Strahle herausfloss. — Da, von oben eine Stimme —
„Prinzessin Luise — Prinzessin Friederike -— was machen
Sie?“ „Die Gelieu!“ — Ein Schreckenslaut der Prinzessinnen,
Lachen der Frau Rat, die ihre Freude daran hatte! — „Immer
zu, Mesdames!“ mag sie erwidert haben. Von oben neue
Mahnlaute — Vorwürfe! Durch die Zustimmung der Frau
Rat ermuntert, fuhren die Prinzessinnen in ihrem Vergnügen
wacker fort. Jetzt erst machte es ihnen den rechten Spafs.
„Sie kommt herunter!“ Aber wer war schneller als die Gouver-
nante? Die Frau Rat. Hurtig über die Treppe hinauf vor die
Thür der Gouvernante, der Schlüssel ward schnell herumgedreht.
„So, nu soll se nor komme! Nu is se einschlösse — nu könne
Se zu Ihrem Gaudium weiter pumpe, Mesdames Prinzefscher.“
„Ich hätte mir eher den ärgsten Verdruss über den Hals kommen
lassen,“ sagte Frau Rat später zur Bettina, „als dass man sie
in dem unschuldigen Vergnügen gestört hätte, das ihnen nirgend-
wo gegönnt war als in meinem Hause. Auch haben sie mir
beim Abschied gesagt, dass sie nie vergessen würden, wie glück-
lich und vergnügt sie bei mir waren.“ Sie fühlten sich bei der
Frau Rat wie zu Hause. Georg Hom.
174
94. Arndts Rückkehr in die Heimat 1809.
(Ernst Moritz Arndt hatte um Weihnachten des Jahres 1806 als Flüchtling sein
Vaterland verlassen müssen, um sich der Verfolgung zu entziehen, mit der ihn die
französische Gewaltherrschaft bedrohte. Nach fast dreijährigem Aufenthalte in
Stockholm kehrte er, von heißer Sehnsucht getrieben, heimlich nach dem Vater-
lande zurück. In seinen Lebenserinnerungen schildert er diese gefahrvolle Heimkehr.)
Ich machte meine Sachen allmählich fertig, schaffte mir Wechsel
und Pässe und fuhr gegen das Ende des Sommers wieder gegen
Süden. Ich hatte durch einen treuen Freund doppelte Pässe, die
einen auf England, die andern auf Deutschland, genommen. In
Schweden nahm ich der Sicherheit wegen, weil die halbe Welt mit
welschen Helfern und Spähern bedeckt war, von den Leuten Abschied,
als wenn ich über Gothenburg nach England ginge. Ich aber fuhr
nach Blekingen und segelte im Anfange- des Septembers mit einem
preußischen Schiffe von Karlshamm nach Rügenwalde ab, wo ich nach
geschwindester Fahrt mit einem mächtig treibenden Winde als Sprach-
meister Allmann landete. Von hier fuhr ich den folgenden Tag mit
einem Küstenschiffchen nach Kolberg. Denn ich wollte mich nicht gern
der Reise auf Postwagen und mehr mitten im Lande anvertrauen,
weil ich fürchtete, es könne mir das Spiel des Zufalls dort unwill-
kommene Bekannte zuführen; ich könne auch vielleicht auf französische
Zöllner und Schnüffler stoßen. Als Wandrer aber nach meiner
Weise bei Nacht und Nebel durch Brüche und Wälder mich durch-
zuschlagen, konnte ich hier nicht brauchen. Denn ich war diesseits
der Oder ein Fremdling und hatte früher nie einen Fuß hierher ge-
gesetzt, wozu noch kam, daß ich wegen der langen Abwesenheit aus
Deutschland der einzelnen Zustände in diesen Gegenden völlig un-
kundig war.
Kolberg, obgleich durch Gneisenau und seine tapferen Krieger
und durch Schills Husaren wieder mit neuen Lorbeern gekrönt, warf
doch in dieser Zeit einen schwarzen Schatten des Todes aus
mich. Ich sah auf der Heide preußische Husaren und Artilleristen
exerzieren, sah die Schanzen am Meere, worin und warum so blutig
gefochten war, gedachte der Schatten der vor den grünen Wüllen ge-
fallenen Helden; aber meine Stimmung war der weiten, kahlen
JL_
175
Sumpfheide und dem darüber hiuwehenden Nebelbrodem der Salz-
werke und dem öden Geschwirr der kahlen und entlasteten Tannen
gleich, die um die Schanzen und in den Dünen standen. Ich hatte
in meiner Gaststube in der Zeitung die wiederholte Trauerbotschaft
gelesen, daß an der Donau der Friede wahrscheinlich bald werde ab-
geschlossen werden.
Ich hatte hier drei Tage gewartet, indem ich wieder mit Salz-
schiffen abgehen wollte, die längs den Küsten fortsegeln und in die
Oder einlaufen sollten. Den zweiten Tag war ich schon eingeschifft,
aber kaum waren wir eine halbe Stunde aus der See, so kam ein
heftiger, widriger Wind, und alle diese flachen und schlechten Schiffe
liefen wieder zurück, und der Schiffer erklärte mir, daß sie noch wohl
vier bis fünf Tage liegen bleiben müßten. Was war zu thun? Ich
mußte nun endlich schon die Landreise wagen und bedang mir einen
Fuhrmann, der mich in anderthalb Tagen über Treptow und Kamin
in Wollin ablieferte. Da saß ich nun wieder fest. Hier hätte ich
mich mit dem Stabe in der Hand über die Inseln Wollin und Usedom
leicht nach dem bekannten Wolgast durchschlagen können, wenn ich
erstlich nicht gefürchtet hätte, dort sogleich auf Bekannte zu stoßen,
und wenn ich zweitens nicht zu schweres Gepäck geführt hätte, was ich
nicht gern fahren lassen wollte, und was mich doch wieder leicht ver-
dächtig machen konnte. Hier mußte also wieder ans Segeln gedacht
werden. Aber auch hier waren die Winde nicht mit mir im Bunde.
Zweimal versuchte ich mit einem kleinen Segelkahn die Ausfahrt,
zweimal brachten uns Windstille und Gegenwind wieder nach Wollin
zurück. Erst den fünften Tag gelangte ich nach dem Städtchen Neu-
warp und den sechsten gegen Mitternacht an die Anklamer Brücke.
Hier ließ ich meine Sachen an der sogenannten schwedischen Seite
ans Land setzen und flugs ans Wach- und Zollhaus tragen. Ich,
ohne zu wissen, wes Geistes Kinder drinnen seien, gebärdete mich wie
ein Mann des vollsten Mutes und Rechts, pochte und lärmte ge-
waltig, denn alles schlief. Ich gewahrte auch nicht, welcherlei Volk
es war. Alles lag schlaftrunken da, einer rappelte sich auf, sah meine
Sachen kaum an — denn die Nacht war kalt; und eines guten Trink-
geldes froh, streckte er sich sogleich wieder hin. Ich winkte meinem
Schiffer, und er und seine Frau trugen mein Gepäck in ein nahe-
stehendes Gasthaus, wo ich in früheren Jahren zuweilen eingekehrt
war. Ich hielt mich hier nur ein halbes Stündchen auf, nahm einige
Erfrischung, befahl dem Wirte meine Sachen, die ich morgen würde
abholen lassen, und flog wie ein Vogel über den Damm weiter.
176
Dann ging es durch Ziethen linker Hand des Weges auf Gutzkow,
welchen ich in jüngeren, glücklicheren Tagen oft befahren und be-
pilgert hatte. Aber es ward eine stockfinstere, neblichte Nacht; ich ge-
riet auf eine falsche Fährte und verlief mich ins Peenebruch, und als
ich mich von da wieder zurückgewendet hatte, wieder rechts in ein
falsches Dorf, wo der Nachtwächter nicht übel Lust hatte, mich als
einen Dieb auszuschreien. So hatte ich mehrere Stunden wie auf
Jrrwischpfaden verloren; doch als ich endlich den Turm von Gützkow
sah, konnte ich nicht mehr irren und trat in der Morgendämmerung
in den Trantower Hof, als aus dem anderen Thore desselben
die Ochsen von den Pflügern eben zur Früharbeit herausgeführt
wurden.
Diese meine abenteuerliche Hedschra fiel in die ersten Tage des
Oktobers.
Hier war ich denn wieder an sehr traulicher Stelle, sah mein
Kind, meinen achtjährigen Sohn, sah meine Geschwister, ach! den
lieben Vater sah ich nicht wieder. Ihn hatten sie den vorigen
Sommer begraben. Unruhe und Sorgen und Verluste des Vermögens
von allen Seiten her, wie es in so bösen und räuberischen Zeiten
nicht anders sein konnte, hatten ihn, den einst so Starken, vor seinen
Tagen getötet. Solche freundliche, friedliche Natur, als Gott ihm
geschaffen, war dieser Zeit nicht gewachsen. Meine Mutter war ihm
schon vor vier Jahren, erst 56 Jahre alt, vorangegangen.
Weil das Land, worin einige Mecklenburger als Rheinbunds-
genossen standen, noch von Franzosen beherrscht und hie und da von
französischen Verwaltern durchstrichen ward, saß ich hier in Trantow
des Tages gewöhnlich in einem einsamen Stübchen versteckt und ver-
borgen, den meisten Kommenden und Gehenden ein Geheimnis; abend-
licher und nächtlicher Weile erging ich mich denn gewöhnlich im
Baumgarten oder im Walde mit einem der Brüder oder mit der ge-
liebten Schwester. Nur eine einzige Fahrt machten wir im Dezember
durchs Land zu meinem Bruder Karl, der auf Domänengütern un-
gefähr sechs Meilen von Trantow wohnte. Ich hatte mich so verhüllt
und verkappt und so wunderlich greisenhaft mit Mänteln und Mützen
verstellt, daß, wenn uns auch Bekannte begegnet wären, sie mich nicht
erkannt hätten. Doch brauchten wir die Vorsicht, unterwegs nirgend
einzukehren. So mußte ich in der Heimat neben so vielen Ver-
wandten und Bekannten mich wie ein Bandit durchs Land schleichen.
Das waren Zeiten! €rnf* moti$ yrnbt-
177
95. Reiters Morgengesang.
1. Morgenrot,
leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
dann muß ich mein Leben lassen,
ich und mancher Kamerad!
2. Kaum gedacht,
war der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
heute durch die Brust geschossen,
morgen in das kühle Grab!
3. Ach, wie bald
schwindet Schönheit und Gestalt!
Thust du stolz mit deinen Wangen,
die mit Milch und Purpur prangen?
Ach, die Rosen welken all!
4. Darum still
füg' ich mich, wie Gott es will.
Nun, so will ich wacker streiten,
und sollt' ich den Tod erleiden,
stirbt ein braver Reitersmann.
Wilhelm Hauff.
96. Blücher am Rhein.
Die Heere blieben am Rheine stehn.
Soll man hinein nach Frankreich gehn?
Man dachte hin und wieder nach;
allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Nach Frankreich gehn ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?" —
„Der Feind? — dahier!"
„Den Finger drauf! Den schlagen wir!
Wo liegt Paris?" —
„Paris? — dahier!"
„Den Finger drauf! Das nehmen wir!
Nun schlagt die Brücke übern Rhein!
Ich denke, der Champagnerwein
wird, wo er wächst, am besten sein." August nopi,».
Kippenberg, .4, 5 (N. A-). ' ' 12
97. König Wilhelms Ankunft in Gerlin am 15. Juli 1870.
Alljährlich erinnern wir uns, namentlich am zweiten September,
dem Tage von Sedan, des großen Krieges, den unser deutsches Volk
in den Jahren 1870 und 1871 mit Frankreich geführt hat. Als uns
der Kaiser Napoleon mit Krieg zu überziehen drohte, befand sich König
Wilhelm in dem freundlichen Badeorte Ems zur Kur. Am Morgen
des 15. Juli fuhr der König von Ems ab, um über Kassel seiner
Hauptstadt Berlin zuzueilen.
Wie die ganze Reise des Königs von Ems nach Berlin einer
Triumphfahrt glich, so namentlich auch sein Eintreffen in Berlin.
Was je dem Könige an begeisterten Kundgebungen des Volkes zu teil
wurde, verschwindet gegen die Begeisterung, gegen den Jubel, der sich
bei dieser Rückkehr des königlichen Kriegsherrn kundgab. Seit zwei
Tagen war die Aufregung in Berlin im Wachsen gewesen. Überall
Begeisterung, überall Erbitterung gegen den französischen Übermut.
Die Aufregung steigerte sich, als nachmittags bekannt wurde, daß der
König mit Bestimmtheit abends 8 Uhr 40 Minuten mit Sonderzug
auf dem Potsdamer Bahnhöfe eintreffen würde. Gegen Abend wogten
Tausende von Menschen durch die Straßen und bildeten vom Pots-
damer Bahnhöfe, den Kanal, die Linkstraße, den Potsdamer Platz, die
Königgrätzerstraße, das Brandenburger Thor und die Linden entlang
eine dichtgedrängte Hecke. Die Plätze am Bahnhöfe, am Branden-
burger Thore, vor dem Palais waren buchstäblich mit Menschenmassen
bedeckt. Von den Häusern wehten preußische Banner und nord-
deutsche Fahnen, viele hatten bereits illuminiert, den ganzen Weg
waren die Droschken in Beschlag genommen und mußten, mit
Menschen gefüllt, an der Seite halten. Rasch war auf dem Potsdamer
Bahnhöfe der Ein- und Ausgang der königlichen Wartezimmer mit
Laubgewinden, Kränzen und Fahnen geschmückt, und die Umwohnenden
trugen fortgesetzt Kränze herbei.
Viele hohe Offiziere, die Vertreter der Stadt, ihre goldenen Amts-
ketten tragend, die Minister, viele andere hohe Beamte, die Direktoren
der Bahn, viele junge Damen in weißer Kleidung mit prächtigen
Blumensträußen harrten der Ankunft des Zuges vor dem königlichen
Wartezimmer; eine dichtgedrängte Menge, Damen und Herren, Offiziere
und Arbeiter, alle vereint, füllte den Bahnsteig, so daß der Weg
zum Geleise kaum offen zu halten war. Um 3 Uhr waren der Kron-
prinz, Graf Bismarck, der Kriegsminister von Roon, der General
von Moltke mittels Sonderzuges dem Könige nach Brandenburg
entgegengefahren. Dort erhielt Seine Majestät Nachricht von der
bevorstehenden Kriegserklärung und befahl sofort die Mobilmachung.
Gegen 8% Uhr wurde die Ankunft des Zuges angezeigt und derselbe
schon bei der Einfahrt von einem stürmischen Jubel begrüßt. Dieser
steigerte sich, als der Zug hielt und der König den Salonwagen ver-
ließ. Unter das donnernde Hurra mischte sich fortwährend der Ruf:
„Nieder mit Frankreich!" Der König reichte zuerst dem Feldmarschall
Wrangel die Hand, die dieser küßte, und war tief bewegt von dem
Empfange. Langsam, grüßend und die Hände rechts und links reichend,
schritt er über den Bahnsteig nach dem Wartezimmer, auf dem kurzen
Wege die Blumensträuße der Damen freundlich entgegennehmend. Als-
dann begrüßte er zunächst die Vertreter der städtischen Behörden, die
in ihrer Anrede das treue, opferbereite Einstehen der Bevölkerung aus-
sprachen. Der König erwiderte einige Worte herzlichen Vertrauens.
Nach einem kurzen Verweilen bestieg, unter brausendem Jubelrufe
des Volkes, der König den Wagen, an seiner Seite der Kronprinz.
Unter den Linden stauten sich die Menschenmassen auf den Seiten-
wegen, den Fahrdämmen und in der Promenadenallee zu so dichten
Knäueln zusammen, daß die freie Bewegung fast aufhörte und nur
mit Mühe der Weg für den königlichen Wagen frei gehalten werden
konnte. An vielen Orten wurden Extrablätter verlesen, welche die von
Frankreich erfolgte Kriegserklärung meldeten; dieselbe wurde lebhaft
besprochen, und überall äußerte sich Vertrauen und Zuversicht. Die
Haltung der Menge war ernst und würdevoll. Jetzt wurde fernes
Rusen hörbar, das sich wie Sturmesbrausen fortpflanzte und sich zu
donnerndem Jubel steigerte, als der König im offenen Wagen sichtbar
ward. Als der Wagen sich dem königlichen Palais näherte, konnte er
nur langsam durch die Menschenmasse vorwärtskommen, die so gewaltig
drängte, daß selbst steinerne Pfeiler am Opernplatze brachen. Wie ein
Orkan brauste das nicht endende Hurra über den Platz. Der König,
der ausgestiegen war, trat an die Rampe und dankte wiederholt, tief
bewegt. Dann wandte er sich zurück an seine Umgebung, aber nur
die Nächststehenden vernahmen wegen des gewaltigen Hurras die Worte:
„Bei solcher Begeisterung meines Volkes ist uns der Sieg sicher; wir
können der Zukunft ohne Furcht entgegengehen!" Dann trat der
König in das Palais, aber die Menge wich und wankte nicht.
Einer der ergreifendsten Augenblicke war es, als die Tausende
und aber Tausende, welche dicht, Kopf an Kopf, vor dem königlichen
Palais standen, entblößten Hauptes plötzlich die Nationalhymne an-
stimmten. Viele vermochten vor Erregung nicht zu singen; auch den-
jenigen, welche sangen, zitterte die Stimme, und vielen standen die
Thränen in den Augen. Immer und immer wieder gab sich die Be-
geisterung des Volkes in lautem Rufen kund, und es ruhte nicht, bis
Seine Majestät sich wiederholt am Fenster zeigte. Als kurz vor 11
Uhr General von Moltke hinzukam, um sich zum Könige zu begeben,,
wurde er stürmisch begrüßt, und viel fehlte nicht, so hob man ihn auf
die Schultern und trug ihn nach dem Palais. Die Begeisterung kannte
keine Grenzen, und fortwährend donnerte das Hurra vor dem
zu ebener Erde gelegenen erleuchteten Fenster des Königs. Gegen
halb zwölf Uhr ging in der Volksmenge von Mund zu Mund die
Botschaft, Seine Majestät ließe bitten, nach Hause zu gehen, er
habe noch viel und Wichtiges diese Nacht zu arbeiten. Und wie
aus einem Munde erscholl der Ruf in der Menge: „Nach Hause!
Der König hält Kriegsrat ab und wünscht Ruhe zu haben!" und
Noch eins geschah in der Stille der Nacht vor dem Palais des
Königs: das Heldenbild Friedrichs des Großen wurde mit Kränzen
und Laubgewinden geschmückt. Die Absicht ging dahin, dem Könige
für den nächsten Morgen einen ihn erhebenden Eindruck zu bereitem
In der prächtigen, hellerleuchteten Straße „Unter den Linden" gab sich
aber noch stundenlang die lebhafteste Bewegung kund. Es wurde eine
verteilt und sofort mit Tausenden von Unterschriften bedeckt. Für
die Überreichung war der nächste Morgen bestimmt. Den Geist der
Adresse kennzeichnet folgender Satz aus derselben: „Wie 1813 bis
1815 zu Eurer Majestät erhabenem Vater, so wird auch jetzt jeder
und Eurer Königlichen Majestät getreues Volk bittet nur eins: nicht
zu ruhen, bis dieser französische Übermut für alle Zukunft gedemütigt
und Deutschland in seiner alten Größe hergestellt und gesichert ist."
Mit welchen Empfindungen hatte er am Morgen seine Reise von Ems
aus angetreten, welche Beruhigung hatte ihm die Haltung der Be-
völkerung in den neuen Provinzen Kurhessen und Hannover gewährt,
und welche Kräftigung bereitete ihm Berlin! Man denke sich von
dem allen das Gegenteil, und man wird die Bedeutung des Ge-
schilderten zu würdigen wissen. — Und nun befand sich der König
zur Nacht im Kreise bewährter Helden und Staatsmänner. Ihm
181
der Kriegsminister Roon, der treue, unermüdete Ausführer einer
Heeresverfassung, die, was Festigkeit, organische Gliederung und Be-
weglichkeit zugleich betrifft, bisher wohl unübertroffen dastehen möchte.
Diese und Männer ähnlichen Geistes und Herzens waren in dieser
Nacht zum Kriegsrate bei dem Könige versammelt. Daß die Beratung
getragen ward von dem Pulsschlage hoher Kraft und Einsicht, das
sollte der Welt in überraschender Schnelle und Mächtigkeit kund
werden. Und wie der König sich gehoben fühlte durch die Haltung
des Volkes, so auch seine trefflichen Mitberater. In diesem Sinne
hatten Herz und Geist der Bevölkerung vollen Anteil an den Be-
schlüssen, die in der Nacht vom 15. Juli im Palaste des Königs von
Preußen gefaßt wurden. L-rdmand Schmidt.
98. Ein Brief Bismarcks an feine Frau.
Moskau, 6. Juni 1859.
Ein Lebenszeichen will ich Dir wenigstens von hier geben, während
ich auf den Samowar warte und sich hinter mir ein junger Russe
im roten Hemde mit vergeblichen Heizungsversuchen abmüht; er pustet
und seufzt, aber es will nicht brennen. Nachdem ich in letzter Zeit
über die sengende Hitze so viel geklagt habe, wachte ich heute zwischen
Twer und hier auf und glaubte zu träumen, als ich das Land und
sein frisches Grün weit und breit mit Schnee bedeckt erblickte. Ich
wundre mich über nichts mehr und drehte mich, nachdem ich über die
Thatsache nicht länger in Zweifel sein konnte, rasch auf die andere
Seite, um weiter zu schlafen und zu rollen, obschon das Farbenspiel
von Grün und Weiß im Morgenrot nicht ohne Reiz war. Ich weiß
nicht, ob er bei Twer noch liegt; hier ist er weggetaut, und ein kühler,
grauer Regen rasselt auf das grüne Blech der Dächer. Grün ist
mit vollem Recht die russische Leibfarbe. Von den 100 Meilen hier-
her habe ich etwa 40 verschlafen, aber die anderen waren in jeder
Handbreite grün in allen Schattierungen. Städte und Dörfer, über-
haupt Häuser, mit Ausnahme der Bahnhöfe, habe ich nicht bemerkt,
buschartige Wälder mit Birken decken Sumpf und Hügel, schöner
Graswuchs unter ihnen, lange Wiesen dazwischen, so geht es 10, 20,
40 Meilen fort. Acker erinnere ich mich nicht bemerkt zu haben, auch
kein Heidekraut und keinen Sand; einsam grasende Kühe oder Pferde
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weckten mitunter die Vermutung, daß auch Menschen in der Nähe
sein könnten. Moskau sieht von oben wie ein Saatfeld aus, die Sol-
daten grün, die Kuppeln grün, und ich zweifle nicht, daß die vor mir
stehenden Eier von grünen Hühnern gelegt sind. Du wirst wissen
wollen, wie ich eigentlich hierher komme; ich habe mich auch schon
danach gefragt und zunächst die Antwort erhalten, daß Abwechslung
die Seele des Lebens ist. Die Wahrheit dieses tiefsinnigen Spruches
wird besonders einleuchtend, wenn man zehn Wochen lang ein sonniges
Gasthofszimmer mit Aussicht auf Steinpflaster bewohnt hat. Außer-
dem wird man gegen die Freuden des Umziehns, wenn sie sich in
kurzer Zeit mehrmals wiederholen, ziemlich abgestumpft; ich beschloß
daher, auf selbige zu verzichten, gab Engel meine Schlüssel, erklärte,
daß ich nach 8 Tagen im Stenbock'schen Hause absteigen würde, und
fuhr nach dem Moskauer Bahnhöfe. Das war gestern mittag 12,
und heut früh um 8 stieg ich hier im Hotel de France ab. Jetzt
will ich zunächst eine liebenswürdige Bekannte aus früheren Zeiten
besuchen, die etwa 20 Werst von hier auf dem Lande wohnt, morgen
abend bin ich wieder hier, besehe Mittwoch und Donnerstag Kreml
und dergl. und schlafe Freitag oder Sonnabend in den Betten, welche
Engel inzwischen kaufen wird. Langsam anzuspannen und schnell zu
fahren, liegt im Charakter dieses Volkes. Vor 2 Stunden habe ich
den Wagen bestellt; auf jede Anfrage, die ich seit V/2 Stunden von
10 zu 10 Minuten ergehen lasse, heißt es: sogleich! mit unerschütterlich
freundlicher Ruhe, aber dabei bleibt es. Du kennst meine musterhafte
Geduld im Warten, aber alles hat seine Grenzen; nachher wird ge-
jagt, daß in den schlechten Wegen Pferd und Wagen brechen und
man schließlich zu Fuß anlangt. Ich habe inzwischen 3 Gläser Thee
getrunken, mehrere Eier vertilgt, die Heizbemühungen sind auch so voll-
ständig gelungen, daß ich das Bedürfnis fühle, frische Luft zu schöpfen.
Ich würde mich aus Ungeduld rasieren, wenn ich einen Spiegel hätte.
Sehr weitläufig ist diese Stadt und sonderbar fremdartig durch ihre
Kirchen mit grünen Dächern und unzähligen Kuppeln; ganz anders
wie Amsterdam, aber beide sind die originellsten Städte, die ich kenne.
Von der Bagage, die man hier im Coupe mitschleppt, hat kein deutscher
Kondukteur eine Ahnung; kein Russe ohne zwei wirklich überzogene
Kopfkissen, Kinder in Körben und Massen von Lebensmitteln aller
Art. Ich wurde aus Höflichkeit in ein Schlafcoupe komplimentiert,
wo ich schlechter situiert war als in meinem Fauteuil: es ist mir
überhaupt wunderlich, so viel Umstände wegen einer Reise zu machen.
Otto von Bismarck.
99. Bismarck in Sedan.
Den Verlauf der Entscheidungsschlacht von Sedan am 1. Sep-
tember 1870 verfolgte Bismarck in der Nähe des Königs, der
von einer südwestlich von Sedan gelegenen Höhe aus die Schlacht
persönlich leitete. Hier war er, als der heisse Tag sich seinem
Ende zuneigte, Augenzeuge jenes denkwürdigen Augenblickes,
da General Beille dem König Wilhelm den Brief Kaiser Na-
poleons überbrachte, durch welchen dieser seinen Degen in die
Hand des Siegers legte. Noch an demselben Abend fanden in
Donchery die Verhandlungen wegen Übergabe der gesamten in
Sedan umschlossenen französischen Armee statt, denen Graf
Bismarck neben dem General Moltke auf ausdrücklichen Befehl
des Königs beiwohnte. Erst um ein Uhr fand Bismarck, durch
die Ereignisse des vorausgegangenen Tages aufs tiefste erschüttert
und ganz erschöpft, in einem Hause, das in Donchery für ihn
ermittelt worden war, die ersehnte Buhe. Aber schon bald nach
fünf Uhr morgens wurde er durch die Nachricht geweckt, dass
der Adjutant des Kaisers Napoleon, Graf Beide, ihn zu sprechen
wünsche. Dieser hatte ihm die Mitteilung zu überbringen, dass
Kaiser Napoleon ihn um eine Unterredung ersuche und sich
bereits auf dem Wege von Sedan nach Donchery befinde. So-
fort warf sich Graf Bismarck in seine Kleider und bestieg sein
Pferd, um dem besiegten Kaiser entgegenzueilen. Nach kurzer
Zeit traf er auf der Landstrasse den Wagen des Kaisers. Welch
ein Wiedersehen im Vergleich zu den Tagen von Biarritz, in
denen Kaiser Napoleon sich noch auf der Höhe seiner Macht
befunden hatte! Graf Bismarck war vom Pferde gestiegen und
trat an den Schlag des Wagens, um nach den Befehlen des
Kaisers zu fragen. Der Kaiser äusserte den Wunsch, den König
persönlich zu sprechen, in der Meinung, dass König Wilhelm
sich ebenfalls in Donchery befinde. Graf Bismarck erwiderte,
dass dies augenblicklich nicht möglich sei, da sich der König in
dem drei Meilen entfernten Hauptquartier (zu Vendresse) be-
fände. Doch erbot er sich, dem Könige den Wunsch des Kaisers
zu melden; zugleich bot er dem letzteren sein Quartier in Don-
chery an, um dort die Ankunft des Königs zu erwarten. Im
Schritt wurde nun die Fahrt nach Donchery fortgesetzt. Eine
kurze Strecke vor dem kleinen Städtchen lag ein einsam gelegenes
184
Arbeiterhaus, auf welches Kaiser Napoleon mit der Frage wies,
ob er nicht dort einkehren könne. Das Haus gehörte einem
armen Weber und zeigte die dürftigste Einrichtung. Der Kaiser
ersuchte Bismarck, ihm dorthin zu einer Unterredung zu folgen,
während die in der Begleitung des Kaisers befindlichen Offiziere
draussen warteten. Der kleine, einfensterige Raum, in .welchem
die etwa eine Stunde währende Unterredung stattfand, war nur
mit einem Tische und zwei Binsenstühlen ausgestattet. Kaiser
Napoleon versuchte, vor allem für seine Armee günstige Be-
dingungen zu erhalten. Die im Inneren des Hauses begonnene
Unterredung wurde dann auf einer Bank vor der Thür des-
selben fortgesetzt. Inzwischen war durch Offiziere des General-
stabes das in der Nähe gelegene Schlösschen Bellevue als ge-
eignet für den Aufenthalt des Kaisers und für eine Zusammenkunft
mit dem Könige ermittelt worden. Dorthin ging nun die Fahrt.
Während Bismarck sich nach Donchery zurückbegab, um den
Verhandlungen über die Kapitulation der Armee beizuwohnen,
erwartete Napoleon die Ankunft des Königs. Dieser traf gegen
zwei Uhr nachmittags im Schlosse Bellevue ein. Die denkwürdige
Begegnung der Monarchen währte etwa eine Viertelstunde. Am
folgenden Tage aber, am 3. September, brachte König Wilhelm
bei der Mittagstafel im Hauptquartier zu Vendresse, noch tief-
bewegt von den Eindrücken der letzten Tage, einen Trinkspruch
auf die drei Männer aus, durch deren Mitarbeit so grosse Er-
folge erzielt worden waren. „Wir müssen heute aus Dankbar-
keit,“ so lauteten seine Worte, „auf das Wohl meiner braven
Armee trinken. Sie, Kriegsminister von Roon, haben unser
Schwert geschärft; Sie, General von Moltke, haben es geleitet,
und Sie, Graf von Bismarck, haben seit Jahren durch die Leitung
der Politik Preussen auf seinen Höhepunkt gebracht.“
Bernhard Rogge.
100. Weihnachten in Feindesland.
Am 21. Dezember gab's nochmals im alten Jahre einen blutigen
Tag. Le Bourget war schon wieder der Kampfplatz. Die Garde
schirmt diese blutgedüngte Stätte. Da scheint's nun, als ob Franzosen
aus dem Boden hervorwachsen, unter ihnen Turkos und Seesoldaten.
185
Sie stürmen von mehreren Seiten heran, gleichwohl werden sie wieder-
holt blutig abgewiesen. Die Deutschen sind jedoch in ganz ungeheurer
Minderheit. Wenn keine Hilfe kommt, müssen sie am Ende trotz
aller Tapferkeit unterliegen. „Ausharren, Kinder, die Hilfe muß bald
kommen!" rufen ermunternd die Offiziere. „Bis der letzte Mann
fällt," entgegnen die Männer. Es scheint, sie müssen das Wort ein-
lösen; denn Hilfe kommt nicht, da bei der ungünstigen Windrichtung
der Kamps von seiten der Kameraden nicht bemerkt wird.
In einen Park dringen Seesoldaten ein. Die Tapferen drinnen
sind verloren. Sie versuchen zwar noch sich zu verteidigen; aber der
Augenschein belehrt sie, daß eine Rettung nicht möglich ist. „Ergebt
euch, tapfere Preußen," rufen ihnen die Franzosen zu. Wenn sie nicht
unnötig sterben wollen, müssen sie's thun. Sie werden Gefangene.
Man muß den Franzosen das Zeugnis geben, daß sie sich gut gegen
sie benahmen; einen Verwundeten trugen sie z. B. auf den Händen
bis zu einer Schanze.
Außerhalb dieses Parkes wütet indessen der Kampf weiter. Da,
plötzlich, welch ein Geprassel! Die französischen Festungswerke senden
einen Hagel von Geschossen auf Freund und Feind. Alle flüchten. Es
soll vorgekommen sein, daß damals Franzosen und Deutsche, die Waffen
in der Hand, in einem Keller ruhig nebeneinander saßen. Mittlerweile
naht Hilfe. Deutsche Geschütze reden bald mit, und, von ihnen be-
schirmt, rücken Mannschaften vor. Es gelingt, die Franzosen wieder
zu vertreiben. Damit war ein Lorbeerblatt weiter in den Ehrenkranz
der Garde eingeflochten.
Ein Einjähriger erzählte, er und mit ihm neun Kameraden seien
während des Kampfes von etwa dreißig Franzosen in einem Keller als
Gefangene bewacht worden. Als nun die Deutschen das Dorf wieder
nahmen, berieten sich die Wächter, was sie anfangen sollten. Ein
unter ihnen befindlicher Straßburger gab den Rat, sie möchten sich
den zehn Gefangenen ergeben. Gesagt, gethan. Die bisher Bewachten
werden nun Wächter und führen die Franzosen ab.
Ein Feldgeistlicher, welcher einige Tage nachher eine größere An-
zahl vom Elisabethregiment im Spital fand, bedauerte diese „Elisa-
bether" wegen der schweren Arbeit, welche sie gehabt hatten. Da
sagte einer derselben: „Wir Elisabether sind nicht besser als die anderen
Kameraden, und wenn die Franzer (vom Franzregiment) uns nicht
zu Hilfe gekommen wären, da wär's noch viel schlimmer geworden."
186
Ein Franzer richtete sich nun, auf seinen einzigen Arm gestützt, im
Bette in die Höhe und meinte: „Wir Franzer habend auch nicht ge-
macht; wär' die Artillerie nicht gekommen, da hätten uns die Fran-
zosen doch noch abgeschnitten." Nun kam die Reihe an einen Fuß-
artilleristen. Auch er schrieb seinen Kameraden die Ehre des Tages
nicht zu, sondern sagte: „Den reitenden Batterieen gelang's, die Fran-
zosen zurückzutreiben und die Brüder zu retten." Ist ein solcher Wett-
streit der Bescheidenheit nicht köstlich?
Vier Tage später war Weihnachtsfest. Die Feldpost hatte auf
diesen Tag eine ganz außerordentliche Thätigkeit entfalten müssen.
Wie freuten sich die Männer auf die Geschenke aus der lieben Heimat!
Der Deutsche empfindet es besonders schwer, wenn er gerade am
heiligen Abend fern von seinem heimischen Herde sein muß. Wie
manchem wurde es wehmütig ums Herz, wenn er den Weihnachtsgruß
bedachte: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen!
Mancher Mund betete heute inniger als je: Ja, Friede auf Erden!
Ganz ohne Lichter und Christbaum wollten die Soldaten aber auch
in der Fremde nicht sein. Um Paris herum und wo sonst noch
Deutsche auf französischem Boden standen, suchten sie, wenn sie keine
Bäumchen aus dem Walde bekommen konnten, andere Gegenstände
zu etwas Ähnlichem herauszuputzen und ihren Kameraden und sich
eine Bescherung zu bereiten.
Bei Le Bert galant bei Paris richtete z. B. Premierlieutenant
von Keller seinen Leuten einen Baum im Freien zu; er ließ ihn mit
Papiernetzen, Äpfeln, Lichtern und sonstigem Weihnachtsschmucke zieren.
In einen Stock brauchte er ihn nicht zu stecken; denn seine Wurzeln
reichten tief in die Erde hinab. Keller feierte seit sechzehn Jahren
dieses Fest zum ersten Male fern von den Seinigen, aber jetzt waren
seine Soldaten seine Kinder. Andächtig standen sie um den Baum
herum, der so feierlich gen Himmel ragte und in ihr Herz Friede
und Freude einsenkte.
In Annet luden die Sachsen arme französische Kinder zur Be-
scherung ein. Am Abend des ersten Feiertages kamen ihrer fünfund-
zwanzig, von dem Priester des Orts und vielen Einwohnern begleitet,
in eine mit zwei Christbäumen erhellte Stube. Die Soldaten sangen:
„Stille Nacht, heilige Nacht!" Die Franzosen hörten aufmerksam zu.
Dann hielt ein Deutscher eine Ansprache, zuerst an seine Landsleute;
Saasa
— 187 —
er dankte ihnen, daß sie diesen bedürftigen Kindern solche Freude be-
reitet hätten. „Sollten uns auch," fuhr er fort, „die Ihrigen im
Herzen noch grollen, so laßt uns feurige Kohlen auf ihr Haupt sam-
meln, also daß sie uns wieder lieben und unsere geliebten Toten auch
nach unserem Scheiden noch ehren und im Grabe ruhen lassen."
Hierauf wandte er sich in französischer Sprache zu den Kindern und sagte:
„Denkt auch später bei diesen Gaben an die Sachsen, die so lange bei
euch weilten!" Nun hielt der Priester des Orts eine herzliche An-
sprache, worin er hervorhob, daß dieses herrliche, ihnen noch nie be-
reitete Schauspiel allen Einwohnern unvergeßlich sein und bleiben
werde, und dankte im Namen der Kinder und Eltern für die Geschenke.
Alle waren sichtlich ergriffen, und erfreut trugen die Kinder ihre Ge-
schenke nach Hause. Sie kamen nochmals und wurden festlich bewirtet.
Die Soldaten sangen ihnen ein Lied, die Kinder diesen ebenfalls eins.
Zum Schluß wurden unter großem Jubel und zur Freude der An-
wesenden die beiden Tannenbäume geleert.
Auch König Wilhelm ordnete ein schönes Weihnachtsfest an.
Außer vielen anderen Herrlichkeiten war in einem prächtig gezierten
Saale ein Baumkuchen aufgestellt, um den herum Schokoladenkugeln
lagen, mit der Aufschrift verschiedener Schlachten und Gefechte. Der
König selbst verteilte die Kugeln, seinem Sohne gab er eine mit der
Bezeichnung „Wörth".
Dieses Weihnachtsfest war eine grüne Aue mitten auf schneeigem
und von Blut gerötetem Felde. In die Männer des Krieges zogen
Friedensgedanken ein, und ihre Blicke richteten sich vom Streite der
Erde hinauf zu den himmlischen Höhen. rhUM-m yottmger.
101. Der letzte Gries.
1. Am Himmel Abendsonuenglut,
und Spicherns Höhe trieft von Blut,
der Himmel rot, der Berg so rot,
und tausend Helden starr und tot.
2. Nur der dort an der Mauer lehnt,
der stirbt nicht, weil sein Herz sich sehnt,
sein junges Herz, das steht nicht still,
weil noch ein Wort es sagen will.
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3. „Gottlob, du treuer Kamerad,
dich führte Gott den rechten Pfad."
„Kann ich dir helfen, Bruder, sprich,
wie lab' ich, sprich, wie rett' ich dich?"
4. Er kniet zu ihm, das Haupt geneigt,
und auf die trockne Lippe zeigt
der Todeswunde, und ihn letzt
der Tropfen, der die Lippe netzt.
5. Du tapfres Herz, das alle Kraft
fürs letzte Wort zusammenrafft!
„O schreibe!" — „Sieh, ich bin bereit."
Und er diktiert sein letztes Leid.
