kaum geschehen.“ Es war aber die Zeit, daß der Kaiser zu Tische ging;
da bestellte der Landgraf heimlich mit seinen Schreibern und Dienern, daß
man von Stund an Boten zu Roß aussandte zu allen Grafen und Herren
in Thüringen und ihnen meldete, daß sie zur Nacht mit wenig Leuten in
zder besten Rüstung und Geschmuck auf die Burg kämen. Das geschah. Früh
morgens, als der Tag anbrach, richtete Landgraf Ludwig das Volk also an,
daß ein jeder auf den Graben um die Burg trat, gewappnet und geschmückt in
Gold, Silber, Sammet, Seiden und den Wappenröcken, als wenn man zu
streiten auszieht; und jeder Graf oder Edelmann hatte seinen Knecht vor
10 ihm, der das Wappen trug und seinen Knecht hinter ihm, der den Helm
trug, so daß man deutlich jedes Wappen und Kleinod erkennen konnte. So
standen nun alle Dienstmannen rings um den Graben, hielten bloße Schwerter
und Ärte in Händen, und wo ein Mauerturm stehen sollte, da stand ein
Freiherr oder Graf mit dem Banner. Als Ludwig alles dies stillschweigend
s bestellt hatte, ging er zu seinem Schwager und sagte, die Mauer, die er
sich gestern berühmt hätte zu machen, stehe bereit und fertig. Da sprach
Friedrich: „Ihr täuschet mich!“ und segnete sich, wenn er es etwa mit der
schwarzen Kunst zuwege gebracht haben möchte. Und als er auswendig zu
dem Graben trat und soviel Schmuck und Pracht erblickte, sagte er: „Nun
2o hab' ich köstlichere, edlere, theurere und bessere Mauern Zeit meines Lebens
noch nicht gesehen; das will ich Gott und euch bekennen, lieber Schwager;
habt immer Dank, daß ihr mir solche gezeigt habt.“
155. Morgenwanderung.
Geibel.
1. Wer recht in Freuden wandern will, 3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
der geh' der Sonn' entgegen; durch alle Sinnen leise,
25 da ist der Wald so kirchenstill, da pocht ans Herz die Liebe auch
kein Lüftchen mag sich regen; in ihrer stillen Weise.
noch sind nicht die Lerchen wach, Pocht und pocht, bis sich's erschließt,
nur im hohen Gras der Bach und die Lippe überfließt
singt leise den Morgensegen. von lautem, jubelndem Preise.
zo 2. Die ganze Welt ist wie ein Buch, 4. Und plötzlich läßt die Nachtigal
darin uns aufgeschrieben im Busch ihr Lied erklingen,
in bunten Zeilen manch ein Spruch, in Berg und Thal erwacht der Schall
wie Gott uns treu geblieben; und will sich aufwärts schwingen;
Wald und Blumen nah und fern und der Morgenröthe Schein
zz und der helle Morgenstern stimmt in lichter Glut mit ein:
sind Zeugen von seinem Lieben. Laßt uns dem Herrn lobsingen!
156. Morgengebet.
v. Eichendorff—
1. O wundersames, tiefes Schweigen, Was mich noch gestern wollt' erschlaffen,
wie einsam ist's noch auf der Welt! ich schäm' mich des im Morgenroth.
Die Wälder nur sich leise neigen, 3. Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
als ging' der Herr durch's stille Feld. will ich, ein Pilger, froh bereit
2. Ich fühl' mich recht wie neu geschaffen; betreten nur wie eine Brücke
wo ist die Sorge nun und Noth? zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.