Full text: [Abteilung 5 = Für Ober-Tertia, [Schülerband]] (Abteilung 5 = Für Ober-Tertia, [Schülerband])

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A. Erzählende Prosa. I. Sagen. 
er müsse damals schon keinen Kopf mehr gehabt haben, denn er habe 
ihn dreimal angerufen, ohne eine Antwort von ihm zn erhalten. Wolle 
man aber ganz sicher sein, so solle man nach Hause zu seinem Weibe 
schicken, um sie zu fragen, ob ihr Mann des Morgens beim Ausstehen 
noch seinen Kops gehabt habe. Es geschah so; die Frau aber antwortete, 
sie wisse es selbst nicht ganz genau, nur so viel erinnere sie sich, daß 
sie ihm am letzten Sonnabend den Kopf gestriegelt habe. „Dort an 
der Wand," fuhr sie fort, „hängt sein alter Hut; wenn da sein Kopf 
nicht drinsteckt, so wird er ihn wohl mit sich genommen haben, öder¬ 
er hat ihn anderswohin gesteckt, was ich nicht weiß." In dem Hute 
an der Wand stak aber der Kops nicht; so wußte niemand, wo des 
Mannes Haupt hingekommen war. 
Zur Kriegszeit bangte den Schildbürgern sehr für ihre Glocke am 
Rathause. Um sie vor den Feinden zu sichern, nahmen sie dieselbe im 
Schisse mit und versenkten sie im See. Um sie aber später wieder zu 
finden, machte der Schultheiß am Bord des Schiffes einen Kerbschnitt 
zur Bezeichnung des Ortes; natürlich fanden sie später die Stelle im 
Schiffe wieder, die Glocke aber nicht mehr. 
Zu dieser Zeit hatte sich auch ein unglücklicher Krebs nach Schilda 
verirrt. Die Schildbürger, die noch nie einen solchen gesehen hatten, 
konnten sich über das vielsüßige Tier, das vorwärts und rückwärts 
ging, nicht genug entsetzen. Sie läuteten deshalb Sturm und berieten, 
was sie mit dem Ungeheuer beginnen sollten. Der Schultheiß bemerkte 
die Scheren und meinte, es müsse ein Schneider sein. Sie setzten ihn 
also aus ein Stück ausländisches Tuch, und da sie ihn für einen Muster- 
schneider hielten, schnitt ihm einer von hinten mit der Schere nach, 
wohin er nur immer kroch. Aber bald sahen sie ein, daß nichts recht 
Gescheites dabei herauskam. Deshalb erklärten sie ihn für einen Be¬ 
trüger. Endlich meinte einer, man solle seinen Sohn zu Rate ziehen; 
der sei weit gereist und wisse wohl, was es sei. Der Weitgereiste besah 
sich das Tier von vorne und hinten und gab den klugen Bescheid: 
„Das Tier hat einen Kopf wie ein Hirsch," er hielt nämlich den 
Schwanz dafür, „wenn es nicht eine Taube oder gar ein Storch ist." 
Nun waren sie so klug wie zuvor. Da wollte ihn noch einmal einer 
anfassen; der Krebs kriegte ihn aber mit der Schere zu packen und 
zwickte ihn so, daß er zetermordio schrie. „Es ist ein Mörder!" ries 
er jammernd. Der Fall ward einem ernsten Gerichte unterbreitet, das 
folgendes Urteil füllte: „Sintemal das Untier sich fälschlich für einen 
Schneider ausgegeben habe, in Wahrheit aber ein Mörder sei, solle 
es im Wasser ersäuft werden." Vorsichtig ward es demzufolge 
auf ein Brett geschoben und unter Beiwohnung sämtlicher Schild- 
bürger ins Wasser geworfen. Da ward es dem armen Krebs in 
seinem Elemente wieder wohl, und er zappelte mit allen Füßen.
	        
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