Virgil, Livius und Dionysius: Äueas kommt nach Latium. 105
ausersehen, dereinst den Namen des Landes bis an die Sterne zu er¬
höhen und über den ganzen Erdkreis zu herrschen".
Durch diese Umstände war der König auf die Ankunft von Fremd¬
lingen zwar vorbereitet; doch trotz des engen Bandes, welches das
Schicksal um Trojaner und Latiner schlingen wollte, hätte die erste Be¬
gegnung leicht eine feindliche werden können. Jene nämlich, denen von
ihren Irrfahrten nur noch Schiffe und Waffen übrig geblieben waren,
trieb die Not, die Gegend an der Tiber plündernd zu durchstreifen.
Der König bot Bewaffnete aus Stadt und Dörfern auf, um den Gewalt¬
thätigkeiten der Ankömmlinge zu wehren. Allein nicht ergriffen diese
nach feiger Seeräuber Art die Flucht zu den Schiffen, sie reiheten sich
den Latinern gegenüber in Schlachtordnung. Schon harrten beide Haufen
des Zeichens zum Angriff, da durchfuhr wie ein Blitzstrahl den König eine
Ahnung. Rasch trat er vor die Rechen, lud den Äneas zu einer Unter-
xedung ein und sprach: „Woher des Landes, verwegener Fremdling?
Hat etwa ein unglückliches Geschick dich aus fernem Vaterlande ver¬
trieben und zu dem Äußersten gebracht? Was ist dein Begehr an
dieser Küste?" — „Wohl entstamme ich einer fernen Heimat," erwiderte
Äneas, „doch nicht einer unberühmten. Troja nenne ich meine Vater¬
stadt, deren Ruhm einst eben so weit gedrungen wie jetzt der Ruf
ihres Verderbens. In Trümmern und Asche liegt sie nun begraben,
und das Volk des lanzenkundigen Priamus hat ein feindliches Geschick
dahingerafft. Aus dessen Stamme rühme ich selbst mich erzeugt zu
sein; denn dem Anchises gebar mich, den Äneas, meine göttliche Mutter
Venus. Nun aber irre ich, vom Schicksal aus Trojas Untergange auf¬
gespart, schon lange Zeit mit meinen Leidensgefährten durch unbekannte
Meeresfluten, um die Stelle zu finden, wo ich nach dem Willen der
Götter eine neue Stadt gründen soll. Hierher führen mich die Weis¬
sagungen der Orakel; dies ist das Land, welches die Götter mir be¬
stimmt haben, wie die Erfüllung untrüglicher Zeichen mir verkündet hat.
Willst du ihnen widerstreben, wohlan, wir sind zum Kampfe bereit;
gewährst du uns aber freundlichen Empfang, so biete ich dir die Hand
zum Frieden". Der König gedachte feiner eigenen Orakel; der Adel
des trojanischen Volkes, die göttliche Äbstammung und der Ruhm des
Mannes, der sein Freund werden wollte, nicht weniger aber auch dessen
auf Krieg und Frieden „gleich gefaßter Mut flößten ihm Achtung ein;
so reichte er denn dem Äneas zum Unterpfande ihrer künftigen Freund¬
schaft seine Rechte. Beide Heerführer,, schlossen einen Bund, die Heere
begrüßten sich. Latinus nahm den Äneas in seinen Palast auf und
knüpfte hier mit ihm am Altare seiner Hausgötter noch einen Familien¬
bund: er gab ihm seine Tochter. Die Trojaner aber gründeten als¬
bald eine Stadt, die Äneas seiner Gemahlin zu Ehren Lavinium nannte.
Doch sollte der letztere sich seines aufblühenden Glückes nicht lange
erfreuen; auch der ungünstige Teil des Willens der Götter blieb nicht
unerfüllt, so wie er dereinst in den die Lavinia drohend umringenden
Flammen geoffenbart worden war. Bald nämlich wurden die ver¬
einten Völker, Latiner und Trojaner, feindlich angegriffen. Turnus,