Full text: Die Heimat (3 = 4. Schuljahr, [Schülerband])

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fröhlich vom Kurhause herüberschallte. Unter den Spaziergängern 
befand sich auch äin Hetr, der von allen Seiten auffallend ehr— 
furchtsvoll begrüßt wurde und deshalb einsamere Wege aufsuchte. 
Da fühlte er sich plötzlich am Rockschoße erfaßt. Er blickte um 
sah eine blasses Mädchenangesicht, das flehend zu ihm empor⸗ 
aute. 
„Wer schickt dich betteln, mein Kind?“ fragte der Fremde. 
Meine kranke Mutter!“ antwortete die Kleine. 
Wo ist dein Vater?“ 
Fer ist lot. — Ach, uns hungert so sehr!“ setzte sie schluch⸗ 
zend hinzu. 
Der Herr, der schon seine Börse gezogen hatte, steckte sie 
wieder ein. 
„Führe mich zu deiner Mutter, Kleine!“ sagte er und folgte 
dem Mädchen, das ihn durch mehrere Straßen und Gäßchen bis zu 
einem kleinen, baufälligen Hause führte. 
„Hier wohnen wir, Herr!“ 
Sie schritten zwei schmale, alte, knarrende Treppen hinauf. 
Dann öffnete die Kleine eine Bodenthür, und der Herr hatte nun 
nen Eubslick in eine halbfinstere, unheimliche Dachkammer; der Ver— 
schlag war feucht und kalt, und in der Ecke lag auf ärmlichem Lager 
eine junge Fraͤu, der das Unglück in den Augen zu lesen war. 
Sie uichtete sich stöhnend auf, als der Fremde eintrat. 
„O, Herr Doltor“, sagte sie, „es ist nicht recht, daß meine 
Tochler Sie heimlich gerufen hat. Ich habe keinen Heller und kann 
nichts bezahlen.“ 
Der ftemde Herr winkte einen Diener herein, der ihm gefolgt 
war, und sagte ihm einige Worte, worauf dieser sich sogleich entfernte. 
„Haben Sie niemanden, der für Sie sorgt?“ fragte er dann. 
Ich habe keinen Verwandten, der sich um mich kümmern könnte, 
und neine Wirtsleute sind selber arm. Mein Mann war Arbeiter. 
So lange er lebte, ging es uns gut; seit er tot ist, habe ich Tag 
und Nacht gearbeitet, um uns zu ernähren. Dann wurde ich krank, 
und so kamen wir in Not und Elend.“ 
Der Herr gab dem, Mädchen Geld. „Geh, hole Brot und 
Wein! Schnell eilte das Mädchen davon und kehrte bald mit freude⸗ 
slrahlendem Gesichte zurück, ein Brot im Arme und eine Flasche 
Wein in der Hand. 
„Das lohne Ihnen Gott!“ sagte die Frau mit Thränen in 
den Augen. 
D lrat der Arzt ein, den ein Diener herbeigerufen hatte. 
Ehrfurchtsvoll verneigte er sich vor dem fremden Herrn, der diesen 
Augenblick benutzte, um still eine Kassenanweisung auf den Tisch zu 
legen und sich dann unvermerkt zu entfernen. 
Der Arʒt untersuchte den Zustand der Kranken, gab seine Ver— 
ordnungen und bemerkte, daß er seinen Besuch jeden Tag wieder— 
Jütting und Weber. Die Heimat. 12
	        
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