Full text: Erzählungen aus der Neuzeit (Teil 3)

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nach Gebietserweiterung entgegenzutreten, verzichtete Joseph II. aus freien 
Stücken auf seine Pläne (1785). 
In seinen Bemühungen, dem-Volke auszuhelfen, glich er ganz seiner 
erhabenen Mutter. Im Jahre 1781 hob er die Leibeigenschaft auf; den 
Ackerbau unterstützte er dadurch, daß er in dünnbevölkerten Gegenden deutsche 
Bauern (in Ungarn noch heute „Schwaben" genannt) ansiedelte. Auch dem 
Gewerbfleiße und Handel ließ er seine kräftige Förderung angedeihen. Die 
religiöse Verträglichkeit suchte er durch das Toleranzpatent (— Dul¬ 
dungsbrief) zu befestigen, durch welches allen Bekenntnissen Freiheit gewährt 
wurde. Um für die Verbesserung und Verbreitung des noch immer mangel- 
haften Volksschulunterrichtes genügende Mittel aufzubringen, hob er zahl- 
reiche Klöster auf, zog das Vermögen derselben ein und verwendete es zum 
Bau neuer Kirchen und Schulen und zur Besoldung von Lehrern. Auch 
der leidenden Menschheit wandte er seine Fürsorge zu; es wurden neue 
Krankenhäuser, Anstalten sür Irre, Blinde und Taubstumme, Waisen- 
und Besserungshäuser gegründet. Aber seine Neuerungen fanden nicht 
überall den Beifall des Volkes; dasselbe fühlte sich vielmehr vielfach in seinen 
althergebrachten Gewohnheiten und Gebräuchen gestört, und so kam es in 
Ungarn, Tirol uud Belgien zu Unruhen, die des Kaisers Herz bitter be- 
rührten. Seine Gesundheit wankte ohnehin schon seit Jahren; die schmerz- 
lichen Erfahrungen beschleunigten sein Ende. Als ihm sein Arzt eröffnete, 
daß er jeden Augenblick auf den Tod gefaßt sein müsse, sagte er: „Ich weiß 
nicht, ob der Dichter so ganz recht hat, wenn er schreibt: Furchtbar ist der 
Schritt vom Throne zum Grabe. Ich vermisse den Thron nicht, fühle mich 
ruhig und nur ein wenig gekränkt, durch so viele Lebensplage so wenige 
Glückliche und so viele Undankbare gemacht zu haben; allein das ist das 
Schicksal der Männer auf dem Throne." Er entschlief am 20. Februar 1790. 
Sein Neffe, Franz II., ließ ihm im Burghofe zu Wien ein ehernes Reiterstandbild 
errichten. Er ist auf demselben, dem damaligen Geschmacks gemäß, im Gewände eines 
römischen Imperators dargestellt. Die kurze, aber vielsagende Inschrift lautet: Joseph IL, 
welcher für das Wohl des Staates gelebt bat, nicht lange, aber ganz. 
§ 23. Leben, Sitte und Kunst. 
1. Fürsten und Volk im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Der West¬ 
fälische Frieden hatte allen deutschen Fürsten, sogar den kleinsten, die Würde 
von „europäischen Souveränen" gesichert, und damit trat an den meisten 
Höfen die Neigung hervor, einen möglichst glänzenden und kostspieligen Hos- 
halt zu führen. Man richtete sich dabei nach dem Vorbilde Ludwigs XIV. 
und erschöpfte durch Nachahmung desselben in Bauten, Festlichkeiten, Jagden 
und Vergnügungen aller Art an vielen Gegenden die Steuerkraft und den 
Wohlstand der Unterthanen.
	        
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