62. Das Leben der Wörter.
I
Dies führt uns auf die interessanteste und ausgedehnteste Gruppe
der Bedeutungsänderung der Worte, auf die Fälle nämlich, wo die
Benennung eines Begriffs auf einen anderen übertragen worden ist;
es ist dies das unerschöpfliche Kapitel der Metapher, des bildlichen
Ausdruckes der Rede.
Ursprünglich hatten alle Wörter eine sinnliche, konkrete Bedeutung,
alle geistigen, abstrakten Begriffe haben ihre Benennung von der Ähn—
lichkeit mit wirklichen Dingen erhalten. Aber je häufiger ein bildlicher
Ausdruck angewendet wird, um so mehr schwindet das Bewußtsein, daß
wir es mit einem Bilde zu thun haben. Wer hat noch die Empfindung,
daß er Bilder gebraucht, wenn er sagt: „Ich begreife diesen Vor—
gang,“ oder „ich habe es genau erwogen,“ „ich muß dies Ziel ins
Auge fassen.“ Um zu erkennen, welches Bild dem Worte verstehen
zu Grunde liegt, müssen wir daran denken, daß die ersten Künste nicht
aus Bücheru gelernt wurden, sondern darin bestanden, mit Lanze und
Schwert zu kämpfen und das Roß zu bändigen, also Künste, bei denen
es auf die richtige Haltung oder Stellung ankam.
Zuweilen müssen wir der Bedeutung eines Wortes in einer älteren
Sprachperiode nachgehen, um das Bild zu erkennen. Daß z. B. dem
Worte der Schreck eine Metapher zu Grunde liegt, entnehmen wir
daraus, daß das Verbum schrecken im Mittelhochdeutschen aufspringen,
hüpfen bedeutete. Die Zusammensetzung Heuschrecke hat diese ältere Be—
deutung bewahrt, ebenso wie sich entsetzen im Grunde heißt „von seinem
Sitze aufspringen.“
Es giebt wohl kaum eine flüchtige Ähnlichkeit zweier Dinge, die nicht
dazu gedient hätte, den Sprachschatz mit einer Metapher zu bereichern.
Ist es nicht seltsam, daß viele Völker bei der Benennung der Maschine,
die bestimmt ist, schwere Lasten zu heben, an den langen Schnabel des
Kranichs gedacht haben! In Deutschland heißt diese Hebevorrichtung
Kran, in England crane, und ebenso in den romanischen Sprachen; in
Frankreich grue, in Italien gru.
Es giebt kein Gewerbe, dessen besondere Fachausdrücke nicht der Allge—
meinheit Bilder verliehen hätten. Greifen wir z. B. die Beschäftigung
des Bauern heraus! Wir sprechen von einer gefurchten Stirn, wir
sagen: Zwietracht aussäen, Dank ernten, Vorurteile ausjäten,
Nachlese halten, Spreu vom Weizen sondern. Und in völliger Über—
einstimmung mit dem Sprachgeiste des Volkes sagt Goethe in seinem
Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“: „Das Böse fällt mit dem Guten.
Ein Geschlecht wird wegg emäht, und das andere sproßt auf.“ Die