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freundlichen Winke des Reiters leiten es mehr; eine rohe Hand fesselt es
an den schweren Karren und führt die Peitsche mit grausamer Übung.
Kaum vermag es noch, im düstern, von Spinnweben ausgekleideten Stall,
aus moderiger Krippe sein hartes Futter zu zermalmen. Nur ein schmach¬
voller Tod erlöst cs von seinen Leiden. R. Meyer,
65. Zeus und das Pferd.
„Vater der Thiere und der Menschen", so sprach das Pferd und nahte
sich dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eines der schönsten Ge¬
schöpfe, mit denen du die Welt geziert, und meine Eigenliebe heißt mich
es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiedenes an mir zu
bessern sein?" — „Und was meinst du denn, daß an dir zu bessern sei?
Rede, ich nehme Lehre an", sprach der gute Gott und lächelte. „Vielleicht",
sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine
höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht
entstellen, eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren, und da du
mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen,
so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohlthätige
Reiter auflegt."
„Gut", versetzte Zeus, „gedulde dich einen Augenblick." — Zeus, mit
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in
den Staub, da verband sich organisierter*) Stoss, und plötzlich stand vor
dem Throne — das häßliche Kamcel. Das Pferd sah, schauderte und
zitterte vor Entsetzen und Abscheu. „Hier sind höhere und schmächtigere
Beine", sprach Zeus; „hier ist ein langer Schwanenhals, hier ist eine
breitere Brust, hier der anerschafsene Zattel! Willst du, Pferd, daß ich
dich so umbilden soll?" Das Pferd zitterte noch. — „Geh", fuhr Zeus
fort, „dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Ver¬
messenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so — daure du fort,
neues Geschöpf" — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kameel —
„und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern." Leinng.
66. Gesundheit ist ein großer Schaß.
Kunz ging einmal über Land und kam matt und verdrossen bei einem
Gasthofe an, wo er sich einen Krug Bier und ein Stück schwarzes Brot
geben ließ. Er war unzufrieden, daß er seine Reise zu Fuß machen mußte
und dabei nichts besseres essen konnde.
Kunz saß noch nicht lange im Gasthofe, da kam ein schöner Wagen
gerollt, in dem ein reicher Manu saß, der sich ein Stück kalten Braten
und eine Flasche Wein reichen ließ, was er in seinem Wagen verzehrte.
Kunz sah ihm hämisch zu und dachte: „Wer es doch auch so hätte!" Der
*) Organ (griech.) — Werkzeug, Theil eines Ganzen mit einer besonderen Function
(Verrichtung). Organismus — ein Ganzes, in verschiedene Theile sich gliedernd,
welche mit ihren besonderen Functionen alle einem obersten Zwecke dienen. Organi¬
sieren ---- eine Masse oder Menge so gestalten und einrichten, daß sie ein solches lebens-
und zweckvolles Ganzes (einen Organismus) bildet.