99
wenn es die Tribunen nicht gehindert hätten. Diesechestimmten darauf
dem Koriolan einen Tag, wo er vor den: Gerichte des Volkes erscheinen
sollte. Die Patrizier flehten nur Gnade für ihn, er selbst aber zeigte
Trotz und Hohn und verachtete die Anklage. Als er jedoch sah, daß er
verurteilt werden würde, wartete er den Gerichtstag nidjt ab, sondern
entfernte sich aus Rom, das Volk aber verhängte über ihn lebenslängliche
Verbannung.
Koriolan ging nach Antium, einer Stadt der Volsker, wo
ihn sein Gastfreund Attius Tullus bereitwillig aufnahm. Hier brachte
er es dahin, daß die Volsker gegen die ihnen verhaßten Römer einen
Krieg unternahmen. An der Spitze eines großen volskischen Heeres drang
er bis in die Nähe von Rom vor und lagerte sich fünftausend Schritte
weit von der Stadt. Weit und breit verwüstete er die Ländereien der
Plebejer, verschonte aber die der Patrizier, entweder um seinen Haß gegen
jene an den Tag zu legen oder um beide Parteien gegeneinander auf¬
zureizen.
Rom befand sich in der größten Gefahr. Von außen wütete der
Feind, im Innern trennten Zwistigkeiten Volk und Senat. Da ward
eine Gesandtschaft der vornehmsten Patrizier slu Koriolan abgeordnet,
sie kehrte aber unverrichteter Sache zurück. Dann wurden Priester mit
allen Zeichen ihrer Würde abgeschickt. Ter feindliche Feldherr empfing
sie mit Ehrerbietung; doch auch sie richteten nichts aus. Endlich gingen
Veturia, die Mutter Koriolans, und dessen Gemahlin Volumnia
mit den Kindern nebst anderen römischen Matronen ins volskische Lager.
Als Koriolan von ihrer Ankunft hörte, eilte er auf seine Mutter zu
um sie zu umarmen. Allein Veturia wich seinen Umarmungen aus.
„Laß mich erst wissen," sprach sie, „ob ich zu dem Feinde Roms oder
zu meinem Sohne gekommen bin! Habe ich darum so lange leben müsseil
um meinen Sohn erst als Verbannten und dann als Feind Roms zil
sehen? Wie? Du kannst Rom bekriegen, das dich geboren hat und das
alles enthält, was dir teuer sein muß? Hätte ich doch keinen Sohn,
so brauchte die Stadt nicht diese Bedrängnis zu erfahren!" Diese Klagen
bezwangen die Rachsucht des Römers und von kindlicher Liebe besiegt
rief er aus: „Mutter, das Vaterland hast du gerettet, aber deinen Sohn
auf ewig verloren!" — Er führte hierauf das Heer in das Gebiet der
Volsker zurück, von denell er bald nachher erschlagen ward. Nach einer
anderen Sage soll er als Verbannter ein hohes, aber kümmerliches Alter
in der freudlosen Fremde erreicht haben. Nach L. Stacke.
7