Full text: Lesebuch für die Mittelklassen katholischer Volksschulen

29 
dichten Schneedecke lagen ein paar Blumenkeime in ihrem Bettchen 
und warteten auf den Frühling. Aber der wollte nicht kommen, 
und die Zeit wurde ihnen gar lang. Da sprach einer zum andern: 
„Hör, Brüderlein, ich möchte versuchen, wie es draußen aussieht!“ 
Da sagte der andere: „Versuch's, ich tuss mit!“ Nun sprangen 
beide aus ihrem Bett und reckten und streckten sich, um ans Tages— 
licht zu kommen. Aber die Decke war noch steinhart. Da drückten 
beide ihr grünes Köpfchen dicht unter die kalte Decke und horchten, 
ob nicht ein Vogel den Frühling bereits erspäht habe und ihm sein 
erstes Liedlein singe. Und der Zaunkönig auf der höchsten Spitze 
der Pappel hatte den Frühling hinter den Bergen zuerst herau— 
kommen sehen und ihm sein Willkommen gesungen. Und als die 
Keimlein im Grunde dieses vernahmen, klopften sie ungeduldig 
gegen ihre eiserne Tür. Das hörte die Sonne und lockerte die 
Erde, daß sie beide heraus konnten. 
Nun spitzten sie die Keimblätter hübsch zu, daß sie scharf wur— 
den wie Pfeile und durch die Erde schießen konnten. Dann ver— 
suchten sie's. Bei der kalten Arbeit fror es sie zwar ein wenig, 
aber es gelang ihnen doch; nach wenig Stunden waren sie mit 
ihren Köpflein ans Tageslicht gedrungen. Hoch oben in der Pappel— 
spitze saß immer noch der Zaunkönig und sang, und auch zwei 
Stare saßen daneben und pfiffen und schwätzten, trippelten mit den 
Füßen und schlugen mit den Flügeln und waren außer sich vor 
Freude. Aber der Winter hatte alles gesehen und gehört, denn er 
hatte hinter einem Berge auf der Lauer gelegen. Er wurde gar 
zornig über die sprossenden Blumen und die singenden Vögel und 
warf den schwätzenden Staren eine Handvoll Schnee auf den 
Schuabel, daß sie sich eiligst davonmachten, und auch den beiden 
Bluͤmen schütlete er so viel Schnee auf den Kopf, daß man sie gar 
nicht mehr sehen konnte. Die ließen sich's nicht anfechten, und nach 
drei Tagen hatten sie sich wieder aus dem Schnee hervorgearbeitet. 
Der Schnee hatte ihnen aber alle Farbe genommen, und sie waren 
weiß wie gebleichtes Leinen. 
„Tut nichts,“ sprach eines zum andern, und sie wiegten lustig 
die Kronen hin und her, daß die Staubfäden wie Hämmerchen an 
die Wände schlugen. Da gab es ein feines Läuten, und leise klang 
es durch den Wald: 
„Der Lenz will kommen, der Winter ist aus; 
drum läute ich helle: Heraus, heraus! 
Heraus, ihr Schläfer in Flur und Heid'; 
es ist nicht fürder mehr Schlafenszeit! 
Lesebuch für Mittelklassen. W. 
0
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.