—
211
52
als nach den heftigsten Regengüssen während mehrerer Tage abends um 5 Uhr
unter einem noch nie gehörten Donnern und Krachen die oberste Höhe des
Roßberges, Spitzebühl genannt, jählings zusammenstürzte. Verheerend hatte
die ungeheure Masse von Felsenschichten, Erde und Waldung mit der
Schnelligkeit eines wütenden Waldstromes sich in zwei Armen in das schöne
Thal hinabgestürzt und die Dörfer Busingen und Goldau nebst dem größten
Teile von Lauerz in Schutt verwandelt, die Mehrzahl der Einwohner aber
erschlagen. Viele Hütten friedlicher Hirten wurden von der fortgeschobenen
Kiesmasse zerdrückt oder von ungeheuren Felsenstücken mit unbeschreiblicher
Gewalt zermalmt und zertrümmert. In diesem Augenblicke hoben sich neue 10
Felsenberge aus der Tiefe empor. Uralte Tannenwälder rissen sich von dem
Abhange des Berges los und versanken, ohne nur eine Spur übrig zu lassen.
Noch andere gewaltige Mässen hatten sich durch die ganze Breite des Thales
hoch an den Abhang des gegenüber liegenden Rigi-Berges hinaufgewälzt
oder waren wie leichte Bälle über Häuser und Bäume hinweggeschleudert
worden. In Goldau selbst sahen mehrere Einwohner die Unglück drohende
Masse von der Spitze des Roßberges sich ablösen und heranbewegen, als
plötzlich von der Kapelle aus die Sturmglocke ertönte. Auf ihren furcht—
baren Ruf drängte sich alles, was sich in der Nähe befand, in das Heilig—
tum zum Gebete. Noch ein Augenblick, so stürzte unter den herabrollenden 20
Bergtrümmern die Kirche zusammen, und ein Grab verschlang sie alle:
Männer und Weiber, Greise und Kinder. — Während der eine Teil des
Bergfalls Goldau und seine herrliche Gegend begrub, hatte der andere sich
gegen Lauerz hinaufgeschoben und bis an das Dorf und den See hinauf
alles, was er auf seinem Wege traf, mit sich weggerissen. Das helle Blau 2
des Lauerzer Sees verwandelte sich plötzlich in eine widrige Lehmfarbe,
seine sanften Wellen in tobende Meereswogen, welche mit reißender Gewalt
gegen das Dorf Sewen hinauf sich wälzten, die Häuser aus ihrem Grunde
hoben und dort weit von ihrer Stelle versetzten. Auf dem See selbst trieben
Balken, Gerätschaften, Heuschober, Obstbäume und Trümmer von Gebäuden
in wilder Unordnung umher. In Lauerz stellte sich nach dieser grauenvollen
Verwüstung die herrlichste und die ödeste Natur in einem herzerschütternden
Gegensatze dar; denn der Erdstrom war zwar bis tief in das Dorf und auf
die Höhe der Kirche vorgedrungen, hatte aber hier plötzlich seine Kraft ver—
loren, ünd durch dies glückliche „Bis hierher und nicht weiter!“ wurden die 35
äußersten Häuser des Dorfes wie durch ein Wunder der göttlichen Allmacht
vor dem Untergange bewahrt. Noch stehen diese Wohnungen unberührt und
unbeschädigt nach wie vor zwischen schattenreichen Fruchtbäumen neben ein—
ander und erinnern an das alte anmutige Lauerz. Aber sowie man sich
wendet, kaum drei Schritte von dieser belebten Stelle, eröffnet sich der ad
Schauplatz jener grauenvollen Verheerung. Mitten unter den Ruinen und
wie in einer furchtbaren Wüste stehend, zeigt sich der Kirchturm, losgerissen
von der eingestürzten, nicht mehr sichtbaren Kirche. Ein tiefes Schweigen
ruht auf dieser traurigen Einöde. Um das Dach des zusammengestürzten
Beinhauses und unter den Trümmern des Kirchengerätes und der Heiligen—
bilder liegen die Totengebeine umher. Die herausgeschleuderten Glocken
stehen auf der Erde, und der Zeiger der Turmuhr weist unbeweglich auf
fünf hin.“
14*