6. Aus wunder Brust haucht's tief und hohl:
„Du liebe Mutter, lebe wohl!"
Das war sein Brief und letzter Will';
das junge Herz, nun stand es still.
Friedrich hofmann.
102. Ein Gries Moltkes aus Versailles.
Versailles, den 4. März 1871.
Lieber Adolf!
Ich habe Dein Schreiben vom 19. v. M. aus Clärens richtig
erhalten, es gab aber gerade so viele, zum Teil sehr peinliche Ver-
handlungen, und die ganze Situation war noch eine so unsichere und
spannende, daß ich mich nicht zum Antworten entschließen konnte.
Seitdem ist ja nun der Präliminarfriede ratifiziert und zwar mit
solcher Hast, daß unsre Truppen nur zweimal 24 Stunden in Paris
verblieben sind. Es genügt übrigens, dort acte de presence gemacht
zu haben. Das Königs-Regiment, welches bei der Belagerung vor-
zugsweise viel geleistet hat, war behufs Einrückens per Eisenbahn aus
Orleans herangezogen worden, es konnte gestern nur noch eine Parade
auf dem Longchamp im Bois de Boulogne mitmachen. Helmuth ist
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wohlauf, ich habe ihn nur von ferne begrüßt, das Bataillon kommt
eben heute hier in Quartier. Wilhelm marschiert heute aus der
Gegend von Lisieux, linkes Seine-Ufer, nach Rouen ab. Auf beide
Jungen*) kannst Du stolz fein. Sie haben sich gut bewährt, und es
ist eine große Gnade Gottes, daß sie beide unversehrt geblieben sind
in diesem blutigen Kriege und auf so exponierten Posten, wie sie
den jüngsten Offizieren zufallen. Henry **) ist stets wohlauf und sehr
beliebt bei allen Kameraden; er verwaltet bei mir Adjutantengeschäfte
und führt Haushalt und Geldwirtschaft für mich. Der definitive
Friedensschluß kann voraussichtlich erst nach zwei Monaten erfolgen,
bis dahin behalten wir den ganzen Teil von Frankreich östlich der
Seine, und die dort belegenen Forts von Paris besetzt. Wir können
vorerst nur die Landwehr entlassen und bleiben noch mit einer halben
Million Soldaten im Lande stehen.
Auch der Kaiser verbleibt noch vierzehn Tage bei der Armee,
um die Truppen zu sehen; zur Eröffnung des ersten Reichstages
muß er in Berlin sein. Ich hoffe, daß das Oberkommando hier nicht
zurückbleibt, sondern daß ich auch, etwa am 18. d. M., nach Berlin
zurückkehre. Ich bin in dem Bezirk Haidekrug und in Cleve-Geldern
zur Wahl gestellt. Der Reichstag und der Einzug der Truppen wird
mich dann wohl in Berlin bis zum Sommer festhalten, bevor ich nach
meinem lieben Kreisau gehen kann, wo ich nun gern den kurzen Rest
meines Leben ruhig bliebe. Ich kann Gott nicht genug danken, daß
ich das Ende dieses großen, weltgeschichtlichen Kampfes noch erlebt
habe. „Der Herr ist stark in dem Schwachen," aber froh werde ich
des Erfolges erst, wenn alles vorüber ist. Wie oft hat es schon so
ausgesehen, als ob nun alles gut wäre (Metz, Sedan), und plötzlich
trat eine Situation ein, die alles wieder in Frage stellte.
Wir haben hier jetzt das köstlichste Frühlingswetter, wie bei uns
Anfang Mai. Die kleinen Sträucher werden schon grün, und ich
glaube, daß in vierzehn Tagen die Kirschen blühen können. Dazu
die wundervolle Umgebung der prachtvollen Capitale, leider voll
Brandstätten, Trümmerhaufen und umgehauenen Waldstrecken. Aber
schon gehen die Leute an das Aufbauen, und es ist ein solcher Reichtum
im Lande, daß auch die Kalamitäten dieses Krieges in wenig Jahren
wieder werden verwischt sein, wenn nur eine starke Regierung aufkommt.
*) Helmulh und Wilhelm sind die beiden Söhne von Moltkes Bruder Adolf,
an den dieser Brief gerichtet ist.
**) ein andrer Neffe Moltkes.
190
Am 15. April übersiedle ich nach dem neuen Generalstabsgebäude,
zu dessen Ausmöblierung Se. Majestät noch 12000 Thaler bewilligt
haben; dort ist Platz für viele, und ich hoffe, daß Du die Zeit von
Deiner Rückkehr bis zu Deiner völligen Einrichtung in Lübeck bei
mir zubringen wirst. Ich muß schließen mit herzlichem Gruß
Helmuth.
103. Mein Lieben.
1. Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist!
Wenn auch die Welt ihr Liebstes
und Bestes bald vergißt.
Ich sing' es hell und ruf' es laut:
mein Vaterland ist meine Braut!
Wie könnt ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
2. Wie könnt' ich dein vergessen!
Dein denk' ich allezeit,
ich bin mit dir verbunden,
mit dir in Freud' und Leid.
Ich will für dich im Kampfe stehn,
und soll es sein, mit dir vergehn.
Wie könnt' ich dein vergessen!
Dein denk' ich allezeit.
3. Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist,
so lang ein Hauch von Liebe
und Leben in mir ist.
Ich suche nichts, als dich allein,
als deiner Liebe wert zu sein.
Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
August Heinrich Hoffmann (v. Fallersleben).
191
104. Das Lied der Deutschen.
1. Deutschland,Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält,
von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt —
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt!
2. Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang
sollen in der Welt behalten
ihren alten schönen Klang,
uns zu edler That begeistern
unser ganzes Leben lang —
deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang!
3. Einigkeit und Recht und Freiheit
für das deutsche Vaterland!
Danach laßt uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand;
blüh im Glanze dieses Glückes,
blühe, deutsches Vaterland!
August Heinrich Hoffmann (v. Fallersleben).
------c>Kc>----
IV. Natur und Naturfreude.
105. Die Schönheit der Natur.
1. Freuet euch der schönen Erde,
denn sie ist wohl wert der Freud';
o, was hat für Herrlichkeiten
unser Gott da ausgestreut!
2. Und doch ist sie seiner Füße
reich geschmückter Schemel nur,
ist nur eine schön begabte,
wunderreiche Kreatur.
3. Freuet euch an Mond und Sonne
und den Sternen allzumal,
wie sie wandeln, wie sie leuchten
über unserm Erdenthal!
4. Und doch sind sie nur Geschöpfe
von des höchsten Gottes Hand,
hingesät auf seines Thrones
i weites, glänzendes Gewand.
5. Wenn am Schemel seiner Füße
und am Thron schon solcher Schein,
o, was muß an seinem Herzen
erst für Glanz und Wonne sein!
Philipp Spitta.
192
106. Der Sternenhimmel.
I. Die Sternbilder.
Es ist einer der Tage im Monat Oktober, wo die schönere
Jahreszeit noch einmal ihre ganze Herrlichkeit entfaltet, gleich-
sam als wollte sie uns ihr Scheiden doppelt fühlbar machen.
Die Sonnenstrahlen leuchten goldener als je in der klaren Luft,
durch welche nur schimmernde Marienfadchen leise hinflattern,
und das bunte Laub der Bäume wie die letzten Blumen des
Gartens erglühen unter ihrem Lichte in heiteren Farben. Aber
früh schon geht die Sonne zur Ruhe, und die Dunkelheit bricht
herein. Die Sterne kommen zum Vorschein, anfangs wenige,
bis bald der ganze Himmel mit Sternen übersäet ist.
Keine Zeit des Jahres ladet freundlicher zur Betrachtung
der Gestirne ein als ein solcher schöner Herbstabend, an dem
uns der Himmel bereits früh seine funkelnden Lichter zeigt und
die noch linde Luft ein längeres Verweilen im Freien erlaubt.
Es ist acht Uhr geworden. ’ Heben wir unsere Augen
empor zu dem sternenbesäeten Nachthimmel! In prachtvollem,
sanftem Lichte schimmert hoch über unserm Haupte die Milch-
strasse. Vom südwestlichen Horizonte zieht sie sich bis zum
Scheitelpunkte hinauf und dann abwärts bis zum Horizonte in
Nordosten. Nach Westen zu teilt sich der schimmernde Gürtel
in zwei breite Bänder. Die Milchstrasse hat nun ihre höchste
Stellung am Himmel erreicht, und man wird sie kaum schöner
sehen als jetzt. Was die alten Völker bereits ahnten, das hat
die Wissenschaft erwiesen, dass nämlich die Milchstrasse aus
unzähligen, einzeln nicht mehr sichtbaren Sternen besteht. Von
dem Augenblicke an, wo man — vor fast dreihundert Jahren —
den Himmel mit Fernrohren betrachtete, vermochte man auch
einzelne Teile derselben in Sterne aufzulösen, und heutigestags
hat man mit Hülfe der besten Teleskope die ganze Milchstrasse
als einen Ring von zahllosen Sternen erkannt. So gedrängt
stehen diese bei einander, dass ein eigentliches Zählen derselben
gar nicht mehr möglich ist; man muss ihre Zahl in ähnlicher
Weise zu bestimmen suchen, wie Xerxes diejenige seines Heeres
schätzte. Der grosse Astronom Herschel richtete sein lichtstarkes
Teleskop auf eine bestimmte Stelle der Milchstrasse und schätzte
ab, wieviel Sterne zum Beispiel in einer Minute durch das Ge-
sichtsfeld zogen. Dies wiederholte er für eine Anzahl anderer
Stellen von möglichst verschiedener Sternenfülle. Da er nun
die Grösse seines Gesichtsfeldes genau kannte, und da sich die
Mäche, welche die Milchstrasse am Himmel einnimmt, wenigstens
annähernd, bestimmen lässt, so konnte er berechnen, wieviel
Sterne etwa in dem ganzen Gürtel enthalten sein möchten, und
es ergab sich die Zahl von nicht weniger als achtzehn Millionen.
Was aber eine solche Menge bedeuten will, das können wir
uns einigermassen klar machen, wenn wir berechnen, wieviel-
mal sie grösser ist als die Anzahl der sämtlichen Bewohner
unserer Stadt.
Indem unser Auge von der herrlichen Lichtzone über die
anderen Räume des Himmelsgewölbes hingleitet, grüssen wir
manche unter den vielen Sterngruppen als liebe alte Bekannte.
Gleich auf den ersten Blick zeigt sich an der Ostseite des Firma-
ments wie ein Lichtwölkchen das Häuflein kleiner Sterne, welche
das Siebengestirn oder die Plejaden bilden. „Die Gluckhenne
mit ihren Küchlein“ werden sie auch im Volksmunde genannt.
Der helle Stern in ihrer Mitte ist die Henne; um ihn scharen
sich die kleineren als die Küchlein.
Indem wir in fast wagerechter Linie von dem Siebengestirn
zur Linken hin unsern Blick wenden, bemerken wir einen sehr
hellen Stern erster Grösse; es ist Kapella im Fuhrmann.
Und nun erkennen wir auch, hoch am Himmel hinaufschauend,
in der schönsten und glänzendsten Gegend der Milchstrasse die
fünf Sterne der Kassiopeja, die ein etwas schrägstehendes W
bilden. Nordwärts oder rechts neben der Milchstrasse zieht ein
schöner, heller Stern unsere Aufmerksamkeit auf sich. Es ist
Wega in der Leier, leicht kenntlich an den zwei kleinen links
unter ihr stehenden Sternen, mit denen sie ein langgezogenes
Dreieck bildet. Von der Wega rechts aber zeigt sich ein grosser,
schöner Ring, welcher freilich keine besonders auffälligen Sterne
enthält, aber dennoch an unserer Himmelshalbkugel als einzig
in seiner Art leicht erkannt wird. Es ist die Krone oder der
Kranz der Ariadne.
Wie sollten wir aber den Himmel betrachten, ohne nach
dem grossen, prächtigen Sternbilde des grossen Bären
oder grossen Himmelswagens uns umzuschauen! Da
ziehen sich am nördlichen Himmel gegen Westen zu seine
Kippenberg, L 5 (N. A.). 13
194
sieben hellen Sterne hin. Die drei der Deichsel sehen wir links,
in etwas aufwärts gebogener Stellung. Hier kann sich das Auge
versuchen, ob es das Sternlein wahrnehmen kann, welches über
dem mittleren der drei Sterne der Deichsel steht. Das Reiterlein
— so nennt man den kleinen, munteren Stern — versteckt
sich neckisch vor allen Augen, die nicht ganz besonders scharf
zu sehen vermögen. Und nun gilt es, recht achtzugeben, um den
Polarstern nicht zu verfehlen. Von den zwei äussersten Sternen
des Vierecks des grossen Bären eine Linie aufwärts zum Himmel
hinaufgezogen — und wir treffen auf den Angel- oder
Polarstern, den Schwanzstern des kleinen Bären, der
mit seinen sieben Sternen ein verkleinertes Abbild des grossen
Bären ist.*)
Welch ein Flimmern und Funkeln über uns und rings um
uns her! Wer könnte die leuchtenden Himmelskörper alle zählen!
Mit blossem Auge vermag ein scharfsehender Mensch etwa fünf-
bis sechstausend zu gleicher Zeit am Himmel zu entdecken;
durch das astronomische Fernrohr wächst diese Zahl bis in das
Unendliche. Man spricht davon, dass mehr als tausend Millionen
Sterne von der Erde aus sichtbar seien.
Zu festen Gruppen oder Sternbildern vereinigt, stets un-
verrückt dieselbe Entfernung voneinander, dieselbe gegenseitige
Stellung zeigend, so erscheinen die Sterne dieser Sternbilder
und anderer Gruppen, und man nennt sie daher auch feste oder
Fixsterne. In einer bestimmten Zone des Himmels wandeln
zwischen den Fixsternen andere Sterne hin, die in besonders
glänzendem, aber ruhigerem Liebte leuchten; es sind die Wandel-
sterne oder Planeten. Man sieht sie in verschiedenen Stern-
bildern. Einige gebrauchen längere, andere kürzere Zeit, ehe
sie ein Gestirn durchlaufen. Bald durchkreuzen sie ein solches
von Osten nach Westen, bald in umgekehrter Richtung. Es ist
meistens nicht schwer, unter den Planeten die goldenglänzende
Venus oder den Morgen- und Abendstern, den glänzendsten
Stern des ganzen Himmels, ferner den hellfunkelnden Jupiter, den
rötlich leuchtenden Mars und den mit matterem Lichte scheinen-
den Saturn aufzufinden.
*) Diese Stellung der Gestirne findet statt in der Mitte der Monate
August gegen 12, September gegen 10, Oktober um 8, November
um 6 Uhr abends.
2. Die Entfernung der Sterne.
Mit Ausnahme dieser Wandelsterne erscheinen uns alle
Sterne des Himmels auch durch die allerschärfsten Biesenfern-
rohre nur als Lichtpunkte, an denen keine Gestalt wahrzunehmen
ist. Keinerlei Messung oder bestimmtere Schätzung ihrer Grösse
ist von der Erde aus möglich. Dennoch wissen wir nicht allein,
dass es Weltkörper sind wie unsere Sonne, sondern dass ein
grosser Teil dieser Fixsterne von viel gewaltigerer Masse ist als
der Feuerball, welcher unserer Erde und allen Wesen auf ihr
Licht und Wärme spendet. Erkennen wir doch auch Lichter
auf der Erde aus weiter Entfernung nicht mehr ihrer Gestalt
nach, sondern nehmen einzig den Glanz wahr, der sich von ihnen
verbreitet. So erscheinen uns auch die strahlenden Kugeln in
unermesslichen Fernen nicht mehr als solche, sondern nur als
Lichtquellen ohne Gestalt und bestimmte Grösse.
Ja, aus unendlichen Weiten leuchten sie uns entgegen, und
ganz unvollkommen nur vermag sich der Mensch ihren Abstand
von seiner Erde zur Vorstellung zu bringen. Schon die Grösse
der Erdkugel erfüllt ihn mit Staunen. Würde nicht der Schnell-
zug einer Eisenbahn, wenn er von einem Punkte des Äquators
aus in unveränderter Lichtung rund um die Erde fahren könnte,
bis er wieder an seinen Ausgangspunkt gelangte, fast vier Wochen
gebrauchen? Mehr als neunmal so lang wie der ganze Erd-
äquator ist der Weg von der Erde zu ihrem treuen Begleiter,
dem Monde. Wäre es möglich, diesen mit solcher Dampfwagen-
geschwindigkeit zu erreichen, so müssten doch darüber acht ganze
Monate verfüefsen. Hätten wir unsere Fahrt angetreten zur
Frühlingszeit, wo der Landmann seine Saat in den Erdboden
streut, so wäre das Korn emporgewachsen zu körnerreichen
Halmen und im Spätsommer eingeerntet, so hätte der rauhe
Herbstwind über das Stoppelfeld geweht und die Wintersaat
bereits bis gegen Weihnachten hin unter der schützenden Schnee-
decke geschlummert, ehe wir an unser Ziel gelangten. Und doch
ist der Mond der allernächste Himmelskörper, auf dem wir mit
dem Fernrohre leicht und genau Ebene und Berg und Thal
unterscheiden. Wieviel weiter ist die Sonne von der Erde ent-
fernt! Vierhundertmal länger ist der Weg zwischen diesen beiden
als der Abstand zwischen Erde und Mond. Das spricht sich
leicht aus und liest sich leicht; wer sich aber eine bekannte
Strecke fünfmal, zehnmal, hundertmal und endlich vielhundertmal
13*
196
länger vorzustellen sucht, der erkennt, was das heissen will.
Eine Brücke von 300 m., die über einen breiten Strom führt,
vierhundertmal aneinander gesetzt, giebt eine Bahn länger als
die Entfernung zwischen Leipzig und Dresden, Stuttgart und
Mannheim, Bremen und Hannover.
Nicht weniger als dreihundert Jahre, innerhalb deren zehn-
mal ein Menschengeschlecht auf das andere folgt, würden ver-
gehen, wenn wir vermöchten, uns mit der rastlosen Eile des
Eisenbahnschnellzugs von unserer Erde zur Sonne zu begehen.
Und doch durchläuft das zauberisch schnelle Licht, das fast
keine Zeit gebraucht, um weite Weltenräume zu durchfliegen,
die zwanzig Millionen Meilen zwischen Sonne und Erde in der
Hälfte einer Viertelstunde. Aber diese ungeheure Entfernung,
in die wir uns nur mit Mühe einigermassen hineindenken können,
— wie verschwindet sie ganz und gar gegen den Abstand der
Fixsterne von der Erde! Mehr als drei Jahre bedarf es, bis der
schnelle Lichtstrahl von den allernächsten Fixsternen zu unserer
Erde dringt. Andere können ihr Licht erst in neun, in zwölf
Jahren, ja manche erst in Hunderten und vielleicht in Tausenden
von Jahren zu uns senden. Blitzten in dieser unendlichen Ferne
plötzlich neue Sonnen auf, so würden sie uns Erdbewohnern
doch erst nach Verlauf einer so langen Zeit sichtbar werden;
und würden die Sterne, die jetzt in jenen Regionen leuchten,
plötzlich erlöschen, so würden wir das auf der Erde erst nach
Jahren oder Jahrtausenden merken. Für den Beobachter auf
der Erde würden sie fortleuchten, bis die letzte Lichtwelle, die
von ihnen ausging, sich bis zu seinem Auge fortgepflanzt hätte.
— Bei solchem Gedanken ist es uns, als schauten wir in eine
unergründliche Tiefe, bei deren Anblick uns schwindelt.
Z. Der Lauf der Gestirne.
Bei flüchtigem Anblick scheinen die Sterne dort oben ebenso
unbeweglich als stumm; aber sie sind mit rächten bewegungslos.
Wenn der Astronom sein Fernrohr fest auf einen bestimmten
Stern richtet, so muss er dasselbe nach kurzer Zeit anders stellen.
Der Stern ist aus seinem Gesichtsfelde verschwunden; er hat
sich am Himmel weiter bewegt.
Leicht lässt sich der Gang der himmlischen Gestirne verfolgen.
Die Stunden der schönen Herbstnacht gehen eine nach der
andern vorüber. Leise und unaufhaltsam ziehen die Sterne ihre
197
Bahnen. Alle nehmen teil an dem glänzenden Reigen. Nur ein
einziger bleibt ziemlich hoch am nördlichen Himmel fast un-
wandelbar an seiner Stelle; ihn sieht man nicht vom Flecke
weichen. Es ist der Polarstern. Ihn umwandeln alle Gestirne.
Die ihm nächststehenden schlingen enge Kreise um ihn, die ent-
fernteren grössere. Endlich streift der Stern, welcher vor unseren
Augen den grössten vollen Kreis beschreibt, im Norden schon
den Horizont. Die noch weiter vom Polarstern abstehenden
Sterne können ihre Kreise an dem uns sichtbaren Himmels-
gewölbe nicht vollenden. Sie tauchen an der Westseite des
Firmaments unter den Horizont, bleiben eine gewisse Zeit un-
sichtbar und kommen dann an der Ostseite wieder zum Vorschein.
Bald erkennen wir, dass, wie die Sonne ihren Nachtbogen zieht,
so auch diese Sterne an der uns abgewandten Hälfte der Himmels-
hohlkugel ihren Pfad fortsetzen und so den uns sichtbaren Bogen
ihrer Bahn zu einem vollen Kreise ergänzen. Manche von ihnen
ziehen gar grosse Bogen am Himmel, grösser noch, als der Bogen
ist, welchen die Sonne am Anfange des Sommers macht. Die
dem Polarstern ganz fernen Sterne zeigen uns dagegen nur einen
sehr kleinen Teil ihres Kreises; bei manchen ist derselbe noch
kleiner als der Sonnenbogen beim Beginn des Winters. —
Ziehen wir im Geiste eine gerade Linie vom Nordpolarstern
(Nordpol) durch die Mitte (den Mittelpunkt) der Erde bis an
das Firmament der uns abgewandten Himmelshälfte, so bewegen
sich um diese Himmelsachse, deren Endpunkte der Nordpol und
der Südpol des Himmels sind, alle Sterne in grösseren oder
kleineren Kreisen. Und denken wir uns ferner einen Kreis ge-
zogen, der vom Nordpunkte des Horizonts durch den Nordpol
des Himmels und unsern Scheitelpunkt bis hinab zum Südpunkte
des Horizonts reicht, von dort aber bis zum Südpol des Himmels
und dann zurück bis zum Nordpunkte des Horizonts läuft, so
müssen alle Sterne diesen Meridian auf ihrer Bahn zweimal
treffen. Die für uns auf- und untergehenden Sterne steigen von
Osten her zum Meridian empor, erreichen bei ihrem Durchgänge
durch denselben ihren höchsten Stand am Himmel und sinken
nun dem Westen zu. Die übrigen, stets sichtbaren Sterne
wandeln ebenfalls von Osten nach Westen und stehen gleicher-
weise am höchsten im Meridian. Haben sie aber ihren äussersten
Punkt am westlichen Himmel erreicht, so wenden sie sich in
ihrem unteren Bogen wieder dem Osten zu und haben zwischen
198
dem Nordpol des Himmels und dem Nordpunkte des Horizonts
bei ihrem unteren Durchgänge durch den Meridian ihre tiefste
Stellung am Himmel. Bei klarem Sternenhimmel kann man
diese Gestirne zu jeder Stunde der Nacht wahrnehmen.
Welch ein anderes Bild als am verwichenen Abend zeigt
uns das Firmament, wenn wir am frühen Morgen gegen fünf
Uhr, ehe noch die Morgendämmerung beginnt, unsere Blicke
dorthin wenden! Diejenigen auf- und untergehenden Sterne,
welche damals westlich vom Meridian standen, sind untergegangen;
sie sind entweder unsichtbar geworden, oder, wenn sie dem Nord-
polarstern näher sind, nach einem kurzen Laufe unter dem
Horizont bereits in östlicher Gegend wieder zum Vorschein
gekommen. Der lichte Gürtel der Milchstrasse zieht sich nun-
mehr durch die ganze Westseite des Himmels. Vom Südpunkte
des Horizonts erhebt sie sich, erreicht im Westen eine nicht so
bedeutende Höhe und senkt sich von da zum Norden. Nun
glänzt Kapella im Fuhrmann in der Gegend, wo, westlich vom
Scheitelpunkte, die Milchstrasse ihren höchsten Stand hat; sie hat,
von Nordosten herkommend, einen grossen Bogen am Himmel
zurückgelegt. Nun steht die Kassiopeja, die wir abends hoch
am Himmel erblickten, tief im Nord westen, und weithin am
westlichen Himmel erglänzen jetzt die Plejaden. Der grosse
Himmelswagen ist ein gutes Stück um den Polarstern herum-
gekommen und dabei sehr hoch am Himmel emporgestiegen;
die Deichselsterne stehen unter dem Stemenviereck und zeigen
abwärts, etwas zur linken Hand. Tief im Nordosten schimmert
auch der Sternenring der Krone. Wollen wir nun von den uns
bekannten Gestirnen, die wir noch am Himmel erwarten dürfen,
auch Wega in der Leier aufsuchen, so werden wir diese fast
im Norden ganz niedrig funkeln sehen.
Statt der entschwundenen Sterne sind am ganzen östlichen
Himmel bis weit nach Süden und Südwesten hin neue, prächtige
Gestirne aufgezogen. Eine gerade Linie, durch die beiden inneren
Sterne des Vierecks des grossen Bären abwärts gezogen, führt
auf den grossen Löwen mit seinen hellen Sternen. Unter
diesem schönen Sternbilde folgt am östlichen Himmel die Jung-
frau, deren herrlichster Stern, „die Kornähre der Jungfrau“,
auch Spica genannt, soeben über den Horizont gestiegen ist.
Im Südosten erheben sich hoch und deutlich die beiden Köpfe
der Zwillinge, Kastor und Pollux. Nach Süden zu aber er-
199
glänzt die schönste Zierde unseres Himmels, die wir stets wieder
mit besonderer Freude bewundern: der Jäger Orion. Die drei
schönen Sterne an seinem Gürtel stehen nun in fast wagerechter
Linie nebeneinander. Wie lebhaft glänzt gerade unter dem
Gürtel in dem schönen Sternenviereck, das diesen in seiner Mitte
hat, Rigel, der hellste Stern des Orion! Aber noch strahlender
sehen wir links von ihm, nicht hoch über dem Gesichtskreise,
den hellsten Fixstern des ganzen Himmels, den Sirius oder
den grossen Hundsstern.
Der Morgen dämmert heran; die Sterne beginnen zu ver-
löschen, — anfangs die lichtschwachen, dann auch die glänzen-
deren. Endlich Schliessen sich vor dem Lichte der aufgehenden
Sonne auch die Strahlenaugen der Sterne erster Grösse. Die
eine flammende Sonne, unsere Sonne, löscht die vielen
Tausende anderer Sonnen für uns aus. Mit Freuden aber er-
innern wir uns der vielen leuchtenden Weltkörper. Wollen wir
sie recht kennen lernen, so müssen wir sie sehr oft mit Auf-
merksamkeit betrachten ; wir werden dann manches besser erfassen
und treuer in uns bewahren, als es hei seltener Beobachtung der
Fall sein kann. Soll uns der Sternenhimmel aber heute abend
ebenso erscheinen wie gestern abend, so müssen wir ihn einige
Minuten früher betrachten. In 23 Stunden und 56 Minuten dreht
sich das Firmament einmal völlig um seine Achse und um die
Erdkugel; stets erreicht jeder Stern den Meridian vier Minuten
eher als am vorhergehenden Tage. Heute abend wird der
hellste Stern im Schwan, Deneb, bald nach sieben Uhr durch
den Meridian gehen, morgen bereits vier Minuten früher und am
Ende des Monats schon um 6% Uhr. Ist es aber möglich, so
fragt der denkende Mensch, dass die so unendlich weit von
uns entfernten Sterne, deren Abstand von der Erde dazu so
ganz und gar verschieden ist, sich sämtlich genau in derselben
Zeit um die Erde bewegen? Und mit welcher Geschwindigkeit
müssten sie ihre Bahnen durch den Weltenraum zurücklegen!
Der Geist des Menschen, der solche Fragen sich stellt, hat sie
auch beantwortet, und seit Jahrhunderten ist es uns zur Gewiss-
heit geworden, dass wir auch hier, wenn wir nur unseren Sinnen
folgen, in einer Welt des Scheins und der Täuschung leben. Wie
bei einer Eisenbahnfahrt die Häuser, Bäume und Felder draussen
nur scheinbar an uns vorbeifliegen, so wandeln auch die himm-
lischen Gestirne nicht wirklich um die Erde. Indem unser Erd-
200
ball sich täglich um seine Achse dreht, ziehen die Sternenheere
an den Augen seiner Bewohner vorüber.
„Die Stern’ in hohen Räumen, die Blüten auf den Bäumen
sind alle seine Kinderschar.“ Wenn wir mit herzlicher Freude
hinabschauen zu den lieblichen Blumen der Erde, die schöner
erscheinen als Salomos Gewand, die aber heute blühen und
morgen verwelken, so wollen wir auch gern den Blick empor-
heben zu den Sternen des Himmels, die in nimmer erbleichendem
Glanze ihre ewigen Kreise ziehen. Die Blumen der Erde wie die
Gestirne des Firmaments, sie verkünden uns beide, jede in ihrer
besonderen Sprache, die ewige Ordnung des Allwaltenden und
die Schönheit seiner Schöpfung, die wir um so mehr bewundern
und heben, je mehr wir sie mit unserem Geiste durchdringen.
August Kippenberg.
107. Den Blick empor.
1. Gottes Pracht am Himmelsbogen
ist in Sternen aufgezogen.
Welch ein heilig stilles Chor!
Daß das Herz dir größer werde,
blicke von der kleinen Erde
zu dem ew'gen Glanz empor!
2. Aus der Sterne Millionen,
aus den glanzerfüllten Zonen
hat er.seinen Thron erbaut.
Seiner Welten lichte Heere,
seiner Sonnen Flammenmeere
wandeln, wo sein Auge schaut.
3. Kannst du noch dein Auge senken,
deines armen Lebens denken
und was irdisch dich betrübt?
Der den Flammenkranz gewunden,
hat dich seiner wert gefunden,
ist ein Vater, der dich liebt.
August Mahlmann.
108. Wanderlied.
1. Wer schauen und erfahren will,
wie schön und weit die Welt,
der muß den Stab ergreifen,
durch Städt’ und Länder streifen,
durch Wald und grünes Feld.
O sel’ge Lust, zu wandern
im goldnen Himmelsschein!
Das Wandern, das Wandern,
das soll gepriesen sein!
2. Wer alles Leid vergessen will
und allen Sorgenstaub,
der muß dem Haus entfliehen
und frisch die Welt durchziehen
beim ersten Frühlingslaub.
O sel'ge Lust, zu wandern
im goldnen Himmelsschein!
Das Wandern, das Wandern,
das soll gepriesen sein!
201
3. Und wer so recht erfahren will
der Heimat süßes Glück,
der geh' in fremde Lande —
bald ziehen tausend Bande
zur Heimat ihn zurück!
O sel'ge Lust, zu wandern
im goldnen Himmelsschein!
Das Wandern, das Wandern,
das soll gepriesen sein!
Georg Christian Oieffenbach.
109. Sonntagsmorgenlied im Frühling.
1. O seht, auf leisen Flügeln
des Frührots von den Hügeln
kommt unser Feiertag ins Thal!
Wir wandeln ihm entgegen;
er bringt uns Freud' und Segen
und Laub und Blumen ohne Zahl.
2. Es schmücken sich die Auen,
sein Angesicht zu schauen;
ihn preist der Nachtigallen Chor.
Die Lerch' am Himmel schwebet,
und duftender erhebet
die Blume selbst ihr Haupt empor.
\ 3. Wir aber stehn und loben
den guten Vater droben;
er ruft den Lenz und schmückt die Flur.
Ist nicht die weite Erde
ein Lamm von seiner Herde?
Er leitet sie an seiner Schnur.
4. Die Stern' in hohen Räumen,
die Blüten auf den Bäumen
sind alle seine Kinderschar;
er schaut mit Wohlgefallen
hinab und reichet allen
die vollen Vaterhände dar.
5. Drum laßt uns hier im Freien
ihm unsre Freude weihen,
auch hier ist Gottes Heiligtum.
Ihn preiset Laub und Blüte,
verkündend seine Güte;
mein Herz, lobsinge seinen Ruhm!
Friedrich Adolf Arummacher.
110. Das alte Mütterlein.
1. Stille herrscht im großen Bauernhaus,
alle zogen sie ins Feld hinaus,
Mann und Weib und Knecht und Magd zumal,
alle labt der Sonne goldner Strahl.
202
2. In dem Hause blieb Großmütterlein,
in der Stube weilt sie ganz allein,
hinterm Rade sitzet sie und spinnt,
hinterm Rade sitzet sie und sinnt.
3. In das Fenster schlüpft der Sonnenschein,
warm grüßt er das alte Mütterlein,
und er sagt: „O komm zu mir heraus,
sieh, ich schmücke alles glänzend aus!"
4. An das Fenster klopft der Birke Zweig
mit den braunen Äuglein, zart und weich,
und er spricht: „O komm zu mir doch her,
sieh, ich bin von tausend Knospen schwer!
5. Hörst du nicht des Finken helles Lied,
das aus meinem Wipfel niederzieht?
Sieh, ich schaukle mich vor trunkner Lust,
send' von hier den Hauch in deine Brust!
6. Komm heraus, der Himmel lächelt blau,
in dem Walde knospet's, auf der Au,
und im Menschenherzen knospet's auch,
wenn er weht, der milde Frühlingshauch!" —
7. Doch die Alte sitzet wie im Traum,
all das Grüßen hört und merkt sie kaum.
Lockt sie nicht der goldne Sonnenschein,
den doch sonst liebt jedes Mütterlein?
8. Und die Alte sagt: „Sie kommen nicht!"
Bleicher wird das bleiche Angesicht:
„Kommen sie auch heute nicht zurück,
weicht von diesem Hause Heil und Glück!"
9. Horch — es rauscht wie heller Flügelschlag,
und es klappert von des Hauses Dach
Und die Alte hat mit rascher Hast
ihren knot'gen Wanderstab gefaßt.
10. Und sie lächelt: „Diesmal ist es wahr,
wieder kam das treue Storchenpaar,
werd' es sicher auf dem Dache sehn,
o, nun kann ich rasch und freudig gehn!"
203
11. Draußen steht sie, und ihr Aug' ist klar,
auf dem Dache weilt das Storchenpaar,
und mit froher Stimme ruft sie aus:
„Nun bleibt Segen meinem Elternhaus!
12. Sei gegrüßt, du warmer Sonnenschein,
warm dringst du ins alte Herz hinein;
meinen Söhnen bleibt nun auch das Glück,
denn die Störche kamen ja zurück!" «Luther ru-ol.
111. Der Ursprung des Himmelfchlüjselchens.
Wenn im Frühling der Wald zu neuem Leben erwacht und über-
all leises Flüstern und Rauschen beginnt, da können Himmelschlüssel
und Windröschen das Hinausschlüpfen aus der Erde und das Begrüßen
des hellen Sonnenlichtes kaum erwarten. Namentlich das gelbe
Himmelschlüsselchen löst schon das Schneeglöckchen ab oder steht zu-
weilen sogar neben ihm und gesellt das Gold seiner Blüten zu dem
Silber, das auf dem Glöckchen schimmert:
Liebliche Blume,
Primula veris,
holde, dich nenn' ich
Blume des Glaubens,
gläubig dem ersten
Winke des Himmels
eilst du entgegen,
öffnest die Brust ihm. (Lenau.)
Die zahlreichen Verwandten unserer Primeln vom Thale sind
lauter Bergbewohner, lauter Leute, denen es erst in der Höhe von
einigen tausend Fuß über dem Meere so recht wohl wird. Manche
von ihnen klettern in der Gesellschaft der Anemonen von einem Grat
zum andern empor und erblühen Jahr um Jahr an der Grenze des
schimmernden ewigen Eises.
Des Himmelschlüssels hohe, aufrechte Erscheinung, vielleicht auch
seine Vorliebe für die ragenden Berge, die so nahe den Wolken und
dem blauen Himmel sind, haben die Sage von seiner wunderbaren
Entstehung in das Leben gerufen.
Diese Sage erzählt von einem Jünglinge, der in heißem Wissens-
drange von der Erde nach dem Himmel strebte. Ruhelos suchte er
nach dem Wege und den Mitteln, die ihn über die Schwelle des
204
Himmels führen sollten. Er wanderte von Land zu Land, von Meer
zu Meer; er drang in die Reiche der Geister, die unter der Erde und
unter dem Wasser schaffen und streben; er schlürfte mit Begierde alle
ihre Lehren ein; er wuchs zu einem Riesen an Wissen und Klugheit
und an Körperkraft. Er konnte mit dem Schlage seiner Faust Felsen
zertrümmern und mit der Macht seines Verstandes alles auf Erden
Bestehende zerteilen, zergliedern, vernichten. Er war allmächtig im
Zerstören; aber neu schaffen konnte er nichts, auch nicht den kleinsten
Grashalm, den sein Fuß zufällig zertrat. Da faßte ihn Unmut und
Groll und ein heißes Verlangen, und wieder lief er ruhelos von
Berg zu Berg, immer höher und höher hinauf dem Himmel entgegen,
von dem er sich Wissen und Antwort für tausend Fragen holen wollte.
Lange, lange Tage und Nächte war er so fortgewandert, ruhelos,
endlos, immer den Blick auf die Wolken gerichtet, und des Nachts
auf die Sterne. Aber er war nicht hoffnungslos, denn in der Hand
trug er einen goldnen Schlüssel, den er mit Hülfe aller ihm be-
freundeten Geister zustande gebracht, und der ihm den Himmel er-
schließen mußte, wenn sein Fuß nur über die Wolken hinaus bis an
die Pforten der Ewigkeit dringen konnte. ° Und so kam er in einer
stillen, lauen Frühlingsnacht auf den höchsten Bergesgipfel der Erde,
wohin noch kein Mensch vor ihm gedrungen war. Tief unter ihm
lagen die Wolken. Kein Ton kam zu ihm herauf. Die Luft stand
still, und die Sterne standen groß und hehr in unsäglicher, milder
Schönheit vor ihm; ihre Strahlen kamen ihm entgegen wie eine
silberne Brücke, auf der er hinaufschreiten konnte bis zu der Pforte
des Himmels.
Und er ging mit weitgeöffneten, starren Augen die glänzende
Bahn entlang, ohne umzublicken, immer höher und höher hinauf.
„Nicht zittern!" rief der Slern zur Rechten.
„Nicht zurückblicken!" rief der Stern zur Linken.
„Alles vergessen!" mahnte der Stern, der vor ihm leuchtete, und
sah ihn dabei unnennbar traurig an.
Der Jüngling zitterte nicht und blickte nicht zurück, sondern hielt
den goldenen Schlüssel bereit, denn jetzt war er ganz nahe an der
Pforte.
„Alles vergessen!" mahnte der Stern, und der Jüngling hob
schon die Hand, um den Schlüssel in das Schloß zu drücken, das in
allen Regenbogenfarben leuchtete. „Alles vergessen! die grüne Erde,
die Heimat, deine Jugend, deine Kindheit, alles vergessen, für immer
vergessen!" mahnte der Stern. „Die Geschwister — Vater—Mutter! —"
205
Da ging ein Zittern und Beben durch die Hand des Jünglings,
seine starren Blicke lösten sich und wandten sich zurück, und taumelnd
stürzte er von den silbernen Strahlen der Sterne durch die Wolken
hinab zur frühlingsgrünen Erde.
