114
Rückert.
3. Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug.
Ein Schiffer warf die Netze frei;
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt ich, seit wann das Meer hier sei.
Er sprach und lachte meinem Wort:
„So lang als schäumen die Wellen dort.
Fischt man und fischt man in btefent Port/'
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
4. Da fand ich einen waldigen Raum
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei.
Er sprach; „Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäume hier fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
5. Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
Sie schrieen und hörten nicht mein Wort:
„So ging es ewig an diesem Ort
Und wird so gehen ewig fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren!
98. Abendliev.
1. Ich stand auf Berges Halde, als heim die Sonne ging,
Und sah, wie überm Walde des Abends Goldnetz hing.
2. Des Himmels Wolken tauten der Erde Frieden zu.
Bei Abendglockenlauten ging die Natur zur Ruh.
3. Ich sprach :O Herz, empfinde der Schöpfung Stille nun,
Und schick mit jedem Kinde der Flur dich auch zu ruhn!