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6. Der Blinde und der Lahme.
Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden.
Und jener hofft schon freudenvoll.
Daß ihn der andre leiten soll.
5 „Dir," spricht der Lahme, „beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
Doch scheints, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.
Entschließe dich, mich fortzutragen,
io So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein Helles Auge deines sein."
Der Lahme hängt mit seinen Krücken
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
iS Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.
Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
20 Entspringet die Geselligkeit.
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte.
So würd er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein.
25 Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein,
Wir dürfen nur gesellig sein.
7. Der Reisende.
Ein Wandrer bat den Gott der Götter,
Den Zeus, bei ungestümem Wetter
Um stille Luft und Sonnenschein.
Umsonst! Zeus läßt sich nicht bewegen;
b Der Himmel stürmt mit Wind und Regen;
Denn stürmisch sollt es heute sein.
Der Wandrer setzt mit bittrer Klage,
Daß Zeus mit Fleiß die Menschen plage,
Die saure Reise mühsam fort,
w So oft ein neuer Sturmwind wütet
Und schnell ihm stillzustehn gebietet,
So oft ertönt ein Lästerwort.
Ein naher Wald soll ihn beschirmen;
Er eilt, dem Regen und den Stürmen
In diesem Holze zu entgehn; is
Doch eh der Wald ihn aufgenommen,
So sieht er einen Räuber kommen
Und bleibt vor Furcht im Regen stehn.
Der Räuber greift nach seinem Bogen,
Den schon die Nässe schlaff gezogen; 20
Er zielt und faßt den Pilger wohl.
Doch Wind und Regen find zuwider;
Der Pfeil fällt matt vor dem darnieder.
Dem er das Herz durchbohren soll.
„O Tor!" läßt Zeus sich zornig hören, 25
„Wird dich der nahe Pfeil nun lehren,
Ob ich dem Sturm zuviel erlaubt?
Hätt ich dir Sonnenschein gegeben,
So hätte dir der Pfeil das Leben,
Das dir der Sturm erhielt, geraubt." ro
8. Der Schatz.
Ein kranker Vater rief den Sohn.
„Sohn!" sprach er, „um dich zu versorgen,
Hab ich vor langer Zeit einst einen Schatz
verborgen;
Er liegt-." Hier starb der Vater schon.
Wer war bestürzter als der Sohn? 5
„Ein Schatz! (so waren seine Worte)
Ein Schatz! Allein an welchem Orte?
Wo find ich ihn?" Er schickt nach Leuten aus,
Die Schätze sollen graben können,
Durchbricht der Scheuern harte Tennen, 10
Durchgräbt den Garten und das Haus,
Und gräbt doch keinen Schatz heraus.
Nach viel vergeblichem Bemühen
Heißt er die Fremden wieder ziehen,
Sucht selber in dem Hause nach, 15
Durchsucht des Vaters Schlafgemach
Und findt mit leichter Müh (wie groß war
sein Vergnügen!)
Ihn unter einer Diele liegen.
Vielleicht, daß mancher eh die Wahrheit
finden sollte,
Wenn er mit mindrer Müh die Wahrheit 20
suchen wollte;
Und mancher hätte sie wohl zeitiger entdeckt,
Wofern er nicht geglaubt, sie wäre tief versteckt.
Verborgen ist sie wohl, allein nicht so verborgen,
Daß du der finstern Schriften Wust,
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