Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen und ähnliche Anstalten

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Strebe vorwärts! 
hielt, eine Kiste mit ihren Törtchen in die Ausstellung geschickt und nach Schluß 
derselben eine Medaille erhalten, da ihr Törtchen in der „Kosthalle" mit einem 
Preise gekrönt wurden. 
Sie habe sich damals darüber gefreut, aber weiter nichts dabei gedacht; doch 
nun sei ihr durch die Not der Zeit der Gedanke gekommen, die Sache als Erwerbs¬ 
zweig zu ergreifen; denn an etwas Preisgekröntem müsse doch tvas daran sein, 
und es gäbe in der Großstadt gewiß viele Feinschmecker, die ihre Törtchen gern 
essen und gut bezahlen würden. 
9. Der Herr hatte aufmerksam zugehört und einige Male zustimmend mit dem 
Kopfe genickt. „Gut," sagte er, „an der Sache ist etwas, aber wie gedenken Sie 
die Geschichte anzupacken; das wäre vor der Hand die Hauptsache. Mit sechs 
Buben so mir nichts dir nichts nach Wien zu kommen, ist ein unglaubliches 
Wagnis; die Kinder Hütten Sie daheim lassen sollen, eine Tante hat doch keine 
Verpflichtung, ihre Neffen zu erhalten — in ungewöhnlichen Füllen muß die Ge¬ 
meinde sorgen." 
Tante Scholli schrie auf. „Na, das wäre mir was Rechtes! Die Gemeinde 
da oben — was sollte da aus den Buben werden!?" 
„Was aus tausend anderen wird, die gleiches Los haben; tüchtige Arbeiter, 
Soldaten u. s. w." 
„Nein, Herr Richter, das geht nie!" sagte sie entschieden. 
„Nun sehen Sie, gute Frau, Sie kommen zu mir um Rat und wollen doch 
keinen annehmen." 
„Ei, was vor der Hand die Buben betrifft, da weiß ich mir schon selber 
Rat — ich möchte nur gerne wissen, wie ich es anstelle, um eine passende Wohnung 
zu finde»." 
„Ja, was neunen Sie in Ihrem Falle passend?" 
„Nun, eine geräumige Stube zum Wohnen und eine Küche zum Backen; ich 
meine, der Zins dazu müßte doch zu erschwingen sein." 
„Die Zinse in Wien sind teuer." 
„Stimmt," nickte Tante Scholli, „sind ungefähr viermal so hoch wie in der 
Provinz." 
„Dann kommt es sehr darauf an, in welchem Teile der Stadt die Woh¬ 
nung ist." 
„Ja, ja, das wollte ich eben auch vorbringen; ich möchte natürlich in der 
Nähe der inneren Stadt sein, nicht in einem Vorort, wo man gleich zwei Stunden 
braucht, um ins Zentrum zu gelangen. Draußen, wo die ärmere Bevölkerung 
haust, da ist kein Feld für meine Arbeit, und dann die Buben-" 
„Na ja, die Buben und wieder die Buben!" lachte der Herr, stand auf und 
durchmaß mit großen Schritten das Zimmer. Dann blieb er vor mir stehen und 
musterte mich mit kritischen Blicken. „Wie heißt du?" 
„Karol Winkler," gab ich laut zur Antwort. 
„Und was möchtest du werden?" 
„Arzt," sagte ich selbstbewußt. 
„So, so." lachte der Herr. 
„Ja," sagte Tante Scholli, als ob sich das von selbst verstünde, „der Karol 
will Arzt werden, der Josi Soldat, der Friedl Maler, der Wenz Lehrer — die 
zwei Jüngsten wissen's noch nicht." Der alte Herr kreuzte die Arme über der 
Brust und sah uns wieder der Reihe nach forschend an. 
„Prächtige Kerle," sagte er zu dem hageren Herrn, der schweigend der ganzen 
Verhandlung gefolgt war. 
„Ja, wirklich, Herr Rat," nickte der. „Und sie sehen ganz danach aus, als 
ob sie ihre Ziele erreichen müßten." 
„Weißt du denn auch," wandte sich der Herr Rat wieder an mich, „was du 
zunächst tun mußt, um Arzt zu werden?" 
„O ja, recht fleißig lernen, und aufs Gymnasium muß ich zunächst; Tante 
Scholli sagt, es gebe dort Freiplütze, und wenn man gut lernt, bekommt man auch 
die Bücher umsonst."
	        
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