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IV. Sagen.
erscheint der starke Äneas mit einigen Begleitern; ein Ruck und zwei
mit den mächtigen Hebeisen, und der schwere Turm wälzt sich krachend
hinab und zerschmettert die Scharen der Stürmenden. Aber zum Er¬
satz stürzen gleich wieder andere vor, allen voran der eben herzueilende
Neoptolemus. Mit hochgeschwungener Axt springt er gegen die Pforte,
zerschmettert die Balken und stößt die Angeln aus den erzbeschlagenen
Pfosten. Jetzt zeigt sich das Innere des Hauses, offen stehen die weiten
Hallen, der alte Sitz des Priamus und seiner Ahnen, und füllen sich
mit feindlichen Kriegern.
Drinnen aber in den Gemächern schallte ein janunervolles Klage¬
geschrei und Geheul der königlichen Frauen, die zitternd und voll
Verzweiflung umherirrten, während die Scharen des Neoptolemus nach
dem Aufbruch des Tores sich in alle Räume ergossen und die Ver¬
teidiger des Hauses nach allen Seiten ijtu verfolgten. Als Priamus,
der alte König, sah, daß die Stadt genonlmen und sein eigenes Haus
in den Händen der Feinde war, umkleidete er noch einmal seine alters¬
schwachen Glieder mit der schweren Rüstung und wollte, die Lanze in
der zitternden Hand, sich in das Kampfgewühl stürzen, um den Unter¬
gang seines Reiches und seines Volkes nicht zu überleben. In dem
Hofe des Palastes an denr Altar des hausschirmenden Zeus saß schutz-
suchend seine greise Gemahlin, um sie herum drängten sich in Angst
ihre Töchter und Schwiegertöchter, dichtgeschart, gleich schüchternen
Tauben beim Sturme, und umklammerten wehklagend die Bilder der
Götter. Da wollte eben der alte König in den Waffen seiner Jugend
vorbeieilen; aber Hekuba hielt ihn zurück von seinem eitlen Beginnen
und zog ihn an sich heran an den Altar, damit er hier zugleich mir
ihnen Schutz finde oder umkomme. Kaum hat er sich an dem Altar
niedergelassen, so stürzt sein Sohn Polites, verfolgt von Neoptolemus,
bluttriefend durch die langen Hallen, durch Feinde und Geschosse daher
und sinkt, von dessen Speer durchbohrt, tot zu den Füßen des Vaters.
Da erfaßt jäher Zorn den Alten, und er ruft: „Mögen die Götter
für solche Verruchtheit dir den schuldigen Lohn geben, der du mich
zwingst, vor meinen Augen den Tod des Sohnes zu sehen. So handelte
Achilles, dessen Sohn zu sein du dich rühmst, nicht gegen seinen Feind
Priamus; nein, er ehrte das Recht des Flehenden und gab mir den
Leichnam meines Hektor zur Bestattung zurück und entließ mich un¬
gekränkt in mein Reich." So rief der Alte im Zorn und warf mit
ohnmächtigem Schwünge seine Lanze gegen den Grausamen, aber die
Waffe prallte kraftlos an der Riistung des Feindes ab. Mit höhnender
Wut rief Neoptolemus: „So melde denn das meinem Vater Achilles
und bring ihm die Botschaft von den Freveln seines entarteten Sohnes!
Jetzt stirb!" Mit diesen Worten faßte er den zitternden König am