Lange lag er bewußtlos dort wie im tiefen Schlafe. — Als er
erwachte und um sich sah, war alles vorüber wie ein Traum. Nur
den goldnen Schlüssel hielt noch seine Hand gefaßt; aber der war
über Nacht zur Frühlingsblume geworden und wurzelte in der lieben
grünen Erde. ---- Aglaja v. Luderes.
112. Morgenwanderung.
1. Wer recht in Freuden wandern will,
der geh' der Sonn' entgegen;
da ist der Wald so kirchenstill,
kein Lüftchen mag sich regen;
noch sind nicht die Lerchen wach,
nur im hohen Gras der Bach
singt leise den Morgensegen.
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,
darin uns aufgeschrieben
in bunten Zeilen manch ein Spruch,
wie Gott uns treu geblieben;
Wald und Blumen, nah und fern,
und der helle Morgenstern
sind Zeugen von seinem Lieben.
3. Da zieht die Andacht wie ein^Hauch
durch alle Sinnen leise,
da Pocht ans Herz die Liebe auch
in ihrer stillen Weise.
Pocht und pocht, bis sich's erschließt
und die Lippe überfließt
von lautem, jubelndem Preise.
4. Und plötzlich läßt die Nachtigall
im Busch ihr Lied erklingen,
in Berg und Thal erwacht der Schall
und will sich aufwärts schwingen,
und der Morgenröte Schein
stimmt in lichter Glut mit ein:
Laßt uns dem Herrn lobsingen
Lmanuel Geibel.
206
113. Frühling im Gebirge.
1. Wenn der Frühling auf die Berge steigt
und im Sonnenstrahl der Schnee zerfliesst,
wenn das erste Grün am Baum sich zeigt
und im Gras das erste Blümlein spriefst,
wenn vorbei im Thal
nun mit einem Mal
alle Begenzeit und Winterqual,
schallt es von den Höhn
bis zum Thale weit:
„0, wie wunderschön
ist die Frühlingszeit !u
2. Wenn am Gletscher heiss die Sonne leckt,
wenn die Quelle von den Bergen springt,
alles rings mit jungem Grün sich deckt
und das Lustgetön der Wälder klingt —
Lüfte, lind und lau,
würzt die grüne Au,
und der Himmel lacht so rein und blau,
schallt es von den Höhn
bis zum Thale weit:
„0, wie wunderschön
ist die Frühlingszeit! Friedrich v. Bodeustedt,
114. Der blühende Flachs.
1. Auf, kommt in die Felder und blühenden Au'n,
das liebliche Pflänzchen der Mädchen zu schaun!
Es wächset und grünet so freundlich und zart,
jungfräulich-bescheiden in eigener Art.
2. Laut rauschet vom Golde der Ähren das Land,
still grünet das Pflänzchen im schlichten Gewand;
doch trägt es ein Krönlein von himmlischem Blau,
des Krönleins Gestein ist der funkelnde Tau.
3. Erst barg es die Erde im kühligen Schoß,
da zogen die freundlichen Lüftchen es groß.
Nun woget und wallet es lieblich und schlank.
Du Erde, ihr Lüftchen, habt freundlichen Dank!
4. Bald tragen wir sorglich das Pflänzchen hinein,
dann schmückt es den Rocken in silbernem Schein;
wir singen zum schnurrenden Rädchen und drehn
die Fädchen, wie Seide so glatt und so schön.
5. Wann draußen die Felder erstarren von Eis,
dann ruft uns das Pflänzchen zum traulichen Kreis.
Jetzt blühend und grünend ergötzt uns sein Glanz;
dann schlingt es uns selber zum blühenden Kranz.
6. Drum kommt in die Felder und blühenden Au'n,
das liebliche Pflänzchen der Mädchen zu schaun!
Es grünet und blühet so lieblich und zart,
jungfräulich-bescheiden in eigener Art.
Friedrich Adolf Rrummacher.
115. Das Fhrenfeld.
1. Es regt auf dem reifenden Korngefild
sich kaum ein Lüftchen leis und mild;
wie fromme Beter, still beglückt,
im Gotteshause stehn gebückt,
so scheinen, von ihrem Segen trunken,
die Ähren im Gebet versunken.
2. Und zwischen ihnen dort und hier
der blauen Blümchen süße Zier,
als ob ein jedes hold und hehr
ein Liebesblick des Himmels wär';
drum mag die Lerche mit frommem Vertrauen
bei ihnen gern ihr Nestlein bauen.
3. Hier wohnet sie in Demut still;
doch wenn sie zum Schöpfer reden will,
schwingt sie sich auf und singt ihr Lied,
wo sie nur Gottes Auge sieht,
und wer sie hört ihr Hochamt halten,
den drängt es, betend die Hände zu falten.
208
4. Dein Segen, Herr, wie reich und hold!
Wie lacht und glänzt der Ähren Gold!
O, gieb den Armen ihr täglich Brot
und lindre ihre Sorg' und Not,
daß froh, wie Lerchengesänge schweben,
sich aller Seelen zu dir erheben! ^ii»* Jammer.
116. Spruch.
Bist du die goldne Ähre nicht, die schwer von Korn sich wiegt,
so sei die blaue Blum' im Feld, die frisch das Aug' vergnügt.
Kannst du als stolzer Pfeiler nicht im hohen Münster ragen,
so sei der kleinen Steinchen eins, die mit die Wölbung tragen.
Kannst du in Psalmen wunderbar nicht deinen Schöpfer preisen,
so singe, wie ein Vöglein singt, sein Lob in schlichten Weisen,
und schreibt die Welt den Namen dein einst nicht in Stein und Erz,
begnüge dich, wenn dein gedenkt ein warmes Menschenherz.
Vttilie Wildermuth.
117. Deutschlands Nadelhölzer.
Laubwald und Nadelwald wirken ganz verschieden auf
unser Gemüt. Der Eindruck des Laubwaldes, sei es reiner
Buchen- und Eichenbestand oder aus mancherlei Bäumen ge-
mischtes Holz, ist stets ein mehr wohlthuender, traulicher. Die
breiten, weit ausgreifenden Kronen erlauben nicht, dass die
Stämme sehr dicht beisammen stehen, und man findet zwischen
ihnen eine reiche Welt von Büschen und Kräutern, über die
hinweg das Auge meistens weit in die Säulenhallen hineinblicken
kann. In den Wipfeln erschallen die Lieder der Vögel, welche
zwischen den gabeligen Zweigen oder in den Astlöchern ihre
Nester bauen, und der Wind rauscht dazu seine kräftigen Accorde
durch die Blättermassen. Jede Wendung unseres Pfades ver-
ändert das schöne W aldbild; immer neue Baumgruppen und
abwechselungsvolle Baumgestalten bieten sich unserem Auge dar.
Aus dem Laubwalde, durch dessen Kronen einzelne Sonnen-
strahlen auf den moosbedeckten Boden schlüpfen, treten wir
gestärkt und auch erheitert auf die sonnenbeleuchtete Ebene
hinaus.
209
Aus einem Nadelwalde treten wir dagegen in feierlicher,
ernster Stimmung. Bezeichnend nennt ihn die Volkssprache auch
Schwarzwald. In ihm umfängt uns das ewige Einerlei der
dicht gedrängt stehenden, schnurgeraden Stämme. Die Aste
sind ganz oder doch fast ganz abgestorben; nur hoch oben
weben sich die herabgeneigten Aste zu einem grünen Teppiche
zusammen, dessen einzelne Fäden nicht voneinander zu unter-
scheiden sind; Ästchen und N adeln sind zu fein, um sie, wie
die Zweige und Blätter der Laubbäume, von unten erkennen zu
können. Hoch oben auf dem letzten Triebe der kühn zum
Himmel emporstrebenden Bäume sitzen die Amseln und Drosseln
und singen ihr weithin tönendes Solo über den stillen Wald,
während unter ihnen die Goldhähnchen und Meisen ihre feinen
Stimmen probieren. Der Wind fährt über die Milhonen zarter
Nadeln hin, dass sie zittern, nicht in einem kräftigen Bauschen,
sondern in einem seinen, fast pfeifenden Singen. Im Düster des
Nadelwaldes grünt kein Busch zu den Füssen der ragenden
Stämme; dürre Nadeln bedecken den Boden, auf dem der Fuls
leicht ausgleitet. Nur Moose und Flechten, untermischt mit
einigen feinen Gräsern und schattenliebenden Kräutern, über-
ziehen an lichteren Stellen die Erde. Nichts hindert den Fuss
des Wanderers, immer tiefer in das verlockende Waldesdunkel
die unhörbaren Schritte zu lenken. Ein behagliches Schauern
zieht ihn gedankenlos anfangs immer tiefer hinein, verkehrt sich
aber bald in ein leichtes, unheimliches Grauen und in die Furcht,
ob er auch den Bückweg finden werde. In diesem grossartigen
Einerlei kann kein absonderlich gestalteter Stamm, kein besonders
kühn geschwungener Ast als Wahrzeichen dienen. Der Laub-
wald redet zu uns mit kühner, frischer Bede; der Nadelwald
umfängt uns mit melancholischem Gesänge.
Der häufigste Baum in unseren deutschen Schwarzwälderu
ist die Fichte. Der Harz und das sächsisch-böhmische Grenz-
gebirge tragen fast nur Fichtenwald. Im Schwarzwalde herrscht
die stolze Edeltanne. Im allgemeinen Ansehen sind beide
einander ja sehr ähnlich; ein geübter Blick unterscheidet sie
jedoch schon von weitem. Der Stamm der Tanne ist vollholziger;
er fällt nach der Spitze hin nicht so schnell ab und kommt daher
der Walzenform etwas näher. Die Zweige der Tanne stehen
mehr wagerecht, die oberen sogar etwas aufwärts gerichtet. Die
Binde ist immer grauweiss, was ihr eben den Namen Weisstanne
Kippenberg, A 5 (N. A.). 14
210
verschafft hat, zum Unterschiede von der Fichte, die wegen ihrer
mehr rotbraunen Finde auch Rottanne heisst. Das Grün der
Tanne ist ein satteres und an der unteren Seite der Zweige ein
deutliches Blaugrün, hervorgebracht durch die blaugrüne Unter-
seite der breiteren Nadeln. Die Tanne ist ein kühnerer Baum
als ihre Verwandte. Trotzig und gebieterisch streckt sie ihre
kürzeren, straffen Zweige wagerecht von sich, während der
Fichtenstamm seine langen, schwächeren Aste demütig hängen
lässt; der Saum eines fernen Fichtenwaldes gleicht einem grünen
Zeltlager, der eines Tannenwaldes sieht unregelmässiger, wilder
und struppig aus. Zwei Bäume, so nahe verwandt, haben dem-
nach einen wesentlich verschiedenen Charakter und bieten so
dem Auge auch zwei verschiedene Waldlandschaften. Der
Schwarzwald, das Reich der edlen Tanne, hat einen ganz anderen
Charakter als der Harz, wo die Fichte herrscht.
Einen weit trübseligeren Eindruck als sie beide macht ein
Kiefern- oder Föhrenwald. Jeder Pflanzenwuchs muss in dem
dürren, mit Nadeln übersäeten Sande ersterben; nur das Heide-
kraut strickt vielleicht sein grobes Netz über das unfruchtbare
Erdreich. Keine Quelle springt, und selten hört man einen
Vogel singen. Und doch haben die derben Bäume mit dem
rötlichen Stamme und den langen, groben Nadeln von blaugrüner
Färbung ihren besonderen Reiz in der einsamen, mageren
Landschaft.
Dagegen ist die Lärche der wahrhafte Schmuck unseres
Nadelwaldes, ob sie nun in Gruppen unter den anderen dunklen
Bäumen steht, ob sie über niedriges Buschwerk ihr Haupt er-
hebt, oder ob sie endlich draussen am Rande des Waldes, von
Epheu umsponnen, von Hagedorn und Berberitze umringt, ihre
feinen Zweige in der Sonne reckt und die warmen, goldigen
Strahlen an ihrem schlanken Stamme niederfliefsen lässt. In
unseren Alpen findet sie sich oft zu ganzen Wäldern zusammen,
im übrigen Deutschland bildet sie dagegen nur kleine Bestände..
Wie ihre nächste Verwandte, die Ceder des Libanon, ist sie ein
Baum von reizvoller Schönheit; leider bedecken aber oft lange,
weifsgraue Bartflechten ihre Zweige und ersticken ihre Nadeln
und Blüten. Ein Lärchenwald, der so heimgesucht ist, macht
einen unbeschreiblich traurigen Eindruck. Die ihrer hübschen,
büscheligen Nadeln beraubten Äste strecken sich dem Wanderer
gewissermafsen klagend entgegen. Um so erquickender und holder
211
aber ist das Bild, das ein sonnenbeleuchteter Nadelwald im
Frühling giebt, wo am Rande die zierliche Lärche sich in den
feinen, grünen Blätterschleier hüllt, während die Fichte ihre
purpurroten, wie Erdbeeren aus dem Nadelgrün guckenden Blüten-
kätzchen aufsteckt und die Tanne, die schlanke Edeldame des
Waldes, alle ihre Zweige mit hellgrünen, hängenden Quasten
schmückt.
August Kippenberg
(nach Rossmässler und Enderes).
118. Die Tanne.
1. Auf des Berges höchster Spitze! 7. aber oben mit den dunkeln
steht die Tanne schlank und grün;! Ästen sieht sie schönres Leben;
durch der Felswand tiefste Ritze sieht durch Laub die Sonne funkeln
läßt sie ihre Wurzeln ziehn.
2. Nach den höchsten Wolkenbällen
läßt sie ihre Wipfel schweifen,
als ob sie die vogelschnellen
mit den Armen wollte greifen.
3. Ja, der Wolken vielgestalt'ge
Streifen, flatternd und zerrissen,
sind der Edeltann' gewalt'ge,
regenschwangre Nadelkissen.
4. Tief in ihren Wurzelknollen,
in den faserigen, braunen,
winzig klein und reich an tollen
Launen, wohnen die Alraunen,
und belauscht des Geistes Weben,
8. der in diesen stillen Bergen
Regiment und Ordnung hält
und mit seinen klugen Zwergen
alles leitet und bestellt,
9. oft zur Zeit der Sonnenwenden
nächtlich ihr vorübersaust,
eine Wildschur um die Lenden,
eine Kiefer in der Faust.
10. Sie vernimmt mit leisen Ohren,
wie die Vögel sich besprechen,
keine Silbe geht verloren
des Gemurmels in den Bächen.
5. die des Berges Grund befahren
ohne Eimer, ohne Leitern,
und in seinen wunderbaren
Schachten die Metalle läutern.
6. Wirr läßt sie hinunterhangen
ihre Wurzeln ins Gewölbe;
Diamanten sieht sie prangen
und des Goldes Glut, die gelbe;
11. Offen liegt vor ihr der stille
Haushalt da der wilden Tiere.
Welcher Friede, welche Fülle
in dem schattigen Reviere!
12. Menschen fern; nur Rotwildstapfen
auf dem moosbewachs'nen Boden! —
O, wohl magst du deine Zapfen
freudig schütteln in die Loden!
14*
212
13. O, wohl magst du gelben Harzes
duft'ge Tropfen niedersprengen
und dein straffes, grünlich schwarzes
Haar mit Morgentau behängen!
2.
1. Inmitten der Fregatte
hebt sich der starke Mast
mit Segel, Flagg' und Matte;
ihn beugt der Jahre Last.
2. Der schaumbedeckten Welle
klagt zürnend er sein Leid:
„Was hilft mir nun dies helle,
dies weiße Segelkleid?
3. Was helfen mir die Fahnen,
die schwanken Leiterstricke?
Ein starkes innres Mahnen
zieht mich zum Forst zurücke.
4. In meinen jungen Jahren
hat man mich umgehauen;
das Meer sollt' ich befahren
und fremde Länder schauen.
14. O, wohl magst du lieblich wehen!
O, wohl magst du trotzig rauschen!
Einsam auf des Berges Höhen
stark und immergrün zu stehen —
Tanne, könnt' ich mit dir tauschen!
5. Ich habe die See befahren;
Meerkön'ge sah ich thronen;
mit schwarzen und blonden Haaren
sah ich die Nationen.
6. Isländisch Moos im Norden
grüßt' ich auf Felsenspalten;
mit Palmen auf südlichen Borden
hab' Zwiesprach ich gehalten.
7. Doch nach dem Heimatberge
zieht mich ein starker Zug,
wo ich ins Reich der Zwerge
die haarigen Wurzeln schlug.
8. O stilles Leben im Walde!
O grüne Einsamkeit!
O blumenreiche Halde!
Wie weit seid ihr, wie weit!"
Ferdinand Freiligrath.
119. Der Jäger Abschied.
1. Wer hat dich, du schöner Wald,
aufgebaut so hoch da droben?
Wohl den Meister will ich loben,
so lang noch mein' Stimm' erschallt.
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
2. Tief die Welt verworren schallt,
oben einsam Rehe grasen,
und wir ziehen fort und blasen,
daß es tausendfach verhallt:
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
3. Banner, der so kühle wallt!
Unter deinen grünen Wogen
hast du treu uns auferzogen,
frommer Sagen Aufenthalt!
Lebe wohl,
lebe wohl, du schöner Wald!
4. Was wir still gelobt im Wald,
wollen's draußen ehrlich halten,
ewig bleiben treu die Alten.
Deutsch Panier, das rauschend wallt,
lebe wohl,
schirm' dich Gott, du schöner Wald!
Joseph v. Eichendorff.
213
120. Der einsame Daum.
1. Schaut hier den Stamm, den alten,
im eignen Schattenrund,
zerspellt und blitzgespalten,
zerklüftet bis zum Grund.
2. Doch tief im Kerne blieb er
gesund und lebensstark,
und mächt'ge Sprossen trieb er
hervor aus tiefstem Mark.
3. Vier Riesenarme langen
kühn in des Himmels Blau
und tragen laubumhangen
des Astwerks prächtigen Bau.
4. Ein steingefaßter Bronnen
am Fuß des mächtigen Baums
durchhaucht mit kühlen Wonnen
die Luft des Dämmerraums.
5. Wenn rings im Heidelande
die kahle Flur verdorrt,
ragt er im Sonnenbrände
als letzter Schattenhort.
6. Fern winkt dem Wandersmanne
sein gastliches Revier,
in seinem kühlen Banne
aufatmen Mensch und Tier.
7. In seiner Laubnacht Dämmern
die Schar der Schnitter ruht,
sucht Schutz mit seinen Lämmern
der Hirt in Mittagsglut.
8. Es schallt durch seine Krone,
bis müd' die Sonne schied,
zum Preis ihm und zum Lohne
der Vöglein schmetternd Lied.
9. Weitschirmend ragt und labend
sein Stamm, an Segen reich. —
Heil jedem Lebensabend,
o Baum, der deinem gleich!
Julius Lohmeyer.
121. Sprechende Vögel.
Unter allen Vögeln, die das Vermögen besitzen sprechen zu lernen,
nimmt der graue oder rotschwänzige Papagei den ersten Rang ein.
Seine Stimme setzt ihn in den Stand, in täuschend menschenähnlicher
Weise Wörter und Sätze nachzusprechen, genau den Ton zu treffen,
das Steigen und Sinken desselben wiederzugeben und Ernst, Strenge,
herrisches Wesen und Härte, sowie anderseits Heiterkeit, Gutmütigkeit
Sanftmut und Zärtlichkeit in den Ausdruck zu legen. Bei solchen
Papageien, die vorzügliche Anlagen besitzen, ist das Gedächtnis staunens-
wert; dadurch wird es ihnen möglich, viele Rufe, Namen, Frage- und
Antwortsätze zu behalten, ohne daß sie das Verschiedenartige durch-
einander werfen oder sinnentstellende Versetzungen der Wörter vor-
214
nehmen. Wo letzteres vorkommt, da ist mangelhafteMbrichtung oder
auch Altersschwäche des Vogels die Ursache. Denn man hat an
sechzig bis siebzig Jahre alten Papageien die Beobachtung gemacht,
daß sie in den letzten Jahren ihres Lebens mehr und mehr das Ge-
dächtnis verloren und sich dann wie schwachsinnige Menschen gebärdeten.
Übrigens giebt es auch weniger begabte graue Papageien, denen der
Lehrmeister nicht zu schwere Aufgaben stellen darf. Während die ge-
weckten, mit gutem Gedächtnis, rascher Auffassungsgabe und bevor-
zugtem Sprachwerkzeug ausgerüsteten spielend ihre Aufgabe lösen und
auch noch manches nebenher lernen, was sie zufällig hören, bauen
die schwächeren mühsam nach und nach auf und lassen in ihren
Leistungen gar mancherlei zu wünschen übrig. Da der graue Papagei
sehr große Neigung zeigt, auffallendes, die Ohren angreifendes Geräusch
und Geknarre nachzuahmen, so muß man den weniger begabten vor
solchen Tönen bewahren, wenn er nicht zerstreut werden soll. Schwer
ist dies aber einzurichten; gerade im bewegten Treiben der Menschen
wird der Papagei erst recht liebenswürdig und anschmiegend, und
darum will man ihm keinen Platz an abgeschiedenen Orten anweisen.
Ein außerordentlich gelehriger Papagei unseres Großvaters hatte seinen
Standort in einem Zimmer, welches dem Markt unmittelbar zugekehrt
war. Hier auf dem Marktplatze war der Sammelplatz der Schul-
jugend, und die Folge davon war, daß der Papagei zuweilen mehr
lernte, als manche seiner Vorschwatzer und Vorpfeifer in der Schule
in einer Woche gelernt haben mögen. Wenn großer Krämer-, Gänse-
oder Schweinemarkt abgehalten wurde, bereicherte sich der Papagei
stets an Fertigkeiten. Das Knallen der Peitschen, das Grunzen der
Schweine, das Locken, Drohen und Schreien ihrer Verkäufer — kurz,
das ganze Treiben schilderte der Vogel auf ergötzliche Weise. Weiber
schrieen und boten Gänse feil, letztere schnatterten, dann klirrten die
Töpfe der Krämer, und mitten im Dialekte der Bauern und Bürger
klang plötzlich ein Satz in der Mundart der jüdischen Händler. Und
welches liebenswürdige Betragen zeichnete den Vogel aus! Mit un-
verkennbarer Treue hing er an sämtlichen Hausbewohnern, deren
Namen er oft bei ihrem Anblicke rief. Genau achtete er auf alles,
was um ihn her vorging.
Die Gewohnheit beherrscht den Papagei um so mehr, je älter
er wird. Mit der Trennung von den liebgewordenen Pflegern ist
oft tiefe Trauer des Vogels verbunden, die gerade dann tödlich werden
kann, wenn das Seelenleben ein hervorragendes ist. An fremde Er-
scheinungen schließt er sich nicht so leicht an. Tritt ein Fremder in
sein Zimmer, so schweigt er in der Regel hartnäckig; ist aber derselbe
wieder verschwunden, so drückt er um so eifriger, gleichsam um sich
zu entschädigen, sein Behagen in Wort und Lied aus. Gewisse Per-
sonen sind und bleiben ihm verhaßt, während andere schnell seine
Gunst erwerben. Der Grund ist nicht immer in der Behandlung zu
suchen, sondern im Gefühle des Vogels. Daß indessen eine sanfte,
zärtliche Behandlung auf seine Stimmung und sein Verhalten ein-
wirkt, lehrt die Erfahrung. Nie darf man ihn reizen, necken und er-
schrecken, sonst erzieht man einen leidenschaftlichen, boshaften Haus-
genossen, der einen Unvorsichtigen die Derbheit seines Schnabels
empfindlich fühlen läßt.
Bei einfachem Futter befindet sich der Papagei am besten. Ver-
schiedene Sämereien bilden seine Hauptnahrung. Wiewohl er sich
an allerlei Futter gewöhnen läßt, so ist doch zu warnen vor vielen
Leckerbissen, welche ihm den Magen verderben. Salz dagegen ist
sehr zu empfehlen und wird von ihm mit großem Wohlbehagen be-
leckt. Reinlichkeit seiner Wohnung und Gelegenheit zum erquickenden
Bade sind Grundbedingungen seiner Gesundheit.
Unter unseren einheimischen Singvögeln zeichnet sich der Star
durch die Gabe, sprechen lernen zu können, in hohem Grade aus.
Es versteht sich von selbst, daß sein Stimmwerkzeug weit schwächer
ist als dasjenige des grauen Papageis; die Stimme tönt nicht so
rein und deutlich, nicht so männlich und laut, vielmehr klingen seine
Worte etwas heiser und eigentümlich, wie beim menschlichen Bauch-
redner ; es ist, als würden sie stets unter großer Anstrengung hervor-
gebracht. Aber trotzdem spricht der Star immer noch vortrefflich.
Um ihn zu einem Meister heranzubilden, muß man den jungen Star
frühzeitig dem Neste entnehmen und ihn mittels frischer Ameisenpuppen
oder durch Milch befeuchteter Semmel aufziehen. Dann versetzt
man den Lehrling an einen stillen, abgeschiedenen Ort, wo er nichts
hört als die Worte und das Liedchen, welche ihm vorgesprochen und
vorgepfiffen werden. Die Wörter und Sätze werden ihm stets in
streng eingehaltener Reihenfolge vorgesprochen. Niemals darf ihm
stückweise Hülfe geleistet werden, sondern nur durch den Vortrag des
Ganzen von Anfang bis zu Ende. Die Frühstunden eignen sich ganz
besonders zum Unterricht, überhaupt nimmt man dabei Rücksicht auf
Wohlbefinden und gute Laune des Vogels. Wenn man es mit einem
sehr gut beanlagten Star zu thun hat, so läßt dieser nicht lange
aus Fortschritte warten, sondern erfreut im Laufe des Winters, ins-
besondere gegen das Frühjahr hin, seinen Herrn durch treue Wieder-
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gäbe des Vorgesprochenen, das sich aber nur in den Grenzen von
Namen und kurzen Sätzen bewegen darf. Ein Star, der von einem
Schuhmacher in Mainz unterrichtet worden war, kam in den Besitz
unseres Vaters. Er sprach recht verständlich und fing mit einem
warnenden Pfiff an. Sein Lehrer hatte ihn gleichsam auf Wache
gestellt, denn in herrischem Tone rief er: „Halt! wer da? — Jakobs
hol die Wacht! — Du Spitzbub'!" — Nun übernahm der Star die
Stelle des Hausherrn, indem er gebot, jedoch schon in milderem Tone:
„Marie, koch den Kaffee! — Gleichen, mach die Thür zu! — Liesest
Babettchen steh auf!" —Nach diesen Befehlen ließ er wie ans fernen
Räumen die Antwort für alle ertönen mit: „Ja!" Die kleinste Tochter
des Schuhmachers hieß Lottchen, und der Star sprach weiter an
Stelle des Vaters: „Lottchen, küß mich!" Unmittelbar darauf erfolgte
ein zweimaliges Schmatzen. Hierauf lobte er sich selbst mit: „Schön,
Starchen!" Rasch erfolgten jetzt die Namen der Geschwister Lottchens:
„Röschen! — Julchen!" Wir hatten das Tierchen sehr lieb, und
als es eines Tages das schlecht schließende Thürchen seines Käfigs
mit dem Schnabel geöffnet hatte und durch das offene Fenster ins
Freie entwischt war, da fühlten wir recht, .welch einen Schatz wir an
ihm besessen und nun verloren hatten. Es half kein Suchen, kein
Fragen. Ein alter Landmann erzählte uns Buben zwar, er habe
den Star mit mehreren wilden Brüdern und Schwestern eines Morgens
auf dem Dache seines Hauses sprechen hören, und die fremde Ge-
sellschaft habe dem Redner staunend gelauscht, die wilden hätten mit
offenen Schnäbeln wie versteinert dagesessen; aber der Schalk blickte
dem launigen Alten zu sehr aus den Augen, als daß wir ihm Glauben
hätten schenken dürfen.
Ein dritter sprechen lernender Vogel ist der Kolkrabe. Man
läßt den jungen Kolkraben mit beschnittenen Flügeln frei im Hofraum
umherspazieren. Regelmäßig spricht der Lehrer täglich mehrmals
dem Kolkraben vor und bemüht sich, daß dieser ihn kennen und lieben
lernt, damit er um so begieriger aufhorcht. Vor allem sind es Namen,
die man ihn rufen lehrt. Nebenher lernt er zufällig wahrgenommene,
auffallende Töne von Menschen und Tieren nachahmen.
Die Schlauheit und List, welche der wilde Kolkrabe bei Räubereien
bekundet, verleugnet sich nicht im Gefangenleben des aufgezogenen.
Scheinbar gleichgültig sitzt er da, als ob er an den Vorgängen um
sich her nicht den geringsten Anteil nähme. Neben ihm steht sein
Futternapf. Diebisch nahen sich mehrere Sperlinge dem Futter, und
erst wenn einer derselben ihm als Opfer eines schnell ausgeführten
Schnabelhiebes sicher dünkt, fährt er zu. Ebenso schlau bemächtigt
er sich der Mäuse, welche er alsbald verzehrt. Junge Hühnchen und
Entchen hält man ferne von ihm. Selbst wenn der Kolkrabe noch
so zahm und harmlos unter dem Federvieh wandelt, so ist man doch
nicht sicher, daß nicht in unbewachten Augenblicken die Mordlust sich
in ihm regt, und die Schwachen, Hülflosen in seiner Nähe in große
Gefahr kommen. Seine Vorliebe für glänzende Dinge, namentlich
für Ringe und andere Schmucksachen, empfiehlt eine große Vorsicht
der Hausbewohner in Bezug auf solche Wertgegenstände.
Adolf u. Aarl Müller.
122. Gesang des Vogels über dem Wald.
1. Durch die blaue Luft,
über Grab und Kluft
und der Menschen ängstlich Bewegen,
mit dem Flügelschlag
aus der Nacht zum Tag
flieg' ich froh der Sonne entgegen.
2. Schwebe hin und her
in dem blauen Meer,
mir zu kühlen die glühenden Schwingen,
und am Berg, im Thal
und am Wasserfall
laß ich lustig mein Liedlein erklingen.
3. Wo die Wolke saust,
wo der Waldstrom braust,
kann ich auf-, kann ich niederschweben
so mit einem Mal
aus der Höh ins Thal,
was ist das ein herrliches Leben!
4. Wie ist mir so wohl,
wie so liebevoll,
wenn die Tannen recht ferne mir winken! —
Ach! und welche Lust
für die Glut der Brust,
den unendlichen Segen zu trinken.
218
5. Ihr, die da unter mir,
ihr zerquält euch schier
und meinet, jetzt habt ihr's gewonnen;
doch mein freier Schall
und mein friedlich Thal,
das sind mir wohl bessere Wonnen.
6. Durch die freie Luft,
über Grab und Kluft,
über euer ängstlich Bewegen,
mit dem Flügelschlag
aus der Nacht zum Tag
flieg' ich froh der Sonne entgegen.
Johann Ludwig Deinhardstein.
123. In -er Heimat.
1. Wo blühen die Blumen so schön, j 2. Wo stehen die Hütten gebaut
wo singen die Vöglein so hell, so friedlich im sonnigen Grund,
wo rauscht von den felsigen Höhn wo klingen so lockend und traut
so munter der plätschernde Quell, jbie Worte der Liebe vom Mund,
wo leuchtet so golden der Sonne wo grüßt so freundlicher Augen
Strahl Strahl
wie hier im Thal? wie hier im Thal?
3. Hab' fröhlich durchwandert die Welt,
und viel ist mir Holdes geschehn;
was Augen und Ohren gefällt,
ich hab' es gehört und gesehn;
doch grüß' ich vor allem viel tausendmal
mein Heimatthal. Julius s.urm.
124. Der Löwe.
In uralten Zeiten schon wurde von den Völkern der Löwe
als der Herrscher, der König im Reiche der Tiere betrachtet.
Schon der Gesamteindruck, welchen das herrliche Tier macht,
zwingt uns, ihm die höchste Stelle unter allen seinen Verwandten
einzuräumen. Vor allem aber ist es die Mähne, welche die
männlichen Löwen auszeichnet und ihnen das stolze, königliche
Ansehen verleiht.
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„Ein Königsmantel, dicht und schön,
umwallt des Löwen Brust die Mähn’,
eine Königskrone, wunderbar,
sträubt sich der Stirne straffes Haar.“
Unter den verschiedenen Abarten des Löwen verdient am
meisten unsere Aufmerksamkeit der Löwe der Berberei; denn
er ist es, welcher seit den ältesten Zeiten wegen seines Mutes
und seiner Kraft, wegen seiner Tapferkeit und seines Helden-
sinnes, seines Adels und seiner Grossmut, seines Ernstes und
seiner Bube bekannt geworden ist und den Namen König der
Tiere erhalten bat. Er ist in der That das stärkste, mutigste
und berühmteste aller Baubtiere, die gewaltigste Katze unter
allen, der gefährlichste und wildeste aller übrigen Löwen. Un-
bezwingliche Kraft, Selbstvertrauen, kühler, sicherer Mut und
Siegesgewifsheit im Kampfe spiegelt sich in seinem Aussehen.
Hoch aufgerichtet ist der Bumpf, noch höher gehalten der Kopf,
majestätisch sein Blick, würdevoll, Achtung gebietend seine
Haltung. Alles an ihm zeugt von Adel, jede Bewegung erscheint
gemessen und würdig.
In früheren Zeiten waren die Löwen weit verbreiteter als
gegenwärtig, wo sie aus den starkbevölkerten Gegenden schon
beinahe gänzlich verdrängt worden sind. Sie fanden sich noch
zu den Bömerzeiten nicht nur in ganz Afrika und dem süd-
westlichen Asien, sondern auch in Griechenland und Macédonien,
wo sie jetzt bereits seit mehr als anderthalbtausend Jahren nicht
mehr vorhanden sind. Der Löwe der Berberei lebte früher im
ganzen nordöstlichen Afrika und war in Ägypten fast ebenso
häufig wie in Tunis oder in Fes und Marokko zu treffen. Die
Zunahme der Bevölkerung und Bildung aber verdrängte ihn
mehr und mehr, so dass er jetzt schon im ganzen untern Nilthale
und fast an der ganzen südlichen Küste des Mittelmeeres nicht
mehr getroffen wird. Aber noch heutigestags ist er in Algier
und Marokko keine Seltenheit, und in Tunis und der Oase Eezzan
wenigstens noch eine ständige Erscheinung. Der Löwe lebt
einzeln, und nur bis zu einem gewissen Alter seiner Jungen hält
er sich zu seinem Weibchen. Ausserdem bewohnt jeder Löwe
sein eigenes Gebiet, ohne jedoch der Nahrung wegen mit anderen
seiner Art in Streit zu geraten. Vielmehr kommt es häufig vor,
dass sich zu grösseren Jagdzügen mehrere Löwen vereinigen; die
Paare gehen regelmässig in Gemeinschaft auf die Jagd aus. Doch
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ist der Löwe nirgends häufig, und dies ist auch sehr leicht zu
erklären; denn er bedarf so viel Nahrung, dass sich eine grosse
Anzahl seinesgleichen in einer Gegend nicht lange würde er-
nähren können. Breite, waldige Thäler an Blässen sind seine
Lieblingsorte; auf Gebirgen scheint es ihm weniger zu behagen.
An irgend einem geschützten Orte im Gebüsche oder in
hochstengeligen Schilfgräsern wählt sich der Löwe eine flache
Vertiefung zu seinem Lager und ruht hier einen oder mehrere
Tage lang, je nachdem die Gegend arm oder reich, unruhig oder
ruhig ist. In den grösseren Waldungen bewohnt er oft lange
einen und denselben Platz und verlässt ihn erst dann, wenn er
hier seinen Wildstand gar zu sehr gemindert hat und nicht mehr
mit Leichtigkeit Beute machen kann. Dann zieht er weiter, und
wenn ihn bei seinen Streifzügen der Morgen überrascht, bleibt
er liegen, immer aber in den verborgensten Teilen des Dickichts.
Im ganzen ähneln seine Gewohnheiten denen anderer Katzen,
doch weicht er in vielen Stücken sehr wesentlich von ihnen
ab. Er ist träger als alle übrigen Mitglieder seiner Familie und
liebt grössere Streifzüge durchaus nicht, sondern sucht es sich
so bequem zu machen als irgend möglich; deshalb folgt er in
Ostsudan regelmässig den Nomaden, sie mögen sich wenden,
wohin sie wollen. Er zieht mit ihnen in die Steppe hinaus und
kehrt mit ihnen nach dem Walde zurück; er betrachtet sie als
seine steuerpflichtigen Unterthanen und erhebt von ihnen in der
That die drückendsten aller Abgaben.
Seine Lebensweise ist eine rein nächtliche; denn nur ge-
zwungen verlässt er am Tage sein Lager. Bei Tage begegnet
man ihm äusserst selten, im Walde kaum zufällig, sondern erst
dann, wenn man ihn ordnungsmäßig aufsucht und durch Hunde
von seinem Lager auftreiben lässt.
In die Nähe der Dörfer kommt der Löwe nicht vor der
dritten Nachtstunde. „Dreimal,“ so sagen die Araber, „kündet
er durch Brüllen seinen Aufbrach an und fordert hierdurch alle
Tiere auf, ihm aus dem Wege zu gehen."
Mit Sonnenuntergang hat der Nomade seine Herde in der
sichern Seriba eingehürdet, in jenem fast drei Meter hohen und
ein Meter dicken, äusserst dichten, aus den stachligsten Asten
der Mimosen geflochtenen Zaune, dem sichersten Schutzwalle,
welchen er bilden kann. Dunkel senkt sich die Nacht auf das
geräuschvolle Lager herab. Die Schafe blöken nach ihren Jungen,
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die Rinder, welche bereits gemolken wurden, haben sich nieder-
gelegt. Eine Meute wachsamer Hunde hält die Wacht. Mit
einem Male läutet sie hell auf, im Nu ist sie versammelt und
stürmt nach einer Richtung in die Nacht hinaus. Man hört den
Lärm eines kurzen Kampfes, wütend hellende Laute und grimmig
heiseres Gebrüll, sodann Siegesgeläut — eine Hyäne umschlich
das Lager, musste aber vor den mutigen Wächtern der Herden
nach kurzer Gegenwehr die Flucht ergreifen. Einem Leoparden
würde es kaum besser ergangen sein. — Es wird stiller und
ruhiger, der Lärm verstummt, der Frieden der Nacht senkt sich
auf das Lager herab. Weib und Kind des Herdenbesitzers
haben in dem einen Zelte Ruhe gesucht und gefunden. Die
Männer haben ihre letzten Geschäfte abgethan und wenden sich
ebenfalls ihrem Lager zu. Selbst die kläffenden Hunde sind
verstummt, nicht aber auch lässig und schlaff geworden in ihrem
treuen Dienste.
Urplötzlich scheint die Erde zu dröhnen: — in nächster
Nähe brüllt ein Löwe! Jetzt bewährt er seinen Namen „Essed“,
d. i. der Aufruhrerregende; denn ein wirklicher Aufruhr und
die grösste Bestürzung zeigt sich in der Seriba. Die Schafe
rennen wie unsinnig gegen die Dornhecken an, die Ziegen schreien
laut, die Rinder rotten sich mit lautem Angstgestöhn zu wirren
Haufen zusammen, das Kamel sucht, weil es gern entfliehen
möchte, alle Fesseln zu zersprengen, und die mutigen Hunde,
welche Leoparden und Hyänen bekämpften, heulen laut und
kläglich und flüchten sich jammernd in den Schutz ihres Herrn.
