Full text: Prosa für die zweite und erste Klasse (Teil 3, [Schülerband])

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gegrüßt, mußte es am Ausgang der unbewohnten, wilden Gegend, die sich von da 
bis Jericho erstreckt, für den von Jericho kommenden Pilger doppelt ein herz¬ 
erquickender Anblick sein nach der bedrückenden Öde, die er durchwandert. Und 
damals, zu Herodes' Zeiten, war es ein Vorort der aufblühenden Hauptstadt, gewiß 
mit zierlichen Häusern und wohlgepflegten Gärten freundlich geschmückt. Wie war 
der Ort schon durch seine Lage eine Schule der Gastfreundschaft für seine Bewohner. 
Alljährlich kamen wieder dieselben Pilgerscharen müd und verbrannt und verdurstet 
von Jericho herauf und grüßten in dem lieblichen Flecken das Wahrzeichen Jerusalems, 
von dem sie nun nur noch der Ölberg trennte. 
Doch es hilft nichts, so wenig behaglich man sich innerhalb der Stadtmauern 
fühlt, wir können nicht immer nur in der Umgegend herumstreifen, so mancherlei 
noch von ihr zu erzählen wäre. Eine Stadt mit sogenannter schöner Umgebung 
freilich ist Jerusalem nicht, wie interessant auch einzelne Punkte sind. Man kann 
sich nicht denken, daß ein Jerusalems je spazieren geht. 
Nun denn hinein in die Mauern! 1400 Jahre vor Christus ist Jerusalem 
beurkundet als den Ägyptern zinspflichtig unter dem Namen Urusalim. Dann 
kennen wir sie als Feste der Jebusiter, die David um 1000 vor Christus erobert. 
Der Berg heißt Zion, die Stadt Jerusalem. Nördlich der Davidsstadt, auf der 
sie etwa um 30 m überragenden Felsenkuppe, vielleicht einst Morijah genannt, 
baut Salomo auf zweifellos uralter Opferstätte Jahveh einen Tempel. Allmählich 
mehren sich die Bewohner und ihr Wohlstand. Die Mauern müssen mehrmals 
erweitert werden. Von dieser ganzen alten Königsstadt, die die Babylonier 586 
zerstört haben, ist nichts mehr zu sehen. Ein Teil der untersten Lagen der Mauer 
mag aus ihr stammen. Aber sie sind in Trümmern begraben. Die Legende nennt 
einen gewaltigen Turm unmittelbar innerhalb des Jafators Davidsburg; er gehört 
aber so gut wie der Bruder, die Goliathsburg, zu dem burgartigen Palast, den sich 
der große Herodes an jener beherrschenden Stelle erbaut hat. Nachgrabungen auf 
jenem grünen Hügel südlich der heutigen Mauer würden gewiß noch manches zu 
Tage fördern aus der alten Davidstadt; interessanter noch, aber ganz ausgeschlossen, 
solange der Mohammedanismus die Stadt besitzt, wären Nachgrabungen nach Resten 
des salomonischen Tempels unter den Fliesen des Tempelplatzes. Leichter könnte 
man wohl zu den Trümmerstücken desselben im Kidrontal gelangen, wenn man tief 
genug gräbt. 
Aber schmerzlicher ist, daß auch von dem Jerusalem aus Jesu Tagen nur 
wenig erhalten blieb. Nicht einmal der Zug der Mauer im Süden und Norden, 
wo er nicht wie im Osten und Westen ein für allemal durch die Täler gegeben 
war, ist ganz sicherzustellen. Daß die untere Schicht eines Teiles der heutigen 
Mauern, namentlich längs des Tempelplatzes, von Herodes stammt, zeigen allerdings 
die Maße und Behauung der Riesenstücke. Aber von den sechzig Türmen seiner 
Mauer ist nichts übrig. Nicht einmal darüber ist man sicher, inwieweit die heutigen 
Tore mit denen zu Herodes' Zeit sich decken. Dasselbe gilt von den Straßenzügen, 
ob man auch beim Neuaufbau jedesmal, soweit tunlich, die Fundamente der früheren 
Baulichkeiten benutzt haben wird, so daß im allgemeinen die Straßenlinien dieselben
	        
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