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57. Das Gemüt.
weder eingebildete oder wirkliche Übel. Die meisten körperlichen Übel,
über die die Menschen klagen, sind wohl für eingebildete zu halten.
So ist die Hypochondrie (Grillenhaftigkeit) ein eingebildetes Übel,
wenigstens ist es gar kein körperliches Übel, wofür man es doch hält,
sondern ein seelisches, nämlich die Unfähigkeit, von sich selbst los—
zukommen, die unglückselige Neigung, auf sein körperliches Teil fort—
während zu achten und daher jedes kleine Nervenzucken und Blutauf—
wallen für eine äußerst wichtige Sache zu halten und sich darum immer
für krank anzusehen.
Kommt das Gemüt in die rechte Verfassung, so verschwinden die
eingebildeten Übel; die wirklichen Übel dagegen werden mit Geduld
ertragen, gemildert, auch wohl, wenn sie nicht augenblicklich zerstörend
sind, ganz vergessen. Doch hat der Einfluß des Gemüts auf das
Körperliche natürlich seine Grenzen, dagegen äußert er sich in Bezug
auf die anderen Geistesthätigkeiten fast unbedingt. Von allen Geistes—
thätigkeiten scheint das Gedächtnis, diese bewunderungswürdige Kraft,
die Vorstellungen in das Bewußtsein aufzunehmen, sie darin festzu—
halten und sich daran zu jeder Zeit zu erinnern, dem Gemüte am
fernsten zu liegen und am wenigsten von ihm abzuhängen; und doch,
wie täuscht dieser Schein! Denn in der That wächst die Gedächtnis—
kraft mit dem gemütlichen Interesse, das ich für die Gegenstände habe,
die in das Gedächtnis aufgenommen werden sollen. Was dem Gemüte
nicht zusagt, das fällt in der Regel auch so geschwind aus dem Gedächt—
nisse, wie die Körner aus einem Siebe, wenn es geschüttelt wird
Wenn dagegen eine Vorstellung oder eine Erfahrung in das Gedächtnis
aufgenommen wird, die in das Gemüt eingreift, so verwächst sie mit
unserer innersten Persönlichkeit und verbleibt für alle Zeiten. Was
mich lebendig interessiert, das brauche ich gar nicht auswendig zu lernen,
weil ich es inwendig besitze. Ja, wenn irgend eine Anschauung oder
Erfahrung unser Gemüt gewaltsam erschüttert, so wird das Gedächtnis
ein vollkommener Sklave des Gemüts. In der Regel nämlich liegt
es, wie jeder aus Erfahrung weiß, in unserer Willkür, die Vorstellungen,
die unsere Vorstellungswelt ausmachen, zu jeder Zeit aus dem dunkeln
Schachte unserer Seele ins Bewußtsein zu rufen und ebenso rasch sie
wieder zu verabschieden. Aber wenn das Gemüt von irgend einer Vor—
stellung leidenschaftlich erregt ist, so kommt dieselbe von selbst ins Ge—
dächtnis, wir können sie oft nicht los werden und zur Ruhe bringen, so
gern wir es wollen, und so sehr wir uns bemühen.
Aber in einem noch viel höheren Grade als auf das Gedächtnis
wirkt das Gemüt auf die beiden Grundthätigkeiten unseres Geistes,
nämlich auf das Erkennen und Wollen und in Bezug hierauf beweist
es sich als die inwendige Lebenssonne, die alle Richtungen und Thätig—
keiten unseres Seelenlebens erleuchtet und belebt und so recht das In—
wendige unseres ganzen Seelenlebens ist. Alle großen Forscher der