47. Zn den Eis- und Schneeregionen der Hochalpen.
Paul Eüßfeldt. In den Hochalpen. Berlin 1886*.
Der eigentümliche Charakter der höchsten Zonen unserer Alpen ist
vornehmlich dadurch bedingt, daß sie weit hineinragen in die sog.
Region des „ewigen Schneees". Da die Luft sich mit der Höhe
verdünnt und durchlässiger wird für die vom Erdboden zurückgestrahlte
s Wärme, so erwärmt sie sich über hochgelegenen Flächenstücken weniger
als über tiefgelegenen. Denn der Wärmegrad der Luft wird durch
direkte Sonnenstrahlung nur unmerklich beeinflußt; die Wärme¬
zufuhr erfolgt vielmehr indirekt; sie geht vom Erdboden aus, dessen
Wärmestrahlen zum Teil von der Luft verschluckt werden. Die mittlere
io Zahreswärme sinkt deshalb mit der Höhe, während die Feuchtig¬
keit der Luft sich mehr und mehr als Schnee statt als Regen nieder¬
schlägt, und man gelangt beim Aufsteigen in der Alpenwelt an eine
Linie, die sog. Schneegrenze, oberhalb deren mehr Schnee fällt,
als weggetaut wird. Diesen Schnee bezeichnet ein uralter schöner
i5 Sprachgebrauch als „ewigen Schnee".
Bedenkt man, daß sich die Schneegrenze für den Nordrand der
Alpen in einer Höhe von etwa 2700 m hinzieht, daß aber die Kämme
der Zentralketten sich bis 4000 m, ihre Spitzen bis über 4810 m er¬
heben, so erhält man ohne weiteres eine Vorstellung von den un-
20 geheuren Schneemassen, die dem Hochgebirge aufgelagert sind. Aber
die schroffen Bildungen der Felsunterlage lassen es nicht überall zu,
daß der Schnee sich als gleichmäßige, glänzende Decke darüber aus¬
breite. Es gibt Hänge, an denen kein Schnee haftet oder wo er so
lose haftet, daß eine geringe Ursache ihn wegstäubt oder niederrieseln
25 läßt oder in donnernden Lawinen zur Tiefe führt; dann bleibt meist
nichts als eine dünne Decke, welche sich unter der Einwirkung der Sonne
und späteren Gefrierens in Eis verwandelt, und es entstehen für den
Wanderer jene steilen und glatten Wegstrecken, die auch den Mutigen
befangen machen. So bedingt die Mannigfaltigkeit in dem Aufbau
ro des Gebirges gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit in der Schneebedeckung:
aus weiten Firnmulden steigt das Felsgebirge auf; seine dunklen
Grate, seine steilen Abstürze durchbrechen den Schnee, der in weißen
Flächen niedergeht und sich in den wässerig-grauen oder bläulichen
Eiszerklüftungen des Gletscheranfangs verliert. Gegen den schwarz-
35 blauen Himmel setzen sich die Kammlinien der großen Ketten ab,
bald rauh, zerrissen und nackt erscheinend, bald sanft geschwungen,