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10. Was du Ird'sches willst beginnen, heb zuvor
deine Seele im Gebet zu Gott empor.
Einen Prüfstein wirst du finden im Gebet,
ob dein Ird'sches vor dem Göttlichen besteht.
11. Du findest in dir Ruhe nicht,
den milden Hauch von Gottes Gnaden,
so lang von deiner Schuld Gewicht
du willst ein Teil auf andre laden.
12. Thu, was jeder loben müßte,
wenn die ganze Welt es wüßte;
thu es, daß es niemand weiß,
und gedoppelt ist der Preis. Friedrich Rückert.
130. Zeus und das Pferd.
„Vater der Tiere und Menschen,“ so sprach das Pferd
und nahte sich dem Throne des Zeus, „man vill, ich sei eines
der schönsten Geschöpfe, mit denen du die Welt gezieret, und
meine Eigenliebe heibt mich es glauben. Aber vollte gleich-
wohl nicht noch Verschiedenes an mir zu bessern sein?«“ —
„Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede,
ich nebhme Lehre an,“ sprach der gute Gott und lächelte. —
„Vielleicht,“ sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger
sein, wenn meine Beine höher und sehmächtiger wären; ein
langer Schwanenhals würde mich nicht entstellen; ein breitere
Brust würde meine Stärke vermehren; und da du mich doch
einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen,
so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir
der woblthätige Reiter auflegt.“ — „Gut,“ verseizte Zeus,
„gedulde dich einen Augenblick!“ Zeus mit ernstem Gesicht
sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub,
da verband sich organisierter Stoff, und plötzlich stand vor
dem Throne — das häßliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte
und zitterte vor entsetzendem Abscheu. „Hier sind höbere
und schmächtigere Beine,“ sprach Zeus; „bier ist ein langer
Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der an—
erschaffene Sattell Willst du's, Pferd, dab ich dich so umbilden
soll?“ Das Pferd zitterte noch. „Geh,“ fubhr Zeus fort, „dies-
mal sei belehrt, obne bestraft zu verden! Dich deiner Ver-
messenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure
du fort, neues Geschöpf“ — Zeus warf einen erhaltenden Blick
auf das Kamel — „und das Pferd erblicke dich nie, obne zu
schaudernl“ Gotthold Ephraim Lessing.
131. Die junge Schwalbe.
„MNas macht ihr da?“ fragte eine Schwalbe die geschäftigen
Ameisen. „Nir sammeln Vorrat auf den Winter,“ war die
geschwinde Antwort. „Das ist klug,“ sagte die Schwalbe;