Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

264 
Reineke fühlt seine Lebensgeister neu erregt, „seine Augen werden wacker"*, und wie von unM' 
baren Banden gezogen, trabt er fürbaß. Und wahrlich! da liegt ein zweites Stück! Es ist kein 
Trugbild seiner Phantasie, — es ist derselbe Duft, dasselbe Fleisch und Bein. Reineke steht stiH- 
überraschung und Argwohn in den Zügen. Wer war, wer ist der unbekannte Spender? Kehren 
r die Tage der Märchen zurück? Er umschleicht auf scheuen Sohlen die Stelle, steht wieder still, legt 
sich, horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf, um wieder niederzukauern. 
Nirgends ein Laut, nur die alten Föhren knarren; nirgends eine Spur, als die flüchtigen Hiero¬ 
glyphen, die des Windes Finger in den Schnee geschrieben. Er betrachtet den Bisten noch einmal! 
„Wär' es eine Falle? — Die Menschenkinder sind voll Args! — Schon mancher Edle fiel dum 
10 ihre List! — Aber nein — hinweg mit solchen Gespenstern!" — und im Nu ist auch der zweite 
Brocken hinab. 
O Reineke! Reineke! Du bist verloren, — denn dort liegt noch ein dritter Bisten. In vollen 
Zügen schlürft der Hungergepeinigte den berauschenden Duft, starrt verglasten Blickes auf 
Lockung. Doch der innere Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Und wieder umkreist de» 
i* Fuchs das Mahl, wieder duckt er sich, legt das Gehör vorwärts, rückwärts, spitzt es, „sichert 
allenthalben. Und wieder ist alles stumm, nur die Föhren knarren noch immer verdrossen. $ 
ist, als stocke der Atem der Natur. Der Fuchs fängt an zu klügeln; aber je länger er hinschaut 
auf das verhängnisvolle Gericht, desto wirrer werden seine Gedanken, desto wirrer sein Blick. ^ 
flimmert ihm vor den Augen, der Duft betäubt ihn, er kann nicht los, er muß — und gält'es 
W sein Leben — er muß hinzu. In einem wilden Satze springt er darauf los — da, krach! schlag 
das Eisen die zerschmetternden Zähne zusammen. 
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor Wut; aber es ist nicht Zeu 
zu ohnmächtiger Klage, denn Gefahr droht im Verzüge. Es gilt eine kühne Tat; er beißt 1'® 
den Fuß ab. — Einmal gefangen, denkt er, und nimmer wieder! und er jagt davon, leicht und 
as ftei, „als hätt'er eben nur den Stiefel ausgezogen". Die Niederlage muß sein Genie neut 
Künste und neue Siege lehren. 
220. Das Liedlein vom Kirschbaum. 
Von P. Hebet. 
Alemannische Gedichte. Herausgegeben und erläutert von 
30 E. Götzinger. Aarau 1878. S. 187. 
1. Der lieb Got het zum Früelig gseit: 
„Gang, deck im Würmli au st Tisch!" 
Druf het der Chriesbaum Blätter treit, 
Viel tüsig Blätter grüen und frisch. 
35 2. Und 'S Würmli usem Ei verwacht'S, 
'S het gschlöfen i fim Winterhüs, 
Es streckt st, und spert 's Müüli uf, 
Und rlbt die blöden Augen üs. 
3. Und druf se het's mit stillem Zün 
io Am Blättli gnagt enandernö 
Und gseit: „Wie ist das Gmües so gut! 
Mer chunt schier nümme weg dervö." 
4. Und wider het der lieb Gott gseit: 
„ Deck jez im Jmmli au st Tisch!" 
45 Druf het der Chriesbaum Blüete treit, 
Viel tüsig Blüete wtß und frisch. 
5. Und 's Jmmli sieht's und fliegt druf hl 
Früej in der Sunne Morgescht. 
Es denkt: „ Das wird mi Kasse st, 
so Si hend doch chosper Porzelin!" 
Übertragen von R. Neinick. 
Alemannische Gedichte. JnS Hochdeutsche übertrage» 
Leipjig 1853. S. 28. 
1. Zum Frühling sagt der liebe Gott:^ 
„Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch! 
Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub, 
Viel tausend Blätter grün und frisch. 
2. Das Würmchen ist im Ei erwacht, 
Es schlief in seinem Winterhaus, 
Es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf 
Und reibt die blöden Augen aus. 
3. Und darauf hat's mit stillem Zahn 
An seinen Blätterchen genagt! 
Es sagt: „Man kann nicht weg davon! 
Was solch Gemüs mir doch behagt!" — 
4. Und wieder sagt der liebe Gott: 
„Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!,y 
Da treibt der Kirschbaum Blüt' an Blüt', 
Viel tausend Blüten weiß und frisch. 
5. Und 's Bienchen sieht es in der Früh 
Im Morgenschein und fliegt heran 
Und denkt: „ Das wird mein Kaffee sein; 
Was ist das kostbar Porzellan!"
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.