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lmnderts am stärksten in Südfrankreich und Oberitalien, wo eine vielseitige
Kultur und in den Städten grosse soziale Unterschiede sich entwickelt hatten.
Hier fanden die dualistischen Anschauungen christlicher Sekten des oströmischen
Reiches, seit Ende des X. Jahrhunderts durch den byzantinisch-italienischen
Handel dem Abendland vermittelt, eine zahlreiche Anhängerschaft, die seit
dem Anfang des XII. Jahrhunderts die organisierte Sekte der „Reinen“,
Katharer (hieraus Ketzer), bildeten. Sie gliederte sich nach den drei Stufen
der durch das consolamentum (Sakrament der Handauflegung) zur strengsten
Askese verpflichteten „Apostel“ oder perfecti, der erst durch eine Seelenwande¬
rung ins Lichtreich gelangenden „Gläubigen“ und der „Hörer“. Die Apostel
wirkten als Wanderprediger, sie verwarfen insbesondere die Sakramente der
katholischen Kirche. Gläubige und Hörer blieben äusserlich im Verband der
Kirche. Rückkehr zum apostolischen Leben (Ev. Matth. 10) war auch das
Losungswort der Waldenser. Petrus Valdes, ein reicher Bürger aus Lyon,
gab um 1177 sein Vermögen den Armen und zog aus, das Evangelium zu
predigen; er schuf die Gemeinschaft der „Armen von Lyon“. Sie wichen
nur wenig von der Lehre der Kirche ab, aber stellten, besonders seit ihrem
Ausschluss aus der Kirche 1184, ihr eine apostolisch-asketische Hierarchie
gegenüber, die u. a. Beichte abnahm. Sie gliederten sich in „Gläubige“, die im
wesentlichen im Verbände der Kirche blieben, und „Brüder“. Eine schroffere
Haltung der Kirche gegenüber nahmen innerhalb der allgemein-waldensischen
Richtung die „Lombarden“ ein, die seit etwa 1250 auch in Süddeutschland
«•rossen Anhang hatten. Während in Italien Gefängnis, Gütereinziehung und
Verweisung als bürgerliche Strafe der Ketzerei sehr rasch durchgesetzt, in Ara-
gonien und Katalonien 1197 sogar die Todesstrafe eingeführt wurde, schützten
in Südfrankreich die meisten Städte und Herren die Ketzer. Zwei von Innocenz
abgesandte Cisterzienser versuchten durch Disputationen und Predigten die
Katharer zu beseitigen. Als aber 1208 der eine, Pierre von Castelnau, er¬
schlagen wurde, so verkündete Innocenz einen Kreuzzug gegen
die Ketzer, den der nordfranzösische Adel, auch aus Abneigung gegen die
Südfranzosen und aus Erwerbgier, ausführte. Städte (darunter Albi) und Burgen
wurden in grosser Anzahl zerstört, die Ketzer schonungslos vernichtet. Nach¬
dem König LudAvig VIII. von Frankreich den letzten Kreuzzug gegen die Ketzer
1226 unternommen hatte, endeten die Kämpfe 1229. Der grösste Teil der
Grafschaft Toulouse fiel an die französische Krone. Die Verfolgung und Be¬
strafung der Ketzer betrieb aber noch weiter die Inquisition („i. haereticae
pravitatis“). Seit 1184 als bischöfliche eine Aufgabe der bischöflichen Send-
(synodus)-gerichte, wurde sie 1215 von Innocenz allgemein durchgeführt und
seit 1233 durch besondere Beauftragte des Papstes, besonders die
Dominikaner, geübt. 1215 war auch die weltliche Gewalt zur Verfolgung
und Vertreibung der Ketzer bei Strafe des Kreuzzugs verpflichtet worden.
Die Tortur, die das ältere kanonische Recht nicht kannte, entnahm der
Ketzerprozess dem Verfahren der weltlichen Gerichte. Die Todesstrafe, die
<Ier weltliche Arm zu vollziehen hatte, wurde für Hartnäckige oder Rück¬
fällige allgemein festgesetzt, mit ihr war Einziehung des Vermögens bezw.
Verkürzung des Erbrechts für Kinder und Enkel verbunden. An dem Er¬
trag der Vermögenseinziehungen und der häufigen Geldstrafen wurden die
öffentlichen Gewalten beteiligt. Die Katharer erlagen nach und nach der Inqui¬
sition, die Waldenser erhielten sich in einzelnen Gebieten. In Deutschland und
seinen östlichen Nebenländern, sowie in England war die Arbeit der Inquisi¬
tion längere Zeit noch unbedeutend. Der Gebrauch, den diese ketzerischen
Richtungen (wie später Wiclif, s. § 62) von der Bibel machten, bewirkte,
dass die kirchlichen Autoritäten (schon Innocenz III.) immer mehr der Bibel¬
lektüre der Laien, insbesondere aber der Uebersetzung der Bibel in die Landes¬
sprachen widerstrebten.