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uns Lessing auf diesem Wege und nach dieser Richtschnur
)/ kritisch erleuchtet, ihn bewegten auch die religiösen und theolo¬
gischen Probleme, die der Predigerssohn aus Kamenz als väter¬
liches Erbteil in sich trug und die ihm stets wichtig geblieben waren.
5 Auch hier trieb ihn sein Forschungsgeist nach der Quelle und dem
Ursprünge des religiösen Lebens, die er zuletzt in den Tiefen der
menschlichen Natur selbst ergründen mußte. Er hatte (in der Breslauer
Zeit) die Entstehung der Kirchenlehre in ihren Quellen, den Kirchen¬
vätern, studiert; er drang weiter bis zu den ersten Glaubensurkunden
10 der christlichen Religion und suchte durch eine einfache und fruchtbare
Hypothese, die ein Denkmal der Forschung geblieben ist, die geschicht¬
liche Entstehung der Evangelien zu erklären. Aber der Glaube ist
früher als die Glaubensurkunde, die Religion früher als die Bibel,
die aus ihr hervorgeht, der religiöse Glaube früher als der Schrift-
i5 glaube, auf dem die lutherische Orthodoxie als ihrem letzten Funda-
'Ment stand und stehen bleiben wollte. Hier entzündete sich der Streit
zwischen Lessing und dem Hamburger Pastor Goeze. Das Alte Testa¬
ment ist früher als das Neue, die jüdische Religion früher als die
christliche und das religiöse Bedürfnis der Menschennatur, die un-
2o geschriebene Religion des Herzens, früher als die schriftlichen Offen¬
barungsurkunden, als die geschichtlichen und positiven Formen der
in der Welt herrschenden Religionen. Die letzte und tiefste Frage tat
sich auf: worin besteht das Wesen der Religion und ihrer Geschichte?
Wie verhält sich die Religion zu den Religionen? Diese können
25 nichts anderes sein als die fortschreitende Ausbildung und Entwicklung
der wahren Religion, als die allmählich fortschreitende Erziehung der
Menschheit nach einem göttlichen Weltplan. Den Gedanken auszu¬
führen, schrieb Lessing eine seiner tiefsinnigsten Schriften, die letzte,
die er herausgab: „Die Erziehung des Menschengeschlechts."
30 Um aber der Welt in der ergreifendsten und populärsten Form zu
sagen, was er unter Religion und religiöser Erziehung verstehe, betrat
er zum letztenmal seine alte Kanzel, das Theater, und vollendete
„Nathan den Weisen".
Dieser große Literator und Kritiker wäre nie der Reformator
35 unserer Poesie geworden, wäre er nicht selbst ein Poet gewesen, der
die eindringende und erschütternde Kraft des dramatischen Ver-
mögens besaß: ein dramatischer Dichter und ein Theaterdichter.
Setzen wir gleich hinzu, er wäre auch nie der große Kritiker gewesen,
ohne ein solcher Dichter zu sein. Hier liegt in Lessings reformatorischer
40 Bedeutung das entscheidende Gewicht. Vor ihm eine Poetik ohne