Dieser ist selbst rat- und thatlos; an seiner eigenen Stärke ver-
zweifelnd, sich der ihm übermächtigen Gewalt unterordnend,
zittert er in seinem Zelte und wagt nicht, nur mit seiner Lanze
bewaffnet, einem so furchtbaren Feinde gegenüberzutreten. Er
muss es geschehen lassen, dass der Löwe näher und näher heran-
kommt, dass die leuchtenden Augen zu dem Schrecken der
Stimme noch einen neuen fügen, dass der Löwe auch noch einen
zweiten seiner arabischen Namen „Sabaa“, d. i. „Würger der
Herden“, bethätigt.
Mit einem gewaltigen Satze überspringt der Mächtige die
nahezu drei Meter hohe Dornenmauer, um sich ein Opfer aus-
zuwählen. Ein einziger Schlag seiner furchtbaren Pranken fällt
ein zweijähriges Rind, das kräftige Gebiss zerbricht dem wider-
standslosen Tiere die Wirbelknochen des Halses. Dumpfgrollend
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liegt der Räuber auf seiner Beute, die Augen funkeln bell von
Siegeslust und Raubbegier, mit dem Schwänze peitscht er die
Luft. Er lässt das verendende Tier auf Augenblicke los und
fasst es mit seinem zermalmenden Gebisse von neuem, bis es sich
endlich nicht mehr regt. Dann tritt er seinen Rückzug an.
Er muss zurück über die hohe Umzäunung und will auch seine
Beute nicht lassen. Seine ganze ungeheure Kraft ist erforderlich,
um mit dem Rinde im Rachen den Rücksprung auszuführen.
Aber er gelingt; ich habe selbst eine drei Meter hohe Seriba
gesehen, über welche der Löwe mit einem zweijährigen Rinde im
Rachen hinweggesetzt war; ich selbst habe den Eindruck noch wahr-
genommen, welchen die schwere Last auf dem Firste des Zaunes
bewirkt hatte, und auf der andern Seite noch die Vertiefung
im Sande bemerkt, welche das herabstürzende Rind zurückliefs,
bevor es der Löwe weiter schleppte. Mit Leichtigkeit trägt er
eine solche Last seinem vielleicht eine halbe Meile entfernten
Lager zu, und man sieht die Furche, welche ein so geschlepptes
Tier im Sande zog, oft mit der grössten Deutlichkeit bis zum
Platze, an welchem es zerrissen wurde..
Erst nach Abzug des Löwen atmet alles Lebende in dem
Lager freier auf; denn es schien geradezu durch die Furcht
gebannt zu sein. Der Hirte ergiebt sich gefasst in sein Schicksal;
er weiss, dass er in dem Löwen einen König erkennen muss,
der ihn fast ebenso arg brandschatzt als der Menschenkönig,
unter welchem er steht. Man begreift, dass alle Tiere, welche
diesen fürchterlichen Räuber kennen, vor Entsetzen fast die
Besinnung verlieren, sobald sie ihn nur brüllen hören. Be-
schreiben lässt sich das Löwengebrüll nicht. Tief aus der Brust
scheint es hervorzukommen, es scheint diese zersprengen zu wollen.
Es ist schwer, die Richtung zu erkennen, von woher es erschallt,
denn der Löwe brüllt gegen die Erde hin; auf dieser pflanzt
sich der Schall wirklich wie Donner fort.
Unbeschreiblich ist die Wirkung, welche des Königs Stimme
unter seinen Unterthanen hervorruft. Die heulende Hyäne ver-
stummt, wenn auch nur auf Augenblicke, der Leopard hört auf
zu grunzen, die Affen beginnen laut zu gurgeln und steigen
angsterfüllt zu den höchsten Zweigen empor. Die blökende
Herde wird totenstill; die Antilopen brechen in rasender Flucht
durchs Gezweig; das beladene Kamel zittert, gehorcht keinem
Zurufe seines Treibers mehr, wirft seine Lasten, seinen Treiber
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ab und sucht sein Heil in eiliger Flucht; das Pferd bäumt sich,
schnaubt, bläst die Nüstern auf und stürzt rückwärts; der nicht
zur Jagd gewöhnte Hund sucht winselnd Schutz bei seinem Herrn.
Und selbst der Mann, an dessen Ohr zum ersten Male diese
Stimme schlägt in der Nacht des Urwaldes, selbst er fragt sich,
ob er auch Held genug sei dem gegenüber, welcher diesen
Donner hervorruft. Alfred Brehm.
125. Löwenritt.
1. Wüstenkönig ist der Löwe. Will er sein Gebiet durchfliegen,
wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen.
Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre;
zitternd über dem Gewaltigen rauscht das Laub der Sykomore.
2. Abends, wenn die Hellen Feuer glühn im Hottentottenkrale,
wenn des jähen Tafelberges bunte, wechselnde Signale
nicht mehr glänzen, wenn der Kaffer einsam schweift durch die Karroo,
wenn im Busch die Antilope schlummert und am Strom das Gnu:
3. sieh, dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,
daß mit der Lagune trüben Fluten sie die heiße, schlaffe
Zunge kühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken,
knieend schlürft sie langen Halses aus dem schlammgefüllten Becken.
4. Plötzlich regt es sich im Rohre: mit Gebrüll auf ihren Nacken
springt der Löwe. Welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
in den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen
als das bunte Fell des Renners, den der Tiere Fürst bestiegen?
5. In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne,
um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne;
mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt;
sieh, wie Schnelle des Kameles es mit Pardelhaut vereinigt!
6. Sieh, die mondbestrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen,
starr aus ihrer Höhlung treten seine Augen, rieselnd fließen
an dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen,
und das Herz des flücht'gen Tieres hört die stille Wüste klopfen.
224 —
7. Gleich der Wolke, deren Leuchten Israel im Lande Jemen
führte, wie ein Geist der Wüste, wie ein fahler, luft'ger Schemen,
eine sandgeformte Trombe in der Wüste sand'gem Meer,
wirbelt eine gelbe Säule Sandes hinter ihnen her.
8. Ihrem Zuge folgt der Geier, krächzend schwirrt er durch die Lüfte;
ihrer Spur folgt die Hyäne, die Entweiherin der Grüfte,
folgt der Panther, der des Kaplands Hürden räuberisch verheerte;
Blut und Schweiß bezeichnen ihres Königs grausenvolle Fährte.
9. Zagend auf lebendigem Throne sehn sie den Gebieter sitzen
und mit scharfer Klaue seines Sitzes bunte Polster ritzen;
rastlos, bis die Kraft ihr schwindet, muß ihn die Giraffe tragen;
gegen einen solchen Reiter hilft kein Bäumen und kein Schlagen.
10. Taumelnd an der Wüste Saume stürzt sie hin und röchelt leise.
Tot, bedeckt mit Staub und Schaume, wird das Roß des Reiters Speise.
Uber Madagaskar fern im Osten sieht man Frühlicht glänzen. —
So durchsprengt der Tiere König nächtlich seines Reiches Grenzen.
Ferdinand Freiligrald.
126. Rätsel.
i.
Unter allen Schlangen ist eine,
auf Erden nicht gezeugt,
mit der an Schnelle keine,
an Wut sich keine vergleicht.
Sie stürzt mit furchtbarer Stimme
auf ihren Raub sich los,
vertilgt in einem Grimme
den Reiter und sein Roß.
Sie liebt die höchsten Spitzen;
nicht Schloß, nicht Riegel kann
vor ihrem Anfall schützen;
der Harnisch — lockt sie an.
Sie bricht wie dünne Halmen
den stärksten Baum entzwei;
sie kann das Erz zermalmen,
wie dicht und fest es sei.
Und dieses Ungeheuer
hat zweimal nie gedroht; -
es stirbt im eignen Feuer;
wie's tötet, ist es tot!
Friedrich v. Schiller.
i
225
2.
Wie heißt das Ding, das wenige
schätzen?
Doch ziert's des größten Kaisers Hand;
es ist gemacht, um zu verletzen,
am nächsten ist's dem Schwert ver-
wandt.
Kein Blut vergießt's und macht
doch Wunden;
niemand beraubt's und macht doch
reich;
es hat den Erdkreis überwunden,
es macht das Leben saust und gleich.
Die größten Reiche hat's gegründet,
die ält'sten Städte hat's erbaut;
doch niemals hat es Krieg entzündet,
und Heil dem Volk, das ihm vertraut!
Friedrich v. Schiller.
Kennst du das Bild auf zartem
Grunde?
Es giebt sich selber Licht und Glanz.
Ein andres ist's zu jeder Stunde,
und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Raum ist's ausgeführet,
der kleinste Rahmen faßt es ein;
doch alle Größe, die dich rühret,
kennst du durch dieses Bild allein.
Und kannst du den Krystall mir
nennen?
Ihm gleicht an Wert kein Edelstein;
er leuchtet, ohne je zu brennen,
das ganze Weltall saugt er ein.
Der Himmel selbst ist abgemalet
in seinem wundervollen Ring,
und doch ist, was er von sich strahlet,
noch schöner, als was er empfing.
Friedrich v. Schiller.
4.
Bon Perlen baut sich eine Brücke
hoch über einen grauen See;
sie baut sich auf im Augenblicke,
und schwindelnd steigt sie in die Höh.
Der höchsten Schiffe höchste Masten
ziehn unter ihrem Bogen hin;
sie selber trug noch keine Lasten
und scheint, wie du ihr nahst, zu fliehn.
Sie wird erst mit dem Strom und schwindet,
so wie des Wassers Flut versiegt.
So sprich, wo sich die Brücke findet,
und wer sie kiinstlich hat gefügt? Friedrich v. Schiller.
Kippenberg, A 5 (N. 21.).
15
V. Aus Heimat und Ferne.
127. deutsches WeihelieL.
1. Stimmt an mithellem, hohem Klang, 3. Zur Ahnentugend wir uns weihn^
stimmt an das Lied der Lieder, zum Schutze deiner Hütten,
des Vaterlandes Hochgesang, wir lieben deutsches Fröhlichsein
das Waldthal hall' es wieder. und alte deutsche Sitten.
2. Der alten Barden Vaterland,
dem Vaterland der Treue,
dir, freies, unbezwung'nes Land,
dir weihn wir uns aufs neue.
4. Die Barden sollen Lieb' und Wein,
doch öfter Tugend Preisen,
und sollen biedre Männer sein
in Thaten und in Weisen.
5. Ihr Kraftgesang soll himmelan
mit Ungestüm sich reißen,
und jeder echte deutsche Mann
soll Freund und Bruder heißen!
Matthias Claudius.
128. Line Rheinfahrt.
Wir hatten den Morgen auf der Höhe des Niederwaldes
zugebracht. Vor uns lag der Rheingau, von den ersten Strahlen
der Sonne beleuchtet, in seinem reichsten Schmuck. Und wie
wir so über dies gottgesegnete Land dahin schauten, den stolzen
Strom erblickten, wie er sich blinkend durch die fruchtbaren
Gefilde wand, wie aus dem zarten Morgendufte alle die reichen
Städte und Dörfer hervorschimmerten, da hatte der wonnesame
Anblick in unserem Herzen frohe Begeisterung entfacht; und
am Fusse des stolzen Denkmals unter dem Schatten der rauschen-
den Eichen, erschallten aus voller Kehle kerndeutsche Trutz-
lieder hinüber gegen Westen, wo die fernen Vogesen bläulich
den Saum des Himmels begrenzen.
Aber am Mittage war es uns beim Herumklettern an den
Bergen, zwischen dem Gemäuer der Weinberge doch heiss ge-
worden, und wir waren froh, als wir nun in Rüdesheim in
kühler Rebenlaube beim Wein safsen. Abends kamen wir an
227
den Rhein, wo der Kahn unser wartete. Dann ging es strom-
abwärts. Der Mond war inzwischen aufgegangen, den Rheingau
erfüllte sein flimmerndes Licht; aber unten in die enge Thal-
schlucht am Mäuseturm hatten sich alle die nächtlichen Schatten
geflüchtet. Eilendes Gewölk überzog den Mond, da wallte ein
Schatten an den Bergen entlang, gewiss der Schatten Karls des
Grossen, der von Aachen her den Rhein heraufschwebt und die
Reben an seinen Bergen segnet. Unten auf dem Flusse aber
blinkte und glitzerte das Mondlicht. Wie gleifsendes Gold zuckte
es durch das Wasser: das ist der Nibelungenschatz, den die
Töchter des Rheins bewachen. Aber nun fuhr der alte Vater
Rhein mit einem Male zürnend in dies Nixenspiel und trieb die
Verscheuchten grollend zwischen das Felsengewirr des Binger-
loches, wo all die Herrlichkeit untertauchte.
Dies traurige Ereignis stimmte uns alle ganz ernst; aber
das geschah zur rechten Zeit, denn eben stand neben uns zur
Linken die bleiche Burg Sonn eck vor dem dunklen Bergwall.
Hier hausten im Mittelalter, wie auf so manchen Schlössern
nahe bei, adelige Raubritter, bis Rudolf von Habsburg auf
seiner befreienden Rheinfahrt die trotzigen Raubherren in ihren
eigenen Burgen an den Galgen knüpfen liess.
Das geschah ihnen recht, aber doch gruselte uns bei der
Erinnerung und dem Anblicke der Burgtrümmer. Freilich, bei
etlichen hat sich aus den ehemaligen epheuumsponnenen Ruinen
ein neues, schmuckes Schloss erhoben und ragt von schwindeln-
dem Felsen keck über Strom und Strasse hinaus; aber viele ehe-
malige Raubnester liegen noch zerfallen, als ob der Fluch von
den Gewaltthaten ihrer einstigen Besitzer auf ihrem grauen Ge-
mäuer lastete. Hoch ragen die düsteren Trümmer empor. Die
ehemaligen Wohngebäude sind zerfallen, aus den öden Räumen,
über denen sich einst die stolzen Hallen wölbten, sprosst frisches
Grün. Im innern Burghöfe herrscht ängstigende Stille. Kein
Laut regt sich; nur der Wind und die Eidechse rascheln im
trockenen Laube, das die hohen Bäume herabwerfen. Von
weitem tönt der Vogelgesang aus dem Walde. Zuckende Sonnen-
strahlen stehlen sich durch das alte Gemäuer und lugen in
das Dunkel verborgener Gelasse. Unheimliche Gänge führen
da hinab in die kalten, feuchten Gewölbe, in die kein Licht
und keine Wärme dringen. Mit schaurigem Gefühle gedenkt
man ferner Zeiten, wo hier unten vielleicht arme Gefangene
15*
schmachteten, für immer hinabgestossen aus der schönen
blühenden Welt, die draussen sich im Strahle der Sonne aus-
breitet. Wenn wir von diesen düsteren Verliessen die Blicke
erheben, thront über uns der hohe Wartturm, der alte
„Burgfried“. Er ragt noch immer stolz hinaus über die Wälder
und Felsen und hütet alle die Erinnerungen, die um die zerstörte
Stätte leben.
Viel Gewaltthat und Grausamkeit hat auf manchen dieser
rheinischen Burgen geschaltet. Zahlreiche Baubritter hausten
hier oben, plünderten die vorüberziehenden Wagenzüge und Schiffe
und mordeten schonungslos diejenigen, die der frechen Gewalt
sich widersetzten. Aber neben solchen Schurken nannten manche
Burgen am Rhein auch edle und vortreffliche Ritter ihre Herren.
Viele schöne Sagen und Geschichten von echter Bruderliebe
und Gattentreue, von hochherzigem Mute klingen um diese
morschen Trümmer. Von hier aus zog der mutige Ritter zum
Kampfe gegen die Mauren ins ferne Morgenland; von hier folgten
die thränenden Augen der treuen Gattin, der liebenden Braut
seinem wehenden Banner. Deutsche Wanderlust und deutsches
Heimweh bewegten hier machtvoll die Herzen. Vor allem der
schlichte, reine Sinn der Frauen gestaltete manchen dieser
mittelalterlichen Rittersitze zu einem glückseligen Aufenthalte.
Züchtig walteten sie in den schmucken, reinlichen Räumen und
milderten mit sanftem, frommem Wesen das rauhere Treiben
ihrer Eheherrn.
Am Morgen stiegen wir nach Bacharach herab und safsen
in einem Gasthause bei einem guten Schoppen. Eine altertüm-
liche Ausstattung schmückte die niedrige Stube, kleine, runde,
bleigefasste Scheiben füllten das Fenster. Wenn man es öffnete
und sich hinaus lehnte, übersah man weithin den Platz und die
Strasse. Vor uns lag der Rhein. Wie wogt und zieht das an
schönen Sonntagen dem Strome entlang! Kaum eine halbe
Stunde vergeht, ohne dass ein schmucker Dampfer auf- oder ab-
wärts zieht, dass rollende Züge Hunderte von glücklichen Menschen
zu den schönsten Punkten des Landes tragen. Es ist eine
Wonne, diesem Leben zuzuschauen, und eine höhere, sich ihm
selbst zu weihen. Und wenn man genug hat an all dem Sang
und Klang, dann erschliefst uns ein kurzer Weg durch eines der
zahlreichen Seitenthäler ein neues Bild. Hier liegt Stille und
Frieden! Ein Bächlein murmelt durch Wiesen, eine Mühle
229
klappert im kühlen Grunde; wie lieblich jedes Wohnhaus mit
seinem Rebenschmuck, seinem Obstgarten! Jugendfrische Bursche,
schwarzäugige und dunkelhaarige Mädchen begegnen dir auf der
obstbaumbepflanzten Landstrasse oder grossen dich aus laub-
gefasstem Fenster. Gerne verlässt man das laute Leben des
Rheinthals und sucht die Stille dieser traulichen Winkel, und
lieber kehrt man hernach wieder zum Strome zurück.
Durchs Wisperthal mit seinen rebenbepflanzten Höhen ge-
langten wir bei Lorch wieder an den Rhein, und das Dampf-
boot trug uns weiter hinab, während an den Ufern Bild um
Bild vorüberzog. Ein jedes derselben fordert hier die Kunst
des Malers heraus, jede neue Stromwendung erregt ein neues
Entzücken. Aber wir könnten hier auch reden von mancherlei
wunderbaren Begebenheiten — wahren und erdichteten, die in
dieser engen Thalschlucht sich aneinanderreihen: Von der ein-
samen Burg Pfalz, die mitten im rauschenden Strome steht, wo
deutsche Kaiserinnen weilten und der alte Blücher den eis-
starrenden Strom überschritt, von der Lureley, deren Lied in
aller Herzen wiederklingt, von den feindlichen Brüdern auf
Liebenstein und Sterrenberg und von dem alten Königsstuhle zu
Rhense, von all den Burgen und Klöstern, Städten und Weilern
bis abwärts zu den stolzen Burgen Lahneck und Stolzenfels und
dem mauerumgürteten Ehrenbreitstein. Karl Koiibach.
129. Warnung vor dem Rhein.
1. An den Rhein, an den Rhein, zieh nicht an den Rhein,
mein Sohn, ich rate dir gut:
Da geht dir das Leben zu lieblich ein,
da blüht dir zu freudig der Mut!
2. Siehst die Mädchen so frank und die Männer so frei,
als wär' es ein adlig Geschlecht,
gleich bist du mit glühender Seele dabei:
so dünkt es dich billig und recht.
3. Und zu Schiffe, wie grüßen die Burgen so schön
und die Stadt mit dem ewigen Dom:
in den Bergen, wie klimmst du zu schwindelnden Höhn
und blickst hinab in den Strom.
4. Und im Strome, da tauchet die Nix' aus dem Grund,
und hast du ihr Lächeln gesehn,
und grüßt dich die Lurlei mit bleichem Mund,
mein Sohn, so ist es geschehn:
5. Dich bezaubert der Laut, dich bethört der Schein,
Entzücken faßt dich und Graus.
Nun singst du nur immer: am Rhein, am Rhein!
und kehrst nicht wieder nach Haus. Had Simrorf.
130. Bergfahrt.
1. Erwacht, erwacht! Schon dampft das Thal, .
schon taucht empor im Morgenstrahl
ein Berghaupt nach dem andern.
O Lust, wenn rings die Welt noch schweigt,
nur jubelnd eine Lerche steigt,
in goldener Frühe zu wandern!
2. Die Ährenfelder wogen sacht,
es taucht das Land aus den Schleiern der Nacht,
ein Prangender Frühlingsgarten.
Aus wallenden Nebeln blitzt schimmernd der See,
und drüben leuchten von waldiger Höh
der Felsburg ragende Warten.
3. „Hol über, Freund Fährmann!" Schon gleitet der Kahn
dahin auf der glitzernden Wasserbahn,
auf dunkelsmaragdenem Grunde.
Die Nebel steigen im Morgenwehn,
und rings an den blühenden Ufern gehn
die Glocken in weiter Runde.
4. Wir stoßen zum Strande, wir steigen hinan,
hinan durch den dunklen, den schweigenden Tann,
die Trümmer der Waldburg zu grüßen.
O kühnes Begehren, o wonniges Graun,
hinab in die schwindelnde Tiefe zu schaun,
die rauschenden Wipfel zu Füßen!
— 231 —
5. Empor in die Berge, so licht und so frei,
empor, an dem tosenden Wildbach vorbei,
auf dem Felsweg, dem flutenbestäubten!
Wir grüßen dich, schweigende Bergeinsamkeit,
tief unten die Lande, fo still und so weit,
und die strahlende Sonne zu Häupten.
6. Hinauf bis zur Spitze mit klopfender Brust!
Schon schwingen den Hut wir in jubelnder Lust,
als könnten den Himmel wir greifen,
und jauchzen zum tiefblauen Äther hinein:
„O selig, als Wandrer landaus und landein
die herrliche Welt zu durchschweifen!" Julius Lohmeyer.
131. Vas Niejengebirge.
Auf der Grenze zwischen Böhmen und dem preußischen Schlesien
erhebt sich in einer Länge von etwa 40 km das Riesengebirge. Die
Sage läßt seine Berge in uralter Zeit von einem mächtigen Riesen-
geschlechte bewohnt sein, und noch heute ist im Glauben des Volkes
der zaubermächtige Geist des Gebirges, der in übermenschlicher Gestalt
einherschreitet, nicht ausgestorben. Aber das Gebirge verdient in Wahr-
heit seinen Namen. Von den Ebenen aus erscheint es als eine bis
über 1100 m steil ansteigende Riesenmauer, die sich in dunkler Bläue
von dem lichten Himmelsgrunde abhebt und einen Eindruck gewährt,
den kein anderes deutsches Mittelgebirge auszuüben vermag. Ebenso
hat eine Wanderung über den Kamm des Riesengebirges im deutschen
Mittelgebirge kein Seitenstück. Der Thüringerwald ist auch ein Kamm-
gebirge ; aber man wandert auf dem Rennsteige, der darüber hinführt,
600 m niedriger, noch durch Wald und grasbedeckte Lichtungen. Der
Riesengebirgskamm zeigt einen ganz anderen Charakter. Seine Gipfel
und höchsten Abhänge sind mit unzähligen Felsblöcken übersäet, baumlos
und nur mit dem eigentümlichen Knieholz bewachsen, das sich mit
seinen uralten, wurzelartigen Stämmen weithin über die Klüfte legt,
von Moosen umgeben ist und viele Hochgebirgspflanzen in seiner
Nähe sieht, so das goldige Alpengebirgskraut, das den Wanderer mit
seinem gelben Scheine weithin erfreut.
Die gewaltigste Kuppe des Gebirges ist die Schnee- oder Riesen-
koppe, deren abgerundeter Gipfel 1600 m emporsteigt, die höchste Er-
Hebung des deutschen Mittelgebirges und außer den Alpen der erhabenste
Punkt in Deutschland. Hoch oben steht eine kleine Kapelle, nicht weit
davon ein Gasthaus für Reisende. Dicht neben beiden Gebäuden geht
die österreichisch-preußische Grenze vorbei.
Bei heiterer Luft ist die Aussicht von der Schneekoppe unbe-
schreiblich schön. Der Blick schweift von Breslau bis Prag; Schlesien
und Böhmen liegen wie eine Landkarte ausgebreitet. Das Auge erfreut
sich an den hohen Kuppen und Kegeln der benachbarten Berge, an
den im bläulichen Dufte verschwindenden fernliegenden Höhen und der
hinter den Bergen sichtbaren Ebene mit den zahllosen Reichtümern
ihrer Städte und Dörfer und dem bunten Teppich ihrer Fluren und
Wälder. Im fernen Osten zeigt sich gegen Breslau hin der letzte Vor-
posten des Gebirges, der weit schauende und weit sichtbare Zobten.
Aber nur zu oft ist von dieser herrlichen Rundschau nichts zu sehen;
nur zu oft besteigt der Herr des Gebirges seinen Thron und hüllt
ihn in undurchdringlichen Nebel ein. Wie alle hohen Gebirge sind
auch die Höhen der Sudeten den größten Teil des Jahres mit Wolken
bedeckt, die den Reisenden oft plötzlich in die dichteste Nacht hüllen,
so daß er seine wenige Schritte entfernten Gefährten nicht mehr zu
sehen vermag. Dazu brausen gewaltige Stürme um die Gipfel der
Bergkolosse und in ihren Klüften und Schluchten. Manchmal brechen
sie plötzlich herein, während der klare Himmel und die völlig ruhige
Luft dergleichen nicht im geringsten vermuten läßt. Der Berggeist ist
und bleibt einmal ein neckischer Geselle!
Wenn man das Hochgebirge bei Sonnenaufgang von seinen Vor-
höhen überschaut, so ist dieser Anblick besonders in den Monaten
Februar und März wunderbar schön. Während die Thäler noch in
tiefem Schlafe unter dichter Nebeldecke ruhen, überhaucht oben auf
dem Kamme schon ein rosenfarbener Schimmer die westlichen Häupter.
Und während nach und nach die Gipfel des hohen Rades, der Großen
und Kleinen Sturmhaube und die Eisränder der Schneegruben nebst
dem ganzen Silberkamm von dem ersten Hauche der Morgenröte über-
strahlt sind, schlummern alle übrigen Gebirgsteile, ganz besonders der
östliche Flügel, noch immer unter ihrer Decke weiter und bis tief in
den Morgen hinein. Von Augenblick zu Augenblick steigert sich die
Färbung oben und im Westen; dem Hauche folgt eine rosige Glut, indes
immer noch die Schläfer im Osten von süßem Schlummer festgehalten
werden. Erst nach einer Viertelstunde lichtet eine unsichtbare Hand
die Schattendecken an den östlichen Hängen; endlich strahlt der dunkel-
blaue Morgenhimmel im vollen Glanze. Nun löst sich auch die Schatten-
233
decke über den östlichen Kanten des Schmiedeberger Kamms, der
Schwarzen Koppe und der Riesenkoppe in Äther auf. Felsengruppen
und Wälder zeigen sich in ihrem winterlichen Morgenkleide, bis die höher
steigende Sonne das ganze Gebirge mit dem Lichte des Tages erfüllt.
An den grasreichen Abhängen der Berge, die Weide und treff-
liches Quellwasser gewähren, hat der Gebirgsmann seine Wohnung
aufgeschlagen, um Wiesenbau und Viehzucht zu treiben. Dörfer gehen
nicht so hoch hinauf als in anderen deutschen Gebirgen, aber vereinzelte
Wohnungen, Bauden genannt, giebt es in großer Zahl. Man rechnet
gegen 3000, deren Bewohner 20000 Kühe und 12000 Ziegen besitzen.
Sie sind nicht bloß die Sennhütten, sondern auch die Gasthöfe der
Berge. Die Bauden sind meistens von Holz und auf einer steinernen
Grundlage erbaut, die mehr als anderthalb Meter hoch über den Boden
hervorragt. Der Eingang wird durch das überhängende Dach vor dem
Wetter geschützt. Die Wohnstube, mit einem großen Kachelofen, einigen
Tischen und Bänken ausgestattet, ist geräumig. Man ist dort wohl
aufgehoben, wenn man erst die Schwüle und beängstigende Luft der
selbst in den heißesten Sommertagen geheizten Stuben überwinden ge-
lernt hat. Neben dem Wohnzimmer befindet sich eine Kammer und
gegenüber, durch Hausflur und Küche getrennt, der Stall. Womöglich
lehnt man die Bauden an die Bergabhänge an. Dann reicht das mit
Schindeln gedeckte Dach an der Hinterseite bis auf den Boden hinab.
Die höher gelegenen Bauden dienen nur zum Sommeraufenthalt der
Hirten und sind leichter gebaut als die zur ständigen Wohnung be-
nutzten Winterbauden.
Wie in den Alpen, so ist auch im Riesengebirge das Viehaustreiben
und die Wanderung der Herden auf die Bergwiesen eine besondere
Lust der einsamen Bewohner. Bei Schalmeienklang, Gesang und
unter dem Geläute der Herdenglocken treibt man die Tiere zwischen
Fichten und Tannen hindurch bis zu den Sommerbauden in das Hoch-
gebirge, welches nun etwa vierzehn bis fünfzehn Wochen lang von
diesen fröhlichen Tönen wiederhallt. Da wird aus Kuh- und Ziegen-
milch viel Butter und Käfe gemacht, bis der früh eintretende Herbst
das Vieh wieder zu Thäte und in die Ställe treibt. Schon der Herbst
bringt Frost und Schneegestöber, im Winter aber werden die Hütten
der Bergbewohner oft so hoch überschneit, daß man keine Spur von
ihnen entdecken würde, wenn nicht der aufsteigende Rauch aus den
Rauchfängen die Stelle verriete, wo sie stehen. Soll eine Wanderung
zu den benachbarten Bauden unternommen werden, so müssen die Leute
wohl gar ihren Ausgang durch den Dachgiebel nehmen oder sich nach
234
Bergmannsart ihre Wege stollenartig durch den Schnee bahnen, bis
sie ihre beschwerliche Reise mit Hülfe von Schneereifen fortsetzen können.
Die betretensten Gebirgswege macht man jeden Winter durch lange
Stangen, an die man Strohbüschel steckt, kenntlich.
Bei dem ärgsten Winterwetter herrscht im Gebirge bis tief in die
Wälder hinein und hoch zum Kamm hinauf ein geschäftiges Treiben.
Das Holz, welches man während des ganzen Sommers und im Winter
geschlagen hat, muß — oft von den höchsten Gipfeln und den steilsten
Kuppen herab, über die gefährlichsten Spalten und Abgründe weg —
fortgeschafft werden. Wohin man sieht, da klebt am Bergesabhange
ein Mensch, da trägt ein Mensch, fährt ein Mensch bis zu den Stellen,
welche die mit Pferden oder mit Rindern bespannten Schlitten nur
irgend erreichen können.
Wie ganz anders ist das Bild im Sommer, wenn die Fremden
von Warmbrunn aus, dessen warme Schwefelquellen schon seit dem
zwölften Jahrhundert bekannt sind, und von anderen Orten her auf
das Gebirge und besonders auf die Schneekoppe wandern! Bald steigt
singend eine Schar munterer Studenten bergab, bald klettert ein Trupp
von Herren und Damen/die Hüte mit Teufelsbart und großzackigem
Moose geschmückt, weiter nach oben. Wie das Hochgebirge seine eigen-
tümliche, großartige Schönheit hat, so nicht minder das zu seinen
Füßen liegende Thalland. Nichts gleicht der Schönheit der mit der
Gebirgskette gleichlaufenden Thäler von Schmiedeberg, Zillerthal und
vor allem dem von Hirschberg-Warmbrunn, das, mit freundlichen
Städten, Dörfern, Schlössern und Fabriken übersäet, heute vielen .
Tausenden von betriebsamen Menschen zum Wohnsitze dient. Als
Friedrich der Große zum erstenmal von der Höhe des Schmiedeberger
Passes den Blick in die vor ihm liegende Ebene sandte, rief er aus:
„Schlesien ist ein Paradies!"
Im schlesischen Gebirge ist heutigestags eine großartige Industrie
herrschend. In früheren Zeiten schuf nur der einzelne Weber durch
seine Handarbeit, jetzt haben Kaufherren und Fabrikbesitzer großartige
Webereien und Spinnereien im Betriebe. Und wie weit hat sich der
Gewerbfleiß nach verschiedenen Richtungen ausgedehnt! Glasfabriken,
aus denen selbst Kunstwerke von außerordentlicher Schönheit hervor-
gehen, Fabriken, die der Herstellung von Papier, Thonwaren, Spiel-
sachen und anderen Dingen dienen, beweisen, wie sehr das Riesen-
gebirge eine Stätte deutscher Arbeit geworden ist, auf die wir mit
Freude und Stolz hinschauen. Ist es uns nicht, als ob wir in dem
Gezische und Geklapper der Dampfmaschinen etwas von dem Walten
235
des Berggeistes vernähmen, der pustend und rumorend den ihm auf-
gezwungenen Dienst verrichtet, und in den schönen Erzeugnissen dieser
Arbeit das Wirken seiner Zaubermacht, die rohe Erdenstoffe in Schätze
zu verwandeln weiß? Nach August sa*.
132. Aus dem schlesischen Gebirge.
1. „Nun werden grün die Brombeerhecken;
hier schon ein Veilchen! — Welch ein Fest!
Die Amsel sucht sich dürre Stecken,
und auch der Buchfink baut sein Nest;
der Schnee ist überall gewichen,
die Koppe nur sieht weiß ins Thal;
ich habe mich von Haus geschlichen,
hier ist der Ort — ich wag's einmal: Rübezahl!
2. Hört er's? Ich seh' ihm dreist entgegen!
Er ist nicht bös. Auf diesen Block
will ich mein Leinwandpäckchen legen —
es ist ein richt'ges, volles Schock.
Und fein! Ja, dafür kann ich stehen!
Kein bess'res wird gewebt im Thal. —
Er läßt sich immer noch nicht sehen!
Drum frischen Mutes noch einmal: Rübezahl!
3. Kein Laut! — Ich bin ins Holz gegangen,
daß er uns hilft in unsrer Not!
O, meiner Mutter blasse Wangen —
im ganzen Haus kein Stückchen Brot!
Der Vater schritt zum Markt mit Fluchen;
fand' er auch Käufer nur einmal!
Ich will's mit Rübezahl versuchen.
Wo bleibt er nur? Zum drittenmal: Rübezahl!
4. Er half so vielen schon vorzeiten —
Großmutter hat mir's oft erzählt.
Ja, er ist gut den armen Leuten,
die unverschuldet Elend quält.
236
So bin ich froh denn hergelaufen
mit meiner richt'gen Ellenzahl!
Ich will nicht betteln, will verkaufen.
O, daß er käme! Rübezahl! Rübezahl!
5. Wenn dieses Päckchen ihm gefiele,
vielleicht gar bät' er mehr sich aus!
Das wär' mir recht. Ach, gar zu viele
gleich schöne liegen noch zu Haus!
Die nähm' er alle bis zum letzten.
Ach, fiel auf dies doch seine Wahl!
Da löst' ich ein selbst die versetzten;
das wär' ein Jubel! Rübezahl! Rübezahl!
6. Dann trat' ich froh ins kleine Zimmer
und riefe: Vater, Geld genug!
Dann flucht' er nicht, dann sagt' er nimmer:
Ich web' euch nur ein Hungertuch!
Dann lächelte die Mutter wieder
und tischt' uns auf ein reichlich Mahl;
dann jauchzten meine kleinen Brüder.
O käm', o käm' er! Rübezahl! Rübezahl!" —
7. So rief der dreizehnjähr'ge Knabe;
so stand und rief er, matt und bleich.
Umsonst, nur dann und wann ein Rabe
flog durch des Gnomen altes Reich.
So stand und paßt' er Stund' auf Stunde,
bis daß es dunkel ward im Thal,
und er halblaut mit zuckendem Munde
ausrief durch Thränen noch einmal: „Rübezahl!"
8. Dann ließ er still das busch'ge Fleckchen
und zitterte und sagte: Hu!
und schritt mit seinem Leinwandpäckchen
dem Jammer seiner Heimat zu;
oft ruht er aus auf moos'gen Steinen,
matt von der Bürde, die er trug.
Ich glaub', sein Vater webt dem Kleinen
zum Hunger- bald das Leichentuch! Rübezahl? —
Ferdinand Freiligrath.
237
, 133. Ein Tag auf dem Marschhofe.
Es ist frühmorgens. Die alte Hausuhr im Vorplatze, deren
hohes, schnörkelreiches Holzgehäuse im Laufe der Jahre fast ganz
fchwarzbraun geworden ist, und die dem Haufe schon manche frohe und
traurige Stunde gemeldet hat, schlägt eben fünf, aber seit länger als
einer Stunde herrscht schon überall das rührigste Treiben. Auf der
Diele dreschen eben vier Tagelöhner das letzte Korn, eine Magd
schlägt die Garben um und schwingt dann und wann auch wohl selbst
rüstig den Flegel. Die andere Magd hat eben gemolken und trägt
die Milch in die Küche, wo die zwanzigjährige, älteste Tochter des
Hauses, ein umsichtiges und still emsiges Mädchen, sie in Empfang
nimmt und durch ein blankes Messiugsieb mit eingelegtem Tuche in
stäche Baljen (hölzerne Bütten) seihet. Auf dem Herde aber flammt
schon unter dem Kessel mit der Morgensuppe ein lustiges Feuer.
Im Oldenburgischen ist meistens Buttermilchsuppe, in Osterstade
aber Grütze oder heiße süße Milch, in welche Schwarzbrot gebrockt
wird, die gewöhnliche Morgenkost. Diese älteste Tochter ist allein zu
Hause und führt den ganzen Haushalt, denn die jüngere ist noch in
Oldenburg bei einer alten Dame in Pension.
Aus dem Pferdestalle dringt Lärm, Wiehern und Schlagen der
Ackerpferde, dann lautes Schelten des Großknechts mit dem vierzehn-
jährigen „Schwöpenjungen" (wörtlich Peitschenjungen, wie die Buben,
welche man auf den Marschhöfen nur zum Fahren mietet, genannt
werden); denn schon seit zehn Minuten hat die alte Lotte kein Futter
mehr in ihrer Krippe.
Auch der Sohn des Hausherrn, der unterdes ausgestanden, tritt
in den Stall, sieht alles nach und nimmt redlich am Schelten mit teil.
Aber plötzlich ertönt ein Zauberwort, das allem Leben und
Treiben eine andere Gestalt giebt. Aus der halb geöffneten Vorplatz-
thür steckt nämlich die eine Magd ihren Kopf und ruft laut und mit
heller Stimme die Diele hinab: „Rinkamen! — Wat eien!“ Noch
ein paar Schläge — und das Geklapper der Drescher verstummt;
schnell wird noch einigen Pferden neues, wohlgenäßtes Häcksel ein-
geschüttet, und in wenigen Minuten sitzt alles um die große, dampfende
Zinnschüssel mit süßer, aufgekochter Milch. Der Großknecht schneidet
mit gewaltiger Arbeit vom mächtigen Schwarzbrote daumdicke Schnitte.
Schnell ist die Schüssel voll gebrockt und nun alles in vollem Essen,
kaum ein Wort wird gewechselt; noch eine halbe Stunde — und man ist
238
satt. Was noch in der Schüssel blieb, bekommt der mächtige Hofhund,
der Liebling des Großknechts. Die hölzernen und zinnernen Löffel
werden jetzt am Tischtuche abgewischt, und mit Gepolter bricht man auf.
