B. Des Hauses Gemeinschaftsleben.
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III. Des Hauses Sitte und ftrt.
26. Der wackere Musikantenlehrling zu Göttlngen.
1. (Es war ein Sonntagnachmittag im Herbst des Jahres 1781.
Die Nachmittagskirche war aus, und die Göttinger Bürger saßen vor
ihren Türen auf der Bank, erzählten sich etwas und ließen sich's
wohl sein,- denn der Herbst meinte es gut und ließ die Sonne
scheinen' so warm wie im Sommer. Fröhliche Kinderscharen tum¬
melten sich spielend auf dem Johanniskirchhofe. Der warme Sonnen¬
schein hatte sie herausgelockt. Buch die Nlagd des Turmwächters wollte
sich von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen lassen. Uber sie hatte
sich dazu eine gefährliche Stelle ausgesucht. Sie stand hoch oben in
einer (Öffnung des Turmes, da, wo der Balken herausragt und wo
inwendig die große Winde steht, mit der die Turmleute Holz, Kohlen
und andere schwere Gegenstände zu ihrer Wohnung heraufziehen.
Das Mädchen hatte keine Ungst. Ts hatte ja schon so oft hier
gestanden und hatte an dem dicken Seile, das da herabhing, manche
schwere Last heraufgewunden, so daß es nicht mehr schwindelig wurde,
auch wenn es gerade hinunterschaute, tief hinunter auf die Straße,
wo die Kinder spielten und die Leute saßen. Und es war da oben
so schön warm in den Strahlen der Sonne, und man konnte so weit,
weit sehen, alle die Dörfer im Leinetale und dahinter die Berge-
da war der Hohe Hagen und da die Bramburg, und zwischen beiden
der Ossenberg, und dahinter mußte in dieser Zeit die Sonne unter¬
gehen. Das tat die Sonne immer um diese Jahreszeit. Und dann
färbte sich der Himmel so wunderbar rot und goldig, daß man sich
nicht satt sehen konnte. Und immer weiter gingen die Gedanken
des Mädchens, und es vergaß ganz, wie gefährlich es war, da oben
zu stehen.
2. plötzlich hörten die Leute unten auf der Straße einen fürchter¬
lichen Schrei vom Turme herabschallen, und wie sie hinaufsehen,
hängt da ein Mädchen in der halben Höhe des Turmes, hält sich
mit beiden Händen fest an dem herabhängenden Seile und schreit
um Hilfe. So schwebt das Mädchen zwischen Himmel und Erde, und
die Leute sehen es voll Entsetzen und Schrecken und meinen, das
Mädchen muß da jeden Augenblick herunterfallen und auf dem Erd¬
boden zerschmettern. „Halte dich nur fest!" rufen sie, „es kommt
schon Hilfe! Halte dich ja, ja nur fest!" (Es waren aber schon Männer
in den Turm gelaufen- die kletterten eiligst die Treppen hinauf und
wollten das Mädchen mit dem Seile langsam hinabgleiten lassen.
5lber bis oben hin, wo die Winde steht, ist ein weiter weg. Gb
sich das Mädchen in seiner Todesangst so lange festhalten konnte?
3. Und wie die Leute noch stehen und rufen, da geschieht etwas
ganz Unerwartetes. In der Mitte des Turmes regt sich etwas in
einer Fensteröffnung, und es erscheint da mit einem Male in der
Öffnung, wie ein Engel vom Himmel gesandt, ein junger Mann,-