Full text: [Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband]] (Dritter Teil = 5. bis 8. Schuljahr, [Schülerband])

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Der Mann wandte sich um und wankte auf uns zu. „Ach Gott 
— ihr seid's — 's freut mich!" rief er. „Ihr wißt, daß heute Maitag 
ist — und daß der Kuckuck gerufen hat — und daß das eine Freude ist, 
wenn man Geld in der Tasche hat — Geld in der Tasche, unsereiner! 
Ach, du lieber Gott! Hört, wie mir's ergangen ist! Wir sind an Brots¬ 
enden — und ich wollte zur Feierabendstunde in der Holzmühle vor¬ 
gehen und Mehl mitbringen. Wollt's gestern schon tun, sagt aber Ja- 
nechen, meine Frau: Tu's morgen, weil's dann Maitag ist, und weil 
dann vielleicht gerade der Kuckuck mft; hast dann entweder Geld oder 
Mehl bei dir. Gut, wir hatten gerade noch einen halben Gulden, den 
steck ich heute morgen bei. Janechen hat ihn, daß ich ihn nicht verliere, 
dick mit Papier umwickelt." 
Jetzt schluchzte der alte Holzhauer aus wie ein Kind, während in 
uns ein mächtiger Jubel aufstieg. 
„Und wie ich vor einer balben Stunde nach dem halben Gulden 
fühle," fährt der Alte in seinem Jammer fort, „da — ach Gott, ach 
Gott — ist er weg, rein wie weggehext. Und ich weiß nicht, wohin er 
gestoben und geflogen ist. Jedes Lindenblatt habe ich umgewandt: 
ich finde ihn nicht, und denkt euch mein Gefühl, wie der Kuckuck nun 
zu rufen anfängt und immer näher kommt — gerade, als wollt' er's 
mir recht zum Hohne tun. O, wo kriege ich meinen halben Gulden 
wieder?" 
„Da — Kinder — gebt dem Hanchristophvetter den halben Gulden!" 
rief unser Vater strahlenden Auges. Es war auch die höchste Zeit; denn 
wir konnten uns nur noch mit großer Mühe halten. 
Der Hanchristoph war erst wie ganz versteinert; dann zwang er 
sich zu einem schwermütigen Lächeln. „Ja, Hanfrieder, dazu wärst 
du imstande," gluckste es aus seiner Kehle, „du bist ein rechter Linden¬ 
hüttenmann, gerade wie dein Vater und dein Großvater, den ich auch 
noch ganz gut gekannt habe. Das Hemd vom Leibe gaben sie einem 
armen Schlucker hin. Aber es ist mir genug, daß ich den Willen seh, 
und darum stecke den halben Gulden nur wieder bei. Gott rechne euch 
den Willen für die Tat. Ich weiß nicht, ich spüre auf einmal was in 
mir, daß ich mich fast schämen möchte. Sei versichert, Hanfrieder, nun 
werde ich den Verlust leichter verschmerzen." 
Wir Kinder verstanden den Alten nicht gleich. Unser Vater aber 
lächelte eigentümlich und sagte: „Hanchristoph, du sprichst mir einen 
Edelmut zu, den ich nicht bewiesen habe: du meinst, ich hätte dich be¬ 
schämt, und umgekehrt ist's: du hast mich beschämt. Die Kinder haben 
ja den halben Gulden gefunden." 
„Und er ist dick mit Papier umwickelt gewesen," fielen wir nun 
aufs lebhafteste ein. „Also wird's wohl dein leibeigener Gulden sein!" 
drängte der Vater, als der Alte noch gar nicht zugreifen wollte. Erst 
nach längerer Pause fragte er zitternden Tones: „Ist's denn wirk¬ 
lich wahr, Hanfrieder, Kinder?"
	        
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