Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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uns Lessing auf diesem Wege und nach dieser Richtschnur 
)/ kritisch erleuchtet, ihn bewegten auch die religiösen und theolo¬ 
gischen Probleme, die der Predigerssohn aus Kamenz als väter¬ 
liches Erbteil in sich trug und die ihm stets wichtig geblieben waren. 
5 Auch hier trieb ihn sein Forschungsgeist nach der Quelle und dem 
Ursprünge des religiösen Lebens, die er zuletzt in den Tiefen der 
menschlichen Natur selbst ergründen mußte. Er hatte (in der Breslauer 
Zeit) die Entstehung der Kirchenlehre in ihren Quellen, den Kirchen¬ 
vätern, studiert; er drang weiter bis zu den ersten Glaubensurkunden 
10 der christlichen Religion und suchte durch eine einfache und fruchtbare 
Hypothese, die ein Denkmal der Forschung geblieben ist, die geschicht¬ 
liche Entstehung der Evangelien zu erklären. Aber der Glaube ist 
früher als die Glaubensurkunde, die Religion früher als die Bibel, 
die aus ihr hervorgeht, der religiöse Glaube früher als der Schrift- 
i5 glaube, auf dem die lutherische Orthodoxie als ihrem letzten Funda- 
'Ment stand und stehen bleiben wollte. Hier entzündete sich der Streit 
zwischen Lessing und dem Hamburger Pastor Goeze. Das Alte Testa¬ 
ment ist früher als das Neue, die jüdische Religion früher als die 
christliche und das religiöse Bedürfnis der Menschennatur, die un- 
2o geschriebene Religion des Herzens, früher als die schriftlichen Offen¬ 
barungsurkunden, als die geschichtlichen und positiven Formen der 
in der Welt herrschenden Religionen. Die letzte und tiefste Frage tat 
sich auf: worin besteht das Wesen der Religion und ihrer Geschichte? 
Wie verhält sich die Religion zu den Religionen? Diese können 
25 nichts anderes sein als die fortschreitende Ausbildung und Entwicklung 
der wahren Religion, als die allmählich fortschreitende Erziehung der 
Menschheit nach einem göttlichen Weltplan. Den Gedanken auszu¬ 
führen, schrieb Lessing eine seiner tiefsinnigsten Schriften, die letzte, 
die er herausgab: „Die Erziehung des Menschengeschlechts." 
30 Um aber der Welt in der ergreifendsten und populärsten Form zu 
sagen, was er unter Religion und religiöser Erziehung verstehe, betrat 
er zum letztenmal seine alte Kanzel, das Theater, und vollendete 
„Nathan den Weisen". 
Dieser große Literator und Kritiker wäre nie der Reformator 
35 unserer Poesie geworden, wäre er nicht selbst ein Poet gewesen, der 
die eindringende und erschütternde Kraft des dramatischen Ver- 
mögens besaß: ein dramatischer Dichter und ein Theaterdichter. 
Setzen wir gleich hinzu, er wäre auch nie der große Kritiker gewesen, 
ohne ein solcher Dichter zu sein. Hier liegt in Lessings reformatorischer 
40 Bedeutung das entscheidende Gewicht. Vor ihm eine Poetik ohne
	        
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