Full text: [Siebenter Teil = Klasse 3, [Schülerband]] (Siebenter Teil = Klasse 3, [Schülerband])

112. Die ißode und die Blumen, Von Ferdinand Cohn. 
Die Pflanze. 2. Auflage. 2. Band. Breslau 1897. 8. 185. 
Kein König, kein Kaiser gebietet so unumschränkt, kein Tyrann hat sich 
jemals so gewaltsame Eingriffe in die innersten Lebensverhältnisse 
erlaubt, hat jemals so naturwidrige Verordnungen gewagt, und doch hat 
niemals ein Fürst so allgemeinen, widerspruchslosen Gehorsam gefunden 
als die Herrscherin des Menschengeschlechts, die Mode. Die Mode befiehlt 
uns nicht nur, was für Kleider wir tragen, zu welcher Stunde wir Hunger 
empfinden und durch was für Speise wir ihn sättigen, in welcher Straße 
und in was für Zimmern wir wohnen dürfen; sie schreibt uns auch vor, 
durch welche Schriftsteller wir unseren Geist bilden, durch welche Musik, 
durch welche Vergnügungen wir ihn erheitern, ob wir uns mehr für 
politische oder für religiöse Streitfragen, mehr für die Börse oder für das 
Theater interessieren sollen; ja, selbst dem Kranken verordnet sie, nach 
welcher Heilmethode, in welchem Bade er seine Genesung suchen solle. 
Und nicht allein der Mensch ist der Mode unterworfen, auch über 
die Natur erstreckt sich ihr Reich. Zwar soweit Tiere und Pflanzen nur 
unter sich und für sich leben, im Haushalte der Pflanzen wie in den 
Tierstaaten, ist die Mode unbekannt; aber wo Tiere und Pflanzen mit dem 
Menschen in Berührung kommen, wo sie von ihm in Kost und Pflege 
genommen werden, da sind auch sie dem Zepter der Mode unterworfen. 
Jedermann weiß, welch gewichtiges Wort die Mode bei der Zucht unserer 
Haustiere mitzusprechen hat, mögen es nun Singvögel oder Papageien, 
Hühner oder Tauben, Pferde oder Hunde sein. Und vor allem die 
Pflanzen, die sich der Mensch in Haus und Zimmergärten zur täglichen 
Gesellschaft auserwählt, sind den wandelbaren Launen der Mode unter¬ 
worfen. Der Schnitt unserer Kleider, die Muster unserer Stoffe können 
nicht schneller, nicht mannigfaltiger wechseln als die Arten, die Formen, 
die Zeichnungen unserer Modepflanzen. Ehemals schmückten Zitronen- 
und Orangenbäume, in Kübel gepflanzt, mit den dunklen Laubkronen, 
den weißen Blütenflernen und den goldigen Früchten die Terrasse vor 
jeder herrschaftlichen Villa; heutzutage sind sie nur noch in wenigen alten 
Fürstengärten zu treffen, und unfruchtbare Lorbeerbäume haben ihre Stelle 
eingenommen. Einst waren die Tulpen in der Mode, dann kamen die
	        
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