Der Sohn des Hauses hat indes seine Morgenkost allein verzehrt,
denn nur im Felde ißt er mit den Leuten. Und wieder geht's zum
Stall. — Die Krippen sind alle leer gefressen. Jetzt die Pferde
heraus und angeschirrt! Zwei werden vor den Wagen gespannt, auf
den man eben ein paar Eggen und Säcke mit Saatgerste gelegt hat;
der Sohn fährt, der Großknecht und zwei Jungen reiten hinterdrein,
und so trabt die Kavalkade dem unfernen Ackerfelde zu, wo gepflügt
und gesäet werden soll.
Der Sohn hält den einen, der Knecht den andern Pflug, jeder
mit vier Pferden bespannt, die ein Junge treibt. Zu Hause haben
auch die Drescher wieder begonnen. Eine Magd arbeitet am Butter-
fasse, und eine andere, kleinere wäscht erst die Baljen und geht dann in
der Küche der Tochter zur Hand. Diese bereitet den Kaffee, denn auch
die Alten haben sich jetzt erhoben und machen beide ihren morgend-
lichen Jnspektionsgang; er im Flausrock, in gewirkter Schlaf-
mütze und Pantoffeln durch Diele, Stall und Scheunen; die gute
Mutter aber, angethan mit sauberem, dunkelfarbigem Morgenrock von
Kattun, durch Küche und Keller, Milch- und Speisekammer, bis der
duftende Kaffee, in blanker Messingkanne auf dem Sophatische stehend,
Eltern und Tochter auf ein halbes behagliches Stündchen in der
saubern und sehr einfachen Wohnstube wieder vereinigt. Schließlich
langt der Alte nach seiner langen Morgenpfeife, die letzten Zeitungen
und Anzeigeblätter hervorsuchend, die Mutter aber berät mit ihrer
Tochter den Mittagstisch.
Wieder eine Weile später — und die gute Mutter hat sich ans
Spinnrad gesetzt und spinnt weiche Wolle, zu warmen Socken für den
lieben Sohn bestimmt; die Tochter ist in der Küche, und den Vater
sehen wir mit langem „Klubenstocke" auf der Schulter das Haus
verlassen. —
Eine stattliche, achtunggebietende Erscheinung ist der Alte. Ein
echtes, selbstbewußtes Patriciertum prägt sich auf seinem Gesichte aus;
Milde, herzgewinnende Treuherzigkeit schauen ihm aus den Augen,
aber doch gepaart mit dem würdigsten Ernst. — In seiner Jugend,
ja bis an sein vierzigstes Jahr, war er der tüchtigste Arbeiter; oft
und gern redet er davon, wie er habe schaffen müssen; wie strenge er
von seinem seligen Vater in Zucht gehalten worden; wie kein Anderer
im Dorfe so akkurat habe pflügen können. — Aber nun hat er seit
239
langen Jahren keinerlei Arbeit mehr angerührt. Er ist jetzt ein
Sechziger, seine Gestalt ist sehr ins Korpulente gegangen, die Farbe
seines Gesichtes weiß und zart, die Haut seiner Hände äußerst dünn
und weich geworden; aber den echten Hausmann sieht man ihm doch
auf den ersten Blick an; denn nur ein freier, reicher Bauernstand ver-
mag solche imponierende Gestalten zu erzeugen und auszuprägen.
Folgen wir jetzt seinen Schritten.
Er springt mit seinem Klubenstock zwar behutsam, indes trotz
seiner sechzig Jahre noch immer recht behende über ein paar Gräben
und wendet sich zuerst nach seinen Weiden.
Allerlei Jungvieh ist bereits draußen; aber seine dreijährigen
Ochsen, die nächsten Herbst, so Gott will, ihm in England gute
Guineen lösen sollen, und die Milchkühe und jungen Kälber sind noch
im Stalle. Aber prächtiges Gras schon und ein herrliches Wetter —
wenn das noch etwas anhält, denkt er, will er vor Maitag alles
„hinausjagen".
Er springt wieder über einige Gräben und kommt zu seinem
Acker, wo sein Sohn säet und der Knecht gerade beim letzten Stück
zu Pflügen ist. —
„Na, wo geit ’t jo dermit?" fragt er.
„Got, Herr, dat Land ward fein," antwortet freundlich und kurz der
blonde, kräftige Knecht, ohne aufzuhalten, „vor Middag krieg ickll rum."—
„Paßt man got op." — „Ja, Herr!"
Jetzt redet er mit seinem Sohne, der eben das Stück voll gesäet
hat und sich nun kräftig und gewandt auf eins der Pferde schwingt,
die vor die Egge gespannt sind. Fort geht's wieder, und der Junge
mit der zweiten Egge hinterdrein.
Lange schaut der Alte dem Sohne zu. Er mag sich wohl still
in der Seele freuen, zu sehen, wie der schlanke und kraftvolle Junge
so nobel und stattlich zu Pferde sitzt; wie frisch und arbeitsfreudig er
von früh bis spät drauf und dran ist, und wie er gepflügt und die
Furchen gelegt hat, eine um nichts breiter als die andere und alle so
schnurgerade, daß man in Haarbreite eine Büchsenkugel an jeder hin-
schießen könnte; vor allem aber, wie brav und wacker er ist, welch
ein Herz in ihm steckt. — Ja, das weiß er sicher, der wird dem ur-
alten, unbefleckten Namen seiner Familie keine Schande machen. —
„Na ade, Kinners, seht Io, dat jy't got kriegt," ruft er zum Ab-
schiede.
„Ade, Herr," ruft der Großknecht zurück.
So verläßt er seinen Acker, sich wieder dem Dorfe zuwendend.
240
Aber nach Hause geht's noch nicht gleich. Zuvor wird noch ein
Stündchen im Wirtshause verplaudert und ein „Schiedammer" oder
ein Magenbitterer zur Erhöhung des Appetits genossen. Da kommt
denn gleich die Rede auf Wettermutmaßungen, auf den Stand des
Winterkorns, auf die schöne Saatzeit, auf Land-, Vieh- und Korn-
preise, auf die letzten Verordnungen des Amts oder der Wasserbau-
behörde u. s. w. Oft werden auch Handel abgeschlossen, so daß man
diese Morgenzusammenkünfte recht wohl die Börsenstunde der Haus-
leute nennen könnte. Dagegen wird von Politik im weiteren Sinne
nur selten gekannegießert; sie interessiert die meisten Hausleute doch
nur dann, sobald irgend eine ihrer Phasen das Fallen oder Steigen
der Preise beeinflußt.
Mit der heranrückenden Mittagsstunde geht die Versammlung
regelmäßig auseinander, denn zwölf Uhr ist in jedem Hause stehende
Essenszeit.^
Seit einer halben Stunde sind auch die Pflüger heimgekehrt, und
eifrig wühlen die Pferde in den vollen Krippen. Von den Lippen
einer Magd ertönt abermals hell der herzerfreuende Ruf: „Rinkamen!
Wat eten!" — Alles eilt an den „Soot" (Brunnen), Hände und
Gesicht zu waschen, dann in die Gesindestube, wo auf blanker, mächtiger
Zinnschüssel ein wahrer Berg von „Klütjen" (Klößen), Kartoffeln und
Wurzeln und dabei auf einer anderen Schüssel ein paar dicke, leckere
Speckstreifen dampfen. Der Großknecht führt wie immer den Vorsitz,
schneidet Brot und teilt den Speck; ihm zunächst sitzt der zweite
Knecht, dann die Jungen, dann die Tagelöhner und an der anderen
Seite die Mägde nach der Altersfolge ihrer Dienstzeit im Hause.
In der Wohnstube ißt die Familie des Hauses ebenfalls sehr
einfache, derbe Kost, oft dasselbe, was die Leute bekommen, wohl etwas
feiner zubereitet.
Bis zwei Uhr ist Rastzeit, denn die Pferde müssen doch mit Ruhe
fressen. Die Mägde waschen die Schüsseln, die anderen Leute ruhen
oder schlendern umher; Vater und Mutter schlafen ein Stündchen,
und der Sohn nimmt vielleicht ein Buch zur Hand.
Bald ist alles von neuem in Thätigkeit. Die Diele dröhnt
wieder vom Takte der Drescher, später vom rollenden Getöse
der Staubmühle; denn noch heute soll das letzte reine Korn auf
den Boden.
Vater und Mutter sind auch wieder da; gegen drei Uhr bringt
die Tochter den Kaffee und nimmt eine weibliche Handarbeit vor.
Neben ihr sitzt die wieder emsig spinnende Hausfrau; Sex Alte schlürft
241
behaglich zur langen Pfeife den Inhalt seiner großen Geburtstagstasse,
schlendert hierhin und dorthin und steht wohl später mit Kreide und
Streichholz in der Hand auf der Diele, das Getreide „aufmessend."—
So wird's Abend; das Pferdegetrappel meldet die heimkehrenden
Ackerer, und bald sitzen die Leute wieder um ihre Schüssel mit der
Abendmilchspeise. In Osterstade besteht diese Mahlzeit fast täglich
aus Gerstengraupen, in Buttermilch dick gekocht und mit süßer Milch
übergössen, aus der sogenannten „Schälgerste". Wie schon vom
Mittagsmahle regelmäßig ein paar arme Kinder des Dorfes ihr Teil
erhielten, so sehen wir auch jetzt wieder einige derselben in der Küche
oder auf dem Vorplatze ihre Teller leeren. Auch ein Töpfchen voll
süßer Milch bekommen sie mit nach Hause für ihre Eltern, denn jeder
ordentliche Bauernhof hat immer einige bestimmte Arme, die sich auf
ihn stützen und tausend Wohlthaten von ihm genießen.
Der kleine Rest des Abends wird auf verschiedene Weise hingebracht.
Die Tagelöhner verlassen den Hof; in behaglich warmer Gesindestube
sitzen die Mägde beim schnurrenden Spinnrade; der Junge schält
für morgen Kartoffeln oder schneidet Futterrüben; der Großknecht,
nachdem er draußen sein Quantum Häcksel geschnitten, nimmt vielleicht
noch eine Drehspindel zur Hand und dreht mit Hülfe des anderen
Jungen Stricke von „Hede" (Werg) zum häuslichen Gebrauch, oder
er sitzt mit ein paar besuchenden Bekannten beim Kartenspiel, viel-
leicht auch mit der dampfenden Pfeife bei einem Buche voll schöner
Geschichten.
Ich selbst hatte so einen lieben, wackern Knecht, welcher an solchen
Abenden meistens den anderen vorlas, mit ihnen auch wohl ein Lied
sang, und meine lampenhelle, warme Gesindestube bot oft das erquick-
lichste Bild eines friedlichen, man könnte fast sagen familienhaften
Zusammenlebens, so daß ich oft und gern darin geweilt habe.
Auch in der Wohnstube drüben sitzt man traulich um die Lampe
des Tisches, auch dort tönt die Stimme eines Vorlesers, denn man
ist für den Winter bei einer Leihbibliothek in Oldenburg oder Bremen
abonniert. Aber so klein das Lesepublikum des Hauses ist, geht es
doch mit seinen Neigungen auseinander. Mutter und Tochter wollen
immer Romane, Vater und Sohn dagegen nichts als Reisebeschreibungen,
zumal recht abenteuerliche. Doch der Alte ist nicht immer zugegen,
denn gar zu gerne macht er im Wirtshause seine Partie Whist oder
L'hombre und hat auch oft genug Gemeinde-Versammlung, in welcher
das Wohl und Weh des Dorfes beraten wird; vielleicht ist er im
Kippenberg, A 5 (N. A.). 16
242
Ausschuß oder im Vorstande, wenn nicht gar in eigener Person Vogt
(Gemeindevorsteher) des Orts.
Zum Abendessen ist er wieder daheim; mit dem Schlage zehn
begiebt sich alles zur Ruhe, und tiefe Stille herrscht alsdann im ganzen
weiten, sonst so rührigen Hause. Nur die gute, sorgsame Mutter
macht noch einen späten Rundgang durch die Räume, überall nach
Feuer und Licht schauend. — Ein Mutterauge ist scharf und wacht
gern am längsten. —
Das ist ein Tag auf dem Marschhofe — ein Stück norddeutschen
Vanernlebens. Hermann Allmers.
134. Die Stadt am Meere.
1. Am grauen Strand, am grauen Meer
und seitab liegt die Stadt;
der Nebel drückt die Dächer schwer,
und durch die Stille braust das Meer
eintönig um die Stadt.
2. Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
kein Vogel ohn’ Unterlass;
die Wandergans mit hartem Schrei
nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
am Strande weht das Gras.
3. Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
du graue Stadt am Meer;
der Jugend Zauber für und für
ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
du graue Stadt am Meer. Theodor Storni.
135. Meeresstille und glückliche Fahrt.
Tiefe Stille herrscht im Wasser,
ohne Regung ruht das Meer,
und bekümmert sieht der Schiffer
glatte Fläche ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
reget keine Welle sich.
243
Die Nebel zerreißen,
der Himmel ist helle,
und Äolus löset
das ängstliche Band.
Es säuseln die Winde,
es rührt sich der Schiffer.
Geschwinde! Geschwinde!
Es teilt sich die Welle,
es naht sich die Ferne:
schon seh ich das Land! Johann lvolfgang v. Goethe.
136. Heimkehr.
(Lin Nordseebild.)
1.
Am Bord des Dampfschiffes „North Star"
aus der Nordsee.
Am 13. September 1879.
Möge Poseidon uns günstigen Fahrwind und heiteren Himmel
zur Heimkehr gewähren! — So sprachen wir, als wir uns anschickten,
von Schottlands Küste Abschied zu nehmen. Und Poseidon erhörte
uns. Herrlich blaute der Himmel, und köstlich schien die Sonne, als
unser „North Star" sich durch die mächtigen Schleusenpforten des
Viktoriadocks in den langen Kanal hinausschleppte, welcher die Ein-
fahrt in den Hafen von Edinburg schützt. Wenige Minuten später
schwammen wir auf dem schönen Firth of Forth. Je weiter wir
anfangs hinaussteuerten, desto klarer und wirkungsvoller erhob sich
Edinburg mit allen seinen edel gestalteten Hügeln, seinen Türmen und
Denkmalen über dem Mastenwalde und den vielen rauchenden Fabrik-
schornsteinen seiner Hafenstadt Leith.
Bald nach Mittag sind wir abgefahren, aber erst jetzt, um Sonnen-
untergang, verlieren wir das Land ganz aus dem Gesichte. Der
Sonnenuntergang ist schön und glückverheißend. Wie eine blutrote
Scheibe steht die Sonne hinter der leichten Nebelbank am westlichen
Horizont. Ein heller Purpurglanz ruht eine Viertelstunde lang über
dem spiegelglatten Meere.
2.
Am 14. Sepiember 1879.
Aus Abend und Morgen ward der zweite Tag. Strahlend wie
sie untergegangen war, ging die Sonne über der ungeheuren Meeres-
16*
244
weite wieder auf. Aus Nordwesten weht ein frischer Wind. Unser
kleines, leichtes Schiff tanzt gerade genug, um uns merken zu lassen,
daß Meereswogen uns tragen; der frische Wind bläst voll in unsere
Segel und fördert unsere Fahrt, und die tausend blendendweißen
Wolkenlämmer, welche an der blauen Himmelstrift still und friedlich
weiden, deuten nicht darauf hin, daß die frische Brise sich in wilden
Sturm verwandeln könne.
Zahlreiche Dampfschiffe kreuzen ihre Kurse auf dem großen nor-
dischen Völkerheerwege unseres „Deutschen Oceans", wie die Engländer
die Nordsee nennen. Im Vorüberfahren rufen sie sich, ihre Flaggen
dreimal hissend und senkend, einen fröhlichen Sonntagsmorgengruß
zu. Wie Riesenschwäne mit weißgeschwellten Schwingen gleiten die
großen Segelschiffe zwischen ihnen hin und her. In leuchtender Stahl-
farbe schimmert die tiefe Flut. Einen schöneren Morgen auf dem
Meere könnte kein Seemann träumen.
Nur wer das Meer haßt, findet es einförmig. Dem, der es liebt,
enthüllt es, wo er auch sei, von Stunde zu Stunde andere und immer
neue Reize. Auch heute gewann es um Mittag ein anderes Ansehen
als am Morgen. Wir fuhren über eine seichte Stelle, an welcher das
Wasser die schöne, smaragdgrüne Farbe annahm, welche den nordischen
Meeren bis zu einer gewissen Tiefe eigen ist. Wir kreuzten die Fläche
zu derselben Zeit, als eine Flottille von hundert englischen Fischer-
böten darauf hin- und herstrich. Die zierlichen kleinen Fahrzeuge mit
ihren blendendroten Segeln standen leuchtend über der grünen Flut
am hellen Himmel.
Wieder ein anderes Ansehen erhielt das Meer in den Nachmittags-
stunden. Wir erreichten wieder tiefes Wasser. Hier mußten starke
Nordwinde geweht haben; denn eine hohe Dünung traf die Seiten-
wände unseres Schiffes und versetzte es in so heftiges Rollen, daß in
den Kajüten alles darüber und darunter ging und die Mehrzahl der
Mitreisenden krank wurde. Wir blieben auf dem Verdecke sitzen und
schauten dem eigenartigen Schauspiel der langsam anrollenden Wogen
zu, welche dadurch ein besonderes Leben erhielten, daß die kleinen
Wellchen, welche, eine Folge des leichten Westwindes, hinter unserm
Schiffe herplätscherten, jene großen Dünungswogen im rechten Winkel
kreuzten und frisch und hurtig mit kleinen weißen Schaumspitzen über
sie hinliefen.
Still und einsam war hier das Meer; denn die Fahrstraße der
vom Norden dem englischen Kanal zusteuernden Schiffe hatten wir be-
reits heute morgen gekreuzt, und das Fahrwasser der von den deutschen
— 245 —
Nordseehäfen nach England und dem Oceane steuernden Schiffe hatten
wir noch nicht erreicht. Die Bahn zwischen der schottischen Ostküste
und Deutschlands Nordwestküste ist aber nur schwach befahren. Wir
schienen allein in der unendlichen Flut zu schwimmen, über welcher
ein wolkenloser Himmel sich wölbte, und wir genossen den Anblick der
stillen, großen Unendlichkeit mit ahnungsvollem Schauer.
Rot und feurig sank die Sonne in die stahlfarbene Flut. Kein
Wiederschein von Wolken breitete einen Rosenschimmer über die ganze
See aus wie gestern. Das langgezogene Spiegelbild der Sonne lag
zwischen uns an der Stelle, wo sie sank, als vielfach bewegter, schmaler
Feuerstreifen von fast erkaltetem Lichte auf der metallisch glänzenden
Wasserstäche. Die Dämmerung war lang und klar. Allmählich blitzte
ein Stern nach dem andern auf. Bald war der dunkle Himmel mit
unzähligen kleinen und großen Funken befäet, und die Milchstraße
zog ihr schimmerndes Lichtband über die Kuppel des Riesendomes.
Die mondlose Nacht zeigte den nordischen Sternenhimmel in seiner
ganzen Pracht; wer den Sternenhimmel der südlichen Halbkugel ge-
sehen hat, muß dem nördlichen den Vorzug geben.
Eine klarere Sternennacht als die heutige läßt sich nicht denken.
Der Jupiter vertritt gewissermaßen den Mond. Er wirft das Sonnen-
licht fast fo stark zurück wie die erste Mondsichel und zieht einen
breiten, zitternden Strahl durch die Flut. Zugleich schießen zahlreiche
Sternschnuppen, oft lange Feuerstreifen hinter sich dreinziehend, am
Himmel hin und her. Zugleich glühen auch im Meere, da, wo das
Schiff es durchfurcht, Millionen leuchtender Funken, die es scheinbar
aus seiner Tiefe heraufsendet; zugleich endlich entsprühen dem Schlote
mit dem Rauche wirkliche, heiße Feuerfunken, deren rötliches Licht
fast unheimlich absticht gegen den phosphorblauen Schimmer des Meeres-
leuchtens und den klaren Goldglanz der Sterne. Es ist eine September-
nacht voll südlicher Reize auf der sonst so wilden Nordsee.
3.
Hamburg, den 15. September 1879.
Seegrün leuchtete die klare, leichtgewellte Flut, als ich heute
morgen aufwachte, die rote Gardine vor dem Rundfenster über meinem
Bette zurückschob und hinausblickte. Gerade vor uns stieg aus der
Flut der blutfarbene, wildzerklüftete Felsenblock von Helgoland, der
nach und nach dem Nagen der Meerflut erliegt. Ach, Helgoland! —
Nun bin ich wieder zu Hause! Wie manchen Monat meines Lebens
246
habe ich dort verträumt! Wie manches Dutzend Mal hat zwischen
dieser Insel und meiner Vaterstadt die See mich hin- und hergetragen!
Wie manchen Sturm, wie manchen Sonnenschein habe ich in diesem
Wellenumkreise erlebt!
Heute lacht uns ein Morgen, so hell und heiter, wie er an Eng-
lands Nebellüsten selten ist. Das Vaterland heißt uns warm und
lächelnd willkommen. Die Insel Neuwerk, am Horizont auftauchend,
wird freudig von uns begrüßt. Wie nichtssagend erschien mir
sonst das kleine, stäche Eiland mit dem kunstlosen, plumpen alten
Festungsturme, mit den hölzernen Baken, mit den roten Dächern seiner
wenigen Häuser, und wie viel sagt es mir heute!
Die Fahrt zwischen Kuxhaven und Blankenese auf dem breiten,
von Schiffen belebten, bräunlichen Strome erscheint mir heute so an-
mutig, wie sie mir noch nie erschienen. Hinter den grünen Deichen,
welche das niedrige Land vor der Gewalt des Wassers schützen, ragen
die grünbraunen Strohdächer, die windschiefen kleinen Kirchtürme und
die sturmzerzausten Bäume so friedlich und beschränkt hervor wie sonst.
Heute aber, im wonnigen Gefühle der Heimkehr, scheint mir ihr Still-
leben einen tiefen und lieblichen Zug zu erhalten, und die schimmernde,
glatte Wasserstäche mit den stachen Ufern und den weißen, braunen
und roten Segeln, welche zu vielen Hunderten auf ihr hin- und her-
gleiten, enthüllt mir mehr als sonst ihren malerischen Reiz.
Je näher wir Hamburg kommen, desto lebendiger wird mein Heimat-
gefühl. Die grünen Höhen zwischen Blankenese und Hamburg mit ihren
frischen, wohlgepflegten Gärten und leuchtenden weißen Landhäusern
sind ja die Stätten der Spiele meiner Kindheit gewesen. Dort,
zwischen grünen Bäumen, blickt mein Vaterhaus von der Höhe herab.
Die Worte, mit denen ich es vor zehn Jahren begrüßte, treten wieder
vor meine Seele:
„Umrankt von Rosen auf der Höhe steht
mein Vaterhaus, hoch überm breiten Strome,
darüber hin der Westwind brausend weht,
und graue Wolken ziehn am Himmelsdome.
Weit, über Wiesengrün und Wogenbraus
und Hügelketten schweift der Blick hinaus
und zieht mit Segeln, welche fröhlich schwellen,
in ferne Länder über blaue Wellen."
Wie klopft mein Herz! Am Gelände der Terrasse über dem
steilen Abhange stehen meine Lieben. Sie haben uns erkannt. Sie
— 247 —
wehen mit weißen Tüchern, und wir erwidern ihre Grüße vom höchsten
Schiffsbord. Aber es war nur das erste, flüchtige Willkommen aus
der Ferne. Rasch gleiten wir vorüber. Hoch und majestätisch steigen
die schlanken, prächtigen Kirchtürme meiner Vaterstadt vor uns auf.
Keine Stadt der Welt besitzt so viele hochragende Türme wie sie.
Fast eine halbe Stunde fahren wir in den Schiffsstraßen des Hamburger
Hafens entlang, bis wir am fernsten Quai anlegen. Hier steht mein
Vater, hier steht mein Bruder. Rasche Pferde tragen uns nach dem Land-
hause hinaus. Um uns und in uns ist alles Licht und Sonnenschein.
Aarl Woermann.
137. Wanderlied.
1. Wohlauf! noch getrunken
den funkelnden Wein!
Ade nun, ihr Lieben,
geschieden muß sein.
Ade nun, ihr Berge,
du väterlich Haus!
Es treibt in die Ferne
mich mächtig hinaus
2. Die Sonne, sie bleibet
am Himmel nicht stehn,
es treibt sie, durch Länder
und Meere zu gehn.
Die Woge nicht haftet
am einsamen Strand,
die Stürme, sie brausen
mit Macht durch das Land.
3. Mit eilenden Wolken
der Vogel dort zieht
und singt in der Ferne
ein heimatlich Lied.
So treibt es den Burschen
durch Wälder und Feld,
zu gleichen der Mutter,
der wandernden Welt.
4. Da grüßen ihn Vögel
bekannt überm Meer,
sie flogen von Fluren
der Heimat hierher;
da duften die Blumen
vertraulich um ihn,
sie trieben vom Lande
die Lüfte dahin.
5. Die Vögel die kennen
sein väterlich Haus,
die Blumen einst pflanzt' er
der Liebe zum Strauß,
und Liebe die folgt ihm,
sie geht ihm zur Hand:
so wird ihm zur Heimat
das ferneste Land.
Instinus Aerner.
mmm
248
138. Die Pußten Ungarns.
„Ich zog durchs weite Ungarland,
mein Herz fand seine Freude,
als Dorf und Busch und Baum verschwand
aus einer stillen Heide." (Lenau.)
Von Pest bis nach Weißkirchen und von Tokaj bis nach Brod
liegt die ungarische Ebene ausgedehnt, — unabsehbar, einem Meere
gleich, ohne Erhebungen, außer einigen dünenartigen, niedrigen Sand-
hügeln. In den nahen Umgebungen der Donau, der Theiß und ihrer
Nebenflüsse ist die Bewässerung überreich, und es giebt da ungeheure,
mit Schilfdickicht bewachsene Sumpfstrecken; zwischen den Strom-
windungen hingegen herrscht Dürre und Wasserarmut. Hier dehnen
sich die weiten Pußten aus, dürre, mit magerem Rasen und braunen
Flechten bedeckte Heidestrecken, deren eine östlich der Theiß (die De-
brecziner Heide) und die andere westlich des genannten Flusses (Kecz-
kemeter Heide) die größten sind. Über sie zieht die Straße, eigentlich
nur ein aus vielen Fahrgeleisen zusammengesetzter, oft meilenbreiter
Streifen, wie ohne Ziel hinaus ins Unendliche, denn weit und breit
deutet nichts auf menschliche Spuren. Das landesübliche Gefährt ist
ein Wagen mit vier nebeneinander eingespannten kleinen, flinken Rößlein,
und während dieser über den lockeren Boden lautlos dahinjagt, wird
der Reisende zuweilen von einer Luftspiegelung überrascht, die bei den
ungarischen Pußtabewohnern „Doli bäb“ heißt. Von dieser Luft-
spiegelung getäuscht, sieht man zuweilen Heere von Ungeheuern herbei-
stürzen oder gegeneinander kämpfen; — es sind Herden von groß-
gehörnten Rindern oder von Rossen, die hier weiden und durch die
Wirkungen der Fata Morgana wie fabelhafte Ungeheuer erscheinen.
„In weiter, weiter Ferne," schreibt ein ungarischer Schriftsteller, „er-
scheint im trügerischen Wasser der wogenden „Doli bäb“ ein schlanker
Turm auf die Spitze gestellt, gleich einem aufs Meer geworfenen
Schatten, und rings um denselben hier und da ein Getreidehaufen
oder ein Baum in verdoppelter Gestalt. Der Wanderer glaubt eine
in der Luft schwebende Insel zu sehen, die zugleich mit dem sie um-
brausenden Meere auf- und niederschwankt, bald kleiner, bald größer
wird, bald gänzlich verschwindet."
Die auf der Heide zerstreut liegenden einzelnen Gehöfte werden
ebenfalls Pußta genannt, wenn sie zu keinem Gemeindeverband gehören.
Sie sind oft sehr ausgedehnt und schön, und wenn es von einer
wohlhabenden Familie heißt: „sie ist auf der Pußta," so bedeutet
249
das nicht selten einen beneidenswerten, mit allen erdenklichen Bequem-
lichkeiten ausgestatteten Landaufenthalt.
In den eigentlichen Pußten nun bewegen sich die Hirten mit
ihren Pferde-, Rinder-, Schaf- und Schweineherden in einem weit
ausgedehnten Gebiete, und einzelnen von ihnen sind oft meilenweite
Landstriche zugewiesen, in denen sie mit ihren Tieren fast mit der
unumschränkten Freiheit urwüchsiger Nomaden umherziehen. Alle diese
Hirten leben das ganze Jahr hindurch, Sommers und Winters, unter
freiem Himmel, wenn auch mancher unter ihnen sein eignes Haus
besitzt. Nur gelegentliche Besuche bei der Familie, in der einsamen
Heideschenke oder beim Heideschmied unterbrechen das einförmige, stille
Leben. Gleichwohl entbehren sie nichts, was notwendig und ihnen
angenehm ist. Die Lebensmittel werden von den Gemeinden oder den
Gutsbesitzern, deren Herden ihrer Obhut übergeben sind, an bestimmten
Tagen der Woche auf die Pußta versendet und an die Hirten verteilt.
Hier und da vervollständigt ein Schaf oder ein Kalb, von dem es
dann heißt, daß es sich verlaufen oder daß ein Wolf es gefressen habe,
die Mahlzeit. Einen solchen Braten wissen diese Hirten auch im
Sommer so aufzubewahren, daß er sich längere Tage frisch erhält.
Über ihrer groben Kleidung tragen sie einen Pelz, der des Sommers
mit der rauhen Seite nach außen gekehrt wird, dazu Filzhut und
Stiefel.
Die Hirten, durchweg ein schöner, gesunder, kräftiger Menschen-
schlag, unterscheiden sich, je nachdem sie mit Pferden, Rindern oder
anderen Herden zu thun haben, durch gewisse Charakterzüge scharf
voneinander. Die gewandtesten und verwegensten unter ihnen, so zu
sagen die ritterlichsten, sind die Roßhirten, Csikos (von csiko, Fohlen).
Furchtlos und frohgemut zieht der Csikos mit seiner schwer zu bän-
digenden, halbwilden Roßherde auf der Steppe umher, und zwar
immer zu Pferde. Zu Rosse ißt und trinkt er, ja schläft er auch
manchmal. Das Volkslied läßt ihn sogar Zwiegespräche mit dem
Tiere halten, dem er sein Herzeleid klagt.
Die Pferde auf der Pußta bleiben jahrelang in ihrem halbwilden
Zustande, bis der Zeitpunkt ihrer Zähmung herannaht. Die Kunst
des Csikos besteht nun darin, das Fohlen, das er dazu auserwählt,
mit der Fangschnur einzufangen und es dann in den Dienst der Kultur
zu zwingen. Dieselbe Geschicklichkeit besitzt aber auch der Vagabund
der Pußta, der Pferde- und Rinderdieb, der mit den Hirten häufig
auf dem Fuße guten Einvernehmens, wenn nicht größerer Vertrautheit,
steht, — so daß er oft lange sich den Händen der Gerechtigkeit zu
250
entziehen vermag. Daher singt der Pferdedieb, in verwegener Sorg-
losigkeit dahin lebend, im Volksliede:
„Nicht sät noch pflügt der Vogel, doch nähret ihn die Flur,
so pflüg' und sä' auch ich nicht, und leb' doch ohne Sorgen!"
bis ihn endlich das Verhängnis doch einmal ereilt.
Mehr und mehr jedoch wird dieses Räuberunwesen auf der
Pußta unterdrückt. Überhaupt dienen die sich immer weiter erstreckenden
Eisenbahnen, der sorgfältigere Volksunterricht — giebt es doch in den
Ortschaften der Pußten schon viele Schulen — sowie namentlich die
großen Fortschritte des Ackerbaus dazu, die wilde und abenteuerliche
Romantik des Pußtalebens immer mehr auszutilgen.
Alexander Dar.
139. Kanäle und Löte in Holland.
Die reichen, fruchtbaren Gefilde der Niederlande — oder Hollands,
wie wir gewöhnlich sagen — sind von vielen Strömen und Fluß-
armen durchzogen. Überall aber ist man der Natur zu Hülfe ge-
kommen, wenn sie unterlassen hatte, in einer Gegend Flüsse zu schaffen,
und hat mit erstaunlichem Fleiße Kanäle gegraben. In solcher Fülle
sind sie vorhanden, daß. nicht bloß die Städte, sondern auch fast alle
Dörfer, ja viele Landhäuser, ihre Wasserstraßen haben, auf denen sich
ihr Verkehr bewegt. Dieses reiche Adern^tz konnte nicht ver-
fehlen, in dem Lande eine so lebhafte Schiffahrt und einen so regen
Austausch der Erzeugnisse hervorzurufen, wie er in keinem sonstigen
europäischen Lande beobachtet wird. Und wenn solcher Wasserverkehr,
der einst z. B. 22 000 Kähne an die einzige Stadt Haarlem brachte,
in neuerer Zeit, wo die Eisenbahnen schneller und meistens auch
billiger befördern, auch abgenommen hat, so ist er doch immer noch
sehr bedeutend. Und stets werden trotz aller Schienenwege in Holland
die Kanäle ihr Recht auf Dasein behaupten. Was man anderwärts
auf Karren fortschafft, wird hier auf das Boot geladen. Der Gärtner
rudert seine mit Früchten, Gemüse und Blumen beladene Barke, wie
in Frankreich zu solchem Zwecke der Esel benutzt wird. Es gewährt
eine wahre Lust, all dieses Grün, diesen Reichtum des Frühjahrs zu
sehen, wie er sorgfältig und mit einem lebendigen Sinn für Farben
geordnet ist. In Amsterdam werden zur Zeit der Wohnungsräumung
die Möbeln zu Wasser von einem Stadtviertel ins andere gebracht;
Stühle und Armsessel, mit einer gewissen Ordnungsliebe aufgestellt,
scheinen einzuladen, daß man sich darauf setze. Doch diese Salons
251
auf dem Wasser bewegen sich vorwärts, ohne daß die Menge ihrer
achtet. Die Milch kommt auf demselben Wege nach Amsterdam
aus den benachbarten Dorfschaften. Morgens um fünf oder sechs
Uhr und nachmittags gegen drei Uhr sieht man auf dem breiten
Nordholland-Kanal eine ganze Flottille mit Milchmädchen und
Milchfrauen besetzt, die ihre Eimer von Eichenholz, mit kupfernen
Reifen und Handhaben versehen, zur Seite haben, welche Gefäße
an frischer, reiner Farbe mit den gelben Strohhüten ihrer
Besitzerinnen wetteifern.
Bis zu den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts führten
ebenso zahlreiche Wasserböte dem nordischen Venedig, das selbst von
so vielen Kanälen durchschnitten ist, das Trinkwasser zu, dessen es so
sehr bedarf. Heutigestags aber bringt die Wasserleitung dasselbe aus
den Dünen unweit Haarlems.
Die besonders für die Reisenden bestimmten Böte heißen Trekschuiten.
Diese holländischen Gondeln haben, wo man der alten Sitte getreu
geblieben ist, folgende Einrichtung. Ihrer ganzen Länge nach, die
etwa 81/2 m beträgt, erhebt sich ein hölzerner Kasten oder, wenn
man will, ein hölzernes Haus, meist grün angestrichen, mit einem
Dache, das ein Anwurf zerstoßener Muscheln deckt. Dieses Haus ist
in zwei Zimmerräume geteilt; der größere, nach dem Vorderteile des
Fahrzeugs gelegen, ist für das Gepäck und die Reisenden zweiter
Klasse bestimmt. Im Winter, wenn alle Öffnungen verschlossen sind,
sitzen dort die guten Leute ganz in Rauchwolken gehüllt und wahr-
haft eingeschachtelt; im Sommer aber werden sowohl die Fallthür,.
durch welche die Reisenden einsteigen, als auch die hölzernen Läden
offen gehalten. Das andere Zimmer ist klein, aber mit einigem Ge-
schmacke geordnet. Man tritt durch eine Flügelthür ein. Die Fenster,
vier bis sechs an der Zahl, sind mit Glasscheiben versehen oder haben
rote oder blaue Vorhänge, je nach der Jahreszeit. In der Mitte
steht ein Tisch, darauf ein kupfernes Becken mit Feuer, ein kleineres
daneben empfängt die Asche der Pfeifen oder Zigarren, beide Gefäße,
was sich in Holland von selbst versteht, immer glänzend geputzt. Zur
weiteren Einrichtung dient eine Strohmatte, ein Spiegel, im Winter
für die Damen ein hölzerner Fußwärmer, in dessen Mitte sich
ein Gefäß aus Steingut befindet, worin einige Torfkohlen glühen.
An den beiden Seiten des Zimmers laufen gepolsterte Bänke hin,
auf welchen die Reisenden Platz nehmen. Für Liebhaber des
Lesens finden sich auch wohl auf einem Seitenbrette einige Bücher
aufgestellt.
252
Wo auf dem Vorderteile der Kasten noch Raum läßt, wird
dieser von Kisten, Ballen und Tonnen eingenommen; auf dem Hinter-
teile sieht man einige Passagiere, welche die frische Luft lieben, und
den Steuermann, der aus seiner Pfeife mit der Regelmäßigkeit einer
Maschine Dampfwolken bläst. Der Herr der Barke ist ein guter
Holländer mit einem ehrlichen, ruhigen Gesichte, der das Fahrgeld
der Reisenden in seine lederne Börse schiebt. Der Mastbaum, welcher
vorn am Fahrzeuge sich erhebt und bei jeder Brücke niedergelassen
wird, hält das lange Seil, an welches das Pferd geschirrt ist, das
die Barke zieht. Auf diesem Pferde sitzt der Postillon, in der Regel
ein junger Bursche, über dessen Schulter ein Horn hängt, mit dem
er die Signale giebt, sei es zur Abfahrt, oder wenn der Mast nieder-
zulassen ist, oder um die entgegenkommenden Böte zu benachrichtigen;
doch begnügt er sich gewöhnlich mit seiner eignen Stimme, was be-
quemer ist.
Von Ort zu Ort hält das Boot an, um die Passagiere zu ent-
lassen oder neue einzunehmen. Wenn die Trekschuite durch eine Stadt
fährt, bindet man das Pferd los und lenkt sie vermittelst einer
Stange durch die Menge von Fahrzeugen. . Die holländischen Schiffer
sind weder heftig noch zanksüchtig; es ist ein Vergnügen, sie in aller
Ruhe aus dem stillen Gewässer arbeiten zu sehen.
Es giebt auch Trekschuiten, auf welchen man die Nacht hindurch
fahren kann. Der Bootsherr ladet, falls er sonst freundlich ist, um
sechs Uhr abends zum Theetrinken ein. Man sieht alsdann aus
einem kleinen Wandschranke die Tassen hervorkommen, Zuckerbüchse
und Theekanne aus schwarzem Steingute, alles sehr nett. Der Sied-
kessel ruht auf einer Art von Eimer, in welchem sich ein thönernes
Gefäß befindet, das die Kohlen enthält. Kommt dann die Nacht, so
teilt sich das Schiff in zwei Teile — Salon und Schlafzimmer. Ein
gemeinschaftliches Bett, das die Breite des Raumes ausfüllt und bloß
aus einer Matratze und einer Decke besteht, ladet dich ein, an der
allgemeinen Ruhe der Natur teilzunehmen; man legt sich in voller
Kleidung nieder.
