Full text: Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

321 
Gesetztenfalls, die Sozialisten sollten das Ziel ihrer Wünsche erreichen. 
wie würde es dann in der Welt aussehen? Zunächst würden sie einen Staat 
gründen, dessen Namen sie schon erfunden haben, nämlich den Volksstaat. 
Rang und Stand haben darin aufgehört, ebenfalls Armut und Reichtum. 
Der Minister wäre und hätte so viel als der Nachtwächter. Alle hätten 
gleiche Pflichten und gleiche Rechte. Jeder hätte die Hauptpflicht, accurat 
so viel zu arbeiten wie der andere, und das Recht, accurat so viel zu ver— 
dienen wie sein Mitbürger. Die Gesetze werden vom Volke gegeben und 
überwacht. Der Staat gründet Fabriken; was dieselben einbringen, wird 
gleichmäßig unter die Arbeiter verteilt. Der Leiter der Fabrik erhält keinen 
Pfennig mehr als derjenige, welcher die Räder schmiert. Der Acker wird 
nach Verhälinis unter die Stadt- und Landbevölkerung verteilt. Alle Ein— 
wohner eines Dorfes beackern ihr Feld gemeinschaftlich. Ist das Getreide 
verkauft, wird das eingenommene Geld ebenfalls gleichmäßig unter alle ver⸗ 
teilt. Keiner erhält einen Pfennig mehr oder weniger als der andere. Alle 
Schulen sind frei. Schulgeld wird nicht bezahlt. Jeder Schüler hat das 
Recht, die höchsten Schulen zu besuchen. Kirchen und Kirchendiener sind ab— 
geschafft. Theater und öffentliche Gärten stehen unentgeltlich jedem offen. 
Ist so ein Volksstaat nicht unübertrefflich herrlich? Ja, auf dem 
Papiere. Überlegen wir nun einmal, wie sich die Wirklichkeit machen wird. 
Zunächst, was nennt der Sozialist Arbeit? Im Grunde nur diejenige 
Thätigkeit, wozu feste Knochen und eine starke Faust gehören. Eine 
Thätigkeit, die einen klaren Kopf, ein warmes Herz und eine gefährliche 
Verantwortlichkeit erfordern, erkennt der Sozialist als Arbeit nicht an. Der 
Minister hinter seinem Arbeitstische, der Schreiber hinter den Akten, der 
Schriftsteller vor seinem Pulte, der Lehrer in der Schule sind Faulenzer. 
Wir wollen uns also denken, der Volksstaat sei fertig, und das Volk habe 
sich über alle nötigen Gesetze bereits geeinigt. Zunächst müßte nun jemand 
da sein, der die Verwaltung übernähme, ganz gleich, ob als Präsident, Konsul 
oder Direktor. Allein kann der Mann die Arbeit nicht bewältigen. Es 
müssen ihm Männer zu Hilfe gegeben werden. Wäre so eine Behörde 
gebildet, würde sie doch nicht genügen. Wie sollte sie den ganzen Volksstaat 
übersehen können? Andere Behörden wollen dazu eingesetzt sein: eine, welche 
die Geldangelegenheiten besorgt, eine andere, welche bei Streitigkeiten Recht 
spricht, eine dritte, welche Fabrikangelegenheiten ordnet, eine vierte, welche 
das Ackerbau⸗, eine fünfte, welche das Schulwesen in Händen hat. Aber, 
Fritz, ein Beamter muß mehr gelernt haben als ein Wagenschmierer. Dieser 
hat vielleicht von seinem 15. Lebensjahre an gleichen Lohn mit den anderen 
verdient, jener wenigstens 10 Jahre länger keinen Pfennig erhalten und 
dabei vielleicht Nächte hindurch lernen müssen — und doch soll die Arbeit bei⸗ 
der gleich hoch bezahlt werden. — Fritz, was würdest Du in diesem Falle 
vorziehen: deine Jungen Minister oder Wagenschmierer werden zu lassen? 
Ich glaube letzteres. Und so würden auch wohl die allermeisten Bürger 
eines Volksstaats denken. Folglich würde es diesem bald an tauglichen 
Beamten fehlen, und diese müßten durch solche, welche für die Händearbeit un⸗ 
tauglich sind, durch Krüppel, Lahme, Blinde u. s. w., ersetzt werden. Ein 
Lesebuch füͤr städt. Fortbildungsschulen. 21
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.