Full text: Lesebuch für deutsche Jünglinge

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II. Der Jüngling bei der Arbeit. 
gekleideter Mensch, der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr 
Müller erwiderte den Gruß zwar gern; aber da er sich nicht er— 
innerte, den jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so glaubte 
er, daß dieser ihn mit einem anderen verwechsele. 
2. Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde 
eingeladen, und als er zur bestimmten Zeit in dessen Haus ein— 
traf, fand er den jungen Mann schon mit dem Hausherrn im 
Gespräch. Der Wirt wollte nun seine beiden Freunde miteinander 
bekannt machen; aber der jüngere sagte: „Das ist nicht nötig; wir 
kennen uns schon viele Jahre.“ — „Ich glaube, Sie sind im Irrtum,“ 
erwiderte Herr Müller, „ich habe allerdings seit einiger Zeit manchen 
freundlichen Gruß von Ihnen bekommen; aber sonst sind Sie mir 
ganz fremd.“ — „Und doch kenne ich Sie lange“, antwortete der 
junge Mann, „und freue mich, Ihnen heute herzlich danken zu 
können.“ — „Wofür wollen Sie mir danken?“ fragte Herr Müller. 
„Das ist allerdings eine alte Geschichte,“ versetzte jener; „aber 
wenn Sie mir einige Augenblicke zuhören wollen, so werden Sie 
sich meiner doch vielleicht noch erinnern. 
3. Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals 
neun Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele 
Körbe voll der schönsten Apfel zu sehen. Ich bekam nur selten 
Obst und betrachtete daher recht lüstern die herrlichen Apfel. Die 
Eigentümerin sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer 
Ware den Rücken zugekehrt. Da kam mir der Gedanke, einen 
einzigen Apfel heimlich zu nehmen; ich dachte, die Frau behielte 
ja doch noch eine große Menge. Leise streckte ich meine Hand aus 
und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute in die Tasche stecken; 
da bekam ich eine derbe Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den 
Apfel fallen ließ. ‚,Junge! sagte zugleich der Mann, der mir die 
Ohrfeige gegeben hatte, ‚wie heißt das siebente Gebot? Nun, 
ich hoffe, daß du zum erstenmal dagegen sündigst; laß es zu— 
gleich das letztemal sein! Vor Scham wagte ich kaum die Augen 
aufzuschlagen; aber doch ist mir das Antlitz jenes Mannes un— 
vergeßlich geblieben. Immer von neuem glaubte ich die Worte 
zu hören: ‚Laß es das letztemal sein! Ich nahm mir fest vor: 
Ja, es soll gewiß das erste- und letztemal gewesen sein! Aber 
auch lange nachher, wenn ich in der Schule das siebente Gebot 
aufsagen sollte, dachte ich mit heftigem Herzklopfen an jenen 
Morgen. Als ich nach einigen Jahren die Schule verließ, wurde 
ich Lehrling bei einem Kaufmann in Bremen; von dort ging ich 
später nach Südamerika. Hier kam ich wohl manchmal in Ver— 
suchung, in Kaufmannsgeschäften andere zu betrügen und so die 
Hand nach fremdem Gute auszustrecken; aber dann war es mir
	        
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