Die Helle Mondnacht mit ihrem mannigfaltigen Gewölke bietet
nicht minder anziehende Bilder als die Beleuchtung der Landschaft
am Tage. Mit Unrecht hat man der holländischen Landschaft Ein-
tönigkeit vorgeworfen; man nehme die Natur nur so, wie sie hier ist,
als ein schmuckes Bildchen, nett, zierlich, fein, reich an kleinen Einzel-
heiten, die auch reizend sind. Die Felder, Gärten, Landgüter — sie
253
sind alle gesättigt durch Farbentöne, auf die das Wasser Einfluß geübt
hat. Statt der Hecken umziehen Gräben die Ländereien, und auf
ihrem Spiegel breitet sich eine reiche Flora aus, fast so reich wie die
des Landes. Im Frühling ist die dunkle Oberfläche der Kanäle oder
Gräben gestickt mit zahlreichen weißen Blütensternen; später zeigen
die Wasferschwertlilien und die Teichrosen ihre prächtigen Blüten-
blätter. Dann feiern die Wasser ihr hohes Fest; mit den großen Ge-
wächsen wetteifern auch die geringsten, diesen stillen Wasserpfaden eine
eigentümliche Schönheit zu geben.
Da die Kanäle fast alle mit hohen Dämmen eingeschlossen sind,
so gewahrt man aus der Ferne weder das Wasser noch die Barken,
sondern bloß die vom Winde aufgeblähten Segel oder die Rauch-
säulen, die der Schornsteinröhre der kleinen Dampfer entquillen. Es
scheint, als gingen die roten und weißen Segel in der Landschaft frei
spazieren.
Die Kanäle, die man gewissermaßen stille, gleichsam zur Ruhe
gebrachte Flüsse nennen kann, geben der ganzen Landschaft einen
freundlichen und dabei ruhigen Charakter. Wenn man auf ihnen
dahinfährt, begegnet man in der Nähe der großen Städte an ihren
Ufern einer Fülle von prächtigen Landsitzen und zierlichen Pavillons,
die sich im Wasser spiegeln und diesem mit Vergnügen ihren Fuß
entgegenstrecken. Dort wohnt mancher alternde Kaufmann, der sich,
mit Reichtum gesegnet, von den Sorgen und Arbeiten des Geschäfts-
lebens zurückgezogen hat, mancher Seemann, der ergraut ist in dem
langjährigen Kampfe mit den Fluten und Stürmen des Meeres und
hier nun endlich den sicheren Hafen gefunden hat, den er sein lebelang
nicht wieder zu verlassen braucht; dort findet mancher hohe Beamte,
den die glühende Sonne der indischen Jnselflur Hollands früh er-
mattet hat, lohnende Jahre des behaglichen Ausruhens. Dorthin —
in die zahlreichen kleineren Villen und Landhäuschen — zieht sich
auch in der schönen Jahreszeit mancher Stadtbewohner aus dem Ge-
schäftsgewühl zurück, still und schweigend den blauen Tabaksrauch ge-
nießend und sich von Herzen des häuslichen Stilllebens freuend, das
er hier im Grünen noch ganz anders haben kann als in der Stadt.
Die Mädchen lugen neugierig hinter den Jalousieen auf den vorüber-
fahrenden Fremden; die Frauen nähen und stricken in den Veranden
und Pavillons. Und wenn man dann vom fernen Kirchturme ein
Glockenspiel regelrecht seine Melodie abrollen hört, so glaubt man
aus der bewegten Welt der Eisenbahnen und ruhelosen Hast in ein
unbekanntes Land des Friedens und der Ruhe gekommen zu sein.
Niederlands Volk ist ein Volk des Meeres und Wassers. Ihm
hat es in hartem Kampfe und unermüdeter Arbeit seinen Boden ab-
gerungen ; aber ihm verdankt es auch alles, und ihm bleibt es allezeit
hold. In der Nähe des Wassers, am Gestade des Meeres und der
Flüsse oder an den Ufern der Kanäle, die seine starke und fleißige
Hand geschaffen, da ist und bleibt nun einmal des rechten Holländers
Lieblingsaufenthalt, wenn er nicht gar zu den Landsleuten gehört, die
auf ihren Fahrzeugen geboren werden, dort mit ihrer Familie wohnen
UNd auf dem Wasser sterben. Nach August Wilhelm Grube.
140. Mignon.
1. Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
2. Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, gethan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
3. Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg;
in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut;
es stürzt der Fels und über ihn die Flut.
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
geht unser Weg! o Vater, laß uns ziehn!
Johann wolfgang t>. Goethe.
255
141. Der Ausbruch des Vesuv im Jahre 1872.
Es war am 24. April 1872, als der Vesuv unter furchtbarem
Donner eine Bergspalte öffnete und mächtige Ströme von Lava
nach allen Seiten auswarf.
Ich safs beim Wein auf grünender Höhe. Die Nacht war
mild und klar, und der Vollmond warf ein sanftes, grünliches
Licht über die Landschaft, als müsse tiefer Frieden auf allen
diesen blühenden, von Orangenduft erfüllten Höhen lagern. Die
weifsen Häuser flimmerten mit ungewissem Lichte aus dem Grün
hervor, die Kuppeln der Kirchen und Paläste vergoldeten sich.
Aus den dunkeln Strassen flammten die gelblichen Gaslatemen,
unter dem Mondschein und den Strahlen des Leuchtturms
schaukelten die Schiffe des Golfs, während Himmel und Meer in
Purpur erglühten. Da drüben aber, wohin wir immer wieder zurück-
blickten, stiegen brennende Lavasteine aus dem schwarzen Gewölke
des Vesuv heraus und rollten zu den Seiten des Berges nieder.
Es war eine wundervolle Beleuchtung, als Mond und Sterne
ihr Licht mit dem roten Scheine der vulkanischen Wolke ver-
mischten. Noch dachte niemand an eine Gefahr, und die Ne-
apolitaner stürmten in Scharen nach dem Molo, nach den Häfen
und anderen hochgelegenen Orten. Die Theater standen leer;
diese feuerleuchtende Bühne, dieses Feuerwerk hinter der dunkeln
Rauchkulisse haben ihresgleichen nicht in der Welt und fesselten
die Zuschauer bis nach Mitternacht.
Am nächsten Morgen erhob sich aus den Fluten ein köst-
licher, frischer Frühlingstag. Der Berg rauchte so stark wie
vorher, aber die bedrohliche Lava schwieg, sie schien sich ge-
stopft zu haben. Dort oben auf dem Observatorium neben der
Einsiedelei des Vesuv safs ja einer, der die Sache am besten
verstehen musste, Professor Palmieri, welcher den Vulkan seit
Jahren beobachtete. Auch er schwieg und schickte keine Warnung
in die Stadt; er war eben nur ein Beobachter und kein Prophet.
So verliessen denn viele Fremde und Einheimische die Stadt
und stiegen noch abends auf den Berg, um die Wunder der
feurigen Unterwelt in nächster Nähe anzustaunen.
Auch die zweite Nacht verlief gefahrlos. Aber gegen den
Morgen des 26. April waren die unterirdischen Dämonen ent-
fesselt und tobten mit aller Wut. Neue Krater öffneten sich
nach West und Südwest und spieen zerstörende Lavaströme aus.
256
Die schreckliche Rauch- und Dampfwolke aber hob sich fast
eine Meile hoch und füllte und verbreitete sich und stieg immer
weiter. Endlich bedeckte das schwarze Ungeheuer von Rauch
den ganzen östlichen Himmel und hing drohend über dem Lande.
Unten aus dichten und dunkeln Massen zusammengeballt, oben
im Lichte des Tages fast blendend weiss, starr und unbeweglich,
als wollte sie niemals weichen— so stand sie unheildrohend da,
einen grausigen Schatten über Himmel und Erde werfend.
Wird sie uns verderben? Wird sie all dieses blühende Leben
unter ihrer Asche begraben?
Der Anblick ist grossartig und schreckenvoll zugleich. Das
Volk läuft in Scharen herbei. Es füllt die Strassen, die Plätze,
die Dächer und staunt das Ungeheuer an; aber es ist wie ge-
bannt von einem unheimlichen Gefühl. Es staunt und schweigt,
während die Wolke über seinen Häuptern lastet.
Nun beginnen die Donner des Vulkans. Anfangs grollen
sie leise und unterbrochen, dann wachsen sie stärker und stärker
an, und endlich dröhnen sie wie Tausende von Kanonen, ohne
Aufhören und mit immer erneuter und unerschöpflicher Wut.
Die Stadt Neapel liegt volle zwei Meilen vom Vesuv entfernt,
aber die Häuser zittern in den Grundfesten, die Fenster klirren
fortwährend, die leichten Zimmerdecken schwanken und knistern
verräterisch. Hier und da zeigen sich Risse in den Mauern,
Gesimse fallen herab. Das leicht erregbare Volk schreit laut
auf, hiebt aus den Häusern und ringt die Hände. „Zur Madonna!
Zur Madonna!“ so rufen die einen, während die anderen mit
wildem Geschrei nach dem Hafen rennen.
Inzwischen verbreitet sich die Kunde, dass viele Deutsche,
Engländer und andere Fremde samt Neapolitanern, welche abends
vorher den Vesuv bestiegen haben, verunglückt sind. Heifser
Schlamm und glühende Lavastücke haben die Unvorsichtigen
überschüttet, verbrannt und getötet. Auch mehrere Anwohner
des Berges sollen ihr Leben eingebüfst haben. Man nennt ihre
Namen, und die schnellzüngige Fama verbreitet und übertreibt
die Gerüchte. Von den Ortschaften Torre del Greco, Ponticelli,
Somma Vesuviana und anderen, welche durch die Lava bedroht
sind, laufen Telegramme ein, worin um Hülfe gebeten wird.
Sofort beeilen sich die Behörden der Stadt, den verlangten
Beistand zu leisten. Es werden Sicherheitswachen angeordnet,
Arzte, Soldaten und Polizeibeamte ausgesendet. Wagen, Karren,
257
Sänften, Reiter zu Pferde und zu Esel bedecken den Weg nach
Portici. Ihnen entgegen ziehen schon Hunderte von Fuhrwerken,
bespannt mit Ochsen, Eseln, Pferden und Mauleseln, welche die
gerettete Habe davonschleppen und nach Neapel, nach Castellamare
und anderswohin führen: armseligen Hausrat und namentlich
Betten, das teuerste Gut der Armen. Andere fliehen zu Fuss
und tragen Kleider und Matratzenbündel hoch auf dem Kopfe.
Männer treiben das Hausvieh, die Frauen nebenher haben ein
Kind an der Hand, ein anderes auf dem Arme. Alle diese Be-
drängten haben eine entsetzliche Nacht verlebt, wie ihre fahlen
Gesichter mit dem Ausdrucke der Angst und der Erschlaffung
beweisen. Manche sind so ermüdet, dass sie sich an irgend
einem Hause oder an einer Mauer zur Ruhe legen; andere
stehen still und schauen weinend nach ihren brennenden Häusern
zurück. Diese braunen Männer mit den dunkeln Fischermützen
und den schönen Gesichtszügen sind flüchtige Torresen, welche
sich durch Korallenfischerei an den Küsten Afrikas ernähren.
Jene Bauern mit blauen Jacken und rundem Hut, bepackt mit
Ackergerät, kommen aus den weifsen Häuschen von Somma.
Der fressende Lavastrom ist ins Thal geflossen und hat mit
unwiderstehlicher Gewalt ihre Gärten und Felder überschwemmt
und ihre Häuser verbrannt; sie werden niemals wieder ihren
Acker bebauen, er ist mit Lava bedeckt.
Noch am vorigen Abend leuchtete der friedliche Vollmond
über dieser zauberischen Landschaft, über diesen rebenum-
sponnenen Hängen des Vesuv. Niemand kümmerte sich um den
gefährlichen Nachbar, der schon jahrelang gespukt und dann
wieder geschwiegen hatte. Alles schlummerte in den umlaubten
Hütten. Da um Mitternacht erhob der Berg ein dumpfes Grollen
und rüttelte an den Fenstern und Thüren. Ein Sturm brauste
dazu, dass die Wände zitterten. Der besorgte Hausvater sprang
auf und stürzte vor die Thür.
Er wusste nach dem ersten Blicke, was ihm bevorstand.
Sie kommt, die unentfliehbare Lava, die Verwüsterin der Städte
und Dörfer! Nicht wie die züngelnde Flamme, die nur das
Haus bedroht, sondern wie eine mächtige Feuermauer, purpur-
rot, rauschend und rasselnd, und unter ihrem langsamen Schritte
alles begrabend und vernichtend: Häuser und Bäume, Acker
und Gärten, — unlöschbar und unbeweglich. Die Kräuter und
Sträucher knistern flammend vor ihr auf, ihr Feuer kriecht an
Kippenbcrg, A 5 (N. A.). 17
258
den Ranken der Reben in die Höhe und knistert in den Ästen
der Bäume. Nichts kann ihr widerstehen.
Schon hat der Bauer die Seinigen vom Lager aufgestört.
Die Frau schreit und ruft alle Heiligen an, die Kinder weinen
und starren mit ängstlichen Blicken in den Feuerschein. Hier
gilt kein Säumen, denn schon prasseln Schlacken und Steine,
welche der Berg in grossen Bogen ausschleudert, um das Haus
und auf das Dach, schon brennt es bei den Nachbarn. Schnell
werden die notdürftigen Habseligkeiten zusammengerafft und das
blökende Vieh an den Strick gelegt. So geht’s zur schleunigen
Flucht. Von allen Seiten strömen die Flüchtigen zusammen.
Laute Zurufe, Geschrei und Blöken, Jammern und Weinen
vermischen sich miteinander und mit den dumpfen Klängen der
Kirchenglocken, welche in den Thälern geläutet werden. Ge-
ängstigt, bleich und sch weisstriefend — so eilen die Vertriebenen
thalabwärts, nach dem Meere, nach Portici, nach Neapel.
In der Stadt ist meines Bleibens nicht, es zieht mich nach
dem Berge, um der Verwüstung und dem Greuel ins Angesicht
zu sehen.
Hinter Resina führt ein Weg zwischen Weingärten auf-
wärts. Hier haben Soldaten einen Kordon gezogen, um die
verlassenen Häuser zu überwachen und den Dieben und Strolchen
zu wehren, welche sich das Unglück zu nutze machen und zu
plündern versuchen. Je höher ich steige, desto mehr erdröhnt
der Boden, desto lauter brüllt der Donner des Berges, desto
schwärzer erscheint die Wolke.
In einer Dorfkapelle liegen drei Opfer des Ausbruches, ein
Landmann, ein zerlumpter Bauernknabe und ein fein gekleideter
junger und schöner Mann. Man fand sie erschlagen, erstickt,
halb verbrannt unter den Schlacken. Viele andere hat ein
grausamer Feuertod in der Lava ereilt, so z. B. einige junge
Damen, einen Arzt und einen Studenten. Manche werden halb-
verbrannt unter lautem Jammern ins Hospital getragen. Viele
sind von kundigen Führern gerettet worden, als sie, von der
Lava anscheinend ganz umzingelt, schon an jedem Auswege
verzweifelten.
Während all dieses Elend von dem Donner des Vulkans
begleitet wird, während Luft und Erde erzittern, während ein
dicker, grauer Staub und die himmelhohe Rauchwolke das Licht
des Tages verdunkeln, mehrt sich das Gewühl und das Gewimmel
259
der Menschen. Die Flüchtigen wachsen zu grossen Scharen an.
Die Eisenbahn befördert Menschen und Gepäck nach Neapel;
Omnibusse und anderes Fuhrwerk werden in Gang gesetzt; die
Schiffe der königlichen Flotte eilen in die Häfen von Portici
und Torre, um Hülfe zu bringen. Die Behörden von Neapel
haben eine Geldsumme dargegeben, sie haben Hospitäler und
Notwohnungen einrichten lassen. Der König und die Minister
sind von Born herbeigekommen, um die Bettung und Unter-
stützung der Armen zu überwachen und zu fördern. Die Gefangenen
von Portici und anderen bedrohten Städten müssen nach Neapel
gebracht werden. Geistliche, Mönche und Nonnen mischen sich
unter die Unglücklichen, um ihnen Trost zu spenden. Pro-
zessionen ziehen einher; die Frauen lassen ihre schwarzen Haare
herabwallen, die ernsten Priester schreiten voran mit dem
schwarzen Kreuze, indem sie schauerliche Sterbe- und Busslieder
anstimmen. Dazwischen treiben Hirten ihre Herden vorüber,
welche Angstlaute ausstofsen.
Es ist ein unbeschreibliches Durcheinander von phan-
tastischen Bildern der Not, des Schreckens, der tobenden Natur-
kräfte, der Barmherzigkeit. Wie schwach und elend erscheint
der Mensch vor diesen unbezwinglichen Gewalten der Natur!
Inzwischen ist der Abend hereingebrochen. Jetzt erscheint
die Bauch wölke wie Feuer, und die Lava wirft einen Glutschein
über den dunkeln Himmel. Sie ist im Laufe des Tages an-
geschwollen. Sie hat die Mauern und Häuser von San Sebastiano
durchbrochen; der ganze Ort geht in Flammen auf und bildet
eme einzige weithin leuchtende Feuerinsel. Bei Massa Vesuviana
ist der Lavastrom sechs Meter hoch und tausend Meter breit;
die Stadt brennt und muss gänzlich untergehen. Auch Besina
und Portici sind in Gefahr. Vier Hauptströme der Lava kann
man bemerken, sie legen sich wie ein höllischer Glutmantel um
die Bergseiten und setzen immer noch ihren verderblichen Weg
fort. Wann und wo werden sie stehen bleiben? Und wenn sie
es thun, und wenn der Krater sich verstopft, kann nicht ein
Erdbeben darauf eintreten und noch viel mehr Unheil bringen?
Ich kehre nach Neapel zurück und finde das Volk verzagt
und entsetzt, es flüchtet zu seinen Heiligen. An ihren Stand-
bildern klettern Knaben empor und drücken Orangenblüten und
Bosensträucher in ihre Hände. Man zündet ihnen Wachskerzen
an, man betet und schreit zu ihnen um Hülfe. Die Häuser
17*
260
beben fort und fort, an Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu
denken. Viele Fremde und Einheimische verlassen die Stadt
und retten sich nordwärts.
Am Morgen des 27. April schweigt der Berg plötzlich.
Aber dieses Schweigen ist so unheimlich, die Wolke so drohend,
und die Auswürfe des Kraters sind noch so stark, dass das
Volk in neue Furcht verfällt. „Nun kommt das Erdbeben!
Nun werden wir unter unseren Häusern begraben werden!“ In
allen Kirchen und Kapellen läuten die Glocken und rufen die
angstvolle Menge zur Busse. Überall stürzt sie zu den Kirchen,
überall bilden sich neue Prozessionen, und gegen Mittag rennt
das Volk zur Kathedrale des heiligen Januarius und verlangt
stürmisch vom Erzbischof den Umzug der silbernen Büste des
Heiligen und seines Blutes. Es will sich durch den Augen-
schein überzeugen, ob dieses Heiligen Blut flüssig wird; dann —
so glaubt es — ist der Beschützer der Stadt und der Beherr-
scher des Vulkans versöhnt und die Gefahr überstanden. Die
Spitzbuben, welche es auf eine Plünderung abgesehen haben,
schüren die allgemeine Angst. Aber der, Erzbischof traut dem
Berge noch nicht, denn aus der dunkeln Wolke zucken zuweilen
noch grelle Blitze und dröhnen noch grollende Donner. Das
fanatische Gesindel wird von Soldaten und Polizeibeamten zu-
rückgedrängt, und es ergeht ein Verbot aller Zusammenrottungen.
Am Morgen des 28. April höre ich keinen Laut. Die Aus-
rufer schweigen, die Wagen rollen nicht durch die Strassen,
die Glocken der Ziegenherden, welche die Stadt durchziehen,
um sie mit Milch zu versorgen, ertönen nicht, in der sonst so
lebhaften und geräuschvollen Stadt ist es totenstill. Ich springe
vom Lager und stofse die Balkonthüre auf — welch ein An-
blick! Ich sehe keinen Himmel, kein Meer, keinen Garten,
keinen Tag. Nur wenige gelbliche Gasflammen flackern aus dem
Dunkel der Häuser hervor. Die Wolke des Berges ist langsam
über die Stadt gerückt, und langsam und leise sendet sie einen
dicken Aschenregen herab. Unaufhörlich rieselt es wie schwarzer
Schnee von oben hernieder und hüllt Himmel und Erde in das
graue Kleid des Todes.
\
„Finsternis, tiefste — und schwarz zum Himmel erhob sich die Asche;
plätschernd entstürzt’ es wie Regen und deckte die rauchende Stadt zu,
dass sie den Blicken entschwand, und grauenvoll gleissten die Türme
flackernd und rangen sich auf in Gedampf und Aschenverfinst’rung.“
261
So schildert der Dichter den Untergang Pompejis, welches
durch die Asche des Vesuv verschüttet wurde. Droht dasselbe
Schicksal der Stadt Neapel?
Dieser Gedanke war mein erster, und jedermann dachte so.
Dieser unaufhörliche Aschenregen ist beängstigender als die
Raserei des Vulkans. Damals leuchtete doch wenigstens der
Tag; jetzt zeigen nur die Uhren den Tag an, Himmel und
Erde sind nächtlich verschleiert. Das heitere, sonnige Neapel
gleicht einer Stadt des Todes, und wenn hin und wieder die
Kirchenglocken sich hören lassen, so klingt es wie Sterbegeläute.
Ich gehe mit dem Regenschirm über die Strasse; die Asche
kommt mir in den Mund, in die Nase, in die Augen; sie dringt
durch die Kleider bis auf die Haut, sie beklemmt den Atem
und verbreitet einen unangenehmen Geruch.
So regnet die Asche zwei Tage lang mit wenigen Unter-
brechungen. Es sind echte Busstage in Sack und Asche. Tag
und Nacht weilt das Volk auf den öffentlichen Plätzen, denn es
fürchtet ein Erdbeben; es murmelt Gebete und ruft Madonna
und alle Heiligen an. In den Gärten liegt schwarze Asche auf den
Rosenkronen, Blumen und Bäume stehen trübselig, die Gebäude
und Standbilder haben ein hässliches, graues Ansehen gewonnen,
und die weifsen Marmorstatuen gleichen gedeckten Mohren.
Am 1. Mai endlich ergiefst sich ein gewaltiger Gewitter-
regen über das Land, und mit diesem schliefst das grosse
Drama. Noch raucht der Berg, noch dampfen die Lavaströme
und die verbrannten Felder, Dörfer und Städte; aber die Gefahr
ist beseitigt, der Vulkan hat sich beruhigt, und die Menschen
atmen erleichtert auf. Heinrich Bogumii.
142. Eine Winterreise in Norrland.
Wir standen am Weihnachtsmorgen früh auf, um unsere Reife,
die keinen Auffchub litt, fortzusetzen, mußten aber eine Stunde lang
warten, bis unser Kaffee bereitet war. In der Zwischenzeit trat ich
auf etwa fünf Minuten aus dem Hause. Noch war es Nacht, einige
Stunden vor Aufgang der Sonne. Die Sterne funkelten in unbe-
schreiblichem Glanze, und auf der Erde herrschte ein Zwielicht, in dem
man die fchneeschimmernde Umgebung recht wohl zu unterscheiden
vermochte. Die Luft war freilich scharf, kam mir jedoch nicht eben
ungewöhnlich kalt vor. Da kam mein Reisegefährte rasch mit dem
262
Thermometer gelaufen und rief mir frohlockend zu: „Wirklich jetzt
dreißig Grad (Reaumur)!" Wir freuten uns über diese Temperatur
als ein Zeichen, daß wir dem Nordpolarkreise, dem nächsten Ziele
unserer Reife, schon ziemlich nahegekommen waren.
Endlich war das Morgenbrot eingenommen, und bald standen
die Pferde angeschirrt vor dem Schlitten. Wir hüllten uns dicht in
unsere Pelze und fuhren ab. Das Morgenrot streifte leicht den Osten;
der Himmel war so rein wie Krystall, und nicht ein Lüftchen regte
sich. Bald war mein Bart durch die Feuchtigkeit meines Atenis zu
einer Eiskruste geworden, und meine Nase mußte beständig gerieben
werden, um nicht zu erfrieren. Am Tage vorher hatte das Eis,
welches sich auf meinem Pelzkragen gesammelt hatte, so lange an
meinem Gesichte gelegen, daß meine Wangen nahezu erfroren wären,
und deshalb war ich jetzt besonders vorsichtig. Als es heller wurde,
fanden wir zu unserm Erstaunen, daß unser Postillon ein Mädchen
war. Sie hatte auf den Knieen ein Schaffell, über den Händen einen
Muff und um den Kopf einen Shawl, der nur die Augen sehen ließ.
In diesem Anzuge fuhr sie, der Kälte trotzend, lustig dahin, und man
bemerkte hernach keinen Einfluß der Witterung an ihr, als daß ihre
Wangen wie Purpur glühten.
Als wir uns dem ersten Dorfe näherten, hatten wir eine weite
Aussicht auf den bottnifchen Meerbusen, über dem feine Eisgebilde
wie weiße Nebel schwebten. Indem wir an den Rand des schneeigen
Thales gelangten, in welchem das Dörfchen lag, und hinabblickten,
sahen wir die Rauchsäulen von den Häusern kerzengerade in die Luft
steigen und dann wieder sinken, so daß sie fast die Gebäude verdeckten.
Nur die hübsche, weiße Kirche mit ihrem hohen Turme, die höher hin-
auf, am Abhange, lag, erhob sich über diesem hellgrauen Dunste und
schimmerte sanft in dem Lichte des allmählich anbrechenden Christtages.
Das Dorf war die erste Station. Wir tranken einen Krug heiße
Milch mit Zimmet gewürzt, ein Lieblingsgetränk des Volkes im Winter,
wechselten die Pferde, und fort ging's wieder! Das Quecksilber war
inzwischen bis auf 31% Grad unter Null gefallen. Wir waren er-
staunt, daß wir die Kälte so gut ertragen konnten, und nicht wenig
stolz auf unsere Ausdauer. Unsere Füße schliefen jedoch allmählich ein.
Wenn aber der Schlitten in der hügeligen Gegend langsam eine be-
deutendere Höhe hinauffuhr, so stiegen wir aus und gingen den Berg
hinan, damit unser Blut wieder in Umlauf käme.
Doch spielte die Kälte uns wunderliche Streiche. Nicht bloß mein
Bart, sondern auch meine Mütze und mein Pelzkragen waren bald
263
eine einzige Eismasse. Unsere Augenlider wurden eisig und schneeweiß,
und es bedurfte beständiger Bewegung, um sie nicht ganz zusammen-
frieren zu lassen. Wir sahen durch Brillen in Elfenbeingestellen, da
wir solche in Metallfassung nicht würden ertragen haben. Wir konnten
unsere Hände nicht einen Augenblick entblößen, ohne daß es uns war,
als ob eine Schraube das Fleisch packe, und unser Blut zu Eis er-
starre. Trotz alledem waren wir heiter und guter Dinge. Die Luft
war außerordenlich rein und angenehm, und man atmete sie mit
einem Gefühle der Erfrischung ein.
Das war eine herrliche Nordlandsreise! Der Weg, über den unser
Schlitten mit leisem Geräusche wie rieselnd dahinglitt, war glatt, fest
und rein wie Alabaster; das Morgenrot wurde immer glühender,
bis eine rosig-goldene Flut den ganzen Osten erfüllte. Ein wenig
nach zehn Uhr ging die Sonne auf, und nie habe ich etwas Schöneres
gesehen als den Anblick, der sich uns jetzt darbot, und der den ganzen
kurzen Tag über ziemlich derselbe blieb, da selbst mittags die-Sonne
nur wenige Grad über dem Horizont stand. Mit glänzenden Eis-
krystallen bedeckt, standen die Birken und Föhren wie Glassäulen mit
Kronleuchtern da, still und unbeweglich, und ihre Wipfel und Stämme
flimmerten tausendfarbig; ebenso schimmerten die unabsehbaren Schnee-
felder in Gold und Purpur.
Wir machten vormittags zwei schwedische Meilen und genossen
dann in der Wirtschaft, die uns aufnahm, ein Frühstück von geröstetem
Renntierfleisch und Pfannkuchen, auch verzehrte ich mit meinem Reise-
gefährten ein Pfund Butter. „Ein ganzes Pfund Butter?!" höre ich
entsetzt sagen, „wie kann man dergleichen essen!" Ja, ich muß die
Wahrheit sagen, wenn sie auch nicht angenehm klingt. Eine solche
nordische Kälte erfordert zur Nahrung Fett, und wer seinen Magen
mit solchem Feurungsmaterial nicht heizt, wird bald genug erfrieren.
Mit der Notwendigkeit kommt endlich auch das Wohlgefallen an solcher
Speise, und wir sagten uns, daß wir gewiß imstande sein würden,
an Fischthran und Talglichtern Geschmack zu finden, ehe wir Lappland
im Rücken hätten.
Kamen wir an einem Orte an und sahen uns im Spiegel, so
waren unsere Augenbrauen und unser Haar so weiß wie die eines
achtzigjährigen Greises, und unsere Wangen bildeten eine solche wunder-
bare Mischung von Rot und Citronengelb, daß wir Mühe hatten,
einander zu kennen. Welche Farbe auch immer die Pferde hatten,
mit denen wir abfuhren: wenn unser Schlitten zur Poststation einfuhr,
wurde er immer von milchweißen Pferden gezogen. Auf der Straße
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begegneten uns schlanke, kräftige Menschen, aber alle trugen schneeweiße
Locken, mochten sie auch noch so jung sein.
Auf unserer Weiterreise kamen wir an einen Ort, Gumboda, wo
wir bleiben mußten, da zur Zeit keine Pferde vorhanden waren. Die
Kälte war auf 32 Grad gestiegen. Als das Thermometer herein-
gebracht wurde, war das Quecksilber völlig gefroren, und als ich mich
aus meinen Pelzen herauswickelte, schmerzte mich meine Nase, als
wenn sie mit einem heißen Eisen berührt würde. Wir blieben die
Nacht in dem Wirtshause und fanden es vorzüglich. Am Abend
setzten wir uns zu einem Weihnachtsmahle von Wurst, Kartoffeln,
Pfannkuchen und Himbeersauce und einer Flasche vom besten englischen
Porter nieder, wobei wir die Gesundheit aller unserer lieben Ver-
wandten auf beiden Halbkugeln der Erde tranken. Ehe wir die mit
reiner, lavendelduftiger Leinwand überzogenen weichen Betten bestiegen,
um uns nach des Tages Last und Kälte süßem Schlummer zu über-
lassen, holte mein Reisegenosse noch einmal wieder das Thermometer
von draußen herein in unser Gemach — und siehe, das Quecksilber
war bis unter alle Zahlen der Skala eingefroren! say^d Taylor.
143. Aus der heißen Zone.
Welte vre den bei Batavia, September 1881.
Als ich aus Eurer Mitte schied, meine geliebten Freundinnen in
der Heimat, versprach ich, Euch aus dem Wunderlande Indien fleißig
Nachricht zu geben. Oft gedachte ich seitdem Euer und unserer trauten
Spielplätze im teuren deutschen Vaterlande an den Ufern des schönen,
grünen Rheins. Wie oft lauschten wir andächtig beim Vorlesen eines
Buches, das uns durch seine Märchen in die Zauberwell des Morgen-
landes versetzte oder uns die fremdartigen Bilder der Tropengegenden
vor Augen malte! Damals konnte ich nicht ahnen, daß ich einst im
fernen Indien, in der Nähe des Äquators, eine so paradiesisch schöne
zweite Heimat finden würde.
Als sich zuni erstenmal mir die Welt erschloß und ich aus hoher
See, wie von Flügeln getragen, dahinzog, da war meines Staunens
und Verwunderns kein Ende. Herrlich war die Fahrt durch das
Mittelländische Meer. Wie lieblich, malerisch schön stiegen aus demselben
die Inseln auf mit ihrer wunderbaren Pflanzen- und Blumenpracht!
In Ägypten erblickte ich den Saum der Wüste, von der ich früher so
oft gehört hatte. Und als ich das Rote Meer durchschiffte und von fern
die Gipfel des Sinai erblickte, da ergriff mich eine selige Rührung.
Nach vierwöchentlicher schöner Reise auf außerordentlich behaglich
und elegant ausgestattetem Schiffe langten wir hier an, in dem aus-
gedehnten, herrlichen Jnselreiche, welches gewöhnlich unter der Be-
zeichnung „Niederländisch-Ostindien" zusammengefaßt wird, und das
sich gleich einem Gürtel von Smaragden um den Äquator schlingt.
Java ist, obgleich die kleinste der vier großen Sunda-Jnseln, dennoch
die wichtigste, die fruchtbarste und nutzbringendste.
Dieser mein erster Brief soll Euch zunächst ein Bild meines
Lebens und Wohnens in den Tropen entrollen. Das Klima ist heiß
und feucht, wie das bei einer Insel nahe dem Äquator nicht anders
sein kann. In Batavia beträgt die mittlere Wärme im Schatten nicht
weniger als 220 Reaumur. Tiefer als etwa 16 0 sinkt das Ther-
mometer nie, während es in den heißen Monaten auf 30 o und darüber
steigen kann. Ihr werdet begreifen, daß es da dem Europäer und
insbesondere mir wohl zuweilen ein wenig schwül wird! So schlimm
aber, wie es nach dieser Schilderung Euch Bewohnern eines gemäßigten
Klimas erscheinen möchte, ist die Sache in Wirklichkeit doch nicht.
Einesteils wehen an der Küste stets abwechselnd Land- und Seewinde
und tragen viel zur Milderung der Hitze bei; anderseits ist die Bauart
der Häuser, die Kleidung und die ganze Lebensweise auf das heiße
Klima eingerichtet, so daß man es meistens weit weniger em-
pfindet als die Glut heißer Sommertage bei Euch in Mitteleuropa.
Einen Winter mit Schnee und Eis giebt es auf Java also nicht.
Hier sind überhaupt nur zwei Jahreszeiten: die Regenzeit und die
trockene Zeit. Jene dauert vom November bis April; in den übrigen
Monaten herrscht, abgesehen von gelegentlichen Gewitterregen, völlige
Trockenheit. Die indischen Städte unterscheiden sich von den europäischen
auffallend. Nicht bloß die Wohnungen der Eingeborenen, sondern auch
die Häuser der Europäer sind wesentlich anders gebaut als die Wohn-
gebäude bei Euch. Die Häuser hier sind der häufigen Erdbeben wegen
meistens einstöckig und dienen stets nur einer Familie zur Wohnung.
Jedes steht ganz frei in einem geräumigen Garten, der mit schlanken
Kokospalmen und schattigen Fruchtbüumen besetzt ist, oder es liegt
fast versteckt im kühlen Schatten des Laubdaches und hinter herrlich
blühenden und duftenden Sträuchern. Als ich zum erstenmal am
Eingänge einer solchen Straße stand, bemerkte ich anfänglich gar nichts
von den Häusern. Nur eine Reihe hoher, dichtbelaubter Feigenbäume,
Tamarinden oder Kanarienbäume zog sich vor meinen Blicken zu
beiden Seiten der Straße hin. Es war, als sähe man die Allee eines
wohlgepflegten Parkes hinab. Bald aber entdeckte ich beim Weiter-
266
schreiten ein Haus nach dem andern, wie es mit seinem blendend-
weißen Anstriche zwischen dem üppigen Grün der Bäume hervor-
leuchtete. Von der Straße aus gelangt man zunächst auf einen ge-
räumigen, sauber gehaltenen und mit Kies bestreuten Vorplatz, von
dem uns eine breite Freitreppe zu der von Säulen getragenen Vor-
halle des Hauses führt. Diese Halle, wie auch die Treppe meistens
mit Marmorplatten belegt, ist nach der Straße und dem Garten zu,
also nach drei Seiten, gänzlich offen. In ihr bringt die Familie
meistens die kühlen Stunden des Tages zu, und dort empfängt sie
auch ihre Besuche. Eine gleiche Halle befindet sich an der Rückseite
des Hauses. Hier werden hauptsächlich die Mahlzeiten eingenommen,
und die Familie hält sich hier ebenfalls häufig auf, besonders wenn
sie ungestört sein will. Der innere Teil des Hauses enthält die
Arbeits- und Schlafgemächer, Gastzimmer, Küche, Vorrats- und
Dienerschaftsräume.
Geht man zur Mittagszeit durch eine Straße von Weltevreden,
dem neuen Teile Batavias, der von der alten Stadt etwa eine Stunde
entfernt liegt, jedoch mit ihr durch Eisenbahn und Pferdebahn ver-
bunden ist, so scheinen die Häuser wie ansgestorben. Nur eine An-
zahl schlaftrunkener brauner Bedienten kauert und liegt auf den Treppen
umher; die Familie selbst befindet sich um diese Zeit gewöhnlich auf
der Veranda hinter dem Hause. Besucht man aber dieselbe Straße
des Abends, so hat sich das Bild wie mit einem Zauberschlage ge-
ändert. Die Häuser schwimmen in einem Lichtermeere, das von den
Kronleuchtern in den Vorhallen ausstrahlt. Bei ihrem Scheine erblickt
man in den reich ausgeschmückten und elegant möblierten Vorhallen
Damen und Herren in hellen Anzügen, oft ganz in Weiß gekleidet,
die sich behaglich in den bequemen Schaukelstühlen hin- und herwiegen.
Die Straße ist von einer Menge von herrschaftlichen Wagen belebt.
Unsern Tag bringen wir, gleich allen Europäern, hier auf folgende
Weise zu: In Java geht die Sonne das ganze Jahr hindurch mit
ganz geringen Unterschieden etwa um sechs Uhr auf und um sechs Uhr
unter. Mit Tagesanbruch erheben wir uns und trinken zunächst, auf
bequemen Sesseln liegend, eine Tasse jenes herrlichen Kaffees, den
unsere Insel in so ausgezeichneter Beschaffenheit erzeugt. So wird,
während der Hausherr den Duft einer Manilazigarre einatmet, etwa
eine Stunde „in süßem Nichtsthun" zugebracht. Dann wird ein Bad
genommen, wozu in jedem Hause die Einrichtung vorhanden ist. Die
Haupterfrischung beim Bade besteht darin, daß man etwa zwanzig-
bis dreißigmal einen Strahl kalten Wassers über sich ausströmen
267
läßt. Inzwischen ist es acht geworden; das zweite Frühstück wird
eingenommen. Die Männer fahren zu den Häusern, wohin ihre Ge-
schäfte sie rufen; die Frauen besorgen in ihrer Abwesenheit die Haus-
haltungsangelegenheiten. Auch ich habe mich der hiesigen Sitte an-
bequemt und erscheine, wie alle Hausfrauen, des Morgens in einem
buntgestickten, mit Gold- und Silberfäden durchwirkten Tuche, das,
mehrmals um die Hüften geschlungen, wie ein Gewand zu den Füßen
herabfällt und durch Gürtel oder Schärpe zusammengehalten wird.
Den ferneren Teil der Kleidung bilden eine lange, weiße Jacke, die
mit reichen Stickereien oder Spitzen besetzt ist, und zierliche gold-
gestickte Pantoffeln. Das Besorgen der Hauswirtschaft unterscheidet
sich freilich wesentlich von der Haushaltung der deutschen Frauen.
