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Der Offizier macht freilich große Augen, als der Pommer statt des einen Mannes
eine ganze Familie zurückbringt, ist aber gutherzig genug, auf die Fürsprache des
Soldaten die Begleilung des Weibes und der Kinder zu gestatten.
WMan setzt sich in Marsch. Aber bald zeigt es sich, daß die schwache Mutter
ihre Kräfte überschätzt hat. Das Kind, welches sie auf dem Arme hat, wird ihr zu ⸗
schwer, besonders da der Weg so schlecht ist, daß er auf Schritt und Tritt die
größte Aufmerksamkeit erfordert. Bald schleppt sie sich nur noch mühsam fort und droht
endlich ganz zusammenzusinken, wie auch der Arm ihres Mannes sie zu stützen sucht.
Was tut da der ehrliche Pommer? Er hängt am Riemen sein Gewehr über
die Schulter, breitet dem Kinde die Arme entgegen, und da das lächelnd nach ihm 10
reckt nimmt er es der wankenden Mutter ohne weiteres ab auf seine starken Arme.
Und zutraulich schmiegt sich das Kind sofort an seine Schulter
Auf das höchste erstaunt, sehen die beiden Eltern das Benehmen des Kindes, von
dem ja die Mutter weiß, wie scheu dasselbe sonst gegen jeden Fremden zu sein pflegt.
Auch der Knabe an der Hand des Vaters wird aufmnerksain, und kaum hat er sich den 1s
Soldaten, der das Schwesterchen trägt, ein wenig näher besehen, da läßt er plötzlich
auch die Hand des Vaters los und hängt sich dem Soldaten jubelnd an die Beine.
Da gehen denn auch der Mutter endlich die Augen auf, sie erkennt in dem
Freunde ihrer Kinder einen der preußischen Soldaten wieder, die während ihres
Lantonnements in Jouy, als sie krank daniederlag, sich so freundlich ihrer und ihrer ꝛ
Kinder angenommen, ihr Holz und Wasser zugetragen, ihre Rationen mit ihr geteilt
und ihre Kinder gewartet hatten. Mit Traänen in den Augen erzählt sie das rasch
ihrem Manne. Der aber hat nichts Eiligeres zu tun, als nun dem Pommern um
den Hals zu fallen und ihm mit Weinen und Schluchzen seinen Dank abzustatten,
den er ihnm in Worten ja doch nicht aussprechen konnte.
Dieser Auftritt veranlaßt natürlich ein Stocken des Zuges, da auch die übrigen
Gefangenen, die des Weibes Rede gehört hatten stehen blieben und laut ihr „Brave
camarade! (Braver Kameradl) riefen. Der Offizier sprengt heran, nachzusehen, und
da er Französisch versteht, erklärt ihm die Mutter in fliegenden Worten das Wunder,
durch welches sein Füsilier auf einmal Kindermagd geworden ist.
„Das hast du brav gemacht, mein Junge!“ ruft er dann dem ordentlich ver⸗
klärt breinschauenden Soldaten zu, klopft ihm auf die Schulter und reicht ihm vom
Pferde herab die Hand. Dann sprengt er wieder davon, ohne sich weiter um die
Ordnung des Zuges zu kümmern. Vielleicht wollte er die Tränen nicht sehen lassen,
die auch ihm das Auge feucht machten, deren er sich aber gewiß nicht hätte zu 36
schämen brauchen.
Ich aber sage: Ehre den wackeren Soldaten, die, wenn sie auch um des Feindes
willen die unsägüchsten Strapazen erdulden müssen, sich doch ein menschlich fühlendes
Herz bewahren und das Wort des Herrn Jesus, daß man durch Wohltun dem
seinde feurige Kohlen auf das Haupt sammeln müsse, so schön zur Wahrheit zu ⁊0
machen wissen!!
Und sollte dem lieben Freunde aus dem Pommerlande, von dem da oben die
Rede war — ich wollt', ich wüßte seinen Namen und könnte ihn nennen! — und
dem gewiß jeder, der diese Geschichte liest, von ganzem Herzen wünscht, daß er nun
wohlbehallen an den eigenen Herd heimgekehrt ist, sollte ihm die Spinnstube mit
diesen Zeilen zu Gesichte kommen, so mag er sich's gefallen lassen, daß auch ich ihm
im Geiste die a drücke und zurufe: „Ja, das hast du brav gemacht, mein Jungel
Gott lohne es dir!“
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IIL. (S. 68)
„Heute kommt wieder ein Zug mit Verwundeten!“ so scholl es durch das Städt⸗ 50
chen B. und alles, was Beine hatte und Zeit fand, eilte nach dem Bahn⸗