Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

Prosa. — Belehrende Briefe. 45 
Observanz und halte seitdem strenge auf Gehorsam; und das geht viel besser. 
Auch ist, dünkt mich, Gehorsam an sich etwas Löbliches und Liebüches, und man 
kann ein Kind, das aufs Wort gehorcht, und so ein enfant raisonneur nicht 
n einander sehen, ohne das eine zu lieben und dem andern die Ruthe zu 
gönnen. 
Es giebt freilich gute Gründe für alles, was ein Kind thun muß; aber 
selten kann das Kind die verstehen, und oft darf es sie nicht wissen, wenn nicht 
mehr verdorben, als gut gemacht werden soll. 
Wie denn nun? Soll nun alles stehen und liegen bleiben und, weil das 
an nicht an den Mann will, auch das Was an den Nagel gehängt 
werden 
Ich denke, man wehrt lieber der ersten Noth und gewöhnt die Kinder einst— 
weilen an das Was. 
Das Warum ist ein heimlicher Schatz, der ihnen aufbewahrt bleibt, und 
der am besten vorderhand mit Fideicommiß belegt wird, bis sie zu Verstand 
S33 Dann mögen sie ihn finden und einsäckeln und uns im Grabe 
anken. 
Aber ich gehe noch weiter, Herr Vetter! und sage, daß oft unvernünftige 
Gründe, die helfen, Gott vergeb' mir die Sünde! besser sind, als vernünftige, 
die nicht helfen. 
Der Herr Vetter weiß, daß die Wahrheit einem ehrlichen Kerl über alles 
geht. So giebt es auch Unwahrheiten und Aberglauben, die durchaus ausge— 
roitet, und nicht geduldet werden müssen. Ich meine nur, daß die Vernunft 
nicht immer geradezu und ohne Unterschied zufahren muß, und daß es Fälle 
giebt, wo es besser ist, sich um einer guten Absicht willen bis weiter so gut zu 
helfen, als man kann! Nimmt man es doch keinem Menschen übel, wenn er 
seinen Freund hinter's Licht führte, um ihm eine Freude zu machen und ihn auf 
einen Fleck hinzubringen, wo er ihn haben will, und wo er ihn mit der Wahr⸗ 
heit nicht hinbringen konnte, ohne das ganze Spiel zu verderben. 
Ich will ein Exempel geben. Der Herr Vetter weiß die Kinderstubensage: 
„daß neugeborne Kinder nicht allein gelassen werden dürfen, weil sonst der Ap 
das Kind holt und dafür einen Wechselbalg in die Wiege legt!“ Nun will 
ich gerade nicht dafür stehen, daß es Wechselbälge giebt; ich für meine Person 
habe nie einen gesehen, es möchte denn sein, daß die Wärterin der Vernunft 
der Zeit nicht auf ihrer Hut gewesen wäre. Aber ich weiß, daß gute Gründe 
vorhanden sind, die Wärterinnen glauben zu machen, daß sie das neugeborne 
Kind nicht aus den Augen lassen dürfen; und daß diese Gründe bei allen 
Wärterinnen nicht rechtskräftig sind. Wenn nun jemand, der das auch wußte 
und die Natur der Wärterinnen besser kannte, als unser eins, wenn nun der 
den Alp und den Wechselbalg inventiert hätte, um allen neugebornen Kindern 
einen Dienst zu thun; wer ist der klügste? der, der den Wechselbalg auf die 
Bahn brachte, oder der Ritter St. Georg, der ihn mit seinem Lichtspeer erlegte? 
Aber es giebt doch vielleicht keine Wechselbälge! Wohl wahr. Aber wer 
weiß, wie viel es vielleicht nicht giebt von dem, was andre täglich inventieren; 
und wer kann sagen, ob alle die hochberühmten Kinder, die in der philosophischen 
Wiege gewiegt worden, ächt sind? Was schadet denn ein Wechselbalg mehr oder 
weniger, wenn er sonst nur kein Gift unterm Schwanze führt? 
Der Erfinder des Wechselbalges mochte wohl auch wissen, daß es keine 
Wechselbälge giebt; aber er stellte sih dumm, weil er Gutes stiften wollte. 
Wer die Kunft versteht, verräth den Meister nicht. Aber der Ritter Aufklärer
	        
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