Die Hauptsorge der europäischen Frauen hier in Java ist auf die
Aufsicht über die zahlreichen eingebornen Diener und Dienerinnen
beschränkt. Ich will Euch mein gesamtes Dienstpersonal doch eben
kurz vorstellen. Da ist zuerst die Köchin, in deren Hände unser leib-
liches Wohl und Behagen zum großen Teil gelegt ist; zwei Küchen-
jungen stehen ihr bei ihrer Arbeit zur Seite. Dann kommt das
Kammermädchen, das mich auch zugleich mit dem riesigen Palmenwedel
zu fächeln hat und Moskitos und andere lästige geflügelte Insekten
wie eine Windsbraut davonjagt. Eine ganze Schar männlicher Diener
besorgt die sonstigen Hausgeschäfte, und alle Arbeiten sind genau
unter sie verteilt. Zwei bedienen bei Tisch, tragen das eisgekühlte
Getränk herbei, besorgen Aufträge, Briefe u. s. w.; ein anderer ist
Kutscher, ein dritter Stallknecht, der vierte ist Lampenputzer. „Aber
doch nicht Lampenputzer allein, ohne sonstige Geschäfte?" fragt Ihr.
Freilich hat er ausschließlich die Lampen zu besorgen, und Ihr dürft
feine Thätigkeit ja nicht unterschätzen. Während nämlich bei Euch zu
Hause entweder die schnell entzündeten Gaslampen keiner täglichen
Wartung bedürfen, oder in einem großen Haushalte, in welchem eine
Gasleitung fehlt, im höchsten Falle sechs oder acht Lampen täglich
zu reinigen und zu füllen find, hat unser Lampenputzer mindestens
vierzig bis fünfzig Petroleumlampen zu besorgen und in stets tadel-
losem Zustande zu erhalten. Ein Gärtner pflegt unseren Blumengarten,
hält die Wege unseres Palmenhaines in musterhafter Ordnung und
besorgt die herrlichsten Blumensträuße für die Tafel. Der letzte, aber
nicht unbedeutendste in der Dienerschaft ist der Thürsteher, welcher die
uns besuchenden Herrschaften anmeldet, bis an das Empfangszimmer
geleitet und später wieder an die Hausthür zurückführt, und der ein
wachsames Auge für Haus und Hof und die ganze Umgebung hat.
268
Die sämtlichen aufgezählten dienstbaren Geister sind in sieben großen
Räumen untergebracht. Außer einem verhältnismäßig hohen Lohn
erhalten sie nur eine bestimmte Menge an Reis und haben im übrigen
für ihre Beköstigung selbst zu sorgen und ihre Speisen selbst zuzu-
bereiten. Ihre Arbeit vollziehen sie fleißig und treu. Ihr seht, daß ich
Vorsteherin eines recht ansehnlichen Hausstandes bin. Erschrecken dürft
Ihr aber weder vor der kaffeebraunen Farbe meiner Diener und Diener-
innen, noch auch vor dem, was man hier unter Haustieren versteht.
Da findet Ihr nicht nur Affen, Rehe, Pfauen und Papageien, sondern
gelegentlich auch unschädliche Schlangen. Ja, kürzlich küßte mir eine
junge Tigerkatze die Hand, als wir bei einem hohen Herrn Besuch machten.
Doch nun wieder zur Schilderung unseres Tageslaufes zurück.
Die Mittagszeit kommt heran, und schon sollen wir wieder eine Mahl-
zeit einnehmen. Es ist dies die sogenannte Reistafel, so genannt, weil
abgekochter Reis dabei eine Hauptrolle spielt. Dieser wird auf die
verschiedenste Weise gewürzt und schmackhaft gemacht. Die Zuspeisen
sind Gemüse, und zwar sowohl konservierte europäische, als auch frische
inländische Gemüse, z. B. Palmkohl, Bambusspitzen u. s. w., die sehr
fein schmecken. Den Nachtisch des reichen Mahles, bei dem gebratenes
Geflügel und andere Fleischspeisen und stark mit spanischem Pfeffer
gewürzte Gerichte in großer Anzahl aufgetragen werden, bilden herr-
liche Früchte, die auf Java zu jeder Zeit zu bekommen sind und auf
keiner Tafel fehlen. Von ihnen erwähne ich nur die goldgelben, saft-
strotzenden Ananas, die nach deutschem Gelde kaum zehn Pfennig kosten,
und eine andere wunderbare Frucht, Mango genannt. Sie wächst
auf einem großen, überall in den Tropen häufig angepflanzten Baume,
ist eine Steinfrucht, größer als ein Hühnerei, und hat ein gelbliches,
saftiges Fleisch, welches von einer goldgelben Schale bedeckt ist, die
man, wie bei den Pfirsichen, abziehen muß. Ihr Geruch ist nicht
angenehm, aber ihr Geschmack unvergleichlich schön und würzig. Nach
der Reistafel wird ein Mittagsschlaf gehalten, der sich etwa bis nach
vier Uhr hinzieht, dann wird eine Tasse Thee oder Kaffee getrunken,
wieder gebadet, und nun legt man den Gesellschaftsanzug an. Um die
Zeit der bald eintretenden kurzen Dämmerung macht man einen kleinen
Spaziergang oder eine kurze Spazierfahrt, stattet etwaige Besuche ab
u. dergl. m. Um acht Uhr wird zu Abend gespeist, wobei Suppe,
Braten und Gemüse auf europäische Weise zubereitet werden. Nach
Tische musiziert, liest oder spielt man, oder man verbringt den Abend
in Gesellschaft bei Bekannten; ausnahmsweise fährt man wohl auch
zum Konzert oder Theater.
269
b* Das ist so der gewöhnliche Tageslaus der Europäer auf Java und
auch der unsrige. Ihr seht daraus, daß ich nicht einfach unter die Wilden
verschlagen bin, um mit ihnen ihren Mais auf heißen Steinen zu rösten,
das kärgliche Mahl selbst zu bereiten und die Friedenspfeife beim
Klange des Tamtam zu rauchen! — Für heute lebt wohl, meine Lieben!
Antonie Herf.
144. Jerusalem und Umgegend.
In malerischen Terrassen steigen die Häuser von Jaffa oder Joppe
an einer kegelförmigen Höhe hinan. Die Stadt ist nicht mehr „die
schöne", wie ihr Name bedeutet, doch bietet sie manche Erinnerung aus
der heiligen Geschichte. Hier wurden die Cedern zu Salomos präch-
tigem Tempel gelandet; hier schiffte sich der Prophet Jonas ein, um
Gott zu entfliehen; hier wohnte Tabea, die Petrus ins Leben zurück-
rief; hierher sendete der Hauptmann Kornelius seine Boten zum Apostel
des Herrn. Unsere Ungeduld, Jerusalem zu erreichen, drängte zur
Abreise. Um fünf Uhr abends bestieg ein jeder sein Pferd, und die
Karawane setzte sich in Bewegung. Rechts und links begleiteten uns
die Gärten von Jaffa, ein fast ununterbrochener Wald von allerlei
Fruchtbäumen und Blumengebüschen.
Unmerklich stieg vor uns die fruchtbare Ebene Saron auf, welche
sich an der Küste des Meeres von Karmel bis Jaffa zwölf Meilen
lang hinzieht. Ihre berühmte Blumenfülle und Farbenpracht war jetzt,
um die Osterzeit, wo Gras und Korn schon hoch emporgewachsen,
vorüber. Noch etwas später im Jahre verwandelt sie sich in ein un-
geheures, von den reichsten Ernten bedecktes Kornfeld. Im Juni ist
das Gras verdorrt, und die Blumen sind abgefallen, dem biblischen
Dichter ein Bild der Vergänglichkeit. Erst die Oktoberregen bringen
dem verschmachteten Lande neue Frische und Erquickung. Heimkehrende
Herden von Kühen, Schafen und Ziegen, Araber zu Roß und Esel,
allesamt bewaffnet, zogen an uns vorüber. Nahe an der Ostgrenze
der Ebene erreichten wir ein armenisches Kloster, dessen Prior, ein
fast achtzigjähriger Greis mit weißem Barte, die Hand auf Brust und
Stirn legend, uns gastfreundlich begrüßte und uns mit Brot, Käse,
Zwiebeln und mit einem Kruge vortrefflichen Bethlehemweines be-
wirten ließ. Hier übernachteten wir.
Am Morgen führte uns der Weg noch eine Zeitlang an Gersten-
feldern vorüber. Nur selten zeigte sich ein Dorf von düsterem An-
sehen. Die Häuser sind größtenteils aus übereinander gelegten Steinen
Zusammengesetzt, mit Lehm und Dornen bedeckt. Jetzt erhob sich vor
270
uns das Gebirge von Juda; ein drei Stunden langes, sanft aufsteigendes
Thal führt feinen unwegsamen Höhen entgegen. Zu beiden Seiten
erheben sich Berge, die oft bis oben hin mit Feigen- und Oliven-
bäumen besetzt sind. Eigentümliche Vögel im buntesten Farbenschmucke
und neben ihnen unsere Steinschmätzer, Stieglitze und Schwarzdrosseln
erfüllen dieses Paradies mit ihrem Gesänge. Die Berge steigen immer
höher, die Schluchten werden tiefer, die Wege ungangbarer. Auf dem
Kamme des Gebirges schaut man zurück auf die saronische Ebene
und das Mittelmeer. Jenseits hinab kommt man durch das tiefe
und enge Terebinthenthal, wo David den Goliath lötete. Der Weg
geht aufs neue steil hinan, und die Gegend wird immer öder. Im
Osten tritt am Horizont eine fernes Gebirge hervor, die moabitische
Felsenlinie jenseit des Jordans und des toten Meeres. Näher zeigt
sich ein mit Ölbäumen begrünter Hügel mit einem Minaret auf
seinem Gipfel — es ist der Ölberg. Dem Wanderer klopft das
Herz vor Sehnsucht und Erwartung, er beeilt den Schritt seines
Tieres; in ihm klingt's:
„Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
wollt' Gott, ich wär' in dir!."
Noch eine felsige Hochfläche ist zu ersteigen, und vor den suchenden
Blicken liegt — Jerusalem. Von kahlen Bergen und dürren Thälern
umgeben, streckt es sich einsam über eine behügelte Hochfläche und
bietet von der Westseite her fast nur den einförmigen Anblick der hohen,
mit viereckigen Türmen besetzten Mauern. Wie in eine trostlose
Gebirgswüste ist die Tochter Zion hingeworfen. Keine Herde wandelt
auf dem Rücken dieser Berge, kein Wald noch Gebüsch begrünt diese
Abhänge, kein Wasser durchrieselt die durstigen Thäler. Und doch ist
das Gemüt beim Anblicke dieser Stadt und Gegend von Rührung,
Dank und Anbetung aufs tiefste ergriffen. „Unsere Füße stehen in
deinen Thoren, Jerusalem!"
Unser erster Gang war durch die sogenannte Pilgerstraße nach
der Kirche des heiligen Grabes, einem weitläufigen, vielfach zusammen-
gesetzten Gebäude. Ani Haupteingange schiebt sich ein starker, aber
halb abgebrochener Glockenturm empor. Beim Eintritte durch das schöne,
zur Hälfte vermauerte Doppelportal sieht man in der Vorhalle auf
einer kleinen Erhöhung die türkische Wache behaglich auf Posten sitzen,
Kaffee trinken und aus langen Pfeifen rauchen. Geradeaus fällt der
Blick auf eine weißmarmorne Fußplatte, welche den Ort bezeichnen
soll, wo der Leichnam Christi gesalbt ward. Zur Rechten dieser Vor-
halle erheben sich die Kapellen, welche den Hügel von Golgatha um-
271
schließen, in dessen Innern sich eine Grotte mit den Gräbern Gottfrieds
von Bouillon und seines Bruders befindet. Der mittlere Teil der
Gesamtkirche, das sogenannte Chor der Griechen, ist der ansehnlichste
und zugleich am prächtigsten geschmückte Raum. Drei Gitterthüren
führen von da in die eigentliche Kirche des heiligen Grabes. Zwei
Säulengänge, der eine über dem andern, laufen längs ihrer runden
Wände. Über ihnen wölbt sich eine majestätische Kuppel, durch deren
Öffnung das Tageslicht prächtig hereinströmt. Senkrecht darunter
steht, wie eine kleine Kirche in einer großen, das heilige Grab, von
weißem Marmor aufgeführt. Im Innern enthält es zwei in den
Kreidefelsen gehauene, aber gleichfalls mit Marmor überkleidete Ge-
mächer. Durch die Eingangspforte, vor welcher vier hohe silberne
Leuchter mit armdicken brennenden Wachskerzen stehen, gelangt man
zuerst in ein kleines Gemach, die Engelskapelle. Aus dieser tritt man
tief gebückt durch ein enges Pförtchen in die eigentliche Grabkammer,
deren größere Hälfte der Altar einnimmt, welcher den Felsensarg des
Herrn bedeckt. Viele kleine Nischen umgeben den Altar, geschmückt
mit goldenen und silbernen Leuchtern und Gefäßen. Viele Lampen —
Geschenke von Päpsten, Kaisern und Königen — erleuchten die Grotte
Tag und Nacht. Die Luft ist erfüllt vom Dufte des Weihrauchs, der
hier reichlich angezündet wird. Alles ist still. Niemand wagt, ein
lautes Wort zu sprechen.
Wir durchschritten das nach dem Blutzeugen Stephanus benannte
Thor, und vor uns lag das tiefgeschluchtete Thal Josaphat und gegen-
über der Ölberg. Wir gingen den steilen Fußpfad hinab und über
die Brücke des im Sommer wasserleeren Kidron. Jenseits stehen wir
an einem ummauerten Gartenraume. Wir klopfen an die kleine Pforte,
und wir sind in Gethsemane. Es ist ein viereckiger Platz, mit vielen
Blumenbeeten und acht zerstreut stehenden, uralten Olivenbäumen ge-
schmückt. Eine feierliche Stille umgab uns. Kein Geräusch der Stadt
drang zu unseren Ohren. Ein junger Franziskanermönch saß in einer Ecke
des Gartens und betete leise aus einem Buche. Unwillkürlich trat mir
das Bild des Erlösers vor die Seele, wie er hier trauerte und zagte.
Wir stiegen den Ölberg hinauf. Drei Gipfel liegen nebeneinander,
von denen der mittlere vorzugsweise der Ölberg genannt wird. An
die vielen und trefflichen Ölbäume, welche diesem Höhenzuge den
Namen gaben, erinnern nur noch etwa fünfzig Stämme, welche sich
wie eine irrende Herde über ihn hin zerstreuen. Hier und dort liegt
ein Stück Getreidefeld, stehen vereinzelte Mandel- und Feigenbäume.
Nur in der Regenzeit gewinnt der Berg ein lachendes, erfreuendes
272
Ansehen. Auf dem mittleren Gipfel liegen die Ruinen der Himmel-
fahrtskapelle, in deren Hof ein kleines, rundes Gebäude mit einer
Gebetsnische steht. Vor dieser liegt ein Stein, auf welchem eine
Vertiefung die letzte Spur bezeichnen soll, welche der Herr bei seiner
Auffahrt zurückgelassen.
Zu unseren Füßen lag Jerusalem, leuchtend im Sonnenglanze.
Die Kuppeln der Kirchen und Klöster, die Minarets der Moscheen
ragen empor über das Gewirre der meist gleichförmigen und unansehn-
lichen Häuser mit teils gewölbten, teils platten Dächern. Auf dem
Hügel Akra fallen die Kuppeln der Kirche des heiligen Grabes in die
Augen, weiter zur Linken der langgestreckte Rücken des Berges Zion.
In scharfen Umrissen zeichnet sich die Burg Davids am westlichen
Himmel ab, und nahe dabei leuchtet eine kleine, anmutige evangelische
Kirche. Noch weiter südwärts dehnt sich das große armenische Kloster
bis nahe an die südliche Stadtmauer aus. Außerhalb des Zions-
thores setzt sich die Höhe des Zion noch eine ziemliche Strecke fort
und zeigt auf ihrem wüsten, unbebauten Rücken eine kleine Moschee,
bis sie sich steil in das Thal Hinnom hinabsenkt. In dieses Thal
mündet von der Westseite der Stadt das Gihonthal und von der Ost-
seite her das Thal Josaphat. Jenseit der letztgenannten Schlucht erhebt
sich der berühmte Hügel Moriah, auf dem einst Salomos Tempel
prangte, jetzt aber die Omars-Moschee mit ihrer mächtigen Kuppel.
Über die Hochfläche hinaus schweifte der Blick auf die samaritischen
Berge. Im Westen lagerte sich das Gebirge von Juda, über welches
die Pilgerstraße von Jaffa nach Jerusalem uns geführt hatte. Im
Süden hoben sich aus derselben Bergkette die Hügel der lieblichen
Umgegend von Bethlehem. Im Osten zeichnete der Jordan mit seinen
buschigen Ufern ein grünes Band auf dem weißlichen Wüstengrunde.
Zwischen Hügeln hindurch konnten wir auch hier und da den azur-
blauen Spiegel des toten Meeres sehen und jenseit desselben die steile
Felsenwand der moabitischen Gebirge. Die ganze Landschaft, voll der
heiligsten Erinnerungen, machte auf uns einen unbeschreiblichen Ein-
druck und erschien uns fast wie eine Zauberwelt. Friedrich August segelt.
145. Bethlehem.
Zwei Stunden südwärts von Jerusalem liegt Bethlehem. Beth-
lehem, d. h. Brothaus, oder auch Ephrata, die Fruchtbare, ward dieser
Flecken genannt und trägt diesen Namen mit vollem Rechte. Auf
einem mäßigen Bergrücken terrassenförmig emporsteigend, blickt er
über zwei anmutige, fleißig angebaute Thäler. An ihren Abhängen
273
wächst der Weinstock; Mandel-, Öl- und Feigenbäume überkleiden die
Hügel, und zwischen nackten Felsen schimmern goldene Saatfelder und
grüne, reizende Gründe. Neben der Verödung Jerusalems blüht
dieses Fruchtgelände noch in seiner ersten Schöne, wie in jenen
Tagen, als David der Bethlehemite sang: „Die Meßschnur fiel mir
auf liebliches Gefild, mir ist ein schönes Erbteil geworden." Noch
tragen jährlich jene Felder, auf welchen Ruth, die liebliche Ähren-
leserin, einherging, ihre Ernten; noch grünen jene stillen Wiesengründe,
wo der jüngste Knabe Jsais auf seine ersten Psalmen sann, und
wohlgenährte Herden steigen an denselben Abhängen noch auf und
nieder, wo jenen frommen Hirten die frohe Kunde kam, daß nun er-
füllet sei, was durch den Propheten Micha gesagt ist: „Und du, Beth-
lehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus
dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, welches Ausgang
von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist."
Das jetzige Bethlehem ist fast ausschließlich von Christen bewohnt,
ihrer Zahl nach etwa siebentausend. Sie gehen wohlgekleidet; denn
fleißiger Landbau und betriebsamer Handel mit künstlichen Hand-
arbeiten in Perlmutter und Olivenholz, als Kruzifixen, Rosenkränzen u.s.w.,
nähren den Wohlstand; sie tragen Waffen und treten kühn auf. Ihre
kleinen Häuser sind von Steinen gut gebaut, und feste Mauern schützen
das Städtchen gegen die Einfälle der Beduinen. Zweihundert Schritt
davon ostwärts steht auf einem zweiten Hügel gleich einer stattlichen
Burg das Franziskanerkloster mit der prachtvollen Marienkirche.
Unter dem Hochaltare befindet sich eine von Lampen erhellte, mit
Marmor ausgelegte Felsenhöhle von vierzig Fuß, welche als die Ge-
burtsstätte Christi von den Pilgern besonders zur Weihnachtszeit zahl-
reich besucht wird. Ferdinand Bäßler.
146. Mahnung
Die Jahre fliehen
in raschem Lauf,
und all dein Mühen
hält sie nicht auf;
doch stets blüht wieder
ein neuer Mai,
und Lust und Lieder
bringt er herbei.
Auch du sollst nimmer
hier stille stehn;
froh wirken immer
heistt vorwärts gehn.
Wenn all dein Sinnen
ist rein und treu,
blüht dir tiefinnen
ein ew'ger Mai.
Kippenberg, A 5 (N. A.).
Johanne Roch.
18
Anhang.
Ia. Anfänge der Gedichte und Lieder
in alphabetischer Anordnung.
(Die mit einem f bezeichneten Volkslieder und volkstümlichen Lieder gehören dem
nachstehenden Lied er-Kanon, die mit einem * bezeichneten Gedichte dem
Gedicht-Kanon an.)
A. Nr.
Als noch, verkannt und sehr gering 43
Mm Brunnen vor dem Thore . 8
Am grauen Strand, am grauen 134
Am Himmel Abendsonnenglut . 101
An den Rhein, an den Rhein . 129
Aus der Burg zu Germersheim . 85
Auf des Berges höchster Spitze . 118
Auf, kommt in die Felder und bl. A. 114
B.
Beim Totengräber pocht es an . 7
Bist du die goldne Ähre nicht . 116
D.
Das Wetter zieht hernieder . . 11
Der Morgen frisch, die Winde gut 21
Der Reiter reitet durchs helle Th. 75
*Der Tauwind kam vom Mittagsm. 36
^Deutschland, Deutschland über alles 104
Die besten seiner Helden ... 69
Die Heere blieben am Rheine stehn 96
Die Jahre fliehen in raschem Lauf 146
Die Mitternacht zog näher schon 77
Die Nacht ist nun vergangen . 13
Die Thadener zu Hanerau . . 54
Durch die blaue Lust, über Gr. 122
E.
Ein Bär, der lange Zeit sein Br. 50
Ein Hänfling, den der erste Flug 48
Ein Schifflein ziehet leise ... 22
*Ein Wanderbursch mit dem Stab 4
Eine Hausmaus, die ging über F. 53
*Er stand auf seines Daches Z. 62
Erschlagen lag mit seinem Heer. 80
Nr.
Erwacht, erwacht! Schon dampft 130
Es rauscht daheim im Tannenw. 83
Es regt auf dem reifenden K. . 115
Es wird schon dunkel draußen . 19
F.
Freuet euch der schönen Erde . 105
Froh sah ich dich aufblühn . . 65
G.
Gebt Raum, ihr Völker, unserm S. 8l
Gemächlich in der Werkstatt saß. 41
Gottes Pracht am Himmelsbogen 107
chGuten Abend, gute Nacht... 20
H.
Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm 91
„Herr Löwe," sprach der Fuchs . 49
Horch, die Neujahrsglocken kl. . 30
I.
Ich kenne einen guten König . 31
Ich war ein kleiner Knabe, stand 25
Im Feld der König Salomon . 44
K.
Kertnst du das Bild auf zartem Gr. l 26*
^Kennst du das Land, wo die C. 140
L.
Laß Liebe walten in deinem K.
(Eingangsspruch S. 9.) —
M.
Markt und Straßen stehn verl. 29
Meister Oluf, der Schmid von H. 67
275
\
Nr.
Mitten in des Weltmeers wild. W. 24
-(-Morgenrot, leuchtest mir zum . 95
N.
^Nächtlich am Busento lispeln. . 78
Normannenherzog Wilhelm sprach 72
Nun werden grün die Bromb. . 132
£>.
O seht, auf leisen Flügeln . . 109
Ob prächtig scheint mit Turm . 1
P.
^Preisend mit viel schönen Reden 86
S.
Schaut hier den Stamm, den alten 120
Siehst du die Brigg dort auf den 23
-f-Spinn, Mägdlein, spinn! . . . 34
Sprich, liebes Herz, in deines T. 16
(Sprüche)..........................55
Stille herrscht im großen Bauernh. 110
-(-Stimmt an mit Hellem, hohem Kl. 127
T.
Tiefe Stille herrscht im Wasser . 135
Traute Heimat meiner Lieben . 3
U.
Unter allen Schlangen ist eine. 126*
*Urahne, Großmutter, Mutter u. K. 9
V.
Von Perlen baut sich eine Brücke
W.
War einst ein Glockengießer . „
Was die Schickung schickt, ertrage
*Was steht der nord'schen Fechter
Schar........................
Was willst du, Fernando, so trüb
Wenn der Frühling auf die B.
fWer hat dich, du schöner Wald .
-j-Wer recht in Freuden wandern w.
*Wer reitet so spät durch Nacht .
Wer schauen und erfahren will .
Wie heißt das Ding, das wenige
Wie könnt ich dein vergessen. .
Willkommen, Tirolerherzen, die ihr
Wo blühen die Blumen so schön
-j-Wohlauf! noch getrunken den f.
"Wüstenkönig ist der Löwe . . .
3.
*Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Zu Limburg auf der Feste . .
Zum Abt Makarius wohlbetagt
Nr.
126*
40
76
70
88
113
119
112
68
108
1262
103
89
123
137
125
63
74
38
Ib. Lieder-Lanon.
Für Klasse 4 (3. Mittelklasse) der höheren Mädchenschulen
aus Teil V zusammengestellt.
Zur Aufstellung eines „Kanons der Volkslieder, mit Einschluß der vater-
ländischen und der durch ihre Weisen volkstümlich gewordenen Kinderlieder," welchen
die ministeriellen Bestimmungen vom 31. Mai 1894 „nach Klassen ge-
ordnet" „für jede Schule" fordern, werden — als Fortsetzung der für die vorhergehenden
Klassen der höheren Mädchenschulen aus Teil I—IV getroffenen Auswahl von
Liedern — aus Teil V für die Klasse 4 (3. Mittelklasse) die nachstehenden
empfohlen. Während „in den drei unteren Klassen Gesangunterricht nicht in
besonderen Stunden erteilt wird und daher die Lieder im deutschen Unterrichte
zu besprechen und zu lernen" und „im Anschluß an den d e u t s ch e n U n t e rr i ch t und
an den T u r n u n t e r r i ch t nach dem Gehör zu s i n g e n sind," tritt auf der Mittelstufe
der Gesangunterricht als selbständiges Unterrichtsfach auf. Von Klasse 6 an fällt
demnach auch die Einübung der Melodiken ausschließlich bem Gesangunterrichte
276
zu, „bei der Erklärung und Einübung der Texte der ausgewählten Volkslieder,
die vorzugsweise für den Gesang in Betracht kommen, hat aber der deutsche
Unterricht mitzuwirken." Die Lieder sollen nicht nur soviel als möglich zur Be-
lebung des Unterrichts dienen, sondern auch „nach Wort und Weise wert sein,
ein Lebensgut der Schülerin zu werden," damit „das dichterische Gut, das im
Volksliede ruht," gehiitet werde und „der gemeinsame Haus- und Familiengesang
wieder zu Ehren komme". Die in einer Klasse eingeübten Kanonlieder werden
im Unterrichte der beiden darauf folgenden Klassen verwertet „bis zum sichern
Besitz von Wort und Weise"; daher werden in Klasse 4 auch die für Klasse 5 u. 6
bestimmten Volkslieder wiederholt.
Klasse 6.
Aus Teil III.
Viertel- jahr. Deutsch: Nr. Turnen: Nr.
I. 1. Goldne Abendsonne, wie bist 2. Üb immer Treu und Redlich-
du so schön. Vollst. Lied. 21 keit. Chr. L. Höltp . . . 12
II. 3. Sah ein Knab' ein Röslein 4. Das Wandern ist des Müllers
stehn. I. W. v. Goethe. 112 Lust. W. Müller . . . . 117
III. 5. So leb denn wohl, du stilles 7. Es gingen drei Jäger wohl auf
Haus. Volkslied . . . 150 die Birsch. L. Uhland . . 123
6. Stille Nacht, heilige Nacht. I. Mohr 44
IV. 8. Wer ist der greise Sieges- 10. Jung Siegfried war ein stolzer
held. Hoffmann v. F. . 83 Knab'. L. Uhland.... 55
9. Schlaf, Herzenssöhnchen. 11. Und die Sonne machte den
F. K. Hiemer .... 18 weiten Ritt. E. M. Arndt . 134
Klasse 5.
Aus Teil IV.
^jahrDeutsch: Nr. Turnen: Nr.
I. 1. Leise zieht durch mein Gemüt. 3. Der Mai ist gekommen.
H. Heine 106 E. Geibel 118
2. Morgen müssen wir ver- 4. Wem Gott will rechte Gunst
reisen. Hoffmann v. F. . 10 erweisen. I. v. Eichendorff 119
II. 5. Dort unten in der Mühle. 6. Nun ade, du mein lieb Heimat-
Justinus Kerner . . . 24 land. A. Disselhof . . . 149
III. 7. Ich weiß nicht, was soll es 8. Herr Heinrich sitzt am Vogel-
bedeuten. H. Heine . . 78 Herd. I. N. Vogl .... 88
IV. 9. O Straßburg, o Straßburg. 10. Was blasen die Trompeten?
Volkslied aus „Des Knaben E. M. Arndt 100
Wunderhorn" 139
277
Klasse 4.
Aus Teil V.
Deutsch: Nr. Turnen: Nr.
I. 1. Guten Abend, gute Nacht. Volkslied aus „Des Knaben Wunderhorn" 20 2. Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod. W. Hauff. 95 3. Wer hat dich, du schöner Wald. I. von Eichendorff .... 119 4. Wer recht in Freuden lvandern will. E. Geibel 112
II. 5. Wohlauf! noch getrunken. I. Kerner 137 6. Stimmt an mit hellem, hohem Klang. M. Claudius ... 127
III. 7. Am Brunnen vor dem Thore. W. Müller. . . 8 8. Spinn, Mägdlein, spinn! Des Knaben Wunderhorn . 34
IV. 9. Deutschland, Deutschland über alles. Hoffmann v. F. 104 10. Preisend mit viel schönen Reden. I. Kerner 86
Ic. Gedicht-Lanon.
Für Klasse 4 (3. Mittelklasse) der höheren Mädchenschulen
aus Teil V zur Auswahl empfohlen.
Nach den M aibestim mun gen von 1894 ist „für jede Schule" auch „ein
Kanon der auf der Mittel- und Oberstufe zu lernenden Gedichte" aufzustellen,
„welcher sich auf eine mäßige Anzahl der besten Stücke beschränken soll, die
wert sind, ein Teil des geistigen Lebensgutes der Schülerin zu werden." „Die ge-
wählten Gedichte dürfen bcm weiblichen Anschauungs- und Empsindnngskreise nicht fern-
liegen und der gedächtnismäßigen Aneignung nicht allzugroße Schwierigkeiten bieten."
Da nicht in allen höheren Mädchenschulen eine besondere „Sammlung*) von mäßigem
Umfange" benutzt wird, so werden hier aus dem „deutschen Lesebuche" Teil V
für Klasse 4 (3. Mittelstufe) folgende Gedichte als Auswahl „zur Erlernung und
zum sinnvollen Vortrage" empfohlen. „Kurze Notizen aus dein Lebensgange
der Verfasser" finden sich im Schriftsteller-Verzeichnisse.
1. Das Erkennen . Joh. Nepomuk Bogl. Nr. 4.
2. Das Gewitter . Gustav Schwab. „ 9.
3. Das Lied vom braven Mann . . Gottfr. Aug. Bürger. „ 36.
4. Der Ring des Polykrates . . . Friedrich von Schiller. „ 62.
5. Die Bürgschaft . Friedrich von Schiller. „ 63.
6. Erlkönig . Joh. Wvlfg. v. Goethe. „ 68.
7. Der blinde König . Ludwig Uhland. „ 70.
8. Das Grab im Busento . . . . August von Platen. „ 78.
9. Löwenritt . Ferdinand Freiligrath. „ 125.
10. Mignon . Joh. Wolfg. v. Goethe 140.
*) Vergleiche: Deutsche Gedichte für die Mittel- und Oberstufe höherer
Mädchenschulen. Ausgewählt von I. Kippenberg. (Gebunden 1 J6.) —
Größere Ausgabe (Geb. 1 Ji. 60 A).
— -----------
II. Inhaltsverzeichnis B.
(Einteilung nach den Gattungen der poetischen und prosaischen Darstellung.)
I. Woeste.
A. Lyrische Dichtungen.
Nr. Nr.
1. Lieder religiösen Inhaltes. 10. 11. Spinnerlied. Wunderhorn . Wanderlied. Dieffenbach . . 34 108
1. Morgengebet. Arndt . . . 13 12. Frühling imGebirge.Bodenstedt. 113
2. Sonntagsmorgenlied im Früh- 13. Der blühende Flachs.
ling. Krummacher . . . 109 Krummacher 114
3. Morgenwanderung. Geibel . 112 14. Die Tanne. Freiligrath . . 118
4. Weihnachten. Eichendorff . . 29 15. Der einsame Baum. Lohmeyer. 120
5. Die SchvnheitderNatur. Spitta. 105 16. Der Jäger Abschied. Eichendorff. 119
6. Den Blick empor. Mahlmann. 107 17. Gesang des Vogels über dem
7. Der Regenbogen. Gerok . . 11 Wald. Deinhardstein . . 122
8. Das Ährenfeld. Hammer. . 115 18. Mignon. Goethe 140
2. Weltliche Lieder. 19. Meeresstille und glücklicheFahrt.
Goethe 135
1. Zum neuen Jahre. Lohmeyer. 30 20. Die Stadt am Meere. Storm. 134
2. Abends. Güll 19 21. Wanderlied. Kerner . . . 137
3. GuteNacht,m.Kind!Wunderhorn. 20 22. Bergfahrt. Lohmeyer . . . 130
4. Das Vaterhaus. Braun . . 1 23. Warnung vor d.Rhein. Simrock. 129
5. In der Heimat. Sturm . . 123 24. Der kleine Hydriot. Müller . 25
6. Lied eines Landmannes in der 25. Reiters Morgengesang. Hauff. 95
Fremde. Salis .... 3 26. Mein Lieben. Hoffmann v. F. 103
7. Der Lindenbaum. Müller 8 27. Das Lied der Deutschen.
8. Seemorgen. Lenau.... 21 Hoffmann v. F 104
9. Das Schifflein. Uhland . . 22 28. Deutsches Weihelied. Claudius. 127
B. Epische Dichtungen.
Nr. Nr.
1. Poetische Erzählungen. 6. Fehrbellin. Minding . . . 91
1. Das Erkennen. Vogl . . . 2. Ein Friedhofsgang. Vogl 4 7 7. Blücher am Rhein. Kopisch . 96
3. Das Gewitter. Schwab . . 9 8. Der letzte Brief. Hofmann . 101
4. Der Lotse. Giesebrecht. . . 23 9. Das alte Mütterlein. Nicol. 110
5. Das grüne Tier und der Natur- 10. Aus dem schlesischen Gebirge.
kenner. Kopisch .... 54 Freiligrath 132
279
Nr.
2. Sagen und Balladen.
1. Das Lied vom braven Mann.
Bürger........................36
2. Der Glockenguß zu Breslau.
Müller.........................40
3. Die Sonne bringt es an den
Tag. Chamisso .... 41
4. Der Ring des Polykrates.
Schiller ....... 62
5. Die Bürgschaft. Schiller . . 63
6. Lied der Walküre. Dahn. . 65
7. Der Schmied von Helgoland.
Volksballade..................67
8. Erlkönig. Goethe .... 68
9. Die Gründung Frankfurts.
Kopisch.......................69
10. Der blinde König. Uhland . 70
11. Taillefer. Uhland .... 72
12. Der Schenk von Limburg.
Uhland........................74
13. Der Reiter und der Bodensee.
Schwab........................75
14. Belsazer. Heine..................77
15. Das Grab im Bnsento. Platen. 78
16. Gotentreue. Dahn .... 80
17. GoteNzug. Dahn .... 81
18. König Konrad der Junge.
Stieler 83
19. König Rudolfs Ritt zum Grabe.
Kerner........................85
Nr.
20. Der reichste Fürst. Kerner . 86
21. Kolumbus. Brachmann . . 88
22. Die Martinswand. Grün. . 89
23. Löivenritt. Freiligrath . . 125
3. Legenden.
1. Der Schiffbruch. Herder . . 24
2. Der fromme Makarius. Rochlitz. 38
3. Das Hufeisen. Goethe... 43
4. Die wiedergefundenen Söhne.
Herder...................76
4. Parabeln und Fabeln.
1. Der gute König. Lohmeyer . 31
2. Parabel. Rückert .... 44
3. Der Hänfling. Lichtwer . . 48
4. Der Löwe und der Fuchs. Gleim. 49
5. Der Tanzbär. Gellert . . 50
6. Fabel vou den zwei Mäusen.
Hans Sachs...............53
5. Didaktisches.
1. Eingangsspruch. Koch (S. 9) 2. Für die sieben Tage. Rückert. 16
3. Sprüche 55
4. Spruch. Wildermuth . . . 116
5. Mahnung. Koch..... 146
6. Rätsel.
Rätsel. Schiller 126
II. Wrofa.
A. Schöne Litteratur.
1. Erzählungen.
1. Ein Hausspruch. Kippenberg.
2. Der kleine Tambour. Ewald.
3. Ein unverhofftes Wiedersehen.
Hebel.....................
4. Der Gotteskasten. Krummacher.
5. Der Savoyarde und der Erz-
bischof. Horn.............
6. Wie schön leuchtet der Morgen-
stern. Heinrich .... 17
Nr.
7. Das Geburtstagsgeschenk.
Reinick.....................26
8. DerkleineFriedensbote. Stöber. 27
9. Der liebe Gott geht durch den
Wald. Rosegger.... 28
10. Das Haus Gruit van Steen.
Barth.......................32
11. Barbara Uttmann. Neumann-
Strela......................33
12. Meister Hämmerlein. Schlez. 35
Nr.
2
5j
12
14
15
280
Nr. ,
Nr.
13. Herzog Leopold von Braun-
schweig. Ewald .... 37
14. Die ewige Bürde. Palmblätter. 39
2. Briefe.
1. Brief Bismarcks an seine Frau. 98
2. Brief Moltkes aus Versailles. 102
3. Parabeln und Fabeln.
1. Drei Freunde. Herder . . 6
2. Alles zum Guten. Herder. . 18
3. Die drei Hausräte. Caspari. 42
4. Zeus und das Pferd. Lessing. 45
5. Der Esel mit d. Löwen. Lessing. 46
6. Der Rabe u. der Fuchs. Lessing. 47
7. Vom Kranich und Wolf. Luther. 51
8. Vom Frosch u.d. Maus. Luther. 52
4. Sagen.
1. Prometheus. Schwab ... 56
2. Herakles. Schwab .... 57
3. Niobe. Schwab-..................58
4. Hektor u. Andromache. Schwab. 59
5. Hektars Tod. Becker ... 60
6. Priamus bei Achilles. Becker. 61
7. Die Götter der Germanen.
Dahn und Weber ... 64
8. Die altgermanischen Jahresfeste.
Albers.......................66
9. Lohengrin. Richter .... 71
10. Der Sängerkrieg auf der Wart-
burg. Bäßler .... 73
5. Märchen.
1. Das Totenhemdchen. Grimm. 10
2. Der Ursprung des Himmel-
schlüsselchens. Enderes. . 111
8 Wissenschaftliche Litteratur.
Nr.
1. Geschichtliche Begebenheiten
und Charakterzüge.
