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der Paß am Bernhard. Jenseit des Grenzsteines, an dem zunächst für Straßen¬
bauer und ihre Gerätschaften errichteten ansehnlichen Gebäude, senkt sich die
Straße nach St. Maria hinab, einem Dörfchen des hier angrenzenden Grau-
bündens. Wir hörten neben «ns die Wasserfälle rauschen, deren Bächlein sich
hinabstürzen zum Thale der Adda. Sieben Galerieen, meist durch Felsen ge¬
sprengt, andere aber neben dem Abgrunde hin gemauert, schützen auch diesen
Teil der Straße vor dem Abgleiten des Schnees und der Steine. Schon in der
Nähe des Thales, bei den letzten Galerieen bemerkt man, rechts von der Straße,
an ihren emporsteigenden Dämpfen, die in der Tiefe gelegenen Heilbäder von
Bormio.
Die Alpenseen,
von Steinhard.
Fast alle größeren Alpenseen liegen in Querthälern, solchen Thälern,
welche nicht mit den Gebirgszügen in gleicher Richtung laufen, sondern sie quer
durchschneiden. Es sind mit Wasser erfüllte Gebirgskessel, Versenkungen, Spalt¬
öffnungen, zum Teil von so großer Tiefe, daß der Grund einiger viele hundert
Fuß unter der Meeresfläche ruht. Bei den seichteren beträgt die Tiefe 300 bis
400, bei den tieferen 1000, ja 2000 und mehr Fuß. Die tiefsten Stellen der
Seen finden sich gewöhnlich in der Nähe der höchsten und steilsten Umgebungen,
und bei größeren Seen dort, wo der See unmittelbar dem Gebirge zugekehrt
ist. Bei ihrer Lage in Querthälern und ihrer Einpressung durch hohe Felsen¬
berge ist es natürlich, daß sie viel mehr lang als breit sind, so daß ihre Wasser
nur gerade das enge Thal ausfüllen. Einer der breitesten Alpenseen ist der
Genfer See, weil er in einem Längenthale liegt. Er hat bei einer Länge von
9% Meilen eine Breite von 2 Meilen. Dagegen hat der in einem Querthale
liegende Lago Maggiore, der mit den Krümmungen 83/4 Meilen lang ist, eine
mittlere Breite von einer halben Meile. Nur der Gardasee erreicht, obgleich
auch er in einem Querthale liegt, bei einer Länge von beinahe sieben Meilen,
eine Breite von 2ft4 Meilen.
Die Gegenden um die großen Alpenseen gehören zu den schönsten Europas.
Weit entfernt von dem Charakter der Einförmigkeit, welcher den alpinischen
Hochseen aufgeprägt ist, weisen jene, da sie fast alle an den Übergängen der bei¬
den großen Naturgegensätze, der wild erhabenen Alpenregionen auf der einen
und der milderen Berglandschaften und der Thalebenen auf der anderen Seite,
liegen, in ihren Umgebungen den größten Reichtum an Naturverhältnissen und
die mannigfaltigsten Naturschönheiten auf. Großartige und liebliche Bilder
wechseln oder verschmelzen mit einander in einer solchen Weise, daß die Natur
ihre Freunde und Verehrer nur an wenig anderen Punkten der Erde mit ähn¬
lichen Überraschungen beglückt und daß sie fast nirgends sonst einen so zusammen¬
gedrängten Wechsel von der gigantischsten Wildheit oder von der feierlichsten
Erhabenheit bis zu der stillsten Lieblichkeit und fesselndsten Anmut zeigt.
Da die tiefen Stellen, welche die Seeufer einnehmen, meist vor rauhen
Winden geschützt find, so begünstigt ein besonders mildes Klima die Anlande
der Alpenseen, und ein reiches Pflanzen- und Tierleben entfaltet sich am Rande
der Spiegel, wie in ihrer Tiefe. An den Ufern dieser Seen sproßt und grünt
der Frühling zuerst, und man trifft die üppigsten Fruchtbäume, die reichsten
Weingärten, während oft nur eine kurze Strecke weit vom Seegebiet entfernt