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nicht durchzukommen vermochte. Selbst die Furcht vor seinem Antlitz
und die Säbelhiebe seines Gefolges halfen nicht mehr; der Trieb der
Selbsterhaltung war mächtiger als jede andre Regung. Er mußte sich
von dem großen Wege abwenden und auf einem Nebenwege um die
Stadt nach dem Ranstädter Steindamm reiten. Und auch hier konnten
er und sein Gefolge sich nur einzeln an der Seite des Gewühles fort—
winden. Da zogen Fußvolk und Reiterei, Geschütz und Pulverwagen,
Gesunde, Verwundete und Sterbende, Wagen mit Frauen und Kindern,
Marketender und geraubte Viehherden im wildesten Getümmel mit Drängen
und Stoßen und Geschrei bunt durcheinander, und er, der sich einen Herrn
der Welt genannt hatte, mußte sich von diesem Strome nun mit fort—
schieben lassen.
Die verbündeten Herrscher hätten die Verwirrung noch sehr ver—
größern, die abziehenden Haufen noch in verzweifeltere Flucht, die Wider—
stand Leistenden zu schnellerer Ergebung bringen können, wenn sie die
Stadt hätten beschießen lassen. Aber ein so grausames Mittel, das
Tausende von unschuldigen Einwohnern mit verdorben hätte, war ihrem
menschenfteundlichen Herzen zuwider. Sie wollten nur die Tore und Ein—
gänge erstürmen lassen, und das vollbrachten ihre unerschrockenen Krieger
auch sehr bald. Der Prinz von Hessen-Homburg stürmte mit den Preußen
gegen das Grimmaische Tor, Bennigsen gegen das Peterstor, Langeron
gegen das Hallische Tor. Auch zu den Seiten drangen die Kämpfenden
in die Gärten ein; aber die Franzosen und Polen verteidigten jeden
Schritt. Jedes Gartenhaus und jede Hecke mußte erobert werden, und
noch einmal floß viel Blut. Aber der Sieg konnte nun nicht mehr
zweifelhaft sein. Gegen halb zwölf Uhr drangen die ersten Preußen in
die Stadt ein, und der tiefe Hörnerklang der pommerschen Füsiliere er—
tönte die Grimmaische Straße herunter. Dazwischen hinein lärmten die
Trommeln und gellten die Querpfeifen auch in den andern engen Gassen,
die nahe bei dem Rathause münden. Das war den betäubten, ängstlich
harrenden Einwohnern ein herrlicher, deutscher Klang. Die verschlossenen
Türen öffneten sich, und noch in das Schießen hinein wehten die weißen
Tücher zum Freudengruß aus den Fenstern.
4. Um dieselbe Zeit wurde plötzlich die einzige Brücke, die an der
andern Seite der Stadt den Franzosen zur Rettung diente über den
Elster-Mühlengraben, in die Luft gesprengt. — Es ist nicht entschieden, ob
es auf Napoleons Befehl geschah, der den Feind an der Verfolgung
hindern wollte, oder durch Furchtsamkeit und Voreiligkeit eines Feuer—
werkers, wie der französische Bericht angibt. Alle aber, die sich noch auf
dem Wege zu dieser Rettungsbrücke hindrängten, stießen einen Schrei des
Hirts Teutsches Lesebuch. Ausg. BD. U. Neubta.
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