Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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weiter erstreckt sich sein eigenthümliches Dasein nicht; denn es hängt mit 
seinen Brüdern durch Gewebe und Kanäle so zusammen, daß die Säfte, 
welche ein jeder bereitet, dem ganzen Stocke zu gute kommen. Dieser 
muß demnach als eine lebende Schicht von thierischer Materie angesehen 
werden, welche durch zahlreiche Munde und eben so zahlreiche Magen er¬ 
nährt wird. Übrigens ist das feste, kalkige Gerüst oder Skelett stets von 
der gemeinschaftlichen Haut der Colonie überzogen, aus deren zahlreichen 
Öffnungen ein reicher Flor von strahligen Blumen hervorkeimt. 
Da die Steinkorallen ein den Pflanzen ähnliches Wachsthum haben, 
so finden sich unter ihnen auch alle Pflanzenformen nachgeahmt. Es gibt 
unter ihnen Flechten und Moose, Sträucher und Bäume, die eine Höhe 
von zwei bis drei Metern erreichen, zierliche Vasen und regelmäßig ge¬ 
wölbte Kuppeln, welche zuweilen einen Durchmesser von vier bis sechs 
Metern besitzen. 
Von den Korallenthieren der heißen Zone, welche mauerartige Riffe 
erzeugen, kann man in Wahrheit sagen, daß sie unzerstörbare Bauten auf- 
. richten. Das Knochengerüste der höheren Thiere verschwindet nach wenigen 
Jahren von der Erde, aber das steinerne Skelett des Polypen bleibt fest 
an der Stelle gewurzelt, welche es während des Lebens einnahm, und 
dient einem neuen Geschlechte zum Fundament, auf dem dasselbe weiter 
baut. — Wir staunen über die Größe der Pyramiden und Tempel, welche 
eine längst verschwundene Vergangenheit an den Ufern des Nils auf¬ 
türmte; aber was sind die kolossalen Prachtbauten der Pharaonen gegen 
die gewaltigen Mauern, welche von kleinen, schwachen Pflanzenthieren 
aufgeführt sind! 
Die Naturforscher theilen aber diese thierischen Felsbauten in drei 
Klassen ein. !Die Riffe der ersten Art hangen unmittelbar mit den Küsten 
des festen Landes zusammen, wie dieses namentlich bei allen Korallen¬ 
bänken des rothen Meeres der Fall ist. Eine zweite Art bildet in grö¬ 
ßeren Abständen vom Lande einen Wall, der entweder als eine sogenannte 
Barrière den Küsten entlang läuft, oder eine in seiner Mitte gelegene 
Insel umschließt. Die gewaltigste Barrière findet sich der Nordostküste 
Neuhollands gegenüber. Auf einer Strecke von über 200 Meilen Länge 
und in einer durchschnittlichen Entfernung von 30 bis 50 deutschen Meilen 
begleitet sie die Ufer des Continents. Die inselumschließenden Riffe sind 
in der Südsee in großer Zahl vorhanden. Tahiti, die Königin der weiten 
Jnselflur, ist in beträchtlicher Entfernung von einem solchen umzogen. Mit 
seinem Gürtel von Palmen und Brotfruchtbäumen erhebt sich das para¬ 
diesische, gebirgige Eiland in der Mitte einer ruhigen See, welche der 
ringförmige Korallenwall von der heftigen Brandung des Oceans abschneidet. 
Die Korallenbänke der dritten Klasse, Atolls genannt, unterscheiden 
sich von den vorigen nur dadurch, daß sie keine Centralinsel, sondern 
ringförmig einen Wasserspiegel oder Centralsee umgeben. Auch solche 
Riffe sind in verschiedenen Gruppen der australischen Jnselflur in großer 
Zahl vorhanden. Die sogenannten niedrigen Inseln weisen ihrer mehr 
als achtzig auf. 
Zwischen den Wendekreisen erzeugt die fortwährende Wirkung der 
Passatwinde auf die Meeresfläche Brandungen von nie nachlassender Wuth.
	        
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