Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

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auf dem Hofe. Alles ging so geschwind; der Baum vergaß ganz, 
auf sich selbst zu sehen; es war so viel um ihn herum. Der Hof 
stieß an einen Garten, alles blühte darin; die Rosen hingen so frisch 
und duftend über das kleine Geländer, die Lindenbäume blühten, die 
Schwalben flogen und sagten: „Quirre-wirrewit, mein Mann ist 
gekommen!" aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten. 
„Nun soll ich leben!" jubelte er und breitete seine Zweige 
weit aus; ach, sie waren alle verwelkt und vergilbt; im Winkel 
war's, zwischen Unkraut und Nesseln, wo er lag. Der Gold¬ 
papierstern saß noch oben im Gipfel und schimmerte im klaren 
Sonnenschein. Im Hofe selbst spielten ein paar der lustigen Kinder, 
die Weihnachten um den Baum getanzt hatten und über ihn so froh 
waren. Eins der kleinsten eilte hin und riß den Goldstern ab. 
„Sieh, was dort noch auf dem häßlichen alten Weihnachts¬ 
baume sitzt!" sagte der Knabe und trat auf die Zweige, so daß 
sie unter seinen Stiefeln krachten. 
Und der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische 
im Garten, er sah auf sich selbst und wünschte, daß er in seinem 
finstern Winkel auf dem Boden geblieben wäre; er dachte an 
seine frische Jugend im Walde, an den lustigen Weihnachtsabend 
und an die kleinen Mäuse, die so vergnügt seine Geschichte über 
Klumpe-Dumpe gehört hatten. 
„Vorbei! vorbei!" sagte der arme Baum. „Hätte ich mich 
doch gefreut, als ich es konnte! Vorbei! vorbei!" 
Und der Knecht zerhieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzer 
Haufen lag dort; herrlich flammte das Holz unter dem großen 
Braukessel; und es seufzte so tief, jeder Seufzer war wie ein 
kleiner Schuß! Deshalb liefen die Kinder, welche spielten, hinein, 
setzten sich vors Feuer, sahen in dasselbe und riefen: „Piff, paff!" 
Aber bei jedem Knall, der ein Seufzer war, dachte der Baum an 
einen Sommertag im Walde, an eine Winternacht draußen, wenn 
die Sterne funkelten; er dachte an den Weihnachtsabend und an 
Klumpe-Dumpe, das einzige Märchen, welches er gehört hatte und 
zu erzählen wußte, — und nun war der Baum verbrannt. 
Die Knaben spielten im Hofe, und der kleinste trug den Goldstern 
auf der Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen 
hatte; der war vorbei, und mit dem Baume war es vorbei undmit der 
Geschichte auch; vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten! 
k)an5 Christian Andersen.
	        
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