1. Germanische Gastfreundschaft.
Weinhold......................79
2. Konrad ins Tod. Raumer . 82
3. Die Ritterburgen. Löher . . 84
4. Die Erfindung der Buchdrucker-
kunst. Weiter .... 87
5. Das Freischießen in Straßburg
u. d. glückh. Schiff. Köppen. 90
6. D.Schlachtb.Roßbach.Schräder. 92
7. Prinzessin Luise bei Frau Rat.
Horn...........................93
8. Arndts Rückkehr in die Heimat
1809. Arndt .... 94
9. König Wilhelms Ankunft in
Berlin (15.7.1870).Schmidt. 97
10. Bismarck in Sedan. Rogge . 99
11. Weihnachten in Feindesland.
Hottinger.....................100
Nr.
2. Land und Volk.
1. Eine Nheinfahrt. Kollbach . 128
2. Das Riesengebirge. Sach . 131
3. Ein Tag auf dem Marschhose.
Allmers ....................133
4. Heimkehr. Woermann . . . 136
5. Die Pußten Ungarns. Dux. 138
6. Kanäle und Böte in Holland.
Grube.......................139
7. Ausbruch des Vesuv. Bogumil 141
8. Wiuterreise inNorrland.Taylor. 142
9. Aus der heißen Zone. Hers . 143
10. Jerusalem und Umgegend.
Berthelt....................144
11. Bethlehem. Bäßler .... 145
3. Naturkunde.
1. DerSternenhimmel.Kippenberg. 106
2. Deutschlands Nadelhölzer. „ 117
3. Sprechende Vögel. Müller . 121
4. Der Löwe. Bröhm .... 124
in. Schriftsteller-Verzeichnis.
Im nachstehenden Verzeichnisse sind in alphabetischer Anordnung sämtliche
Schriftsteller sowie alle Lesestücke des V. Teiles aufgeführt. Die Namen der-
jenigen Verfasser, welche sowohl in den vorhergehenden Teilen als auch hier
mit einer reicheren Auswahl von Lesestoff vertreten sind, sind unterstrichen. Die
kurzen Lebens- und Charakterzüge, durch welche unter der sorgsamen und ergänzenden
Leitung des Lehrers die Kinder in den früheren Klassen schon in eine nähere persönliche
Beziehung zu den Verfassern treten sollten, sind, soweit es geeignet erschien, erweitert
worden. Da nach den ministeriellen Bestimmungen „der litteraturkundliche
Unterricht der höheren Mädchenschule sich im wesentlichen an das halten soll, was-
während der ganzen Schulzeit erworben ist," so müssen im deutschen Unter-
richte schon in den Unter- und Mittelklassen den Schülerinnen solche Gesichts-
punkte nahegelegt werden, aus denen sich — wenn möglich — „durch die Anschauung
in der Lektüre" ein von Klasse zu Klasse mehr zu ergänzendes und zu er-
weiterndes Lebensbild unserer wichtigsten Dichter und Denker gewinnen läßt.
Es wird für fleißige Schülerinnen eine Freude sein, und sie werden zugleich
gern eine Pflicht der Dankbarkeit erfüllen, wenn sie einiges aus dem Lebens-
gange der Männer und Frauen kennen lernen, die ihnen für das Lesebuch so viel
Schönes und Gutes zu lesen, zu lernen und zu singen geschaffen haben. Möchte
es durch diesen in einem Lesebuche für höhere Mädchenschulen zuerst dargebotenen
Versuch gelingen, den „vaterländischen Sinn" der Schülerinnen zu beleben,
„vergangene Zeiten und Menschen lebendig zu gestalten, eine verständnisvolle
Liebe zu Worten und Werken unserer Muttersprache und einen bleibenden Anteil
an großen Deutschen und an ihrem Wirken zu wecken."
Albers, Johann Hermann.
66. Die altgermanischen Jahresfeste.
Allmers, Hermann, lebt als Vogt und
Gemeindevorstand in seinem Heimat-
orte Rechtenfleth bei Bremen. Auf
Wunsch seiner Mutter widmete er sich
der Landwirtschaft, unternahm aber,
um sich eine höhere Bildung anzu-
eignen, Reisen durch Deutschland, die
Schweiz und Italien. Er schildert uns
in frischen Zügen das Leben und
Treiben und die eigenartigen Verhält-
nisse der Marschgegenden. (Vergl. Teil
IH, Nr. 154: Kommt in die Marsch!!
und Teil IV, Nr. 145: Deiche und
Fluten an der Nordseeküste sowie Nr.
146: Wassersnot.)
133. Ein Tag auf dem Marschhofe.
Arndt, Crnst Moritz, geboren zu
Schoritz auf der Insel Rügen, verlebte |
mit seinen 5 Geschwistern eine glückliche
Jugendzeit auf des Vaters Gutshofe.
Die Erinnerung an die lustigen
Tummelplätze in Gärten und Wiesen
erweckte in ihm die Liebe zur
Natur, welche in vielen seiner Lieder
ihren Ausdruck gefunden hat. (Vergl.
Teil I, Nr. 27b: Juchhei! Blümelein,
u. Teil III, Nr. 134: Von den Stern-
lein.) — Da auf der Insel eine Schule
nicht vorhanden war, so unterrichteten
die Eltern ihre Kinder selbst. Der
strenge Vater lehrte Schreiben und
Rechnen, während die gemütvolle und
fromme Mutter das Lesen übte und durch
fleißiges Erzählen von Märchen und
Geschichten den Sinn der Kinder auf
alles Gute, Schöne und Wahre zu
lenken verstand (vergl. Teil III, Nr. 6:
Drei Blümlein) und hierdurch auch
Die mit einem * versehenen Lesestücke sind Gedichte.
den Grund zu Arndts tiefer Frömmig-
keit (Nr. 13) legte (vgl. Teil II, Nr. 132:
Gebet d. Kindes a. d. hl. Christ). —
Als zu Anfang dieses Jahrhunderts
die Zeiten der Schmach und Bedrückung
über unser Vaterland hereinbrachen,
erwachte Arndts echt deutscher Sinn,
und er erweckte durch seine feurigen
„Kriegs -undWehrlieder (vergl.
Teil IV, Nr. 100: Das Lied vom Feld-
marschall) begeisterte Vaterlandsliebe in
den Herzen der deutschen Männer. Zu-
gleich zog er durch dieselben und durch
seine Schrift: „Von: Geist der Zeit" den
heftigsten Zorn Napoleons auf sich,
sodaß er seine Stellung als Professor
an der Universität zu Greifstvald auf-
geben und nach Schweden fliehen mußte,
wo er einige Jahre unter dem Schutze
des Königs Gustav Adolf IV. blieb.
Seine Rückkehr in die Heimat schildert
er selbst in Nr. 94.
*13. Morgengebet.
*55. Sprüche Nr. 1 u. 2.
94. Arndts Rückkehr i. d. Heimat 1809.
Barth, Karl.
32. Das Haus Gruit van Steen.
Bäßler, Ferdinand.
73. Der Sängerkrieg a. d. Wartburg.
145. Bethlehem.
Becker, Karl Friedrich.
60. Hektars Tod.
61. Priamus bei Achilles.
Berthelt, Friedrich August.
144. Jerusalem und Umgegend.
v. Bismarck, Otto.
98. Ein Brief Bismarcks an seine
Frau.
v. Bodenstedt, Friedrich.
*55. Spruch Nr. 3.
*113. Frühling im Gebirge.
Bogumil, Heinrich.
141. Der Ausbruch des Vesuv im
Jahre 1872.
Brachmann, Luise.
*88. Kolumbus.
Braun, Jsabella.
*1. Das Vaterhaus.
Brehm, Alfred Edmund, wurde von
seinem Vater, einem Pfarrer und
eifrigem Naturforscher im Thüringer-
lande , auf häufig unternommenen
Wanderungen angeleitet, die Natur
aufmerksam zu beobachten.
Seine Beobachtungen weiß er in
fesselnde Bilder zusammenzufassen, und
er schildert in anschaulichster Weise
nicht nur „das Leben der Vögel"
(vergl. Teil I, Nr. 145: Der Rabe
und Teil III, Nr. 125: Der Hühner-
habicht) und der „Tiere des Waldes"
(vergl. Teil I, Nr. 116: Was das
Häslein von sich selbst erzählt) und
der Gewässer (vergl. Teil II, Nr. 102:
Der Hecht) unserer deutschen Heimat,
sondern auch der fernen Länder
(Nr. 124). Nachdem er viele und
große Reisen sowohl nach dem heißen
Süden als auch nach dem kalten
Norden unternommen hatte, wurde er
Direktor des 'Zoologischen Gartens in
Hamburg, später naturwissenschaftlicher
Direktor des durch ihn geschaffenen
berühmten Aquariums in Berlin.
124. Der Löwe.
Bürger, Gottfried August, wurde
als der Sohn eines Geistlichen zu
Molmerswende am Harz geboren.
In seiner Jugendzeit zeigte er wenig
Trieb zum Lernen. Nachdem er an-
fangs in Halle Theologie und darauf
in Göttingen Rechtswissenschaft studiert
hatte, wurde er Justizamtmann zu
Altengleichen, später Universitätspro-
fessor zu Göttingen. Schon früh war
in ihm die Lust zum Dichten erwacht;
während seiner Studienzeit schloß er
sich dem „Hainbünde" au und dichtete
wertvolle Gedichte (vergl. Teil III,
Nr. 39: Die Schatzgräber), besonders
herrliche Balladen (Nr. 36).
*36. Das Lied voni braven Mann.
Caspari, Karl Heinrich.
42. Die drei Hausräte.
v. Chamissü, Adalbert.
*41. Die Sonne bringt es an den Tag.
283
Claudius, Matthias.
*127. Deutsches Weihelied.
Dahn, Felix.
64. Die Götter der Germanen.
*65. Lied der Walküre.
*80. Gotentreue.
*81. Gotenzug.
Deinhardstein, Johann Ludwig.
*122. Gesang des Vogels über d.Walde.
Dieffenbach,vr.tü6oI.GeorgChristian,
der Sohn eines Pfarrers, lebt als
Oberpfarrer und Kirchenrat in seiner
Heimatstadt Schlitz in Oberhessen, wo-
selbst er in seiner Kindheit gern „beim !
ersten Frühlingslaub durch Wald und
grünes Feld streifte" (Nr. 108). Er
weist in zahlreichen Kinderliedern (vergl.
Teil I) besonders gern auf die Natur
hin, oft in einer scherzhaften Weise,
indem er z. B. den Eintritt des Früh-
lings mit dem Einzuge eines Königs
(siehe Teil IV, Nr. 105), oder den Ge-
sang der Vögel im Walde mit einem
Konzerte (vergl. Teil III, Nr. 97),
oder das junge Stürmchen mit einem
übermütigen, wilden Knaben (siehe
Teil II, Nr. 113) vergleicht. Zugleich
erkennen wir in seinen sinnigen Lie-
dern sein tiefes, frommes Gemüt, und
er ermahnt auch uns, es den Blumen,
Bäumen und Vöglein gleichzuthun
und Gott mit frohem Sang in Feld
und Wald zu loben. (Vergl. Teil II,
Nr. 75: Gottes Lob in Wald und
Feld.) Die zahlreichen Sammlungen
seiner „Kinderlieder" und anderer
Schriften für die Kinder sind vielfach
mit schönen Bildern und Melodieen
ausgestattet.
*108. Wanderlied.
Dux, Alexander.
138. Die Pußten Ungarns.
v. Eichendorff, Joseph Benedikt.
*29. Weihnachten.
*119. Der Jäger Abschied.
v. Enderes, Aglaja.
111. Der Ursprung des Himmel-
schlüsselchcns.
Ewald, Johann Ludwig.
5. Der kleine Tambour.
37. Herzog Leopold v. Braunschweig.
Freiligrath, Ferdinand, wurde als
Sohn eines Bürgerschullehrers zu
Detmold geboren; er hatte sich in
der Jugend gegen seinen Willen
zum Kaufmann ausbilden müssen.
Seine Mußezeit benutzte er zum
Erlernen der neueren Sprachen, zu-
gleich suchte er die Schätze der Litteratur
kennen zu lernen. Durch die Dichter
v. Chamisso und Schwab wurde er
veranlaßt, dem Kaufmannsstande zu
entsagen und sich gänzlich der Dicht-
kunst zuzutuenden, er trat auch in
freundschaftlichen Verkehr mit Geibel
und Hoffinann von Fallersleben. Sein
Leben gestaltete sich sehr unstät, und
er wechselte seinen Aufenthalt nicht nur
in deutschen Städten häufiger, sondern
suchte auch fremde Länder auf und nahm
zweinral dailernden Aufenthalt in Eng-
land. Seine Dichtungen fesseln uns
durch außerordentliche Anschaulichkeit
und schildern uns Natur und Leben
aus der Heimat (Nr. 118) und aus
den fernsten Ländern (Nr. 162).
*118. Die Tanne.
*125. Löwenritt.
*132. Aus dem schlesischen Gebirge.
Geibel, Emanuel.
*112. Morgenwanderung.
Geliert, Christian Fürchtegott.
*50. Der Tanzbär.
v. Gerok, Karl, lebte als Oberkonsisto-
rialrat u. Oberhofprediger zu Stuttgart,
woselbst er mehr als 40 Jahre lang
wirkte und gleichhoch geehrt wurde als
G e i st l i ch e r wie als Verfasser religi-
öser (vergl. Teil IV, Nr. 16: Zum
neuen Jahre) und vaterländischer
Dichtungen. (Vergl. Teil III, Nr. 81:
Des deutschen Knaben Tischgebet.)
Dem Dichter der „Pal mb lütter"
wurde im Sommer des Jahres 1898
zu Stuttgart ein Denkmal gesetzt.
*11. Der Regenbogen.
284
Giesebrecht, Ludwig.
*23. Der Lotse.
©feint, Johann Wilhelm Ludwig.
*49. Der Löwe und der Fuchs.
v. Goethe, Johann Wolfgang, wurde
am 28. August 1749 als der Sohn
eines reichen Bürgers, des Kaiserlichen
Rats Johann Caspar Goethe in Frank-|
fürt a. M. geboren. Er genoß im elter-!
lichen Hause, namentlich unter dem Ein-
flüsse seiner gemütvollen Mutter, der
„Frau Rat" (vergl. Nr. 93), eine sehr
sorgfältige Erziehung. Durch die ver-
schiedensten Umstände, u. a. durch das
rege Leben in der Stadt Frankfurt, durch
die geschichtlichen und künstlerischen
Denkmäler daselbst, durch bedeutende
Zeitereignisse, wurden in dem klugen
und fleißigen jungen Goethe die Fähig-
keiten und vorzüglichen Anlagen zu
dichterischem Schaffen gelveckt und ent-
wickelt. Schon als Kind zeigte er eine
außerordentliche Begabung für fremde
Sprachen und schrieb im Alter von
12 Jahren einen kleinen Roman, wor-
in 7 Geschwister, tvelche in der Welt
zerstreut waren, in 7 verschiedenen
Sprachen sich brieflich über das unter-
halten, was sie gesehen und erlebt haben.
Bor allem liebte er die italienische
Sprache, nnd es war sein sehnlichster
Wunsch, Italien, „das Land, wo die
Citronen blühn" (Nr. 140), kennen zu
lernen.. Nachdem er auf verschiedenen
Universitäten die Rechtstvissenschaft
studiert, sich aber auch, besonders unter
dem Einflüsse des Dichters Herder,
mit Vorliebe der Dichtkunst zugewendet
hatte, kehrte er als Doktor der
Rechte in seine Vaterstadt zurück. Vom
Herzog Karl August von Weimar,
welcher durch seine dichterischen Schöp-
fungen auf ihn aufmerksam geworden
war, wurde er nach Weimar berufen,
wo er später Kammerpräsident wurde;
auch erhob ihn der Kaiser Joseph II.
in den Adelsstand. Goethe, der in inniger
Freundschaft mit Schiller verbunden
war, hat Großes in der Dichtkunst
geleistet: seine Gedichte schildern
meisterhaft Natur (Nr. 135) u. Leben
(Nr. 43; vergl. auch Teil III); seine
Balladen (Nr. 66) gehören zu den
schönsten unserer Litteratur, seine
Sprüche (Nr. 55) sind wahre Klug-
heitsregeln fürs Leben.
*43. Das Hufeisen.
*55. Sprüche Nr. 4 u. 5.
*68. Erlkönig.
*135. Meeresstille u. glückliche Fahrt.
*140. Mignon.
Grimm, Brüder, Jakob und Wil-
helm, die Söhne des Amtmanns zu
Hanau, haben die schönsten und be-
kanntesten deutschen Märchen in dem
Buche „Kinder- und Hausmär-
chen" gesammelt. Beide Brüder wurden
nach dem früherfolgten Tode des Vaters
in gleicher Weise in Kassel erzogen und
unterrichtet. Es war ihnen die größte
Freude, an den freien Nachmittagen
nach dem benachbarten Dorfe Nieder-
zwehren zu wandern, woselbst ihnen
eine hessische Bäuerin die Märchen
(vergl. Teil I—IV) und Sagen (vergl.
Teil III, Nr. 70: Die Kinder zu
Hameln und Teil IV, Nr. 69: Der
Frauensand und Nr. 71: Der hart-
geschmiedete Landgraf) erzählte, von
denen durch die beiden Brüder mehr
als 200 dem deutschen Volke erhalten
sind. Eine Tafel mit Inschrift, da-
neben das Bild der „Märchenfrau",
bezeichnet noch jetzt in der Marktgasse zu
Kassel das Haus, in welchem die Brüder
die Märchen aufschrieben. Beide Brüder
besuchten die Universität Marburg und
hatten später fast gleiche Lebensschicksale.
Sie hielten lebenslang in Freud und
Leid treu zusammen und arbeiteten
als Professoren und Bibliothekare in
Göttingen gemeinsam. Wegen poli-
tischer Verhältnisse mußten sie unter
der Regierung des Königs Ernst August
von Hannover ihre Stellung aufgeben.
Nach einem kurzen Aufenthalte in Kassel
285
wurden beide vom König Friedrich Wil-
helm IV., dem eifrigen Förderer der
Künste und Wissenschaften, nach Berlin
berufen, wo sie als berühmte Ge-
lehrte und eifrige Forscher der deutschen
Sprache starben, der ältere, Jakob,
1863, der jüngere, Wilhelm, 1859.
Nicht nur durch die Sammlung der
Märchen und Sagen, sondern auch
durch ihre Forschungen in der deutschen
Sprache und durch die Herausgabe
eines „Deutschen Wörterbuches" haben
sich die beiden Brüder ein bleibendes
Denkmal in den Herzen aller Deutschen
gesetzt.
10. Das Totenhemdchen.
Grube, August Wilhelm.
139. Kanäle und Böte in Holland.
Grün, Anastasius.
*89. Die Martinswand.
Güll, Friedrich, als der Sohn eines
Goldschmieds zu Ansbach in Bayern
geboren, war Lehrer an verschiedenen
Schulen, zuletzt mehr als 30 Jahre
lang an der evangelischen Pfarrschule
zu München. Zugleich leitete er daselbst
27 Jahre hindurch einen Privatunter-
richtskursus für Töchter aus vornehmen
Familien. Er versammelte gern eine
Schar von Schülerinnen um sich, trug
ihnen seine lustigen Gedichte mit
den drolligen Reimüberschriften vor
(vergl. Teil I, Nr. 54: Vom listigen
Grasmücklein ein lustiges Stücklein)
und wußte die Jugend durch Rätsel
(vergl. Teil I—IV) zu ergötzen und
durch sinnige Lieder und Sprüche
zu erbauen (vergl. Teil I—IV).
*19. Abends.
Hammer, Julius.
*115. Das Ährenfeld.
Hauff, Wilhelm.
*95. Reiters Morgengesang.
Hebel, Johann Peter, der für die
Jugend viele schöne und anmutige Er-
zählungen zur Unterhaltung und
Belehrung geschrieben hat, stammte aus
einer armen Weberfamilie in Basel
am Rhein. Im Winter wohnten seine
Eltern in einem kleinen Dorfe am
Schwarzwalde in Baden. Er verlor
seinen Vater im 2. und seine Mutter,
die ihn in Gottesfurcht und Recht-
schaffenheit erzog, im 13. Lebensjahre.
Edle Gönner überwachten seinen Lebens-
wandel und sorgten für seine Ausbil-
dung. Er wirkte später in großem
Segen als Lehrer und Prediger in
verschiedenen Städten Badens und war
zuletzt Kirchenrat in Karlsruhe. Seine
heiteren und gemütvollen volkstümlichen
Erzählungen (Nr. 12 und Teil IV,
Nr. 40: Kannitverstan) hat er im
„Schatzkästlein" gesammelt, welches
Büchlein in vielen deutschen Familien
noch jetzt gern gelesen wird. Seine Ge-
dichte (vergl. Teil IV, Nr. 122:
Das Spinnlein), in denen er die
Natur in besonders anschaulicher und
anmutiger Weise schildert, verfaßte er
größtenteils in der alemannischen
Mundart, welche in den Gegenden ge-
sprochen wurde, wo er seine Jugend-
zeit verlebte. Viele derselben sind
durch Robert Reinick (vergl. Teil IV,
Nr. 110: Das Lied vom Kirschbaum)
ins Hochdeutsche umgedichtet worden.
12. Ein unverhofftes Wiedersehen.
Heine, Heinrich.
*77. Belsazer.
Heinrich, Karl.
17. Wie schön leuchtet d. Morgenstern.
v. Herder, Johann Gottfried.
6. Drei Freunde.
18. Alles zum Guten.
*24. Der Schiffbruch.
*76. Die wiedergefundenen Söhne.
Herf, Antonie.
143. Aus der heißen Zone.
Hoffmann von Fallersleben, August
Heinrich, wurde 1798 als Sohn des
Bürgermeisters zu Fallersleben im
Hannoverschen geboren. Er wirkte als
Professor in Breslau und wurde später,
nachdem er viele Reisen durch Deutsch-
land und andere LändebSMrnommen
kür
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Schulbuchbibliothek
286
hatte, Bibliothekar in demDchlosse Cor-
vey an der Weser. In seinen anmutigen
und heiteren Liedern, die besonders
zum Singen (vergl. die Kanonlieder
in Teil I —IV) einladen, führt er
uns zu den verschiedenen Zeiten des
Jahres hinaus in die Natur, sowohl
tm Sommer in das wogende Ähren-
feld als auch zur Zeit der Obstlese
in den Garten und im Winter
zum Schlittschuhlauf auf den blanken
See. (Vergl. Teil I u. II.) Er hat
sich diese innige Freude an der
Natur auf seinen vielen Wande-
rungen durch die Fluren unseres deut-
schen Vaterlandes zu erhalten gewußt,
zugleich auch überall da, wohin er kam,
solche Lieder gesammelt und erforscht,
wie sie in den verschiedenen Gegenden
vom Volke gesungen wurden. Seinem
Vaterlande ist er allezeit treu ergeben
gewesen (Nr. 103; vergl. auch Teil IV,
Nr. 103: Mein Vaterland), und ob-
gleich er seiner freimütigen Gesinnungen
wegen sogar eine Zeitlang seines Amtes
entsetzt und des Landes verwiesen war,
so haben ihn doch die bewegten Zeiten
unseres deutschen Vaterlandes zum Dich-
ten begeistert. Nach dem gewaltigen
Kriege von 1870—71 weihte er dem
greisen Heldenkaiser Wilhelm I. das
Lied: „Wer ist der greise Siegesheld"
(Teil III, Nr. 83); auf dem Felsen
unserer deutschen Nordseeinsel Helgo-
land ist ihm, dem Dichter unseres Na-
tionalliedes: „Deutschland über alles
in der Welt" (dir. 104) ein Denkmal
errichtet worden.
*103. Mein Lieben.
*104. Das Lied der Deutschen.
Hofmann, Friedrich.
*101. Der letzte Brief.
Horn, Georg.
93. Prinzessin Luise bei Frau Rat.
v. Horn, W. O. (Wilhelm Ortet.)
15. Der Savoyarde u. d. Erzbischof.
Hottinger, Christian.
100. Weihnachten in Feindesland.
Kerner, Fustinus.
*85. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe.
*86. Der reichste Fürst.
*137. Wanderlied.
Kippenberg, August.
2. Ein Hausspruch.
106. Der Sternenhimmel.
117. Deutschlands Nadelhölzer.
Koch, Johanne.
Eingangsspruch Seite 9.
*146. Mahnung.
Kollbach, Karl.
128. Eine Rheinfahrt.
Kopisch, August.
*54. D. grüne Tier u. d. Naturkenner.
*69. Die Gründung Frankfurts.
*96. Blücher am Rhein,
v. Koppen, Fedor.
90. Das Freischießen in Straßburg
u. d. glückhafte Schiff.
Krummacher, Friedrich Adolf.
14. Der Gotteskasten.
*109. Sonntagsmorgenlied i. Frühling.
*114. Der blühende Flachs.
Lenau, Nikolaus.
*21. Seemorgen.
Lessing, Gotlhold Ephraim.
45. Zeus und das Pferd.
46. Der Esel mit dem Löwen.
47. Der Rabe und der Fuchs.
Lichtwer, Magnus Gottfried.
*48. Der Hänfling.
Lohmeyer, Julius, der Begründer und
Herausgeber der bekannten, von den
Kindern gern gelesenen illustrierten Mo-
natsschrift „Deutsche Jugend", stammt
aus der Stadt Neiße in Schlesien
und lebt als Schriftsteller in Berlin.
*30. Zum neuen Jahre.
*31. Der gute König.
*55. Spruch Nr. 6.
*120. Der einsame Baum.
*130. Bergfahrt,
v. Löher, Franz.
84. Die Ritterburgen.
Luther, Martin.
51. Vom Kranich und Wolf.
52. Von: Frosch tmd der Maus.
287
Mahlmann, August.
*107. Den Blick empor.
Minding, Julius.
*91. Fehrbellin.
v. Moltke, Helmuth.
102. Ein Brief Moltkes aus Versailles.
Müller, August und Karl.
121. Sprechende Vögel.
Müller, Wilhelm, dessen anmutige
Naturlieder uns durch ihre Frische und
Lebhaftigkeit erfreuen (vergl. Teil IV,
Nr. 17: Das Frühlingsmahl), und
dessen bekanntes Lied vom Linden-
baume (Nr. 8) uns zum Singen be-
geistert, wurde als Sohn eines Schuh-
machers zu Dessau geboren. Nachdem
er als Freiwilliger an dem Freiheits-
kriege 1813 teilgenommen hatte, trieb
ihn eine unwiderstehliche Wanderlust
(vergl. Teil III, Nr. 117: Das Wandern)
nach Italien. Auf dieser Reise ent-
standen die meisten seiner trefflichen
Lieder. Nach seiner Rückkehr in die
Heimat fand er eine Anstellung als
Lehrer an der Gelehrtenschule zu Dessau
und kurze Zeit darauf als herzoglicher
Bibliothekar; er starb daselbst schon
im Alter von 33 Jahren.
*8. Der Lindenbaum.
*25. Der kleine Hydriot.
*40. Der Glockenguß zu Breslau.
Neumann-Strela, Karl.
33. Barbara Uttmann.
Nicol, Günther.
*110. Das alte Mütterlein.
sPalmblätter, „Erlesene morgenländi-
sche Erzählungen für die Jugend von
Herder u. Liebeskind,. verbessert von
Krummacher.")
39. Die ewige Bürde.
v. Platen-Hallermünde, August Graf,
wurde als der Sohu eines preuß.
Oberforstmeisters zu Ansbach geboren
und erhielt eine militärische Ausbildung.
Nachdein er bereits als bayrischer
Offizier an den: Freiheitskampfe 1815
gegen Frankreich teilgenommen hatte,
wandte er sich dem Studium zu und
erlernte mit unermüdlichem Eifer in
7 Jahren 11 verschiedene Sprachen.
Nach größeren Reisen durch ganz
Deutschland, auf welchen er mit Goethe,
Uhland, Schwab, Rückert u. a. bekannt
geworden war, nahm er seinen dauern-
den Aufenthalt in Italien; er starb
zu Syrakus auf der Insel Sizilien.
*78. Das Grab im Busento.
v. Raumer, Friedrich.
82. Konradins Tod.
Reinick, Robert, war der Sohn eines
angesehenen Kaufmanns zu Danzig.
Leider verlor er seine Eltern früh, und
er wurde im Hause eines Predigers
erzogen, wo besonders die Tugend der
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit ge-
pflegt wurde. (Vergl. Teil III, Nr. 141:
Deutscher Rat.) Da er schon als Kind
große Neigung und hervorragende An-
lagen zum Malen zeigte, wandte er
sich anfangs in Berlin, später in
Düsseldorf der Malerei zu, wurde aber
auch durch den Verkehr mit Dichtern
(v. Chamisso, v. Eichendorff) zu dichteri-
schem Schaffen angeregt. Wegen eines
schweren Augenleidens mußte er meh-
rere Jahre den liebgewordenen Künsten
entsagen. Er suchte in Italien Heilung
und verlebte im Verkehr mit deutschen
Künstlern zu Rom drei glückliche Jahre,
die für ihn von großem Einflüsse waren.
Als er nach Deutschland zurückgekehrt
war, trat eine Besserung und Heilung
seines Leidens ein, und zugleich fand er
seine frühere Heiterkeit lvieder. Er lebte
zuletzt in glücklicher Häuslichkeit zu
Dresden, indem er die Künste, denen er
sich gewidmet hatte, zur Erheiterung
und zur Erbauung der Kinder ausübte.
Viele seiner schönen Erzählungen
(Nr. 26; vgl. Teil II, Nr. 78: Der Vogel-
steller) und lustigen Gedichte (vergl.
Teil II, Nr. 70: Die freche Gesellschaft),
zu denen er selbst oder seine Freunde
passende Bilder malten, sammelte er
nebst sinnigen Sprüchen in seinem
„Lieder-, Märchen- und Geschichten-
288
buche". Auch übersetzte er die „ale-
mannischen Gedichte" von Hebel ins
Hochdeutsche.
26. Das Geburtstagsgeschenk.
Richter, Albert.
71. Lohengrin.
Rochlitz, Friedrich.
*38. Der fromme Makarius.
Rogge, Bernhard.
99. Bismarck in Sedan.
Rosegger, Peter.
28. Der liebe Gott geht durch d. Wald.
Rückert, Friedrich, der Sohn eines bay-
rischen Amtmanns zu Schweinfurt,
verlebte eine fröhliche und glückliche
Jugendzeit im Elternhause. Mit seinem
Bruder durchwanderte er oft die Flu-
ren seiner anmutigen, mit Wäldern,
Wiesen und Schlössern reichgesegneten
Heimat in Bayern. Dadurch gewann
er eine große Borliebe für die Natur,
deren Leben er in seinen Gedichten
trefflich zu schildern versteht (vergl.
Teil II, Nr. 14: Bon den grünen
Sommervögeln). Er wandte sich be-
sonders dem Studium der fremden
Sprachen und der deutschen Litteratur
zu und dichtete schon als Jüngling
für sein kleines liebes Schwesterchen
fünf schöne, spaßige Märlein, von
denen sich zwei: „Vom Bäumlein" u.
„vom Büblein" in Teil II (Nr. 103
u. 104) vorfinden. In seinem späteren
Alter wurde er vom König Friedrich
Wilhelm IV. von Preußen als Professor
nach Berlin berufen; es gefiel ihm
aber dort so wenig, daß er cs vorzog,
auf seinem schöngelegenen Gute Neuseß
bei Kobnrg im sagenreichen Thüringer-
lande (Teil III, Nr. 67: Barbarossa)
zu wohnen, wo er im stillen Frieden
der Natur durch ein reichgesegnetes
Familienleben beglückt war. Seine
Gedichte (Nr. 16) und Sprüche
(Nr. 55) enthalten beherzigenswerte
Lehren.
*16. Für die sieben Tage.
*44. Parabel.
*55. Sprüche Nr. 7, 8, 9 n. 10.
Sach, August.
131. Das Riesengebirge.
Sachs, Hans.
*53. Fabel von den zwei Mäusen,
v. Salis, Johann Gaudenz.
*3. Lied e. Landmannes i. d. Fremde.
v. Schiller, Friedrich, wurde am 10.No-
vember 1759 in dem württembergischen
Städtchen Marbach im Hause seines
Großvaters, eines ehrsamen Bäckers,
geboren. Hier verlebte er unter der
sorgsamenPflege seiner sanften und from-
men Mutter auch die drei ersten Jahre
seines Lebens. Sein Vater, der Wund-
arzt gewesen war, hatte während dieser
Zeit an dem siebenjährigen Kriege
teilgenommen und war wegen seiner
Pflichttreue, Rechtlichkeit und Ord-
nungsliebe zum Hauptmaun befördert
worden. Nach dem Frieden empfing
der schwächliche, aber aufgeweckte Knabe
zu Lorch den ersten Unterricht und be-
suchte, als seine Eltern nach Ludwigs-
burg versetzt wurden, bis zur Kon-
firmation die lateinische Schule daselbst;
er wurde bald einer der tüchtigsten und
fleißigsten Schüler. Der Umstand, daß
der später so berühmt gewordene Dichter-
seine Kindheit in ländlicher Stille und
im ununterbrochenen Verkehr mit der
freien Natur verbrachte, hat ohne
Zweifel einen großen Einfluß auf sein
empfängliches Gemüt ausgeübt und
das Gefühl für das Schöne in der
Natur geweckt und begründet, wie solches
in seinen Liedern u. Rätseln Aus-
druck gefunden hat (vgl. Teil I—IV).
Auch in seinen Balladen (Nr. 62
u. 63; vergl. auch Teil IV, Nr. 127:
Der Alpenjäger), die zu den schönsten
und bekanntesten in unserer Litteratur
gehören, finden sich anschauliche Natur-
schilderungen.
*62. Der Ring des Polykrates.
*63. Die Bürgschaft.
*126. Rätsel.
289
Schlez, Johann Ferdinand.
35. Meister Hämmerlein.
Schmidt, Ferdinand.
97. König Wilhelms Ankunft in
Berlin am 15. Juli 1870.
Schräder, Ferdinand.
92. Die Schlacht bei Roßbach.
Schwab, Gustav Benjamin, stammte
wie Uhland und Kerner aus dem
Schwabenlande und wurde als der
Sohn eines Professors in Stuttgart
geboren. Nachdem er einen sehr sorg-
fältigen Unterricht durch seinen Vater
genossen hatte, studierte er Theologie,
beschäftigte sich aber sehr viel mit der
Erforschung der alten Sprachen und
der Litteratur. Schon während seiner
Studentenzeit veröffentlichte er seine
ersten Dichtungen, von denen „das
Gewitter" (Nr. 9) eine der besten ist.
Sein Hauptverdienst erwarb er sich
durch die Sammlung der „s ch ö n st e n
Sagen des klassischen Altertums"
(Nr. 56 bis 59). Schwab war lange als
Professor der Litteratur in Stuttgart
thätig und starb daselbst auch als
Konsistorial- und Oberstudienrat.
*9. Das Gewitter.
56. Prometheus.
57. Herakles.
58. Niobe.
59. Hektar und Andromache.
*75. Der Reiter und der Bodensee.
Simrock, Karl Joseph.
*129. Warnung vor dem Rhein.
Spitta, Philipp, der Verfasser der be-
kannten Sammlung religiös erLie-
der „Psalter und Harfe", wurde als
Sohn eines unbemittelten Kaufmanns
zu Hannover geboren. Kaum 4 Jahre
alt, verlor er seinen Vater, und wegen
einer schweren Erkrankung konnte er
nur bis zum 12. Jahre das Gymnasium
besuchen. Er trat bei einem Uhrmacher
in die Lehre; aber der Drang nach
höherer Bildung wurde in ihm so
mächtig, daß er durch erstaunlichen Fleiß
das in der Schule Versäumte bald
Kippenberg, A 5 (R. A.).
nachholen und die Universität besuchen
konnte. Er wirkte zuletzt als Superin-
tendent zu Burgdorf bei Hannover.
*105. Die Schönheit der Natur.
Stieler, Karl.
*83. König Konrad der Junge.
Stöber, Karl.
27. Der kleine Friedensbote.
Storm, Theodor.
*134. Die Stadt am Meere.
Sturm, Julius, stammte aus dem Für-
stentum Reuß und wurde, nachdem er
Theologie studiert hatte, Erzieher des
Erbprinzen Heinrich von Reuß; darauf
wurde er zu Schleiz Pfarrer und starb
als Geheimer Kirchenrat. Seine Gedichte
zeichnen sich aus durch Einfachheit (vgl.
Teillll), tiefe religiöseEmpfindung (vgl.
Teil I, Nr. 171: Der Kinderengel)
und warme Vaterlandsliebe (vgl. Teil
III, Nr. 139: Mein Vaterland).
*123. In der Heimat.
Taylor, Bayard.
142. Eine Winterreise in Norrland.
Uhland, Ludwig, einer der bedeutendsten
Dichter des Schwabenlandes, wurde
als Sohn eines Universitätssekretärs
zu Tübingen geboren. In dieser Stadt
verbrachte er den größten Teil seines
Lebens und starb auch daselbst als
Professor der deutschen Sprache und
Litteratur. Seine köstlichen Lieder, in
denen er hauptsächlich die Natur
(vgl. Teillll, Nr. 120: Einkehr) und
das deutsche Vaterland (vgl.
Teil Hl, Nr. 147: Des Knaben Berg-
lied) besingt, sind tief in das deutsche
Volk eingedrungen und viele derselben
gleichsam zu Volksliedern (vgl.
Teil II, Nr. 53: Der gute Kamerad u.
Teil III, Nr. 55: Jung Siegfried) ge-
worden. Es ist bemerkenswert, daß er
die Anregung zu manchen einfachen,
echt deutschen Liedern und zu Sagen
(vgl. Teil III, Nr. 68: Schwäbische
Kunde) in der Hauptstadt des fran-
19
290
zösischen Reiches fand, woselbst er sich
ein Jahr lang aufhielt, um das fran-
zösische Recht kennen zu lernen. Seine
Balladen (Nr. 70 u. 72; vergl. auch
Teil IV, Nr. 64: Klein Roland u.
Nr. 74: Das Singenthal) gehören zu
den schönsten in der Litteratur.
*22. Das Schifflein.
*70. Der blinde König.
*72. Taillefer.
*74. Der Schenk von Limburg.
Viehoff, Heinrich.
*55. Sprüche Nr. 11 u. 12.
Vogl, Johann Nepomuk, stammte aus
Österreich und sollte als Sohn
eines Kaufmanns zu Wien sich auf
Wunsch der Eltern dem Berufe des
Vaters widmen. Da ihm aber das
„Versemachen" leicht wurde und er
große Neigung zum Studieren besaß,
erlaubten ihm die Eltern, zu studieren
und später die Beamtenlaufbahn einzu-
schlagen. Seine Mußestunden benutzte
er zu dichterischer Beschäftigung.
*4. Das Erkennen.
*7. Ein Friedhofsgang.
Weber, Georg.
64. Die Götter der Germanen.
Weinhold, Karl.
79. Germanische Gastfreundschaft.
Weiter, Theodor Bernhard.
87. Die Erfindung der Buchdrucker-
kunst.
Wildermuth, Ottilie.
*116. Spruch.
Woermann, Karl.
136. Heimkehr.
sWunderhorn, des Knabens ist der Titel
einer Sammlung von alten deutschen
Volksliedern.
*20. Gute Nacht, mein Kind!
*34. Spinnerlied.
Von ungenannten Verfasiern.
*67. Der Schmied von Helgoland.
(Bolksballade).
Lippert & Co. (®. Päh'sche Buchdr.), Naumburg a. S.