65. Eine Reise nach Gießen im Jahre 1829.
Darmstädter historische Kleinigkeiten.
is Dienstag fährt eine Chaise von hier über Frankfurt nach
Gießen ab,- Personen, die gesonnen sind mitzufahren, belieben
sich bei Fuhrmann Zchultheiß (oder Zeißler) zu melden." So
lautete vor 80 Jahren eine der Bekanntmachungen, welche der „Rus-
scheller" an den Straßenecken in Varmstadt verkündigte. Und diese
Nachricht war sehr wichtig in einer Zeit, in der gar mancher Mensch
auf eine Fahrgelegenheit in das Gberfürstentum sehnsüchtig wartete.
Venn damals ging noch nicht einmal das „silberne Noß" *) nach Frank¬
furt, von wo aus man im Notfälle mit dem Lilwagen nach Gießen
hätte kommen können, und noch lange nicht der „postkurier", der, als
der Fortschritt schon festen Fuß gefaßt hatte, täglich nach der Haupt¬
stadt Gberhessens abging und den Neisenden von morgens sechs Uhr
bis abends fünf Uhr von Darmstadt nach Gießen brachte,' ein Bahnzug
aber, der ohne Pferde Hunderte von Menschen auf einmal mit Windes¬
schnelle fortbrachte, konnte höchstens von einem phantastischen Menschen
geträumt werden.
von den damaligen Verkehrsschwierigkeiten kann sich ein Geschlecht
keinen Begriff machen, das in verkehrsfragen so verwöhnt ist, daß alle
Weisheit und alle Überlegung der Lisenbahnbehörden seinen Wünschen
nicht gerecht zu werden vermag.
Und doch war hamals schon die Zache viel, viel besser als zu der
Zeit unserer Voreltern, da keine Straße den Norden mit dem Süden rer--
band, von hier nach Frankfurt tiefer Zand durchfurcht werden mußte
und in der Wetterau die Wegelosigkeit so groß war, daß, wie behauptet
wurde, ein in Stockholm abgehender Kurier schon bei der Rbfahrt an die
schlimmen Wege der Wetterau dachte.
Wie es aber vor 80 Jahren trotz der Ztraße noch war, wird dem
Zeser deutlich werden, wenn ich ihm meine erste Fahrt zur Hochschule
im Jahre 1829 beschreibe.
RIs der „Zeißler" den Rbgang einer Chaise nach Gießen hatte in
Russicht stellen lassen, wurden die Ueisevorbereitungen gemacht, der Koffer
gepackt und die Rbschiedsbesuche abgestattet. Um l Uhr nachts kün¬
digte dann der Fuhrmann sein Nahen durch Peitschenknallen an, und
die ganze Familie, die natürlich wachend geblieben war, bereitete sich
zu tränenvollem Rbschied von dem in die weite Ferne ziehenden Zahn
und Bruder. Rls der Koffer mit Ztricken dem bereits hinten aufgebun¬
*) Das „silberne Roß" war das Abzeichen eines Wagens, der im Anfang des
l9. Jahrhunderts den Personenverkehr zwischen Darmstadl und Frankfurt vermittelte.
Deutsches Lesebuch f. d. höhere» Schulen d. Grohherzogtums. Band III. 14