Full text: [Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 3 = Sechstes - Achtes Schuljahr, [Schülerband])

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sein gesundes Bein ihn kaum mehr trug, setzte er sich auf den Stein, 
den er sich für den Fall der Ermüdung unter den Baum getragen 
hatte, stützte die Stirn in die hohle Hand, und die Erde sog ein 
paar heimliche Tränen ein. 
Der fremde Herr aber, der dort an dem rauhen Stamme der 
alten Linde lehnte, hatte es gesehen, wie die Hand, die nur noch 
drei Finger hatte und mit diesen den Bogen führte, die Tränen 
heimlich abwischte. Es war, als ob die Tränen des alten Invaliden 
wie siedendheiße Tropfen dem Herrn auf das Herz gefallen wären. 
Er eilte auf den Invaliden zu, reichte dem erstaunten Alten ein Gold¬ 
stück und sagte: „Leihet mir Eure Geige ein Stündchen!" Der Alte 
sah voll Dankes den Herrn an, der mit der deutschen Sprache nicht 
so umging, als habe er sie von seiner lieben Mutter gelernt, son¬ 
dern etwas holprig wie der alte Invalide mit der Geige. Was er 
aber wollte, verstand der Invalide doch und reichte ihm die Geige. 
Sie war an sich nicht so schlecht. Nur der, der sie gewöhnlich hand¬ 
habte, kratzte übel darauf herum. Der Herr stimmte sie glockenrein, 
stellte sich darauf neben den Invaliden und sagte schmunzelnd zu 
ihm: „Kollege, jetzt nehmt Ihr den Hut und hebt das Geld, und ich 
spiele." Der fing denn nun an zu spielen, so daß der Alte seine Geige 
neugierig betrachtete, als ob er sie fragen wollte, woher sie denn 
den wundervollen Klang habe und warum sie ihn dem Fremden 
leihe und nicht auch ihm. Er kannte sie gar nicht mehr. Der Ton 
der Geige war lauter Gesang und ging so wunderbar in die Seele 
hinein, daß man gar nicht wußte, wie es einem zu Mute war, und 
die Töne rollten wie Perlen dahin. Manchmal war es, als jubi¬ 
lierten lauter Engelstimmen aus der Geige hervor, und dann wieder, 
als klagten herzergreifende Laute den tiefsten Schmerz einer be¬ 
kümmerten Menschenseele, daß einem das Wasser in die Augen trat. 
Jetzt blieben die Leute stehen. Keiner ging vorüber. Alle lauschten 
atemlos den wundervollen Tönen und Melodien. Immer größer 
wurde der Kreis der Zuhörer. Selbst die glänzenden Droschken der 
vornehmen Herrschaften hielten an. Es war, als hätten diese Töne 
eine bezaubernde, bannende Kraft und übten sie an den Wienern 
einmal recht aus. Man gab nun reichlich in den alten Hut, den der 
arme Mann bittend hinhielt. Da fiel Gold, Silber und Kupfer, je 
nachdem es die Leute hatten und je nachdem das Herz war, mild 
oder zähe. Der Pudel knurrte. War's Vergnügen, oder war er 
ärgerlich, daß ihm sein Herr heute ins Handwerk pfuschte, da es so
	        
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