Full text: Für die Klasse V (Teil 2 = Unterstufe, [Schülerband])

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Erzählungen. 
vor Schrecken den Apfel fallen ließ. „Junge!" sagte zugleich eine Stimme, 
„wie heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß es das erste Mal 
ist, wo du deine Hand nach fremdem Gute ausstreckst; laß es zugleich 
das letzte Mal sein." — Ich fühlte, daß ich ganz rot vor Scham ge¬ 
worden war, und wagte kaum die Augen aufzuschlagen; doch aber sind 
mir die Züge des Mannes ebenso unvergeßlich geblieben wie die Be¬ 
gebenheit selbst. — Anfangs war ich in der Schule sehr zerstreut; immer 
tönten in meinen Ohren die Worte wieder, die ich gehört hatte. Mein 
Herz war so voll, ich hätte weinen mögen; am meisten aber blieben 
meine Gedanken bei dem Schlüsse stehen: Laß es zugleich das letzte Mal 
sein! Und ich nahm mir fest vor: Ja, es soll gewiß das erste und 
letzte Mal sein! Aber auch lange nachher, wenn wir unsern Katechis¬ 
mus aufsagten und der Lehrer fragte: Wie heißt das siebente Gebot? 
erinnerte mich das heftige Klopfen meines Herzens an jenen Morgen. 
— Als ich nach einigen Jahren die Schule verließ, kam ich zu einem 
Handelsfreunde meines Vaters in Bremen aufs Comptoir; von dort 
ging ich später nach Südamerika. Es wird Sie nicht befremden, wenn 
ich sage, daß die Versuchungen, andere zu übervorteilen und so die 
Hand nach fremdem Gut auszustrecken, für einen jungen Kaufmann 
nicht selten sind. Auch hier blieben solche Versuchungen für mich nicht 
aus; aber sobald mir dergleichen nahe traten, war es mir immer, als 
fühlte ich von neuem die Ohrfeige, und die Worte: Laß es zugleich das 
letzte Mal sein! halfen mir alle derartigen Antrüge zurückweisen. Seit 
fünfzehn Monaten bin ich jetzt wieder in meiner Vaterstadt, und mit 
innigem Dank gegen den Herrn darf ich sagen, daß bei dem nicht un¬ 
bedeutenden Vermögen, das ich mit herübergebracht habe, gewiß kein 
Pfennig fremden oder unrechten Gutes ist." 
Der junge Mann hielt hier einen Augenblick inne; denn er war 
durch seine Erzählung ersichtlich selbst sehr bewegt worden; dann aber 
ergriff er die Hand des Herrn Müller und sagte: „Erlauben Sie 
jetzt, daß ich diese Hand, die mir eine solche Wohlthat erwiesen hat, 
recht dankbar drücken darf?" — „Und erlauben Sie mir," entgegnete 
der Angeredete, indem er mit Thränen im Auge ihn an sich zog, „daß 
ich den Mann recht von Herzen lieb haben darf, der einer solchen Dank¬ 
barkeit fähig ist und der im späteren Leben so treu gehalten, was er 
als Knabe gelobte." 
3. Wunderbare Kettung. 
Eine wahre Geschichte. (Nach dem Familienkalender des Lahrer Hinkenden Baten.) 
1. 
Es war eine recht schwere Zeit für die Stadt Basel, das Jahr 1815. 
Die Schrecken des Krieges rückten näher und-näher. Eine unzählbare
	        
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