Full text: [Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband]] (Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband])

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denn wer beim ersten Kuckucksrufe kein Brot in der Tasche hat, der 
kriegt auch das ganze Jahr keins hinein. 
Die Paten hatte ich oft sagen hören, wenn man den Kuckuck zum 
erstenmal höre und einen Pfennig in der Tasche habe, würde einem 
das ganze Jahr das Geld nicht ausgehen, und wenn man kein Geld 
bei sich trage oder gar was verlöre, würde man auch das ganze Jahr 
Mangel daran leiden. 
Ein Pfennig wäre schon genug gewesen; aber was half uns das? 
Unsere Eltern hatten vor drei Tagen ihr Letztes für eine ältere Schuster- 
schuld hingegeben und besaßen nicht einen roten Heller mehr. 
Wir grämten uns indes nicht allzusehr, mußten uns nun aber 
sputen, da der Vater doch gewiß schon hungrig nack uns ausguckte. 
Als wir eben in die hohen Buchen auf dem Hungerberge kamen, 
schimmerte uns ein ballartig zusammengeknittertes Stück Papier ent¬ 
gegen. Wir hoben es auf, lösten es auseinander und kernten — wer 
beschreibt unsern freudigen Schrecken — und kernten einen blanken 
halben Gulden aus dem Papierballe. Wir waren so starr, daß wir uns 
nicht vom Flecke rühren konnten. Ein blanker halber Gulden? War 
das nicht Blendwerk? Oder sollte der Kuckuck . . . ? „O, o, nun haben 
wir das ganze Jahr viel Geld!" schrien wir. „Hurra! Hurra! Was 
wird der Vater für Augen machen, wenn wir den kostbaren Fund ihm 
zeigen! Ganz gewiß wird er die Axt in den obersten Baumwipfel werfen 
und mit uns singen und springen. Und dann die Mutter — na, die 
wird eine Stunde dastehen und das unverhoffte Glück ganz und gar 
nicht zu fassen wissen." 
Als wir auf den jungen Hau kamen, zeigten wir, glühend wie 
Backofenkohlen, dem Vater unseren Fund. Seine Augen leuchteten 
auf; aber die Axt flog nicht in den Baumwipfel. „Kinder," sagte er 
nach einer Minute stillen Bedenkens, „laßt euch vom Kuckuck nicht die 
Augen verblenden. Er ist ein loser Schelm, berückt die Leute gern und 
führt sie an der Nase herum. Wer was hat, dem wirft er was zu; wer 
aber nichts hat, der kriegt auch nichts. Ihr aber habt weder ein Krüm¬ 
chen noch einen Kreuzer bei euch — auch der halbe Gulden ist nicht euer 
eigen, er ist gefunden — der Kuckuck wird euch was pulsten." Der Vater 
nahm den halben Gulden in die Hand, betrachtete ihn noch einen Augen¬ 
blick und wickelte ihn sorgfältig wieder ein. ,'Maubt mir, Kinder," 
sagte er, „es nützt uns nichts, llnd es hängt gewiß ein gramvolles Herz 
daran!" 
Wir waren sehr enttäuscht und ganz geknickt. Indem bemerkten 
wir in einiger Entfernung einen alten Mann, der mit tiefgebeugtem 
Haupte zwischen den Bäumen hin- und herging und allerlei seltsame 
Gebärden machte, erst tief herab auf den Boden, dann hinauf zu den 
Baumwipfeln sah und wie in heller Verzweiflung die Hände rang. 
Ergriffen verfolgten wir eine Minute sein Tun; dann rief ihm der Vater 
zu: „Suchst du was, Hanchristoph? Hast du was verloren?"
	        
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